SPRACHSPIEL, NONSENSE- UND KINDERVERSE IN DER RUMÄNIENDEUTSCHEN LYRIK DER SIEBZIGER JAHRE
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Bulletin of the Transilvania University of Braşov Series IV: Philology and Cultural Studies • Vol. 4 (53) No.1 – 2011 SPRACHSPIEL, NONSENSE- UND KINDERVERSE IN DER RUMÄNIENDEUTSCHEN LYRIK DER SIEBZIGER JAHRE Delia COTÂRLEA1 Abstract: The present article studies the language plays within the German poetry in Romania during the 1970s. The paper focuses on the language plays resulting from both intertextuality and hypertextuality as well as on the deconstruction of the poetic language by the use of language in rhyme, alliteration, homophony and homonymy. The study researches what significance language plays have for the German poetry of Romania during 1970s. Keywords: language play, infiltration of the official discourse, socially/politically engaged poetry. Beabsichtigt man, die rumäniendeutsche haben. Spielformen in der Lyrik betrachten Lyrik der siebziger Jahre ins wir als ausschlaggebend für den sich Ende Hauptaugenmerk zu fassen, so stellt man der sechziger Jahre konturierenden fest, dass man die Entwicklung der Paradigmenwechsel in der literarischen Tendenzen von den rumäniendeutschen Poesie. Im zweiten institutionalisierten Rahmenbedingungen Teil der vorliegenden Untersuchung bzw. von der Kulturpolitik nicht trennen beschäftigen wir uns mit konkreten kann. Es wurde mehrfach dokumentiert, Beispielen von Sprachexperimenten, die dass sich in der rumänischen Kulturpolitik unseres Erachtens den Bruch mit einer nach 1945 Zyklen von Tauwetter und tradierten Dichtungsweise belegen. Eiszeit abwechselten, die sich ebenso im Blicken wir auf die frühen sechziger literarischen Leben nachzeichnen lassen. Jahre zurück, ist laut Jegliche Diskussion über die siebziger Politikwissenschaftlerin Anne-Utely Jahre schließt eine Betrachtung der Gabanyi eine Lockerung in der kulturpolitischen Rahmenbedingungen ein. Kulturpolitik festzustellen. Gabanyi nannte Folglich wenden wir im Vorfeld unsere in ihrer Studie Partei und Literatur in Aufmerksamkeit den Faktoren zu, die Rumänien die Zeit 1965-1968 die Jahre der Modernisierungstendenzen innerhalb der Liberalisierung unter Ceauşescu. In den rumäniendeutschen Lyrik ermöglicht Jahren 1969-1971 begann sich ein 1 PhD, Assistant, Transilvania University of Braşov.
164 Bulletin of the Transilvania University of Braşov. Series IV • Vol. 4 (53) No.1 - 2011 Klimawechsel in der rumänischen ungezwungenem Stil. Man versuchte, sich Kulturpolitik zu konturieren. Bis zur von strengen Formen der Lyrik abzusetzen, Verkündung der Thesen Ceauşescus, zu denn eine strenge Form verbindet und der so genannten Mini-„Kulturrevolution“ verpflichtet, was gerade die jungen im Juli 1971, war eine Kluft zwischen den Autoren verhindern wollten. erklärten kulturpolitischen Zielsetzungen Außerdem meldeten sich 1971 einige der Partei und der literarischen Praxis junge Temeswarer Germanistikstudenten entstanden. Mit der Veröffentlichung der zu Wort, die sich 1972 zur Aktionsgruppe 17 Thesen zur Verbesserung der politisch- Banat zusammenfanden. Die jungen ideologischen Arbeit und der kulturellen Schriftsteller setzten sich zum Ziel einen und erzieherischen Tätigkeit setzte eine Dialog mit der Gesellschaft im Sinne ihres neue Phase der Verhärtung im geistigen Vorbilds Brecht. Die Aktionsgruppe Banat und kulturellen Leben Rumäniens ein. Wie befand sich in einem Spannungsverhältnis Gabanyi in ihrer bereits angeführten zur traditionellen Sicht bezüglich der Abhandlung Partei und Literatur in rumäniendeutschen Literatur. Von Anfang Rumänien vermerkte, verfolgte Ceauşescu an hatten die jungen Autoren versucht, sich mit seiner „Kulturrevolution“ die in einem europäischen Kontext zu Sicherung der direkten Leitung des geistig- legitimieren, blickten sozusagen auf wissenschaftlichen Lebens, die totale westliche Paradigmen der Literatur. 1989 Ideologisierung der Tätigkeiten im Bereich hatte Richard Wagner auf der Marburger der Kultur und Erziehung, die Tagung im einseitigen Rückblick Instrumentalisierung der Kultur, Kunst, behauptet: Wissenschaft und Erziehung. Ich habe mich von Anfang an wohler Die bezweckte Einschränkung konnte gefühlt in der deutschsprachigen jedoch nicht augenblicklich erreicht Literatur als Gesamtheit, wo es werden. Verlage, Redaktionen und Autoren gab von Brecht über Schriftsteller versuchten in der Kultur- und Bobrowski bis Celan usw., ich war nie Literaturszene die Periode der zeitweiligen zu Hause in der rumäniendeutschen Öffnung zu verlängern, was in der Praxis Literatur von Adam Guttenbrunn bis auch gelang. Die zunehmende Verhärtung Erwin Wittstock. Mit diesen Leuten trat Mitte der 70er Jahre ein. Die 1977 wollte ich eigentlich nicht in einer offiziell als Institution abgeschaffte Zensur Literatur sein und möchte es auch wurde durch effizientere Formen der heute nicht sein. [13] Steuerung, Überwachung und Kontrolle Die jungen Autoren der end-sechziger und der Literaturproduktion ersetzt. siebziger Jahre fühlten sich vom Zweiten Dank des kurzen Tauwetters Ende der Weltkrieg unbelastet, sie waren 60er Jahre entstand neben der offiziellen „sozusagen in das Neue hineingeboren“. Literatur auch eine inoffizielle, [14] Sie betrieben experimentelle Literatur, undogmatische Literatur, die sich in einer verstanden sich auch anfangs als Affront facettenreichen Ausdrucksweise der Lyrik gegen die weniger begeisterte artikulierte. Gedichte von Frieder Schuller, Elterngeneration, aber auch gegen Anemone Latzina, und Rolf Frieder realsozialistische Funktionäre, bekannten Marmont erschienen Mitte der 60er Jahre sich jedoch zum (internationalen) in der Neuen Literatur und im Neuen Weg. Sozialismus. Es handelte sich zunächst in Anstelle der Dunkelheit und Einsamkeit den Texten um ein naives politisches der Lyrik der Innerlichkeit etablierte sich Engagement. Die Gedichte waren in eine jugendliche Offenheit in Anlehnung an Brecht geschrieben –
D. COTÂRLEA: Sprachspiel, Nonsense- und Kinderverse in der rumäniendeutschen Lyrik .. 165 aggressiv, selbstbewusst, dialektisch. Im kann, sondern verbraucht, Literatur also, Sinne Brechts wurde eine raffinierte Kritik die nicht erbaut, sondern zum Mitbaun an den rumänischen Zuständen bezweckt. überzeugt. […] Literatur, die also Mit kargem Wortmaterial, einfacher Topik gemeint ist, will nicht als Spiegelung des und viel Spontaneität sollte das Gedicht von der eigenen Haut Begrenzten aufrütteln, auf soziale Gleichgültigkeit verstanden werden, sondern als einwirken, es war für den sozialen zeitgebundener Schaffensakt, das heißt, Gebrauch geschrieben. als ein an die Zustände der Zeit und nicht Obwohl die Aktionsgruppe Banat an die Zeitumstände gebundener Akt. Anfang der 70er Jahre im Mittelpunkt [10] zumindest der Banater Presse stand, gab es Diese Art, Literatur zu schreiben, hatte zur auch andere nennenswerte Autoren, die zur Folge ein Sichabsondern von der Entfaltung der neuen Tendenzen in der Naturidylle, von der herkömmlichen rumäniendeutschen Lyrik beigetragen siebenbürgisch-sächsischen und banat- haben, darunter Anemone Latzina, Werner schwäbischen Heimatliteratur. Es Söllner, Bernd Kolf, Franz Hodjak. Sie entstanden dadurch Gedichte, die die formulierten ebenso ihr Interesse für den traditionellen Gattungskonventionen Autor und Theoretiker Bertolt Brecht. sprengten, sich von jeglichen Vorurteilen Aber nicht nur Brecht rückte in den und Zwängen befreiten, die versuchten, Mittelpunkt, sondern auch die DDR-Lyrik strenge Formen und Traditionen zu allgemein (Günter Kunert, Volker Braun, überwinden. Karl Mickel u. a.). Rezensionen zu neuen Nach vielen Schlagwörtern setzte sich Buchveröffentlichungen einiger DDR- Walter Fromms Formulierung engagierte Autoren wurden in der Neuen Literatur Subjektivität in Bezug auf die siebziger veröffentlicht, Bernd Kolf führte 1975 für Jahre durch. Diese Formel sollte den die Neue Literatur Interviews mit Sarah Unterschied zum präskriptiven und Rainer Kirsch, mit Adolf Endler. Engagement hervorheben. In einem Hodjak äußerte sich sogar zu den Rückblick auf die Szene der 70er Jahre Gemeinsamkeiten und Unterschieden wies Emmerich Reichrath (1984) auf eine zwischen der rumäniendeutschen und der Akzentverschiebung mit dem DDR-Literatur. Dabei meinte Hodjak, dass Generationswechsel von 1969-1974 hin man bei den rumäniendeutschen Autoren und definierte diese neue Tendenz in der nicht ausschließlich von einer epigonalen rumäniendeutschen Literatur ebenfalls mit Brecht-Rezeption sprechen kann. Ein dem Begriff engagierte Subjektivität, neues Paradigma in der Lyrik war dabei durch die Kritik an der Gesellschaft sich zu etablieren, folglich wurde in ausgeübt werden sollte. Mit dem Begriff mehreren Rundtischgesprächen gefordert, engagierte Subjektivität bezog man sich das künstlerische Spezifikum dieser neuen auf die Haltung der lyrischen Perspektive lyrischen Haltung, der so genannten Poésie und nicht auf die sprachliche Einkleidung engagée zu formulieren. So schrieb Franz der Inhalte. Der Paradigmenwechsel Hodjak 1975 in dem Aufsatz Literatur und vollzog sich aber sowohl in der lyrischen Gesellschaft: Perspektive als auch in den Literatur, die ich meine, soll nicht Ausdruckmöglichkeiten. Die neuen anmutig sein, sondern mutig, nicht Ausdrucksmöglichkeiten setzten sich von bewegen, sondern in Bewegung setzen, einer Poesie in traditionellem Sinne ab: nicht verklären, sondern aufklären, soll Reim und Rhythmus wurden abgeschafft, so sein, dass sie nicht verbraucht werden Groß- und Kleinschreibung ignoriert,
166 Bulletin of the Transilvania University of Braşov. Series IV • Vol. 4 (53) No.1 - 2011 obsessive Schilderungen bis ins kleinste Rahmenbedingungen der damaligen Zeit. Die Detail und eine Aufhebung der Kausalität von uns angetroffenen Spielformen zeichnen sind sowohl im Lang- als auch im sich dadurch aus, dass sie Asymmetrien, Kurzgedicht anzutreffen. Das neue Ungleichgewichten, Verzerrungen, Paradigma fand Freude am Verfremdungen eine wichtige Funktion Experimentieren mit der Sprache, dem zukommen lassen. Die Rolle des Wort. Den Buchstaben werden neue Sprachexperiments in der rumäniendeutschen Bedeutungen zugesprochen, so dass durch Literatur der 70er Jahre darf nicht im Sinne bestimmte Spielformen die Dimension auf eskapistischer Tendenzen verstanden werden, Laut- und Buchstabenebene in den die Spielformen entstanden aus der Lust und Mittelpunkt rückt. Sprachexperimente zugleich Notwendigkeit zur Polemik, zum finden wir zum Beispiel bei Anemone Streit, zur Kritik, „zur aggressiv-ironischen Latzina, Bernd Kolf, Werner Söllner. Infragestellung selbstverständlich geltender Mitglieder der Aktionsgruppe bedienten Wertvorstellungen,“ so Günther Busse. [9] sich gleichwohl verschiedener Versuchen wir im Weiteren, die Spielformen, um ihren literarischen vorherigen Behauptungen anhand von Versuchen Ausdruck zu verleihen. Nach Bespielen zu veranschaulichen. Um unseren eher stichprobenartigen unserer Zielsetzung gerecht zu werden, Untersuchungen haben wir festgestellt, haben wir einige Dichter der siebziger dass innerhalb der so genannten Jahre ausgesucht, die sich unseres Experimente unterschiedliche Kategorien Erachtens ergiebig für das einschlägige aufgestellt werden können, und zwar Thema erwiesen haben. Es handelt sich um handelt es sich unseres Erachtens einerseits Anemone Latzina, Bernd Kolf, Rolf um Sprachspiele, die sich der Anlehnung Bossert, Richard Wagner, Balthasar Waitz, an Märchenmotive bedienen, was laut Werner Kremm, Gerhard Ortinau. Gerard Genettes Theorie sowohl hyper- als In Anemone Latzinas Debütband Was auch intertextuell geschehen kann, wobei man heute so dichten kann sind mehrere eine Übernahme und/oder Transformation Gedichte enthalten, die eindeutig Bezüge von bekannten Märchenmotiven auf zu bekannten Märchentexten aufweisen. Es inhaltlicher Ebene oder aber die handelt sich um König Drosselbart und Übernahme und/oder Transformation Rumpelstilzchen. Die beiden Gedichte sind fester sprachlicher Strukturen stattfindet, in der Form von Kinderversen verfasst, durch die dann der Erwartungshorizont der richten sich aber keineswegs an ein Leser durchbrochen wird. Andererseits Kinderpublikum. Die Intention der Verse handelt es sich um Sprachspiele, die sich ist leicht erschließbar – sie sollen die der wörtlichen Dimension der Sprache Unzulänglichkeiten in der Gesellschaft bedienen (Homophonie, Homonymie) oder aufdecken, und das in einer elementaren, bestimmter rhetorischer Mittel, um allen zugänglichen und populären Form. Ambivalenz zu schaffen, wobei sich die Genau wie Brecht, verschafft auch Latzina resultierende Mehrdeutigkeit beim Leser der alten Form des Liedes neue disambiguiert, je nach den Bedeutungen, Bedeutungs- und Wirkungsmöglichkeiten, die der Leser dem Sprachspiel zuordnet. indem sie diese Form mit aktuellen Bildern Beide Kategorien weisen aber unseres und Erfahrungen konfrontiert. Erachtens eine Gemeinsamkeit auf: Sie Das Gedicht König Drosselbart geht auf sind im Sinne einer engagierten Poesie abgewandelte Reimzeilen aus dem geschrieben, sind gesellschaftskritisch, Märchen König Drosselbart zurück. Die richten sich gegen die institutionalisierten Dichterin übernahm die Struktur des
D. COTÂRLEA: Sprachspiel, Nonsense- und Kinderverse in der rumäniendeutschen Lyrik .. 167 Märchenreims und veränderte die Fragen sitzt ein blauer Polizist, / der einen grünen und die aufgezählten Besitztümer Wald, Apfel isst.“ [4] Das Wort Einmachglas hat Wiese und Stadt. Der intertextuelle Bezug eine verfremdende Funktion, aber die zu dem Märchen König Drosselbart soll Anspielung auf die rumänische Miliz sollte das Vorwissen des Lesers aktivieren, dass für das damals in Rumänien lebende die Prinzessin keinen heiraten wollte und Leserpublikum offensichtlich sein – das sie letzten Endes von ihrem Vater, dem Wort Einmachglas ist die Übersetzung des König, gezwungen wurde, einen Bettler zu rumänischen Substantivs „borcan“, mit heiraten. Nach einer schweren Zeit, in der dieser erniedrigenden Metapher meinte die Königstochter hart auf die Probe man im Volksmund das runde gestellt wurde, stellte es sich heraus, dass Kontrollhäuschen der Verkehrspolizisten, der Bettler eigentlich König Drosselbart die von dort aus die Straßenbewegung war und somit gab es ein Happy End. In überwachten, dort Strafzettel ausstellten dem Gedicht von Latzina erlebt das oder sich bei schlechtem Wetter aufhielten. lyrische Ich aber kein Happy End. Das Der Milizionär wird hier absichtlich Zusammenleben mit der Republik scheint Polizist genannt, das ist die neutrale und keineswegs zufrieden stellend zu sein, und dadurch von der Zensur nicht zu das Wunder findet nicht statt: Die beanstandende Bezeichnung. Das ganze Republik entpuppt sich nicht als ein edler Sprachspiel dient der Kritik, die durch und wohlgesinnter König. Dadurch wird Trivialisierung erreicht wird. die Bezeichnung Republik für die reale In dem Gedicht wird das Spiel fortgesetzt: politische Struktur im kommunistischen „In einer Konditorei, / Heute um Mittag ½ 3, Rumänien in Frage gestellt und Kritik an / kauft einer ein Himbeerbrot, / seine Zunge das Regime ausgeübt. ist rosenrot.“ [4] Es handelt sich anscheinend In einem weiteren Gedicht Rumpelstilzchen um eine banale Handlung, Insider wissen gebrauchte die Autorin dieselbe Technik der aber natürlich, dass es in einer variierenden Nachahmung. Die Struktur Mangelwirtschaft zur späten Mittagsstunde wurde übernommen und an die längst nichts mehr, geschweige denn Autorenintention angepasst. Das Lied „Ach Leckereien zu kaufen gab. Der spöttische wie gut, dass niemand weiß, / dass ich Unterton dabei bleibt, dass sich die Zunge Rumpelstilzchen heiß“ wurde in dem Gedicht dieses erfolgs- und beziehungsreichen zu „Schade dass es niemand weiß, / was euch Käufers vom märchenhaften Himbeerbrot auf kalt lässt, / macht mir heiß.“ [4] Durch diese opportunistische Weise „rosenrot“ färbt. schützenden Verfremdungsmittel soll an „In einem Zimmer, / bei Solidarität und Widerstand gegen Kerzenschimmer, / dichtet ein Mann, / was Missverhältnisse in der realsozialistischen man heute so dichten kann.“ [4] Durch Gesellschaft appelliert werden. Es ist ein diese Aussage wird offenkundig, dass die Gedicht gegen Apathie und Lauheit, die Dichtung nun dem Alltag angehört. Der Märchenfigur des Rumpelstilzchen mutiert Dichter dichtet bei Kerzenschimmer, wohl zum verkappten Dissidenten und nicht aus unkonventionell-romantischen Aufruhrstifter. Gründen, sondern weil abends kein Strom Denken wir an den Tonfall von Brechts mehr wegen Misswirtschaft geliefert Kinderliedern, scheint es sich auch im wurde. Der Vers „was man heute so folgenden Beispiel, Gedicht in vier dichten kann“ erinnert inhaltlich an Strophen, um ein Sprachspiel in der Form Brechts Titel Schlechte Zeit für Lyrik. Der von Kinderversen zu handeln: „In einem Bezug ist nicht direkt intertextuell, es ist Einmachglas, / Ganz von Regen nass, / eher eine hypertextuelle Annäherung an
168 Bulletin of the Transilvania University of Braşov. Series IV • Vol. 4 (53) No.1 - 2011 Brecht, der allerdings mit den schlechten Happy End vorweisen, sondern nehmen Zeiten die Jahre einer anderen Diktatur einen Desillusionierungsvorgang vor. [8] meinte, nicht jener des „Proletariats“. Was Richten wir nun den Blick auf Kolfs Latzina damit deutlich machen wollte, war, Variation des Märchens Hans im Glück. dass man auch unter den Lebensumständen Der Autor versetzt dem Text einen dieser neuen Unfreiheit wenig dichten zusätzlichen Untertitel Das wahre Gesicht konnte. Die letzte Strophe formuliert den des Tauschhandels. Schon der Untertitel Wunsch des lyrischen Ichs, seinen weist auf die Umkehrung des eigentlichen Gedanken freien Lauf lassen zu dürfen, Märchens hin. Kolf zieht im ersten Teil nächstliegende Erlebnissituationen (der seines Märchengedichtes die Kontrolle, des Konsums, der Dichtung) inhaltsbezogene Variation durch eingängig und zugänglich Umkehrung vor. Im Märchen Hans im volksliedstrophenartig zu schildern. Glück findet eine progressive Latzina bediente sich intertextueller Wertveränderung der getauschten Verfahren, die sich mehr als bescheidene Gegenstände statt (vom Klumpen Gold zu Sprachspiele erweisen, denn die Lyrikerin Pferd, Kuh, Schwein, Gans, Stein), und das Latzina benutzte die Technik der Resultat ist überraschenderweise die Transformation, um ihre dichterischen Erlangung von Freiheit. Im Intentionen durchzusetzen. Sie baute ihre Märchengedicht von Bernd Kolf findet Texte (mit drei Strophen, den dreifachen eine Umkehrung der Progression statt – Zeitangaben, dreifachen Nennungen des von der Freiheit gelangt man zum Gold. lyrischen Ichs) nach der üblichen Dadurch wird signalisiert, dass gerade die Dreierstruktur des Märchens, durchbrach Freiheit verloren wird. Der Tausch in aber am Ende durch Verneinung und Kolfs Text ist ungünstig, es heißt in einer politisch konnotierte Aussagen den direkten Anrede an ein „Du“: „immer / Erwartungshorizont des Lesers. fielst du auf / worte herein“.[3] Der 1975 veröffentlichte Bernd Kolf in der Erwartungshorizont wird durchbrochen, an Neuen Literatur, Nummer 5 den Zyklus Stelle des Happy End stehen Enttäuschung Grimmige Märchen. Im Unterschied zu und Verbitterung: „du bliebst am leben / Latzina, bediente sich Kolf in seinen doch / wenn einer kommt / und will dein Texten nicht der Intertextualität in engem glück / und will dein leben / und will dir Sinne, sondern eher der Hypertextualität dafür / immer / nur gute worte geben“.[3] und variierte in knapper Alltagssprache Das Glück, das Leben, die Freiheit wurden geläufige Märchenmotive. Der erwähnte nachteilig gegen leere Versprechungen Zyklus umfasst fünf Gedichte, die sich auf ausgetauscht. einige der bekanntesten Märchen beziehen: Das Märchengedicht die Bremer Hans im Glück, Die Geiß und die sieben Stadtmusikanten trägt den Untertitel Die Geißlein, Die Bremer Stadtmusikanten, Gewalt der neuen Musik. Die Variation ist Das tapfere Schneiderlein. Schon der Titel wie bei Hans im Glück inhaltsbezogen und des Zyklus – Grimmige Märchen – nicht strukturbezogen. Das Gedicht folgt verheißt wenig Gutes. Die Gedichte, wie dem Erzählstrang des bekannten Märchens auch im Falle der Texte von Latzina, – den vier Tieren gelingt es zu entkommen, setzten sich mit möglichen sie treffen sich zufällig, brechen nach Erscheinungsformen des Bösen Bremen auf, es wird aber dunkel, und sie auseinander, die an den sozialpolitischen müssen im Wald übernachten. Hier Kontext gekoppelt wurden. Kolfs entdecken sie ein Räuberhaus, Märchengedichte können ebenso kein verschrecken die Räuber mit ihrem
D. COTÂRLEA: Sprachspiel, Nonsense- und Kinderverse in der rumäniendeutschen Lyrik .. 169 Geschrei und bleiben in dem Haus, gesellen nicht mehr / aber die riesenangst / nachdem sie diese in der Nacht endgültig einer ginge nicht ins garn“.[3] Die verjagt haben. Im Gedicht von Kolf heißt Anspielung auf die Maßnahmen gegen es aber „vertrieben die räuber durch / die nichtkonformes, also regimekritisches macht des gesangs / schufen sich ein Verhalten ist herauszulesen. pensionat / und lebten hier weiter wie Märchenmotive finden eine vordem“.[3] Besondere Aufmerksamkeit unterschiedliche Bearbeitung bei einigen soll dem Wort „Pensionat“ geschenkt Mitgliedern der Aktionsgruppe Banat. werden – denn es bedeutet unter anderem Balthasar Waitz veröffentlichte in der auch Zuflucht, Asyl, aber auch Neuen Literatur 4/1974 das experimentelle Vereinshaus. Ein kleiner Einschub, „die Gedicht ansätze zu dem taschen- und räuber“, soll darauf hinweisen, dass eine gesellschaftsspiel ‚Schneewittchen in Umkehrung des Märchens in dem Text einem Schwabendorf’. Die Variation des stattfindet, die in den kommenden Versen Schneewittchenmotivs setzt sich in die Worte gekleidet wird „bis / an ihr maßgeblich von dem geläufigen Märchen selig end doch / singen hat man / sie nicht ab, es handelt sich sogar um eine groteske mehr gehört“.[3] Angriffe auf das Verfremdung. Schneewittchen ist im herrschaftskonforme Verhalten wurden zeitgenössischen Alltag fest verankert, der also abgewehrt, eingedämmt, rückgängig Schauplatz ist laut Textangaben ein gemacht, Aussagen gegen den öffentlichen Schwabendorf. Schneewittchen ist süßlich, Diskurs wurden abgeändert, also jodelt, sitzt auf ihrem runden Plüschsofa, zensuriert. Darauf deuten die sie bäckt, strickt, ist brav. Ihr Prinz abschließenden Verse hin: „und wers hingegen scheint nicht gerade eine feine zuletzt erzählt hat / dem wurde der Mund Erscheinung zu sein, denn er dreckt unter kalt“. [3] den Wirtshaustisch, hat fette Daumen, Im Tapferen Schneiderlein ist die versäuft das Kuhgeld, spuckt in die Hände, Inhaltsbezogenheit knapp „knurrt wie ein darm“, scheint eher den zusammengefasst, die Anspielung auf den sogannten „älteren Zeiten“ und dem Diktator Nicolae Ceauşescu ist Dorfmilieu verpflichtet zu sein, denn er offenkundig. Der Untertitel ist an die „denkt an die alte Zeit“ und singt „alle zeit sozialpolitische Lage der zunehmenden ‚in einem schwabendörfchen’“. [1] Der Verhärtung angepasst – „wie die Text ist aggressiv, stellt in Frage gängige Riesenangst im Land der Zwerge aufkam“. Wertvorstellungen des Dorfmilieus der [3] Die Geschichte des tapferen Banater Schwaben. Waitz beabsichtigt Schneiderleins hatte sich schon durch groteske Verzerrung und zugetragen, und zwar hinten den sieben zeitgenössische Adaption von Bergen (Anspielung auf Siebenbürgen), Märchenmotiven eine raffinierte Kritik an durch die Angst der anderen sei der den Zuständen innerhalb der damaligen Schneider König geworden: „immer hilft sozialen und politischen Verhältnisse der die angst der anderen / die angst vor der Banater Schwaben. Der Text, auf Parataxe Losung über der Brust / die riesen / die und Ellipse aufgebaut, soll als wildsau / das einhorn / kennen die Gesellschaftsspiel in einem geschichte / wie der schneider könig Schwabendörfchen die sozialen wird“.[3] Die letzten zwei Verse lassen Missverhältnisse aufdecken, das auf das Terrorregime des Kommunismus Sprachspiel von Waitz kann der Kategorie schließen: „aus seinen träumen dann / der Poesiè engagé zugeschrieben werden. schreckt ihn die erinnerung / an die
170 Bulletin of the Transilvania University of Braşov. Series IV • Vol. 4 (53) No.1 - 2011 Bei Dichtern der Aktionsgruppe sind Bei Richard Wagner sind wir auf der Sprachspiele, die auf Homophonie, Suche nach Sprachexperimenten ebenfalls Alliteration, Wiederholung bestimmter fündig geworden. Nennen wir hier das Strukturen fußen, in großer Anzahl Gedicht perjamosch im herbst. Wagner anzutreffen. Bei Wagner, Bossert, Lippet liefert jedoch kein Heimat- oder enthalten die Sprachexperimente keinen Landschaftsgedicht, sprachlich fußt das direkten Bezug zu Märchen oder Gedicht auf dem Verb „ziehen“, wobei die Märchenmotiven. Dafür aber implizieren Ambivalenz aus den Nebenbedeutungen die Sprachspiele direkte politische „hinter sich ziehen“ oder „herabziehen“ entsteht. Das Gedicht lautet: „die kraniche Konnotationen, raffinierte Kritik wird an ziehen / die kraniche ziehen / die kraniche dem realsozialistischen Alltag ausgeübt. ziehen / die kraniche ziehen / die kraniche ausnahme / außer: / gewöhnliche umstände ziehen / die augen hinter sich her / die / verlangen / außergewöhnliche kraniche ziehen / die augen hinter sich her maßnahmen [2] / die kraniche ziehen / mit den augen herab Das Wortspiel ist auf Homophonie / die kraniche ziehen / mit den augen aufgebaut. Die Ambivalenz kann nur durch herab“.[7] den Leser aufgelöst werden, die Bedeutung Der Kranich gilt als Vogel des Glücks, er der Präposition „außer“ als „abgesehen symbolisiert Wachsamkeit und Klugheit, von“ wird von der Bedeutung der kann aber auch für Erhabenes stehen. Das unselbstständigen Partikel „außer“ in dem Glück, die Klugheit, das Erhabene ziehen Kompositum „außergewöhnlich“ abgelöst. fort, sie ziehen aber auch die Blicke auf Der Text deutet auf die zwei Sprachebenen sich zu, womöglich ziehen sie auch einen innerhalb der damaligen Gesellschaft, auf ins Verderben. die Spaltung zwischen privat und offiziell In einem weiteren Gedicht von Wagner hin. Es bleibt offen, ob gewöhnliche oder fallgesetz heißt es – „hinfallen / auffallen / außergewöhnliche Umstände besonderer hinauffallen“.[6] Zentriert ist das bzw. extremer Maßnahmen bedürfen. einschlägige Sprachspiel auf das Verb Nach demselben Prinzip ambivalenter „fallen“ mit den durch die Hinzufügung von Äußerungen baut Bossert seinen Text vier Partikeln eingetretenen Bedeutungs- veränderungen: „hinfallen“ bedeutet gedichte auf. Das Sprachspiel fußt auf den „stürzen“, „niederfallen“, „auffallen“ Bedeutungen der Verben „vorwerfen“ und bedeutet „Aufsehen erregen“, „hinauffallen“ „nachwerfen“, „vorwerfen“ bedeutet kann auch die Bedeutung von „Karriere „beschuldigen“, „nachwerfen“ ist eher machen“, „sich emporarbeiten“ haben. Die „beschmeißen“, was wiederum auf die Aufeinanderfolge der Handlungen soll den Bedeutung von „beschuldigen“ Opportunismus offenbaren, denn nach zurückkommt. einem Sturz kann man sich nur durch eine zuerst haben sie mir / (ihre, eine) worte / konforme Haltung bemerkbar machen und vorgeworfen / ich schnupperte daran / sich hinaufarbeiten. Ironischerweise trägt ging aber weiter / ohne darüber zu das knappe Gedicht den Titel „Fallgesetz“ – stolpern / jetzt werfen sie mir / (ihre, In der Physik versteht man darunter den meine) worte nach.[2] „freien Fall“, die durch die Schwerkraft Liefern wir ein letztes Beispiel von Rolf bewirkte Bewegung eines Körpers Bossert: wie eulenspiegels esel lesen lernte unabhängig von weiteren Kräften, im „I ch A uch.“ [2] Gedicht wird aber genau das Gegenteil suggeriert.
D. COTÂRLEA: Sprachspiel, Nonsense- und Kinderverse in der rumäniendeutschen Lyrik .. 171 In den angeführten Versen zeigt sich, 2. Bossert, R.: Ausnahme, Vier Gedichte. wie Richard Wagner bestimmte Strukturen In: Ein Pronomen ist verhaftet worden. und Formen verfremdend wiederholt, um Texte der Aktionsgruppe Banat. durch spielerische Verwendung von Wichner, E. (Hg.). Frankfurt. Bauelementen polemisch zu wirken. Suhrkamp, 1992, S. 120 u. 114. Lesen wir Werner Kremms zeitungsnotiz 3. Kolf, B.: Grimmige Märchen. In: Neue oder das sieben buergen genannte Gedicht, Literatur 5/1975, S. 31-34. so stellen wir fest, dass aus der banalen 4. Latzina, A.: Tagebuchtage. Berlin. Alltagsdokumentation durch die formale Galrev, 1992. Bearbeitung überraschende Verfremdungs- 5. Ortinau, G.: Liebesabenteuer eines effekte erreicht werden. zeitungsnotitz kann Löwen. In: Ein Pronomen ist verhaftet als Montage gelten, wobei sieben buergen worden. Texte der Aktionsgruppe der konkreten Poesie nahesteht. Banat. Wichner, E. (Hg.). Frankfurt. Schließen wir unsere punktuelle Suhrkamp, 1992, S. 95. Untersuchung mit einer Spielform von 6. Wagner, R.: Fallgesetz. In: Ein Gerhard Ortinau ab, die den Titel Pronomen ist verhaftet worden. Texte Liebesabenteuer einer Löwin trägt. Das der Aktionsgruppe Banat. Wichner, E. Sprachspiel geht von der Lautähnlichkeit (Hg.). Frankfurt. Suhrkamp, 1992, des englischen Wortes „love“ und des S. 80. deutschen „Löwe“ aus. Ortinau schafft von 7. Wagner, R.: Perjamosch im herbst. In: dem Nomen „Löwe“ das Verb „sich löwen“, Neue Literatur 4/1974, S. 12. also sich lieben und das Adjektiv „löw“ Sekundärliteratur bzw. lieb. [5] Dadurch entsteht eine neue Sprache, die auf feste Sprachstrukturen 8. Bican, B.: Ausdruck äsopischen zurückgreift, trotzdem bleibt der Text an Schreibens. Märchengedichte bei manchen Stellen ambivalent. Eine weitere Bernd Kolf und Anemone Latzina. In: Anspielung auf den Journalisten Adrian Germanistische Beiträge 5. Löw ist durchaus möglich. Sibiu/Hermannstadt. Universitäts- Ziehen wir ein Fazit bezüglich der Spielformen in der rumäniendeutschen verlag, 1996, S. 76-85. 9. Busse, Günther: Training Lyrik der 70er Jahre: Durch Gedichtinterpretation. Stuttgart. Klett, Ironie/Selbstironie, Auflösung von 1977. grammatischen Regeln fand, so Peter 10. Gabanyi, A.: Partei und Literatur seit Motzan, eine „Unterwanderung“ der 1945. München. Oldenbourg, 1975. öffentlichen Diskurse statt, gleichzeitig 11. Hodjak, F.: Literatur und Gesellschaft. wurde aber eine engagierte Kritik an dem In: Karpatenrundschau 17/25. realsozialistischen Alltag ausgeübt. [11] IV./1975, S. 4-5. 12. Motzan, P.: Von der Aneignung zur References Abwendung. Der intertextuelle Dialog der rumäniendeutschen Lyrik mit Primärliteratur Bertolt Brecht. In: Im Dienste der Auslandsgermanistik. Festschrift für 1. Waitz, B: Ansätze zu dem taschen- Professor Dr. Dr. h. c. Antal Madl zum und gesellschaftsspiel ‚Schneewittchen 70. Geburtstag. Ferenc Szász und Imre in einem Schwabendorf’. In: Neue Kordi Hg.). Budapest, 1999, S. 139- Literatur 4/1974, S. 13-14. 165, hier S. 144.
172 Bulletin of the Transilvania University of Braşov. Series IV • Vol. 4 (53) No.1 - 2011 13. Solms, W. (Hg.): Nachruf auf die 14. Wagner, R.: Am Anfang war das rumänideutsche Literatur. Marburg, Gespräch. Erstmalige Diskussion 1990. junger Autoren. Standpunkte und Standorte. In: Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Ernest Wichner (Hg.). Frankfurt. Suhrkamp, 1992, S. 31-35, hier S. 33.
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