Das Virus und die Weltmacht - Einleitung
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NR. 44 JUNI 2020 Einleitung Das Virus und die Weltmacht Mögliche Folgen der Corona-Pandemie für die US-amerikanische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Marco Overhaus Die Corona-Krise wird in den USA aller Voraussicht nach finanzielle Kürzungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung nach sich ziehen. Einiges spricht dafür, dass diese Einschnitte zumindest mittelfristig – in den kommenden vier bis sechs Jahren – verhältnismäßig moderat ausfallen und die damit verbundenen Prioritätenverschie- bungen eher graduell als grundlegend sein werden. Die politischen Beharrungskräfte in Washington zugunsten hoher Verteidigungsausgaben bleiben einflussreich. Zudem haben die USA viel mehr Spielraum als andere Länder, Schulden zu machen. Schließlich gibt es weiterhin einen breiten politischen Konsens in den USA, dass Amerika im Wettbewerb gegen China und andere Großmächte bestehen muss. Lang- fristig könnten die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie allerdings die gesellschaftliche Unterstützung für kostspielige internationale Engagements weiter erodieren lassen. Folgendes Szenario erscheint auf den ersten Kontinuität bei zentralen Leitlinien ame- Blick plausibel: Die wirtschaftlichen Folgen rikanischer Sicherheitspolitik in den kom- der Viruspandemie werden die USA zu menden Jahren und durch graduelle Ver- massiven Ausgaben-Einsparungen zwingen. änderungen bei deren Umsetzung. Dreh- Traditionelle militärische Bedrohungen und Angelpunkt sind dabei Bedrohungs- treten für das Land in den Hintergrund, wahrnehmungen in den USA – und nicht während innenpolitische Fragen Priorität die wirtschaftlichen Folgen von Covid-19. erhalten. In der Folge werden sich die USA Das Nachdenken über solche Szenarien weiter aus internationalen Verpflich- kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, tungen, Bündnissen und Kooperationen dass Aussagen über die Auswirkungen der zurückziehen. Pandemie mit zahlreichen Unsicherheiten Eine Reihe von Faktoren sowie die Erfah- behaftet sind. Das betrifft nicht zuletzt rungen aus der letzten großen Finanz- und auch die Frage, wie sich die Krankheit auf Wirtschaftskrise von 2008/2009 sprechen die Ergebnisse der bevorstehenden US- dagegen eher für ein anderes Szenario: Es Präsidentschafts- und -Kongresswahlen im ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an November 2020 auswirken wird.
Wirtschaftliche und budgetäre nischen öffentlichen Hand gebe. Letztend- Konsequenzen aus der Krise lich hängt diese Schwelle vom Vertrauen der Anleger und von der Verfügbarkeit Die Corona-Krise hat weitreichende nega- alternativer Anlageformen ab. tive Konsequenzen für die amerikanische Dennoch ist zu erwarten, dass der his- Wirtschaft und für die öffentlichen Haus- torisch hohe Schuldenstand den innen- halte auf Landes- und Bundesebene. So politischen Spielraum in den USA für neue prognostiziert der Internationale Währungs- Schulden schrumpfen lässt. Der US-Kon- fonds (IWF) für 2020 für die USA einen gress kann nämlich Obergrenzen für die Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Verschuldung der öffentlichen Hand fest- um fast 6 Prozent. legen, die die Exekutive zumindest mittel- Um die wirtschaftlichen Folgen der Pan- bar dazu zwingen, entweder die Steuer- demie abzufedern, haben die Trump-Admi- einnahmen zu erhöhen oder die Ausgaben nistration und der Kongress bereits vier zu kürzen. umfangreiche Konjunkturpakete beschlos- Zwar wurden diese Obergrenzen seit sen, die insgesamt ein Volumen von fast 2013 immer wieder ausgesetzt – wie zu- 3 Billionen US-Dollar haben. Damit könnte letzt bis Juli 2021 geschehen. Die Aussicht das Defizit des Bundeshaushalts auf 3,7 Bil- auf einen öffentlichen Schuldenstand, der lionen US-Dollar anwachsen – nahezu größer ist als die gesamte Wirtschafts- 18 Prozent des amerikanischen BIP. Dies leistung der USA, dürfte aber den Druck auf wäre das größte Haushaltsdefizit der USA Regierung und Kongress erheblich wachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Zum Vergleich: lassen, den Schuldenberg zu begrenzen – Nach der globalen Finanz- und Wirtschafts- und in beiden politischen Parteien die krise waren es 2009 »nur« knapp 10 Prozent Argumente der Fiskalkonservativen stärken. (bzw. 1,4 Billionen US-Dollar). Schließlich steigen die Kosten für das Die heutige Situation wird dadurch ver- Bedienen der Schulden ebenso und redu- schärft, dass dieses enorme Haushaltsdefizit zieren somit den Handlungsspielraum für auf einen historisch hohen Schuldenstand andere staatliche Ausgaben, nicht zuletzt trifft. 2009 lag der Anteil der öffentlichen auch für Sicherheit und Verteidigung. Schulden der USA (nur auf Bundesebene) noch bei 52 Prozent des BIP, 2019 waren es schon 79 Prozent. Laut Prognosen der Haus- Auswirkungen auf den haltsbehörde des US-Kongresses (Congressi- US-Verteidigungshaushalt onal Budget Office, CBO) könnte der Wert 2020 auf 108 Prozent hochschnellen – das Die wirtschaftlichen und budgetären Folgen wäre der höchste Schuldenstand in der der Pandemie könnten also durchaus dras- amerikanischen Geschichte (siehe Grafik 1). tisch sein. Die Erfahrungen mit den Nach- Vor der Corona-Krise gingen Beobachter wirkungen der globalen Finanz- und Wirt- noch davon aus, dass der Schuldenstand der schaftskrise von 2008/2009 haben indes USA die Einhundert-Prozent-Marke erst verdeutlicht, dass wirtschaftliche Einbrüche, Ende der 2020er Jahre »knacken« würde. Haushaltsdefizite und ein steigender Aufgrund der weiterhin einmaligen Stel- Schuldenstand sich nicht automatisch in lung des Dollar als weltweit wichtigste große Ressourcenkürzungen im Bereich Reservewährung haben die USA viel grö- Sicherheit und Verteidigung übersetzen. ßere Spielräume beim Schuldenmachen als Selbst wenn es zu Mittelkürzungen kommt, andere Länder. Eine amerikanische Finanz- ist keinesfalls ausgemacht, wo und wie sie krise als Folge der Schulden erscheint sehr umgesetzt werden. All dies sind politische unwahrscheinlich. Ökonomen weisen zu- Entscheidungen, die von einer Reihe von dem darauf hin, dass es keinen vorab iden- Faktoren beeinflusst werden. tifizierbaren »Kipppunkt« bei der Höhe des Historisch betrachtet hing es nämlich tragfähigen Schuldenstands der amerika- weniger von der wirtschaftlichen Lage der SWP-Aktuell 44 Juni 2020 2
Grafik 1 USA ab, welchen Umfang der US-Verteidi- schuldung Herr zu werden. Das Gesetz defi- gungshaushalt hatte, als vom jeweiligen niert Ausgaben-Obergrenzen. Wegen tempo- sicherheitspolitischen Umfeld. Bestimmend rärer Haushaltskompromisse zwischen waren also die jeweils dominanten Bedro- beiden Parteien griffen die Kürzungsvorga- hungswahrnehmungen der politischen ben des BCA für das Militär jedoch erst Entscheidungsträger. Besonders hoch waren 2013. Mit einem Volumen in Höhe von die Ausgaben in Zeiten internationaler 37 Milliarden US-Dollar waren sie durchaus Spannungen und Kriege, in die Amerika beträchtlich. Wirklich schmerzhaft waren verwickelt war: während des Zweiten Welt- die Kürzungen für das Pentagon aber vor kriegs, des Korea-Kriegs, des Vietnam-Kriegs allem, weil sie nach dem »Rasenmäher- und zuletzt während der Kriege in Irak prinzip« vorgenommen wurden und daher und Afghanistan (siehe Grafik 2). viele Arbeitsbereiche des Militärs (sowie Die Finanz- und Wirtschaftskrise von nichtmilitärische Bereiche) gleichzeitig 2008/2009 hat auch gezeigt, wie stark die trafen. Überdies trug das Pentagon selbst zu politischen Beharrungskräfte in den USA der Malaise bei, da es sich lange Zeit wei- zugunsten hoher Militärausgaben sind. gerte, auf die drohenden Einsparungen mit Denn trotz der damaligen Krise blieb das einem eigenen Plan zu reagieren. Militär von tiefen Einschnitten weitgehend Der Vergleich der Budgetzahlen über verschont. Daran ändert auch nichts, dass mehrere Jahre deutet darauf hin, dass die Verteidigungsfalken in Washington das Einschnitte für das Militär nach der Finanz- Kaputtsparen des Militärs in den Folge- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 keines- jahren laut beklagt haben. wegs so dramatisch waren. Denn die Aus- Sie verweisen dabei häufig auf ein Gesetz gaben für »nationale Verteidigung« wuch- zur Kontrolle des Haushalts – den Budget sen noch bis einschließlich 2010 weiter auf Control Act (BCA). Der BCA wurde 2011 ein historisches Rekordniveau von 724 Mil- vom US-Kongress verabschiedet, um dem liarden US-Dollar. Zwischen 2011 und 2015 wachsenden Haushaltsdefizit und der Ver- sanken sie auf bis zu 573 Milliarden US- SWP-Aktuell 44 Juni 2020 3
Grafik 2 Dollar, allerdings hing dieser Abwärtstrend Ob die USA »zu viel« oder »zu wenig« für wesentlich mit dem Rückzug der USA aus Verteidigung ausgeben, hängt von den Irak und später aus Afghanistan zusam- jeweiligen sicherheitspolitischen Prioritäten men. Im historischen Vergleich blieben die ab, denn diese bilden den Bewertungsmaß- Ausgaben nichtsdestotrotz auf hohem stab. So kam beispielsweise eine vom Kon- Niveau – und begannen in den ersten gress eingesetzte, überparteiliche Experten- beiden Amtsjahren Donald Trumps wieder, kommission 2018 zu dem Schluss, dass sich deutlich zuzulegen. die USA am Rande der »strategischen Insol- Gemessen als Anteil am BIP haben die venz« befänden. Die Schlussfolgerungen der USA über die Jahre hinweg immer weniger Kommission basierten auf der Annahme, für ihre Verteidigung ausgegeben. Aber die US-Streitkräfte müssten verteidigungs- auch dieser Trend muss im längerfristigen politisch alles können: Die militärische Kontext bewertet werden, weil er nur Überlegenheit der USA in allen Weltregio- bedingt etwas über die außen- und sicher- nen sei elementar, Einschnitte dürfe es heitspolitische Gestaltungskraft aussagt. weder bei der Größe der Streitkräfte noch In den 1990er Jahren, also während des bei deren Einsatzfähigkeit oder Modernisie- »unipolaren Moments«, als Amerika den rung geben. Zudem müssten sich die USA Zenit seiner außenpolitischen Macht erlebte, auf die Kriegsführung im Welt- und Cyber- betrugen die Aufwendungen für Vertei- raum besser einstellen. Das Atomwaffen- digung lediglich zwischen 3 und 5 Prozent arsenal solle ebenso modernisiert werden des BIP. Nach der globalen Finanz- und wie die konventionellen Waffensysteme. Wirtschaftskrise 2008/2009 stiegen die Die wirtschaftlichen Folgen der Corona- relativen Verteidigungsausgaben – ange- Pandemie dürften künftig die Einsicht in sichts der sinkenden Wirtschaftskraft wenig der Administration und im Kongress för- überraschend – sogar leicht und lagen dern, dass die USA sicherheits- und verteidi- bereits 2012 in etwa wieder auf demselben gungspolitisch nicht mehr alles machen Niveau wie vor der Krise. können und entsprechend Prioritäten SWP-Aktuell 44 Juni 2020 4
setzen müssen – zumal dann, wenn der Der demokratische Herausforderer Trumps, Ausweg über hohe Haushaltsdefizite und Joe Biden, verspricht in der Außenpolitik Schuldenstände nicht mehr im gleichen »mehr Offenheit, mehr Kooperation und Maße offensteht wie in früheren Zeiten. mehr Allianzen« als Gegenentwurf zu der- jenigen Trumps. Das zweite Leitmotiv der gegenwärtigen Sicherheitspolitische Prioritäten amerikanischen Sicherheitspolitik, die nach Corona Großmächtekonkurrenz, betrifft in erster Linie China. Dabei erscheint ein Kurswech- Die Nationale Sicherheitsstrategie der Trump- sel im Zuge der Corona-Krise hin zu einem Administration vom Dezember 2017 spie- kooperativeren Verhältnis unwahrschein- gelt drei zentrale Leitlinien wider: Nationale lich. Bislang ist eher das genaue Gegenteil Souveränität hat höchsten Stellenwert; zu beobachten. internationale Politik ist im Kern ein mehr- Die Pandemie hat zunächst zu einer dimensionaler Wettbewerb zwischen Groß- Propaganda- und Deutungsschlacht mächten; Amerika strebt danach, seine glo- zwischen Peking und Washington geführt: bale militärische Überlegenheit zu wahren. Im Zentrum steht die Frage, wer für die Unter dem Schlagwort des principled Krise verantwortlich ist und wie sie über- realism hebt die Trump-Administration die wunden werden kann. Präsident Trump Bedeutung nationaler Souveränität starker, versucht dabei, sowohl China als auch die unabhängiger Staaten hervor. Der Unilate- innenpolitischen Kritiker seines Krisen- ralismus ist seit Jahrzehnten – mehr in der managements in die Defensive zu drängen, Republikanischen als in der Demokrati- indem er Peking für den Ausbruch des schen Partei – eine einflussreiche Strömung neuartigen Virus verantwortlich macht. in der US-Außenpolitik. Jedoch hat Donald Republikanische Senatoren wie Josh Trump das Souveränitätsdenken und den Hawley (Missouri) und Tom Cotton (Arkan- Nationalismus zu einer zentralen Kategorie sas) teilen die Auffassung ihres Präsidenten in der Außenpolitik erhoben. Diese Sicht- und des Pentagon, China wolle die Corona- weise schlägt sich auch in der Corona-Krise Pandemie nutzen, um die USA in der Welt im Verhalten der USA deutlich nieder. So zu schwächen und um seinen eigenen hat Washington früher als Europa und expansiven außenpolitischen Kurs fortzu- andere mit nationalen Abschottungsmaß- setzen. Solche Befürchtungen werden nahmen auf die Krise reagiert, multilaterale gestützt durch Berichte, nach denen China Institutionen wie die Weltgesundheits- auch während der Pandemie seinen aggres- organisation (WHO) offen in Frage gestellt siven Kurs im Südchinesischen Meer weiter- und sich auch ansonsten internationalen verfolgt sowie die Öl- und Gas-Exploration Initiativen zur Bewältigung der Krise weit- anderer Staaten in der Region behindert. gehend entzogen. Außerdem verkündete die chinesische Die Corona-Krise könnte in Washington Führung, dass sie trotz der Corona-Krise im insofern ein Umdenken bewirken, als nicht- laufenden Jahr ihre Ausgaben für Verteidi- militärische, globale Bedrohungen wie gung um 6,6 Prozent steigern wolle – Pandemien stärker in den Fokus rücken. In weniger Zuwachs als im letzten Jahr, aber der Trump-Administration gibt es keine immer noch beträchtlich. Anzeichen dafür, dass dies auch zu einer Das amerikanische Verteidigungsminis- größeren Wertschätzung multilateraler terium fordert zusätzliche Mittel, um China Zusammenarbeit führen wird. Eine Wende militärisch einzudämmen und abzuschre- hin zu mehr internationaler Kooperation cken. Nach Wunsch des Pentagon soll bei der Bewältigung globaler Gefahren (vor dieser Nachtrag zum Haushalt mehr als allem in puncto Klima, Gesundheit) wäre 20 Milliarden US-Dollar für die Jahre daher wohl nur im Falle eines Macht- 2021–2026 umfassen und unter anderem wechsels im Weißen Haus zu erwarten. zusätzliche Raketensysteme und Militär- SWP-Aktuell 44 Juni 2020 5
übungen im indopazifischen Raum finan- operativen Schwerpunkte und Ressourcen- zieren. Republikanische sowie demokrati- zuweisungen haben sich die USA unter der sche Kongressmitglieder zeigten sich jüngst Präsidentschaft Trumps, allen Anfein- offen für diese Forderungen des amerika- dungen des Präsidenten zum Trotz, ihren nischen Militärs nach mehr Geld – unge- Bündnissen eher zu- als abgewendet. achtet der durch die Corona-Pandemie verursachten Kosten. Selbst dann, wenn sich die Machtver- Die Zukunft der Bündnisse hältnisse im Weißen Haus und im US-Senat nach den bevorstehenden Wahlen im So erscheint es zumindest kurz- und mittel- November 2020 zugunsten der Demokraten fristig – in den kommenden vier bis sechs verändern, ist nicht mit einer Entspannung Jahren – wenig plausibel, dass sich die im chinesisch-amerikanischen Verhältnis USA in der Folge der Corona-Krise von ihren zu rechnen. Auch Biden betont, er wolle verteidigungspolitischen Bündnissen in »tough with China« sein, er beklagt den Asien und Europa distanzieren oder sogar »Technologieraub« durch das Land und trennen. Ferner werden sie ihren Anspruch dessen »schimpfliches« (abusive) außenpoli- auf militärische Überlegenheit voraussicht- tisches Verhalten. Die Ergebnisse einer lich nicht aufgeben. Denn beides, das Fest- kürzlich durchgeführten Umfrage des Pew halten an den Bündnissen wie das Streben Research Center zeigen: Auch unter den nach Suprematie, ist weiterhin tief ver- Anhängern der Demokraten haben die wurzelt im bürokratischen Apparat, in bei- negativen Sichtweisen gegenüber China den politischen Parteien des US-Kongresses während der Corona-Krise zugenommen, sowie in der als Ideengeber fungierenden wenngleich weniger deutlich als bei den Think-Tank-Landschaft des Landes. Die Iso- Anhängern der Republikaner. Insgesamt lationisten im US-Kongress waren vor der scheint sich der Anti-China-Konsens sowohl Pandemie in der Minderheit und es gibt bis- unter den außenpolitischen Eliten als auch lang keine Anhaltspunkte dafür, dass sich in großen Teilen der Bevölkerung im Ver- daran durch die aktuelle Krise etwas ändert. lauf der Pandemie weiter gefestigt zu haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Die kritische Sicht auf China wird flan- Bündnisbeziehungen der USA von der kiert durch die im Pentagon und in beiden Corona-Pandemie unberührt bleiben wer- politischen Parteien verbreitete Erwartung, den. So rechnet US-Verteidigungsminister dass auch andere Antagonisten wie Russ- Mark Esper bereits jetzt mit Sparvorgaben land, Iran oder Nordkorea die Covid-19- in der Nach-Corona-Zeit. Überlegungen im Pandemie als Möglichkeit zur Schwächung Pentagon gehen dahin, die Zahl der dauer- der USA betrachten. Die Tatsache, dass haft im Ausland stationierten US-Truppen beide politischen Lager die USA weiterhin zu reduzieren und stattdessen auf schneller in einem existentiellen Wettbewerb sehen, aus amerikanischen Stützpunkten verlege- dürfte einer Abkehr vom dritten Leitmotiv fähige Verbände zu setzen. Im Ausland entgegenstehen, der Wahrung militärischer stationierte Truppen kommen die amerika- Überlegenheit der USA. nischen Steuerzahler zwar meist günstiger Diese Leitlinie prägt die amerikanische zu stehen, als wenn sie sich in den USA Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten; die befinden. Politisch jedoch ist es insbesondere Trump-Administration hält ebenfalls an ihr in wirtschaftlichen Krisenzeiten leichter, fest. Die Nationale Verteidigungsstrategie Basen im Ausland zu schließen als in den von 2018 nennt an vorderster Stelle das Wahlbezirken der Kongressabgeordneten. Ziel, für die USA vorteilhafte Kräftegleich- Außerdem ist zu erwarten, dass die gewichte zu erhalten, und definiert die US- Konflikte über Lasten- und Kostenteilung geführten Allianzsysteme als Kräftemulti- mit den Bündnispartnern, nicht zuletzt mit plikatoren zugunsten Amerikas, die es zu Deutschland, noch offener und heftiger bewahren gelte. Auch mit Blick auf ihre ausgetragen werden – und zwar auch SWP-Aktuell 44 Juni 2020 6
dann, wenn der nächste US-Präsident Joe Politisch besonders brisant ist vor diesem Biden heißt. Denn die europäischen Nato- Hintergrund der massive Einbruch des Staaten ebenso wie die Bündnispartner Arbeitsmarktes in den USA. Im Zuge der Japan und Südkorea werden durch die Pan- Corona-Pandemie ist dieser Markt aus einer demie unter enormem Druck stehen, ihre Situation, in der es nahezu Vollbeschäfti- eigenen Ausgaben für Verteidigung zu gung gab, in einen tiefen Abgrund gestürzt. reduzieren, desgleichen ihre Kostenbeteili- So könnte die Arbeitslosigkeit zumindest gung an der Stationierung der US-Truppen. zeitweise bei über 15 Prozent liegen und im Im Zuge der Bewältigung der Krise wird Jahresdurchschnitt für 2020 noch immer schließlich der Druck auf den nächsten 12 Prozent erreichen. Die Arbeitslosigkeit in Präsidenten wachsen, US-Truppen aus den den USA wäre damit höher als zu jedem Konfliktgebieten im Mittleren Osten und anderen Zeitpunkt seit den frühen 1930er aus Afrika herauszuziehen bzw. heraus- Jahren während der Großen Depression. zuhalten. Mit Blick auf den Mittleren Osten Die Vereinten Nationen (VN) gehen davon zeigen die jüngeren Entwicklungen seit aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Anfang 2019 indes einmal mehr: Ein Corona-Pandemie auch in den entwickelten gesichtswahrender Rückzug der USA aus Industriestaaten die unteren Einkommens- dieser Weltregion ist nur möglich, wenn es gruppen besonders hart treffen werden. zu einer Entspannung im Verhältnis der Niedriglohnjobs drohen als erste wegzu- USA sowie seiner arabischen Verbündeten fallen. Darüber hinaus könnte nach Ein- mit dem Iran kommt. Insofern könnte die schätzung der VN der Teufelskreis aus nied- Corona-Pandemie im Falle eines Macht- rigem sozioökonomischem Status und wechsels im Weißen Haus nach den Gesundheitsrisiken die wirtschaftliche November-Wahlen einen Schwenk in der Ungleichheit in vielen Ländern weiter ver- amerikanischen Iran-Politik begünstigen. größern, darunter auch in den USA. Dort sind laut VN 40 Prozent der Haushalte derzeit nicht in der Lage, unvorhergesehene Die drohende Erosion Ausgaben in Höhe von mehr als 400 US- des Gesellschaftsvertrags Dollar zu stemmen, ohne neue Schulden aufzunehmen oder einen Teil ihres Eigen- Die Beharrungskräfte im außen- und sicher- tums zu veräußern. heitspolitischen Establishment der USA Die Wahrnehmung, die wirtschaftliche sprechen also gegen eine grundsätzliche Inklusivität funktioniere nur mangelhaft, Kurskorrektur der amerikanischen Politik – hat in der Folge der globalen Finanz- und zumindest in den ersten Jahren nach Wirtschaftskrise von 2008/2009 schon der Pandemie. Präsident Barack Obama dazu gezwungen, Langfristig jedoch könnten die gesell- »Nation-Building at Home« stärker in schaftlichen Folgen der Corona-Krise einen den Vordergrund zu rücken und internatio- Prozess beschleunigen, der sich bereits seit nale Militäreinsätze der USA in Frage zu dem Ende des Kalten Krieges in den USA stellen. Die Enttäuschung über fehlende beobachten lässt. Die gesellschaftliche wirtschaftliche Inklusivität hat 2016 eben- Zustimmung zu kostenträchtigen inter- falls den Weg Donald Trumps ins Weiße nationalen Verpflichtungen und einem auf Haus geebnet. wirtschaftliche Öffnung ausgerichteten Insofern ist es einerseits sehr gut denk- außenpolitischen Narrativ ist nämlich nicht bar, dass die wirtschaftlichen Folgen bedingungslos. Sie hing in den sieben der Corona-Pandemie das Vertrauen der Dekaden nach dem Ende des Zweiten Welt- amerikanischen Bevölkerung gegenüber kriegs ab von dem glaubwürdigen Ver- politischen Institutionen und multilate- sprechen größerer wirtschaftlicher Inklu- ralen Organisationen weiter erodieren sivität und Gleichheit innerhalb der ame- lassen. Andererseits würde dies die innen- rikanischen Gesellschaft. politischen Grundlagen einer »internatio- SWP-Aktuell 44 Juni 2020 7
nalistischen« US-Außen-, -Sicherheits- Im März 2020 ist in Deutschland eine und -Verteidigungspolitik zusätzlich Debatte über die nukleare Teilhabe und schwächen und könnte diese auf lange damit indirekt auch über die Atomwaffen- Sicht gänzlich untergraben. politik der USA ausgebrochen. Abrüstungs- befürworter hierzulande können nicht darauf hoffen, dass Amerika in der Folge Ausblick der Covid-19-Pandemie weniger Geld in die Modernisierung und Flexibilisierung seines Vieles spricht dafür, dass die Corona-Pan- Atomwaffenarsenals investiert. Nuklear- demie in den kommenden Jahren eher zu waffen sind auch für die USA »asymmetri- © Stiftung Wissenschaft einem graduellen als zu einem abrupten sche Waffen«, die militärische und techno- und Politik, 2020 und grundlegenden Wandel in der US- logische Nachteile in anderen verteidi- Alle Rechte vorbehalten amerikanischen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitischen Bereichen kompensieren gungspolitik führen wird. Und das trotz können. Nuklearwaffen behalten im Zuge Das Aktuell gibt die Auf- absehbarer Sparzwänge – zu groß sind die der Großmachtkonkurrenz eine hohe fassung des Autors wieder. politischen Beharrungskräfte zugunsten Bedeutung – und diese nimmt eher zu, In der Online-Version dieser einer Politik, die auf internationale Ein- wenn teure konventionelle Waffensysteme, Publikation sind Verweise flussnahme und militärische Überlegenheit beispielsweise Flugzeugträger, in Folge der auf SWP-Schriften und ausgerichtet ist. Zudem betrachten Repub- Corona-Pandemie zusammengestrichen wichtige Quellen anklickbar. likaner wie Demokraten die gegenwärtige werden müssen. SWP-Aktuells werden intern Krise durch die Brille der schon vor Corona Schließlich scheint die Annahme plau- einem Begutachtungsverfah- dominanten sicherheitspolitischen Motive, sibel, dass die USA insbesondere dort ihr ren, einem Faktencheck und nicht zuletzt des chinesisch-amerikani- sicherheitspolitisches Ambitionsniveau einem Lektorat unterzogen. schen Konflikts. zurückschrauben werden, wo die Konflikte Weitere Informationen Auf längere Sicht jedoch – über die mit China und anderen Großmächten von zur Qualitätssicherung der Spanne von zwei oder drei Präsidentschaf- bislang sekundärer Bedeutung sind – und SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. ten – könnte die Corona-Pandemie die wo die USA bereits seit Jahren aus ihren swp-berlin.org/ueber-uns/ gesellschaftlichen Grundlagen für eine »endlosen Kriegen« aussteigen wollen. qualitaetssicherung/ global ausgerichtete amerikanische Sicher- Das betrifft vor allem den Mittleren Osten heitspolitik weiter schwächen; zumindest und Afrika. SWP wenn es nicht gelingt, die sozioökono- Beide Regionen sind indes für Deutsch- Stiftung Wissenschaft und Politik mischen Ungleichheiten in den USA land und Europa besonders relevant. Und Deutsches Institut für abzufedern. so könnten Letztere in Zukunft dort noch Internationale Politik und Deutschland und andere Partner der USA mehr auf ihr eigenes sicherheitspolitisches Sicherheit müssen sich darauf einstellen, dass der Gewicht angewiesen sein. Streit über sicherheitspolitische und militä- Sofern die Corona-Krise langfristig tat- Ludwigkirchplatz 3–4 rische Lastenteilung in der Nato an Heftig- sächlich die gesellschaftliche Akzeptanz in 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 keit und Virulenz gewinnt. den USA für eine international ausgerich- Fax +49 30 880 07-100 Es ist gut möglich, dass Washington auf- tete Sicherheitspolitik und internationale www.swp-berlin.org grund der wirtschaftlichen Pandemie-Folgen Bündnisse untergräbt, bekommt die Idee swp@swp-berlin.org dauerhaft in Europa stationierte Truppen einer größeren sicherheitspolitischen Eigen- reduzieren und gegebenenfalls einzelne ständigkeit Europas eine zusätzliche ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2020A44 Standorte schließen wird. Der amerikani- Bedeutung. sche Fokus würde sich noch mehr in Rich- tung China und den Indo-Pazifik ver- lagern – verbunden mit bereits bekannten Forderungen aus Washington, sich an die Seite der USA zu stellen, was alle relevan- ten Konfliktpunkte mit Peking angeht. Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika. SWP-Aktuell 44 Juni 2020 8
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