NUKLEARE HUNGERSNOT Selbst ein "begrenzter" Atomkrieg würde das Klima zerstören und eine weltweite Hungerkatastrophe auslösen
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NUKLEARE HUNGERSNOT Selbst ein „begrenzter“ Atomkrieg würde das Klima zerstören und eine weltweite Hungerkatastrophe auslösen Matt Bivens, MD IPPNW – International Physicians for the Prevention of Nuclear War
Nukleare Hungersnot Selbst ein „begrenzter“ Atomkrieg würde das Klima zerstören und eine weltweite Hungerkatastrophe auslösen. Die IPPNW möchte ihre Anerkennung für die jahrelange wichtige Arbeit von Physiker*innen, Biolog*innen, Klimaforscher*innen und anderen Wissenschaftler*innen aussprechen, die immer wieder die Frage gestellt haben: „Was passiert mit den Menschen auf der ganzen Welt, wenn im Krieg Atomwaffen eingesetzt werden?“ Außerdem danken wir der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) für die großzügige finanzielle Unterstützung. Design und Grafiken: Emma Pike Deutsche Fassung adaptiert von der Vorlage von Emma Pike: Samantha Staudte Zeichnungen: Daniel Medina
Inhalt Einleitung 4 Die Jahre ohne Sommer 6 Ein genauerer Blick auf die ominöse Wissenschaft zu einem „begrenzten“ Atomkrieg 8 Die Schädigung der Ozonschicht 9 Selbst „kleine“ Atomkriege bewirken beispiellose Ernteausfälle 10 Arsenale, Städte und Feuer wachsen – die Wissenschaft blickt tiefer 13 Nukleare Hungersnot 15 Was bedeutet es, wenn die weltweit verfügbaren Gesamtkalorien um fast 50 % sinken? 17 Minuten trennen uns von der Katastrophe 20 Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit 23 Fußnoten 25
Einleitung Es ist seit Langem bekannt, dass ein großer Atomkrieg die moderne Zivilisation zerstören und einen Großteil der Menschheit auslöschen könnte. Aber was ist mit einem „begrenzten“ Atomkrieg – der nur in einer Region der Erde stattfindet oder bei dem nur ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt? Dieser Bericht fasst die jüngsten wissenschaftlichen Stu- dien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter „Hunger könnte ein Drittel der „begrenzter“ oder „regionaler“ Atomkrieg weder be- Erdbevölkerung töten“, schrei- grenzt noch regional auswirken würde. Ganz im Gegen- ben die Autor*innen, und das teil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten. Er wäre tatsächlich gefährlicher, als uns bis vor wenigen schon als Folge eines Kriegs Jahren bewusst war. Auch wenn bei einem Krieg we- zwischen Indien und Pakistan, niger als ein Zwanzigstel der weltweiten Atomwaffen bei dem weniger als 3 % des detonieren würde, kämen das Klima, die globalen Nahrungsmittelketten und wahrscheinlich die öffentli- globalen atomaren Arsenals che Ordnung zum Erliegen. Millionen, vielleicht sogar zum Einsatz kämen.“ Milliarden von Menschen kämen durch Hungersnöte und Unruhen ums Leben. „In einem Atomkrieg käme es durch auf Städte und Industriegegenden abgeworfene Bomben zu Feuerstürmen, und das würde große Mengen an Ruß in die Atmosphäre befördern, die sich dann rasch verbreiten und den Planeten abkühlen würden“, be- sagt eine richtungsweisende, im August 2022 in Nature Food veröffentlichte Studie.1 Das von Lili Xia an der Rutgers Universität geleitete internationale Team, hat anhand verschiedener Szenarien eines Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan untersucht, wie viel sonnenverdun- kelnder Ruß entstünde.1 Berechnet wurde, wie stark die globalen Temperaturen im Ergebnis fallen würden, was mit dem Nahrungsmittelanbau passieren würde und letztendlich, wie viele Menschen verhungern würden. Die Ergebnisse: So grauenvoll die Kriegszone mit zig Millionen unmittelbaren To- ten selbst wäre – diese regionalen Todesopfer würden in den darauffolgenden Monaten und Jahren gering erscheinen gegenüber der riesigen Zahl an Hungertoten weltweit. Tatsächlich kommt Xias Team zu dem Schluss, dass nach einem Krieg zwischen Indien und Pakistan zwei Milliarden Menschen an Hunger sterben könnten. „Hunger könnte ein Drittel der Erdbevölkerung töten“, schreiben die Autor*innen, und „das schon als Folge eines Kriegs zwischen Indien und Pakistan, bei dem weniger als 3 % des globalen atomaren Arsenals zum Einsatz kämen.“ 4
Tabelle 1: Adaptiert nach Xia et al. (2022): Millionen metrische Tonnen Anzahl Hunger- Atomkrieg- Unmittelbare (Tg, Teragramm) tote am Ende Szenario Tote entstandener Ruß von Jahr 2 100 Waffen zu je 5 Tg 27 Millionen 260 Millionen 15 Kilotonnen 250 Waffen zu je 16 Tg 52 Millionen 930 Millionen 15 kt 250 Waffen zu je 27 Tg 97 Millionen 1,4 Milliarden 50 kt 250 Waffen zu je 37 Tg 127 Millionen 2,1 Milliarden 100 kt 500 Waffen zu je 47 Tg 164 Millionen 2,5 Milliarden 100 kt Die fünf Szenarien entsprechen den regionalen Atomwaffenarsenalen. Die Forscher*innen haben Daten von 2010 verwendet, wo die Weltbevölkerung auf 6,7 Milliarden geschätzt wurde. (Heute wird die gesamte Weltbevölkerung auf rund 8 Milliarden Menschen geschätzt.2) Die geschätzte Zahl der To- desopfer von bis zu 2,6 Milliarden Menschen zeigt, dass ein Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan fast jeden dritten Menschen töten könnte. Noch einmal: Jedes dieser Szenarien geht davon aus, dass 97 % des Atomarsenals der Welt nicht zum Einsatz kommen. Mit weniger als 3 % der weltweiten Atomwaffen könnte ein Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan bis zu jeden dritten Menschen auf der Erde töten. Die betrachteten Szenarien behandeln einen hypothetischen atomaren Konflikt zwischen Indien und Pakistan – zwei Staaten, die in jüngerer Zeit Krieg gegeneinander führten, immer noch Grenzschar- mützel ausfechten und die Atomwaffen einen wichtigen Platz bei der Militärplanung einräumen. Aber die Verfasser*innen der Nature Food-Studie merken an, dass es nicht unbedingt eine Rolle spielt, wo sich ein solcher Krieg sich abspielt. Ob nun Städte und Industriegebiete im Nahen Osten, auf dem indischen Subkontinent oder in Mitteleuropa niedergebrannt werden, der Ruß steigt in denselben Himmel auf. 5
Die Jahre ohne Sommer Große Explosionen und Brände können schwere Klimastörungen verursachen. Historische Be- Das internationale Team unter lege hierfür sind etwa Kältephasen nach großen Vulkanausbrüchen oder die katastrophale globa- der Führung der Rutgers Uni- le Abkühlung nach einem Asteroideneinschlag versität, das die zu erwarten- vor Millionen Jahren, der zum Aussterben der den Hungertoten nach einem Dinosaurier führte. (Forscher*innen haben auch historische Wetterdaten nach den großen Stadt- regionalen Atomkrieg zwischen bränden im Zweiten Weltkrieg untersucht, sind Indien und Pakistan darstellte, aber zu keinem abschließenden Ergebnis ge- hat erstmalig errechnet, welche kommen.3) Der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1815, der größte Ausbruch Todeszahlen eine Massenhun- der letzten 500 Jahre, beförderte Millionen Ton- gersnot aufgrund eines großen nen (bzw. Tg, Teragramm) Schwefel und Asche Atomkriegs zwischen Russland in die Stratosphäre. Die Sulfataerosole trieben oberhalb der Regenwolken rund um die Welt. Ein und den USA nach sich ziehen Jahr später waren sie immer noch da, und 1816 – würde. Die Forscher*innen mit ständig bedecktem Himmel, Missernten und schätzen, dass bei einer Welt- Hunger – wurde im Nordosten der Vereinigten Staaten bekannt als „das Jahr ohne Sommer“. bevölkerung von 6,7 Milliarden Auf der anderen Seite des Atlantiks, in einem Eu- fünf Milliarden Menschen in- ropa, das nach 25 Jahren napoleonischer Kriege nerhalb von zwei Jahren ster- ben würden. Wenn eine Atomwaffe explodiert, erzeugt sie kurz- brüchen. Der Ruß aus den brennenden Städten würde kilometerweit über die Wolken aufsteigen, zeitig Temperaturen, die rund um die Welt treiben und jahrelang dort viermal heißer sind als im schweben. Er würde die Sonne verdunkeln. Die Temperaturen würden schlagartig abfallen, es Zentrum der Sonne. käme zu Missernten. Diese ernüchternde Realität ist bekannt, seit am Boden lag, trug eine ungewöhnlich nasse und in den 1980ern die ersten Studien zum nuklea- kalte Anbausaison zu Hungersnöten und einer ren Winter durchgeführt wurden.6, 7, 8, 9 Neuere Typhus-Epidemie bei.4 Studien10, 11, durchgeführt mit fortschrittliche- Wenn eine Atomwaffe detoniert, entstehen für ren Klimamodellen und viel leistungsstärkeren kurze Zeit Temperaturen, die viermal so heiß sind Rechnern, stützen die Vorhersagen, die vor fast wie das Innere der Sonne.5 Eine Explosion über 40 Jahren von Carl Sagan und anderen getroffen einer Stadt kann einen Feuersturm erzeugen – wurden: Auf einen Atomkrieg zwischen den USA ein riesiger Brand, angefeuert von Winden in Hur- und Russland würde ein nuklearer Winter von rikanstärke. Könnte ein Krieg mit Atomwaffen, einem Jahrzehnt oder mehr folgen. Der Großteil der mehrere Städte in Brand setzt, eine globale der Menschheit würde sterben. Abkühlung vom Ausmaß des Tambora-Ausbruchs Ein internationales Team unter der Führung der anstoßen? Seit Jahrzehnten sagen die wichtigs- Rutgers Universität, das die zu erwartenden ten Klimamodelle: Ja – und sie zeigen sogar, dass Hungertoten nach einem regionalen Atomkrieg die Abkühlung schwerwiegender und anhalten- zwischen Indien und Pakistan darstellte, hat der wäre als selbst bei den größten Vulkanaus- erstmalig errechnet, welche Todeszahlen eine 6
Massenhungersnot aufgrund eines großen Atom- Man ist vielleicht versucht, Pakistan oder Frank- kriegs zwischen Russland und den USA nach sich reich als bloße Regionalmächte abzutun. Aber ziehen würde. Die Forscher*innen schätzen, dass auch die Regierungen in Islamabad und Paris bei einer Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden fünf haben jeweils genug atomare Sprengkraft an der Milliarden Menschen innerhalb von zwei Jahren Hand, um eine jahrelange globale Abkühlung sterben würden.1 hervorzurufen.14, 15 Es zeigt sich, dass praktisch jede Atommacht unermessliches weltweites Leid, Dies ist eine neue Prognose: Drei von vier Men- landwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zu- schen auf der Welt sterben innerhalb von zwei sammenbruch und Massensterben verursachen Jahren. Aber sie bestätigt ein seit langem be- kann. stehendes, unbehagliches Bewusstsein, dass die Menschheit von Gnaden der russischen und Und wenn man die hier untersuchten Daten US-amerikanischen Militärbürokratie existiert. hochrechnet, liegt diese beängstigende Macht Washington und Moskau mögen ihre Atomwaf- nicht nur in den Händen von neun Staatsregie- fenarsenale aus dem kalten Krieg reduziert ha- rungen. Sie befindet sich de facto auch in den ben, aber diese beiden nationalen Arsenale sind Händen vieler Einzelpersonen auf niedrigeren nach wie vor enorm, nehmen inzwischen wieder Ebenen der Militärhierarchien. Jeder Komman- zu und stellen zusammen mehr als 90 % des welt- dant eines U-Boots der US-Ohio-Klasse oder weiten Bestands nuklearer Waffen dar.12, 13 der russischen Borei-Klasse hat eine Feuerkraft zur Verfügung, die vergleichbar ist mit der einer Und was ist mit den anderen sieben Ländern, ganzen Nation wie Pakistan oder Frankreich.16 die ebenfalls Atomarsenale haben? Das sind Aktuell sind 14 U-Boote der Ohio- und fünf der Frankreich, Großbritannien, Israel, Indien, Pa- Borei-Klasse im Betrieb.12, 13 kistan, China und Nordkorea. Diese zweitran- gigen Arsenale sind klein im Vergleich mit den im kalten Krieg angehäuften Lagern in Amerika und Russland. Aber Jahrzehnt für Jahrzehnt sind einige dieser kleineren Arsenale angewachsen. Man ist vielleicht versucht, Pakistan oder Frankreich als bloße Regionalmächte abzutun. Aber auch die Re- gierungen in Islamabad und Paris haben jeweils genug atomare Sprengkraft an der Hand, um eine jahrelange globale Abkühlung hervor- zurufen. Im Zuge dessen sind auch die wissenschaftlichen Aufzeichnungen gewachsen und haben parallel dazu, Studie für Studie, zu der Erkenntnis ge- führt: So etwas wie ein geringfügiges oder kleines Atomwaffenarsenal gibt es nicht. 7
Ein genauerer Blick auf die Wissenschaft zu einem „begrenzten“ Atomkrieg Die 2007 veröffentlichten wegweisenden Studien der Klimaforscher Brian Toon, Alan Robock et al. modellieren einen hypothetischen Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan.17, 18 Bei den Modellen wurde angenommen, dass beide Länder jeweils 50 Atomwaffen gegen das andere einsetzen würden. Zur Einordnung: Ein solcher Krieg würde weniger als 0,5 % des weltweiten Atomarsenals involvieren. Es käme rund ein Drittel des indisch-pakistanischen Atomarsenals zum Einsatz.15, 19 Es handelte sich um ein frühes Ausloten, wie ein „begrenzter“ bzw. regionaler Atomkrieg aussehen könnte. Dies war der Anfang einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen (siehe Tabelle 3). Die prognostizierten Ergebnisse waren global und apokalyptisch: Mehr als fünf Tg Rauch aus der Die weltweite Durchschnitts- Zwei Milliarden Menschen – Zerstörung von Islamabad und temperatur würde um ca. fast jeder dritte Mensch – liefe Mumbai würden hoch in die 1,3 °C sinken und die Nah- Gefahr, zu verhungern. Stratosphäre befördert und rungsproduktion abnehmen. die Welt über Jahre in Dunkel- heit hüllen. Bei der Durchsicht dieser und verwandter Studien20, 21, 22, 23 für ein Themenpapier im Jahr 2013 stellte die Organisation Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. fest, dass zwei Milliarden Menschen – eine schwindelerregende Zahl, fast jeder dritte Mensch – Gefahr laufen könnten, zu verhungern.24 Eine abrupte Abkühlung um 1,3 °C wäre ein enormer Schock für den gesamten Planeten. Zur Einord- nung: Weltweit gibt es berechtigte Sorgen wegen einer durchschnittlichen Erderwärmung um rund 1 °C seit der vorindustriellen Zeit. Länder rund um die Erde haben enorme Ressourcen bereitgestellt im Versuch, die weitere Erderwärmung auf maximal 1,5 – 2°C über den vorindustriellen Temperaturen zu begrenzen. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Der plötzliche Schock von 1,3 °C globaler Abkühlung wurde anhand eng eingegrenzter Modelle vorhergesagt, die nur auf die Auswirkungen von Ruß schauten, der die Sonne verdunkeln würde. Sie waren nicht darauf ausgelegt, einen zweiten wichtigen Faktor zu berücksichtigen: die Schädigung der Ozonschicht. 8
Die Schädigung der Ozonschicht Ozon ist ein Molekül mit drei Sauerstoffatomen – O3 anstatt des bekannteren O2. Eine Schicht von Ozonmolekülen umgibt den Planeten in etwa 15 – 30 km Höhe und schirmt die Erdoberfläche vor ul- travioletter Strahlung ab. Wenn aber nach einem Atomkrieg große Mengen an Ruß in die hohe Atmo- sphäre aufsteigen, wird der Ruß selbst durch das Sonnenlicht erwärmt, das er von uns fernhält. Dies löst lokale chemische Reaktionen aus, durch die das Ozon rasch abgebaut wird. 2008 modellierten Michael Mills und ein Team am National Center for Atmospheric Research in Colorado in einer Studie die Auswirkungen desselben hypothetischen Szenarios auf die Ozonschicht – 100 detonierte Atomwaffen zwischen Indien und Pakistan – und kamen zu dem Ergebnis, dass 20 % der Ozonschicht weltweit zer- stört würden. Über den hohen nördlichen Breitengraden – darunter die USA und Kanada, Europa, Russland und China – wäre es wesentlich schlimmer, 50 – 70 % der Ozonschicht würden zerstört.23 Etwas später im Jahr 2014 wiederholten Mills und sein Team das Szenario (100 Nuklear- detonationen in Indien und Pakistan) anhand neuester Daten und ermittelten, dass es im Himmel über besiedelten Gebieten Ozonverluste „wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit“ geben würde. (Wie auch bei anderen Modellen wurde hier zudem eine katas- trophale Abkühlung durch die Sonne verdunkelnden Ruß vorhergesagt, mit „den kältes- ten durchschnittlichen Oberflächentemperaturen seit 1.000 Jahren.“ Mills und sein Team prognostizierten niedrigere Oberflächentemperaturen für über 25 Jahre, was „eine globale nukleare Hungersnot auslösen könnte.“25) Die jüngste Studie mit Blick auf das Ozon, veröffentlicht 2021 und geleitet durch einen anderen Forscher am NCAR, Charles Bardeen, gelangte anhand eines aktu- alisierten Klima- und Chemiemodells zu einem ähnlichen Schluss: Ein regionaler Atomkrieg würde die globale Ozonschicht um 25 % abbauen, und das Ozon bräuchte mindestens zwölf Jahre, um sich zu erholen.26 Ohne ihre schützende Ozonschicht wäre die Erde verstärkt der UV-Strahlung ausgesetzt. Die genauen Folgen wurden bisher nicht berechnet. Bei Menschen wären bei erhöhter UV-Strahlung mehr Sonnen- brände zu erwarten, außerdem Krebs, grauer Star, Immunsuppression und lichtbedingte Hautalte- rung (Hautschäden wie Falten, Spannkraftverlust und Pigmentflecken). Und vielleicht noch wichtiger, erhöhte UV-Strahlung könnte auch das Pflanzenwachstum beeinträchtigen – und zwar zusätzlich zu den landwirtschaftlichen Katastrophen, die sich schon aus den Modellen zur rußbedingten Abküh- lung ergeben. Ein seltsames Paradoxon: Nach einem begrenzten Atomkrieg würde der Erde einerseits die lebensspendende Wärme der Sonne entzogen, und gleichzeitig wären wir durch die schädliche UV-Strahlung der Sonne gestraft. (Wie Xia und Kolleg*innen in Nature Food schreiben, sind zu vielen Aspekten des Lebens nach einem Atomkrieg „weitere Studien erforderlich“ – von Schäden durch UV- Strahlung wegen des Versagens der Ozonschicht über den radioaktiven Niederschlag aus dem Kriegs- gebiet bis hin zur Verfügbarkeit von Süßwasser und Veränderungen der Insektenpopulationen.) 9
Selbst „kleine“ Atomkriege bewirken beispiellose Ernteausfälle Aber auch ohne solche detaillierten Daten sind Wissenschaftler*innen oft auf das Szenario Indi- die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die en zurückgreifen, ist, dass eine konstante Variab- Auswirkungen von die Sonne verdunkelndem le – das Kriegsgebiet – die Ergebnisse der Studien Ruß nach einem begrenzten Atomkrieg beunru- untereinander besser vergleichbar macht.) higend. In den Modellen des NASA-Teams führten 5 Tg Eine Abhandlung dem Jahr 2020 unter der Lei- Ruß zu einer drastischen globalen Abkühlung von tung von Jonas Jägermeyr, Forscher am NASA 1,8 °C und mindestens fünf Jahren Missernten. Goddard Institute for Space Studies, beurteilte Am schlimmsten betroffen wären die gemäßigten anhand sieben am häufigsten verbreiteten Pflan- nördlichen Regionen, wie die USA, Europa, Russ- zenwachstumsmodellen, wie die Landwirtschaft land und China, die zusammen die Kornkammer auf die bevorzugte Hypothese des Forschungs- der Welt darstellen. Mais und Weizen – zwei der felds reagieren würde: 100 kleinere nukleare De- weltweit wichtigsten Grundnahrungsmittel – tonationen (mit je 15 Kilotonnen) in Indien und werden weltweit um 13 % reduziert, mit „den Pakistan. (Noch einmal: Vorstellbar wäre eine schlimmsten Folgen für die weltweite Ernäh- Reihe verschiedener „begrenzter“ Szenarien – ein rungssicherung der jüngeren Geschichte.“27 Krieg zwischen China und Nordkorea etwa oder ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Russland Wissenschaftler*innen, die an den Los Alamos und der NATO über der Ukraine. Ausgehend von National Laboratories für das Atomwaffenpro- Waffen und Zielen gleicher Größe müssten die gramm der USA arbeiten, haben kürzlich als Folgen ähnlich sein. Einer der Gründe, weshalb einzige eine abweichende Meinung publiziert.28 Das Team in Los Alamos machte seine internen Modelle nicht zur unabhängigen Überprüfung zu- In den Modellen des NASA- gänglich. Sie beschäftigten sich mit dem gleichen Teams führten 5 Tg Ruß zu hypothetischen Krieg zwischen Indien und Pakis- tan. Aber für ihre Simulationen verwendeten sie einer drastischen globa- kein Stadtgebiet in Pakistan oder Indien, sondern einen städtischen Randbezirk in den USA, zu dem len Abkühlung von 1,8 °C sie Satellitenbilder bereitstellten. In einer Er- widerung stellen Robock und Kolleg*innen fest, und mindestens fünf Jah- die Bilder zeigten „ein Zielgebiet in der Vorstadt ren Missernten mit „den von Atlanta mit einem Golfplatz, Spielplatz und freistehenden Häusern mit großen Gärten, mit schlimmsten Folgen für die wenig brennbarem Material, was nicht repräsen- tativ ist für die dicht besiedelten Städte Indiens weltweite Ernährungssiche- und Pakistans.“29 Andere Forscher*innen haben berechnet, dass das Team aus Los Alamos das rung der jüngeren vorhandene Brennmaterial in diesen dicht bevöl- Geschichte.“ kerten asiatischen Städten mindestens um das Zehnfache zu niedrig angesetzt hat.30 Das Los- 10
Quelle: earthobservatory.nasa.gov Waldbrände mit Pyrocumulonimbus-Wolke in British Columbia, Kanada, 30. Juni 2021 Alamos-Modell geht von einem Stadtbrand von hauptet, es sei „sehr unwahrscheinlich“, dass nur 40 Minuten aus – und das, obwohl die großen Ruß und Rauch aus einem regionalen Atomkrieg Stadtbrände im Zweiten Weltkrieg Stunden bis bis in die Stratosphäre aufsteigen würden, „eine Tage anhielten; es simuliert keine Gasleitungs- durch die Untersuchung (...) großer Waldbrände brüche, wie es sie in Hiroshima gab, und es gibt gestützte Folgerung“. Noch während das ge- verschiedene Wetter- und Klimabedingungen schrieben und veröffentlicht wurde, wurden vor, die eine Entwicklung von Feuerstürmen ver- durch große Waldbrände in Kanada 2017 und hindern, wie Kritiker*innen sagen und auch das Australien 2019 und 2020 riesige Mengen Rauch Los-Alamos-Team selbst einräumt.29 (Das US-Mi- hoch in die Stratosphäre geschleudert. Der Ruß litär glaubt an Feuerstürme und hat sie im Zwei- und Rauch der australischen Buschbrände war ten Weltkrieg sowohl zufällig als auch absichtlich über Monate in der Stratosphäre zu verfolgen, in hervorgerufen – am dramatischsten war der vergleichbaren Mengen wie bei einem Vulkanaus- bewusst erzeugte Feuersturm in Tokio, aber auch bruch.31 Der Ruß der kanadischen Brände stieg die Bombardierung von Hiroshima. Dennoch als Pyrocumulonimbus 12 km hoch – eine vertikal ist seit Jahrzehnten gut dokumentiert, wie das geformte, durch Feuer gespeiste Wolke. Als der Pentagon das Potenzial für Feuerstürme durch schwarze Ruß das Sonnenlicht absorbierte und Atomwaffen entweder heruntergespielt oder erst sich erwärmte, stieg er in den folgenden zwei spät zugegeben hat.5) Monaten immer höher, bis auf 23 km.32 Die Be- obachtungen bei den Waldbränden widerlegen Inzwischen sieht es fast aus, als habe sich die die Behauptungen aus Los Alamos und stimmen Natur selbst erhoben, um die Behauptungen aus mit den Modellen von Mills, Robock und anderen Los Alamos Lügen zu strafen. In seinem Aufsatz unabhängigen Wissenschafter*innen überein. von 2018 hatte das Team des Waffenlabors be- 11
Grafik 1: Die globale Katastrophe eines regional „begrenzten“ Atomkriegs Ein „kleiner“ Atomkrieg mit nur 3 % der weltweiten Atomwaffenarsenale oder weniger würde dennoch Dunkelheit, Abkühlung, Ernte- ausfälle und Hunger auf dem ganzen Planeten bewirken. 1 Regionaler 2 Sonnenlicht 3 Globaler Atomkrieg blockiert Temperaturabfall In einem indisch-pakistanischen Die Sonnenwärme wird blockiert, Die globalen Temperaturen fallen Atomkrieg steigen Rauch und aber paradoxerweise auch die rapide und löschen die menschen- Ruß der nuklearen Brände in die Ozonschicht zerstört, die das gemachte globale Erwärmung der Stratosphäre. Er wird über die Leben auf der Erde vor schädlicher letzten Jahrzehnte aus. ganze Welt verteilt und bleibt UV-Strahlung schützt. Die Erde wird dort jahrelang. also kälter, obwohl die Sonnen- strahlung intensiver wird. 4 5 Weltweite Kollaps der Lebensmittelproduktion Hungerkatastrophe Die landwirtschaftliche Produktion bricht Das Horten von Lebensmitteln und der Stopp zusammen. Verfügbare Lebensmittelkalorien der Lebensmittelexporte verursachen öffentli- sinken weltweit. ches Chaos und eine weltweite Hungersnot in einem nie dagewesenen Ausmaß. 12
Arsenale und Städte wachsen – die Brennstofflast auch Die makabre Frage: „Wie viel Brennstoff gibt es, verfügen.15, 19 (China wird zwar im Modell nicht wenn eine Stadt Feuer fängt?“ taucht in allen berücksichtigt, hat aber spannungsgeladene Atomwaffensimulationen auf. „Brennstofflast“ Grenzen zu beiden Staaten und besitzt etwa ist der Begriff für sämtliches Material, das nach 350 Atomwaffen, darunter einige mit geringerer einer Nukleardetonation Feuer fangen kann, von Sprengkraft, viele mit 200 – 300 kt – und eine Bäumen und Menschen bis zu Erdöl und Plastik. Handvoll sehr schwerer Atomwaffen mit bis zu Aber die Aufsätze von Klimaforscher*innen und 5.000 kt.33 Das nahegelegene Nordkorea besitzt Physiker*innen waren schon bei der Veröffent- 10 – 20 Atomwaffen unbekannter Größe und hat lichung veraltet, denn die untersuchten Städte eine 100-kt-Bombe gezündet.34) sind stetig größer und komplexer geworden. Die „Brennstofflast“ wuchs mit ihnen. In einem im September 2019 veröffentlichten Aufsatz simulierten Toon et al. eine Reihe neuer Szenarien, bei denen diese Änderungen berück- Die in diesen Szenarien pro- sichtigt werden. Simuliert wurden 250 Nuklear- gnostizierten unmittelbaren detonationen – von Waffen mit 15, 50 oder 100 kt – und ein größeres, aber regionales Szenario mit Folgen sind beispiellos. Es 500 Nukleardetonationen von 100-kt-Waffen.35 gäbe 50 bis 125 Millionen Szenario 1: sofortige Todesfälle – in- 250 Atomexplosionen nerhalb von Stunden oder mit je 15 kt Tagen gäbe es mehr Tote Szenario 2: als während des gesamten 250 Atomexplosionen Zweiten Weltkriegs. mit je 50 kt In den 15 Jahren seit dem Erscheinen der ersten Studien hat sich viel verändert. Die Städte Süd- Szenario 3: asiens sind etwas größer geworden und bieten 250 Atomexplosionen im Fall eines Angriffs mehr Brennstoff. Auch die mit je 100 kt regionalen Atomarsenale sind gewachsen. Die genauen Einzelheiten zu Atomwaffenarsenalen sind streng gehütete Geheimnisse. Allerdings Szenario 4: geht man heute davon aus, dass Indien und 500 Atomexplosionen Pakistan jeweils über rund 150 Atomwaffen mit Größenordnungen von 5 bis 40 Kilotonnen (kt) mit je 100 kt 13
(Die dramatischsten Szenarien umfassen viel- Die größeren Szenarien sind schlimmer. leicht mehr Atomwaffen, als Indien und Pakistan derzeit besitzen, aber die Verfasser haben be- Ein Krieg mit 50 kt Waffen würde 27 Tg Ruß und wusst das kontinuierliche Wachsen der Arsenale eine Abkühlung um 4,5 °C erzeugen. berücksichtigt. Bei einem Dreifachkonflikt mit Ein Krieg mit 100 kt Waffen würde 37 Tg Ruß und Chinas Beteiligung wäre natürlich die Zahl von eine Abkühlung um 5,5 °C erzeugen. 500 Atomwaffen schnell erreicht. Und selbst die- ses schwerste und spekulativste Szenario würde Im schwerwiegendsten regionalen Szenario auf weniger als 4 % des weltweiten Atomwaffenarse- dem indischen Subkontinent würde ein Krieg mit nals einbeziehen. Abbildung 2 zeigt einen Ver- 500 Atomwaffen zu je 100 kt 47 Tg Ruß und eine gleich dieser Szenarien mit der Sprengkraft der Abkühlung um 6,5 °C erzeugen. nationalen Arsenale.) Die in diesen Szenarien prognostizierten unmit- Zur Einordnung: Während telbaren Folgen sind beispiellos. Es gäbe 50 bis der letzten Eiszeit war es 125 Millionen sofortige Todesfälle – innerhalb von Stunden oder Tagen gäbe es mehr Tote als etwa 6 °C kälter als heute. während des gesamten Zweiten Weltkriegs. Zur Einordnung: Während der letzten Eiszeit, als Auch die Auswirkungen auf das Klima sind in unsere Vorfahren sich mit Wollhaarmammuts allen Szenarien immens. und Säbelzahntigern herumschlugen, war es Das kleinste modellierte Szenario, ein Schlagab- etwa 6 °C kälter als heute. Die Abkühlung wäre tausch mit 250 Waffen zu 15 kt, würde 16 Tg Ruß zwar global, aber die Temperaturstürze in Nord- und eine durchschnittliche globale Abkühlung amerika, Europa und Asien wären noch drasti- um 2,5 °C erzeugen. (Zur Erinnerung: Die katas- scher. Weltweit würden die Niederschläge abneh- trophalen Szenarien der hier zitierten früheren men und die Vegetationsperioden kürzer werden. Abhandlungen aus Zeiten kleinerer Arsenale Alle genannten Szenarien betreffen Kriege zwi- betrachteten geringere Schlagabtausche und schen Atomwaffenstaaten der zweiten Ebene prognostizierten rund 5 Tg Ruß und eine Abküh- und umfassen einen kleinen Teil des weltweiten lung um etwa 1,3 °C.) Atomarsenals. Szenario 1: Inzwischen gehen Wissenschaftler*innen weiter und modellieren auch einen Atomkrieg in gro- 16 Tg Ruß und globale ßem Maßstab zwischen den USA und Russland. Abkühlung von 2,5°C Eine 2019 veröffentlichte Abhandlung untersuch- te Simulationen des NASA Goddard Institute for Space Studies, die zeigte, dass ein solches Ereig- Szenario 2: nis nicht fünf Millionen und auch nicht 16 Millio- 27 Tg Ruß und globale nen Tonnen Ruß erzeugen würde – sondern 150 Abkühlung von 4,5°C Millionen Tonnen. Die Folge wären für den Groß- teil der nördlichen Hemisphäre jahrelange Som- mer mit Temperaturen unterhalb des Gefrier- Szenario 3: punkts.10 Zusätzlich zu den Steigerungsszenarien 37 Tg Ruß und globale „begrenzter“ Kriege auf dem indischen Subkon- tinent modellierten Toon und Kolleg*innen einen Abkühlung von 5,5°C großen Krieg zwischen USA und Russland und kamen zu denselben Schlussfolgerungen. Xia Szenario 4: und Kolleg*innen rechnen in ihrer August 2022 in Nature Food erschienenen Analyse vor, dass der 47 Tg Ruß und globale daraus folgende abrupte Mangel an verfügbaren Abkühlung von 6,5°C Kalorien den Großteil der Weltbevölkerung töten würde. 14
Nukleare Hungersnot Nach einem regionalen Atomkrieg hätten es Nahrungspflanzen und der Fischerei weltweit um Gesellschaften überall auf der Welt schwer, sich rund 23 % abfallen. Beim Szenario mit 50-kt-Waf- an einen nun dunklen, kalten und unwirtlichen fen würden die verfügbaren Kalorien um 33 % ab- Planeten anzupassen. Xia et al. erläutern das in fallen. Beim Szenario mit 100-kt-Waffen würden Nature Food im Detail. die verfügbaren Kalorien um 41 % abfallen. Und beim extremen Szenario mit 500 Waffen zu 100 kt Als Ausgangspunkt nahmen sie die in den Szena- – noch einmal, „extrem“ bezeichnet immer noch rien von Toon und Kolleg*innen 2007 und 2019 einen rein regionalen Konflikt, bei dem die über- projizierten Rußeinträge und globalen Abküh- wiegende Mehrheit der weltweiten Atomwaffen lungen und simulierten dann die Auswirkungen nicht zum Einsatz kommt – fallen die insgesamt des die Sonne verdunkelnden Rußes auf die verfügbaren Kalorien um 48 %. Erträge der Meeresfischerei und der wichtigsten Nahrungspflanzen (Reis, Weizen, Mais und Soja- Es ist wichtig anzumerken, dass „verfügbare“ bohnen). Nahrung nicht dasselbe ist wie „zugängliche“ Nahrung, also Essen, das die Leute tatsäch- Ergebnis wäre eine nie dagewesene weltweite lich auf dem Tisch haben. Gerade in Zeiten der Hungersnot. Bei jedem Szenario würden die Knappheit wird verfügbare Nahrung nie gleich- insgesamt verfügbaren Nahrungskalorien über mäßig innerhalb der Länder oder unter ihnen die folgenden sieben bis acht Jahre dramatisch aufgeteilt. Selbst bei leicht abnehmender Verfüg- abfallen. Selbst das kleinste modellierte Szenario barkeit gibt es überall Hamsterkäufe und Preis- verzeichnet den größten Abfall der weltweiten steigerungen. Nahrungsproduktion seit Aufzeichnungsbeginn der Vereinten Nationen. Die größte Abnahme bei Bei der großen Hungersnot in Bengalen 1943 zum Pflanzenbau und Fischerei würde in den oberen Beispiel sank die Menge verfügbarer Nahrung Breitengraden der nördlichen Hemisphäre statt- nur um 5 % – aber das zog Panikkäufe nach sich, finden: Kanada, den USA und großen Teilen von die Lebensmittelpreise stiegen rasant und drei Europa, Russland und China. (Die Bevölke- rung im Nahen Osten, Um wie viel würden sich die verfügbaren Kalorien aus den wichtigsten Nahrungs- Afrika und Ostasien ist pflanzen und der Fischerei weltweit in den folgenden Atomkriegsszenarien zwischen Indien und Pakistan reduzieren? von Nahrungsmittel- importen aus diesen 250 15 kt 250 50 kt 250 100 kt 500 100 kt Regionen abhängig.) Atomwaffen Atomwaffen Atomwaffen Atomwaffen Bei dem Szenario eines Kriegs zwischen Indien und Pakistan mit 15-kt- Waffen würden die verfügbaren Kalorien aus den wichtigsten 15
Millionen Menschen verhungerten.24 Und das bei im weltweiten Durchschnitt1) könnten reduziert einer Abnahme verfügbarer Nahrungsmittel um werden; unschmackhafte Fischarten könnten nur 5 %. Man kann nur erahnen, wie ungleichmä- Teil des Speiseplans werden, und der Welthan- ßig lebenswichtige Nahrung in einer Welt verteilt del könnte zum Erliegen kommen, weil hungrige würde, wo die verfügbare Menge um 23 %, 33 %, Länder danach streben würden, Nahrungsmit- 41 % oder 48 % sinkt. telexporte zu verhindern. Xia und Kolleg*innen haben auch Berechnungen zu vielen dieser ver- Die Gesellschaften weltweit würden verzwei- zweifelten Abhilfemaßnahmen angestellt. Aber felte Maßnahmen ergreifen, um damit fertig sobald die weltweit verfügbare Nahrung um ein zu werden. Es könnte zum Beispiel zu Massen- Viertel oder um die Hälfte abnimmt, hungern die schlachtungen von Vieh kommen, um Menschen Menschen, ganz gleich, wie klug sie verwalten. im ersten Jahr zu ernähren und auch, um Tier- futter der menschlichen Ernährung zuzuführen; die Lebensmittelabfälle im Haushalt (rund 20 % 16
Was bedeutet es, wenn die weltweit verfügbaren Gesamtkalorien um fast 50 % sinken? Der Kalorienbedarf ist sehr unterschiedlich je nach Alter, Geschlecht, Aktivität, Größe und Durchschnittliche 2.883 eventuellen Erkrankungen. Laut der Ernährungs- globale und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Kalorienaufnahme kcal/Tag Nationen (FAO) beträgt die globale durchschnitt- liche Kalorienzufuhr 2.884 kcal/Tag. Das Mini- Gemäß UN Food & Agriculture Organization (FAO) mum zur Aufrechterhaltung von normaler Aktivi- ist der globale Durchschnitt tät und Gesundheit liegt bei etwa 2.350 kcal/Tag; 2.884 kcal/Tag. eine häufig genannte Zielvorgabe in Notlagen sind 2.100 kcal/Tag, das ist auch der von Hilfs- organisationen verwendete Schwellenwert zur Minimum, 2.350 um normale Unterernährung.36 Aktivität und kcal/Tag Xia und Kolleg*innen setzen 1.911 kcal/Tag als Trennlinie zum Verhungern an. Sie rechnen vor Gesundheit auf- – nicht nur weltweit, sondern auch nach Län- rechtzuerhalten dern – wie viele Menschen unweigerlich dauer- haft unterhalb dieser Zahl bleiben und Hungers Zielvorgabe in sterben würden. Notlagen 2.100 Es ist ein abgestuftes Modell – wie oben erwähnt, werden auch verzweifelte Maßnahmen berück- Die ungefähre Kalorienzahl zum Überleben in Notlagen ist kcal/Tag sichtigt wie der Verzehr von Tierfutter, un- 2.100 kcal/Tag, was auch als schmackhaftem Fisch und Lebensmittelabfällen. Schwelle zur Unterernährung Aber wie ebenfalls erwähnt werden nur Missern- gilt.², ⁸ ten aufgrund von die Sonne verdunkelndem Ruß und die damit verbundene globale Abkühlung modelliert. Weitere wichtige Aspekte bleiben unberücksichtigt, wie die Auswirkungen des Hungergrenze 1.911 radioaktiven Niederschlags durch den Atomkrieg auf die verfügbare Nahrung oder die mensch- Xia und Kollegen nennen 1.911 kcal/Tag als Hunger- kcal/Tag liche Gesundheit, oder die erhöhte UV-Strahlung grenze. durch die wahrscheinliche Ozonschädigung, oder die wirtschaftlichen Verwerfungen durch den Zusammenbruch von Lieferketten oder der öffentlichen Ordnung. Das Modell liefert also nur ein unvollständiges Bild der Monate bis Jahre nach einem regionalen Atomkrieg und unter- verhungern würden, viele davon auf der anderen schätzt womöglich die nachfolgenden Missern- Seite der Erde, weit weg vom Kriegsgebiet. Ein ten und Massenhungersnöte. größerer „regionaler“ Krieg – wobei wiederum nicht die riesigen Arsenale der USA oder Russ- Auch davon abgesehen sind die prognostizierten lands zum Einsatz kämen, aber ein erheblicher Ergebnisse schlicht grauenhaft (siehe Tabelle 2). Teil der kleineren Bestände von Atommächten Xia und Kolleg*innen errechnen, dass bis zum der zweiten Ebene (wie Indien, China, Pakistan, zweiten Jahr nach einem mittelgroßen „regio- Israel, Großbritannien oder Frankreich) – würde nalen“ Atomkrieg – also ein Krieg, bei dem ein rund 2,5 Milliarden Menschen töten. Bruchteil des riesigen weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt – rund 2,1 Milliarden Menschen 17
Tabelle 2: Hungertote (in Millionen) bis zum Ende des zweiten Jahres nach simulierten Atomkriegsszenarien Geht davon aus, dass Vieh geschlachtet, Tierfutter für den menschlichen Verzehr umgeleitet und der internationale Lebensmittelhandel ge- stoppt wurde. Beinhaltet keine Todesfälle im Zusammenhang mit Ozonabbau, Strahlung oder direkt durch den Krieg selbst. Angepasst von Toon et al 2007, Toon et al 2019, and Xia et al 2022. 18
Man beachte die großen regionalen Unterschie- Russland, in Indien und Pakistan weniger land- de bei den daraus resultierenden Hungertoten: wirtschaftliche Depressionen verursachen würde Die stärksten Kalorienreduzierungen aufgrund als in nördlicheren Ländern). einer abrupten Abkühlung nach einem Atom- krieg finden sich in den hohen Breitengraden Es gibt noch weitere Nuancen: Große Agrarexpor- der nördlichen Hemisphäre. Länder wie Kanada, teure, wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Finnland, Norwegen und Schweden wären daher Australien oder Nationen mit großen Viehbestän- stark betroffen. den – wiederum z. B. die Vereinigten Staaten – sind besser in der Lage, anfänglich die drastische In den mittleren bis hohen Breitengraden, da- Lage zu überstehen, indem sie alle Lebensmit- runter China, Japan, Russland, die Vereinigten telexporte stoppen, den gesamten Viehbestand Staaten und Europa, ist die Nahrungsmittelpro- konsumieren und Viehfutter für den menschli- duktion ebenfalls stark rückläufig. In südlicheren chen Verzehr umleiten. Große Agrarimporteure, Ländern wie Australien, Brasilien, Südafrika, von Kenia bis Norwegen, leiden entsprechend. Indien und Pakistan sind die Auswirkungen auf die lokale Landwirtschaft jedoch weniger direkt. Einige Länder verfügen über eine so glückliche Kombination aus Standort und widerstandsfähi- Es mag verwirrend sein, dass die Zahl der Hun- gen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, dass sie gertoten in Indien und Pakistan bei Null liegt – in selbst schreckliche Weltereignisse zu überstehen Szenarien, die einen Atomkrieg zwischen Indien scheinen. Das Klima-Agrar-Modell zeigt, dass ins- und Pakistan simulieren! Wie kann es Indien besondere Australien einen dunkleren, kühleren und Pakistan so gut gehen, während weit ent- Planeten verträgt. Aber auch hier gilt: Das Modell fernte Orte wie Mexiko und Japan durch ihren berücksichtigt viele Auswirkungen nicht, darun- Krieg verwüstet werden? Die Erklärung ist, dass ter den radioaktiven Niederschlag eines benach- das Modell nur klimabedingte Veränderungen barten Krieges, die Zerstörung der Ozonschicht berücksichtigt. Das Modell berücksichtigt nicht, und mögliche laufende Militäroperationen. Wie dass Indien und Pakistan durch direkte Auswir- Xia et al in Nature Food anmerken, ist es im Falle kungen des Krieges verwüstet wären. (Mit der einer weltweiten Hungersnot nicht schwer, „sich gleichen Logik legt das Modell jedoch nahe, dass eine Flotte hungriger Flüchtlinge aus Asien und ein Krieg vergleichbarer Größe anderswo, z. B. anderen Regionen vorzustellen, die nach Austra- ein begrenzter Atomkrieg zwischen der NATO und lien und Neuseeland strömen.“ Länder, die am stärksten von der nuklearen Hun- gersnot betroffen sind. Orange hervorgehoben sind die Länder, die im Verhältnis zu ihrer Be- völkerung die höchsten Sterberaten aufweisen würden. Dies basiert auf Szenario 3: 250 100 kt-Waffen. Wie bei den Szenarien in Tabelle 2 sind auch hier Todesfälle aufgrund von Ozonabbau, Strahlung oder direkt durch den Krieg selbst nicht berücksichtigt. 19
Minuten trennen uns von der Katastrophe Dieser Artikel befasst sich mit der jüngeren Lite- fen im Hair-Trigger Alert. Barack Obama ist über- ratur zur Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zeugt, dass wir den Hair-Trigger Alert für unsere weltweit durch einen regionalen Atomkrieg. Un- Atomwaffen beenden sollten.“39 abhängig davon gibt es aber auch sehr beunru- higende Literatur dazu, wie es zu einem solchen Krieg kommen könnte – nach nur wenigen Minu- Große Teile der weltweiten ten Beschlussfindung durch Staatsoberhäupter oder sogar aus Versehen. Atomarsenale sind in Große Teile der weltweiten Atomarsenale sind in Minuten abschussbereit. Minuten abschussbereit, als Reaktion auf Com- puterwarnungen über einen Atomangriff.37,38 Hochrangige nationale Sicherheitsbeamte Dieses Vorgehen wird unterschiedlich bezeich- haben die Strategie wiederholt verurteilt. Der net, als Atomwaffen in hoher Alarmbereitschaft, Hair-Trigger Alert wurde durch einen ehemaligen Abschuss nach Warnung (Launch on Warning) CIA-Direktor als veraltet und „reiner Wahnsinn“ oder Hair-Trigger Alert (zum sofortigen Abschuss bezeichnet und durch einen früheren NSA-Chef bereit). als „absurd“. Ein ehemaliger Leiter der gesamten US-Nuklearstreitkräfte hat vor dem Kongress In den USA wird der Hair-Trigger Alert seit langem kundgetan, dieser müsse verlangen, dass das als leichtsinnig und gefährlich kritisiert, nicht nur Pentagon den Hair-Trigger Alert für die Waffen von Akademiker*innen oder Friedensaktivist*in- beendet. Ein anderer ehemaliger Leiter der nen, sondern auch von vielen, die auf höchster gesamten US-Atomstreitkräfte hat den Amerika- Ebene des nationalen Sicherheitsstaats gedient ner*innen geraten, inbrünstig zu Gott zu beten, haben. dass solche Strategien abgeschafft werden.39 Während seiner Präsidentschaftskandidatur Und doch befinden sich die Waffen der USA bis bezeichnete George W. Bush das Vorhalten von zum heutigen Tag im Hair-Trigger Alert. Das ist Atomwaffen „in hoher Alarmbereitschaft, im Hair- so, trotz zahlreicher versehentlicher Beinahe- Trigger-Status“ als „unnötiges Überbleibsel des Abschüsse, zunehmender Bedenken zur Cyber- Kalten Kriegs“, das „inakzeptable Risiken eines sicherheit der Befehls- und Kontrollsysteme und versehentlichen oder unberechtigten Abschusses einer Reihe entsetzter US-Präsidenten, Generäle, berge.“39 Admiräle und Geheimdienstleiter. Barack Obama kritisierte als Präsidentschafts- Wie im Bulletin of the Atomic Scientists (Be- kandidat die Hair-Trigger-Strategie als „gefähr- richtsblatt der Atomwissenschaftler*innen; freie liches Relikt des Kalten Kriegs“, das „die Gefahr Übersetzung in Anlehnung an den englischen katastrophaler Unfälle oder Fehlberechnungen Originaltext) zu lesen ist: steigert.“ Nach seiner Wahl 2008 war auf der Web- site des Präsidenten zu lesen: „Die Vereinigten Auf Ebene des Präsidenten fördert der Status Staaten und Russland haben tausende Atomwaf- „Launch on Warning“ hastige Fehleinschätzun- 20
gen unter dem größten vorstellbaren Druck. zu einem versehentlichen oder unbeabsichtigten Präsident Reagan war entsetzt über den Zeit- Abschuss führen … Er legte seine Gedankengän- druck. (Er sagte, er habe sechs Minuten, um zu ge unermüdlich dar, aber die Regierungen waren entscheiden.) Präsident George W. Bush be- nicht interessiert.“41 schwerte sich, er könne nicht einmal rechtzeitig „vom Scheißhaus“ kommen, um einen „Abschuss Und Russland hat vermutlich nicht als einziges nach Warnung“ zu genehmigen. Präsident Oba- Land ein automatisches System für den letzten ma fand, es sei Wahnsinn, einen Präsidenten an- Atemzug. Laut dem Atomwaffenexperten Daniel hand dermaßen unvollständiger Informationen Ellsberg ist es „äußerst wahrscheinlich, dass ... zu einer so hastigen Entscheidung zu zwingen, ob es in jedem zweiten Atomwaffenstaat Tote-Hand- ein Gegenangriff angezeigt ist und über dessen Systeme oder Vorkehrungen gibt.“40 Art und Umfang. Wenn dem so ist, könnte eine einzige Atomexplo- Die Risiken eines versehentlichen Atomkriegs sion in einer Landeshauptstadt wie Islamabad oder eines unüberlegten sofortigen Abschusses, oder Neu Delhi eines der hier geschilderten Sze- der zu einem regelrechten Atomkrieg eskaliert, narien auslösen. Es ist sogar vorstellbar, dass ein sind so offensichtlich und nervenzermürbend, regionaler Atomkrieg mit Milliarden potenziellen dass das Pentagon im Kalten Krieg große An- Todesopfern durch eine Panne ausgelöst wird – strengungen unternahm, um die amerikanische wie Indiens Abschuss eines unbewaffneten (aber Öffentlichkeit im Dunkeln zu halten ... Es breitete atomwaffenfähigen) Marschflugkörpers am 9. einen dicken Teppich der Geheimhaltung über März 2022 tief ins pakistanische Staatsgebiet. Das die tiefgehenden Bedenken von Präsidenten indische Verteidigungsministerium gab an, Grund und anderen leitenden Beamten, die zahlreichen für das Vorkommnis sei ein „technischer Defekt“ Fehlalarme über Feindangriffe (auf beiden Sei- während „routinemäßiger Wartungsarbeiten“ ge- ten) und die Panik und Verwirrung, die als Reakti- wesen.42 Wäre die Rakete aber nuklear bestückt on auf diese Vorfälle in der Befehls- und Kontroll- gewesen – oder wäre Pakistan vom Schlimms- kette und den Frühwarnzentren auftraten.38 ten ausgegangen und hätte einen Gegenschlag ausgelöst – wäre das Leben, wie wir es kennen, Das beschreibt die Situation in den USA, einem im März 2022 beendet gewesen, allein aufgrund demokratischen Staat, der Vorreiter bei Atom- einer „routinemäßigen Wartung“ von Hair-Trig- waffen und der modernen Strategie eines ger-Atomarsenalen. Atomkriegs war. Es gibt aber keinen Grund zur Annahme, dass der Umgang mit Atomwaffen in Russland, Indien, Pakistan oder anderswo sehr viel anders aussieht. Russland etwa hält nicht nur Atomwaffen im Hair-Trigger Alert, sondern hat sogar ein System mit dem Codenamen Perimeter gebaut (um- gangssprachlich bekannt als die „Tote Hand“), das bei einer großen Atomexplosion in Moskau von einem Enthauptungsschlag durch die USA ausgeht und reagiert, indem die Tote Hand einen Vergeltungsschlag gegen den angenom- menen Feind startet.40, 41 Entworfen wurde das System durch einen hochrangigen sowjetischen Ingenieur, Valeri Jarinitsch, der später im Le- ben schwerwiegende Bedenken hatte. Wie die Washington Post 2012 in Jarinitschs Nachruf schrieb: „Es kamen ihm Zweifel, ob es klug sei, bei der atomaren Abschreckung die Strategie der entsicherten Pistole zu verfolgen, den sogenann- ten Hair-Trigger Alert ... er fürchtete, das könne 21
Abbildung 2: Vergleich der Sprengkraft = 1.000 Bomben, die Tokio zerstörten: 1,5 Kilotonnen Kilotonnen Atombombe, die Hiroshima zerstörte: 15 Kilotonnen Sprengkraft auf das Nächste gerundet Regionales Atomkriegsszenario 1: 250 Atombomben mit je 15 Kilotonnen Alle Geschütze, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden, hohe Schätzung Regionales Atomkriegsszenario 2: 250 Atombomben mit je 50 Kilotonnen Ausrüstung eines einzelnen U-Bootes der Klasse U.S. Ohio Ausrüstung aller 5 russischen U-Boote der Klasse Borei Chinas Atomwaffenarsenal Ausrüstung aller 14 U-Boote der Klasse U.S. Ohio US Atomwaffenarsenal Russlands Atomwaffenarsenal Weltweite Atomwaffenarsenale Quelle: Matt Korda & Hans Kristensen/Federation of American Scientists 22
Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit Ein begrenzter Atomkrieg würde nicht zum Aus- Berechnungen. Xia und Kolleg*innen errechnen sterben der Menschheit führen. Aber er wäre mit die Anzahl der unmittelbaren Opfer und die An- großer Sicherheit das Ende der modernen Zivili- zahl der Hungertoten nach zwei Jahren durch sation. Eine Abfolge von „Jahren ohne Sommer“, einen „regionalen“ Atomkrieg moderater Größe. mit Missernten, Hamsterkäufen und massenhaf- Auch ein Krieg, in dem nur ein kleiner Anteil des ter Hungersnot würden alles auf den Kopf stellen, immensen weltweiten Arsenals genutzt wird, vom Welthandel bis zur öffentlichen Sicherheit würde bis zu 2,2 Milliarden Menschen weltweit und Ordnung. Keine Zivilisation konnte bisher töten, selbst in entlegenen Regionen der Erde. einem Schock dieser Größenordnung standhal- Ein größerer „regionaler“ Atomkrieg – der immer ten. Es gibt allen Grund anzunehmen, dass die noch nicht den massiven Umfang des russischen wirtschaftlichen, politischen und technischen oder amerikanischen Arsenals ins Spiel bringt, Systeme, die für uns selbstverständlich sind, zu- aber eine signifikante Menge eines Arsenals sammenbrechen würden. einer zweitrangigen Atommacht (wie z. B. Indien, China, Pakistan, Israel, das Vereinigte Königreich oder Frankreich) – würde um die 2,6 Milliarden Menschen töten. (siehe Tabelle 2) Xia und Kolleg*innen errechnen die Anzahl der unmittelbaren Op- Eine Argumentation besagt, so offensichtlich Schreckliches würde niemals zugelassen werden. fer und die Anzahl der Hungerto- Ärzt*innen kennen diese Art von magischem ten nach zwei Jahren durch einen Denken gut – von Patient*innen mit Realitätsver- „regionalen“ Atomkrieg modera- weigerung. Alle Ärzt*innen wissen, dass lebens- bedrohliche Krankheiten wie Bluthochdruck ter Größe. Auch ein Krieg, in dem oder Darmkrebs jahrelang unsichtbar bleiben nur ein kleiner Anteil des immen- und ignoriert werden können – dass sie aber bei sen weltweiten Arsenals genutzt Erkennung behandelbar sind und so eine Katast- rophe vermieden wird. wird, würde bis zu 2,2 Milliarden Menschen weltweit töten, selbst Im Fall eines Atomkriegs gibt es keine wirksa- me Behandlung. Wir müssen uns auf die Prä- in entlegenen Regionen der Erde. vention konzentrieren. Und der einzige Weg, sicherzustellen, dass Atomwaffen niemals ein- gesetzt werden, ist, sie komplett abzuschaf- Frühere Studien, die sich mit dem Einsatz klei- fen. Der von der UN-Generalversammlung am nerer Atombomben befassten, gingen von bis 7. Juli 2017 verabschiedete Atomwaffenver- zu zwei Milliarden Menschen aus, die durch botsvertrag, der am 22 Januar 2021 in Kraft die globale Abkühlung und Ernteausfällen die trat, bietet eine rechtliche und moralische sogar durch eine begrenzten regionalen Krieg Grundlage zur Abschaffung von Atomwaffen. vom Hungertod bedroht wären. Die neueren Folglich stellen wir im Interesse der öffentli- Studien modellieren Explosionen mit größerer chen Gesundheit Daten über diese potenzielle Sprengkraft, die größere Städte in Brand setzen. Bedrohung für die Menschheit als Spezies vor. Sie kalkulieren größere Faktoren, wie den Zu- Das Heilmittel heißt Prävention. Die Präven- sammenbruch Wirtschaft, die Beschädigungen tion besteht darin, auf Atomwaffen zu verzich- der Ozonschicht und die Auswirkungen der ten und sie abzuschaffen. Strahlung, auch weiterhin nicht mit ein. Und dennoch übertreffen ihre Vorhersagen bisherige 23
Tabelle 3: Studien zur Nuklearen Hungersnot Studie nach Studiendesign Zusammenfassung Autor(en) & Jahr Crutzen und Birks, 1982 Betrachtete mögliche Auswirkungen von groß- Kommt zu dem Schluss, dass das Potenzial für großflächige Brände mit flächigen Stadt- und Waldbränden nach einem Rußproduktion unterschätzt wird. Voraussichtlicher Abbau der Ozon- großen Atomkrieg. schicht und globale Abkühlung. Alexandrov und Stenchi- Modellierung potenzieller Klimaauswirkungen Nach einem Atomkriegsszenario wurde eine signifikante und anhalten- kov, 1983 eines Atomkriegs unter Verwendung von Super- de Abkühlung der nördlichen Hemisphäre festgestellt. computern an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Turco et al., 1983 Modellierte potenzielle Auswirkungen verschie- „Bei vielen simulierten Nuklearabschlägen von mehreren tausend dener Atomkriegsszenarien auf die Atmosphäre Megatonnen, bei denen Staub und Rauch erzeugt werden und die Erde und das globale Klima. innerhalb von 1 bis 2 Wochen umkreisen, können die durchschnittli- chen Lichtstärken auf wenige Prozent der Umgebung reduziert werden und die Landtemperaturen -15 bis -25 °C erreichen.“ Sogar „kleine“ Sze- narien, die weniger als 1 % der weltweiten Arsenale des Kalten Krieges nutzten, führten zu vielen Monaten globaler Abkühlung mit Temperatu- ren unter dem Gefrierpunkt sogar im Sommer. Ehrlich et al., 1983 Betrachtete mögliche Auswirkungen eines groß „Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, schwache Lichtverhältnisse angelegten Atomkriegs. und hohe Dosen ionisierender und ultravioletter Strahlung, die sich nach einem groß angelegten Atomkrieg über viele Monate erstrecken, könnten die biologischen Unterstützungssysteme der Zivilisation zer- stören ... das Aussterben der menschlichen Spezies selbst kann nicht ausgeschlossen werden.“ Robock et al., 1984 Betrachtete mögliche Auswirkungen eines groß Schnee-/Eisrückkopplungen würden nach einem großen Atomkrieg angelegten Atomkriegs. zu einer länger andauernden Abkühlung führen, als ursprünglich an- genommen. Pittock et al., 1989 Dreibändiges, über 1.000 Seiten umfassendes Ein groß angelegter Atomkrieg würde jahrelange Klimastörungen und Kompendium bisheriger Studien zu atmo- den Zusammenbruch der Landwirtschaft mit sich bringen. Obwohl sphärischen und anderen Auswirkungen des bei einem ersten Atomwaffenaustausch zig Millionen getötet werden Atomkriegs. könnten, könnte die Zahl der Hungertoten in den kommenden Monaten und Jahren um ein Vielfaches höher sein. Toon et al., 2007 Bahnbrechende Studie über die Auswirkungen 5 Tg Ruß würden in die hohe Atmosphäre eingetragen. Es würde Millio- eines kleineren oder regionalen Atomkriegs, in nen von unmittelbaren Opfern geben, die mit der Zahl der Todesopfer diesem Fall zwischen Indien und Pakistan. Mo- des gesamten Zweiten Weltkriegs konkurrieren würden. Ruß in hoher dellierte Verluste, Schäden, radioaktiven Fallout Atmosphäre würde wahrscheinlich die Ozonschicht stören. Radioakti- und Rauchentwicklung nach einem regionalen ver Fallout würde dazu führen, dass große städtische Gebiete verlassen Austausch von 100 Atomwaffen von 15 Kilo- werden müssten für Jahrzehnte. tonnen. (Die damals modellierte Gesamtmenge von 15 Mt entsprach 0,1 % der Sprengkraft des weltweiten nuklearen Arsenals). Robock et al., 2007 Modellierte mögliche Auswirkungen auf das Die globale durchschnittliche Oberflächenabkühlung von 1,25ºC hält Klima durch die von Toon et al., 2007 vorherge- Jahre an. Eine dramatischere Abkühlung von „mehreren Grad Celsius“ sagten 5 Tg Ruß. tritt lokal über Nordamerika und Eurasien auf. Der globale durch- schnittliche Niederschlag sinkt um 10 %. „Die Abkühlung im Jahrzehnt nach [dem kleinen Atomkriegsszenario] … ist fast doppelt so groß wie die globale Erwärmung des vergangenen Jahrhunderts … und würde zu Temperaturen führen, die kühler sind als in der vorindustriellen Kleinen Eiszeit.“ Mills et al., 2008 Modellierte mögliche Auswirkungen auf die Globaler Rückgang von 20 % des Ozons. Über den hohen nördlichen Ozonschicht aus dem Szenario eines Krieges Breiten, einschließlich Russland, Europa, Kanada und den Vereinigten mit 100 Atomwaffen von 15 Kilotonnen. Staaten, 50-70 % Abnahme der Ozonschicht. Ozdogan et al., 2012 Modellierte mögliche Auswirkungen auf die Zeigte, dass die Mais- und Weizenproduktion über einen Zeitraum von Mais- und Weizenproduktion in den USA durch 10 Jahren im Durchschnitt um 10 % pro Jahr zurückging, mit jährlichen die von Toon et al., 2007 vorhergesagten 5 Tg Rückgängen von ~ 20 %. UV-Schäden durch Ozonabbau oder Auswir- Ruß. kungen täglicher Temperaturextreme auf die Ernteerträge wurden nicht berücksichtigt. Xia and Robock, 2012 Modellierte mögliche Auswirkungen auf die Zeigte, dass die Reisproduktion über 10 Jahre im Durchschnitt um 15 % chinesische Reisproduktion durch die von Toon pro Jahr zurückginge, mit einem durchschnittlichen Rückgang von et al., 2007 vorhergesagten 5 Tg Ruß. mehr als 20 % pro Jahr in den ersten 4 Jahren. Xia et al., 2013 Modellierte mögliche Auswirkungen auf das Die Mais-, Reis- und Weizenproduktion würde im unmittelbar darauf fol- Klima und die landwirtschaftliche Produktion in genden Jahr um 20 %, 29 % bzw. 53 % zurückgehen. Diese Verringerung China durch die von Toon et al., 2007 vorherge- der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln würde mit allmählich abneh- sagten 5 Tg Ruß. mender Amplitude mehr als ein Jahrzehnt andauern … ein Atomkrieg, der viel weniger als 1 % des derzeitigen globalen Arsenals verbraucht, könnte eine globale Nahrungsmittelkrise auslösen und eine Milliarde Menschen der Gefahr einer Hungersnot aussetzen. 24
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