WIE WEITER NACH DEM LOCKDOWN? DIE SARS-COV-2 PANDEMIE UND STRATEGIEN FÜR DEN ÖPNV - EIN HANDLUNGSLEITFADEN

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WIE WEITER NACH DEM LOCKDOWN? DIE SARS-COV-2 PANDEMIE UND STRATEGIEN FÜR DEN ÖPNV - EIN HANDLUNGSLEITFADEN
Wie weiter nach dem Lockdown?
Die SARS-CoV-2 Pandemie und
Strategien für den ÖPNV
Ein Handlungsleitfaden
WIE WEITER NACH DEM LOCKDOWN? DIE SARS-COV-2 PANDEMIE UND STRATEGIEN FÜR DEN ÖPNV - EIN HANDLUNGSLEITFADEN
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Das Mobility Institute Berlin (mib) ist ein Beratungs- und Forschungsunternehmen, das den nachhaltigen Wandel
urbaner Mobilität vorantreibt. Es ist unsere Mission, Städte durch attraktive und effiziente Mobilitätsangebote
lebenswerter zu machen. Wir sind überzeugt, dass der öffentliche Verkehr das Rückgrat eines umfassenden
nachhaltigen Mobilitätssystems ist, das auch Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, Autos und neue Mobilitätsdienste
umfasst.

Gemeinsam mit unseren Kund*innen aus Politik, Verwaltung und dem Verkehrssektor erarbeiten wir klare Visionen
zur nachhaltigen Zukunft urbaner Mobilität. Darauf aufbauend formulieren wir Strategien und planen deren
Umsetzung. Dabei arbeiten wir faktenbasiert, werten systematisch große Datenmengen aus und wenden innovative
Analysemethoden an. Proaktives Changemanagement ist für uns essenzieller Bestandteil erfolgreicher
Transformationsprozesse.

Autor*innen

 Dr. Jörn Richert
 Head of Consulting
 jri@mobilityinstitute.com

 Irene Cobián Martín
 Business Development Manager
 irc@mobilityinstitute.com

 Samuel Schrader
 Business Development Manager
 sas@mobilityinstitute.com

Herausgeber
Mobility Institute Berlin (mib)
mib Mobility GmbH
Neue Schönhauser Straße 20
10178 Berlin

Kontakt:
info@mobilityinstitute.com
https://mobilityinstitute.com

© mib, 2020

Version 1.01i

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

EXECUTIVE SUMMARY

Die SARS-CoV-2ii Pandemie hat die Welt zum Stillstand gebracht und damit auch die urbane
Mobilität. #Stayathome ist nicht nur ein Trend in den sozialen Medien, Menschen bleiben
tatsächlich zu Hause. Besonders hart hat es den ÖPNV getroffen: In manchen europäischen
Städten gingen die Fahrgastzahlen um bis zu 95 % zurück. Verkehrsunternehmen und
-behörden arbeiten unter größten Anstrengungen, um die akuten Herausforderungen der
Krise zu meistern.

Nach der Krise steht jedoch der Übergang in die nächste Phase der Pandemie an. Damit rücken
zunehmend längerfristige, strategische Fragen in den Vordergrund. Deshalb analysiert diese
Studie die längerfristigen Auswirkungen der SARS-CoV-2 Pandemie auf urbane Mobilität und
den ÖPNV. Wir stützen uns auf aktuelle wissenschaftliche Debatten zur Pandemie, Mobilitäts-
und ÖPNV-Expertise und auf Interviews mit Verkehrsunternehmen, -behörden und -
expert*innen sowie mit New Mobility-Akteuren aus ganz Europa.

Unsere wichtigsten Ergebnisse sind:

Die Pandemie                     Mobilitätsverhalten             ÖPNV-Strategie

Die aktuelle Krise ist nur       Die Mobilitätsnachfrage         Neben dem momentanen
der Anfang. Die SARS-            wird zum Ende der Krise         Krisenmanagement
CoV-2 Pandemie könnte            wieder wachsen. Dennoch         müssen
noch Jahre dauern.               wird sie wahrscheinlich         Verkehrsunternehmen
                                 unterhalb des Vorkrisen-        und -behörden langfristige
Wir nähern uns der
                                 Niveaus bleiben –               Strategien entwickeln.
zweiten Phase der
                                 zumindest in der
Pandemie. Diese                                                  Es wäre falsch,
                                 Kalibrierungsphase.
Kalibrierungsphase                                               bestehende strategische
könnte bis in die zweite         Wegen wiederkehrender           Initiativen zu stoppen
Jahreshälfte 2021 dauern.        Infektionswellen wird           oder zu beenden, nur weil
                                 auch die Mobilitäts-            diese nicht dem
So lange sollte mit
                                 nachfrage während der           Krisenmanagement
wiederkehrenden
                                 Kalibrierungsphase stark        dienen.
Infektionswellen und
                                 schwanken.
fortlaufenden                                                    Wir zeigen, dass fünf
Einschränkungen von              Aufgrund eines hohen            Initiativen eine zentrale
schwankender Stärke              wahrgenommenen (und             Rolle bei der Bewältigung
gerechnet werden.                realen) Infektionsrisikos       der Pandemie spielen
                                 werden viele Menschen           können: Eine Angebots-
Eine vollständige
                                 den ÖPNV vermutlich             erweiterung, multimodale
Aufhebung der
                                 auch in den kommenden           Angebote, einfache und
Einschränkungen bleibt
                                 Monaten meiden.                 flexible Preisgestaltung,
bis zum Ausklang der
                                                                 das Vorantreiben der
Pandemie                         Nutzer*innen werden in
                                                                 Digitalisierung und die
unwahrscheinlich. Für die        ihrer Wahl des
                                                                 Transformation hin zu
Aufhebung bedarf es eines        Verkehrsmittels
                                                                 agilen Organisations-
wirksamen und breit              wahrscheinlich flexibler
                                                                 strukturen.
verfügbaren Impfstoffes.         werden.

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Die Pandemie: Krise, Kalibrierung und Ausklang

Die SARS-CoV-2 Pandemie wird uns
wahrscheinlich noch über Jahre begleiten.             Eindämmung                        Verlangsamung
                                                      Eine Reihe von Strategien,        Eine Reihe von Strategien für
In den letzten Wochen wurden                          welche die durchschnittliche      die Hemmung der Virus-
                                                      Anzahl von Ansteckungen           ausbreitung und der Vermei-
gesellschaftliche und wirtschaftliche
                                                      durch eine infizierte Person      dung einer Überlastung des
Aktivitäten in ganz Europa zurückgefahren.            (Reproduktionsrate, kurz R),      Gesundheitssystems, ohne R
So ist es gelungen, eine unkontrollierte              auf unter 1 senken.               unbedingt auf
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

gesellschaftliche Reaktionen auf das Virus                    aufgeworfenen Herausforderungen näher
bergen zusätzliche Ungewissheiten.                            zu erläutern.

Deshalb sind auch andere Szenarien
denkbar. Selbst ein Worst-Case-Szenario, in                   Phase 1: Krise
dem sich SARS-CoV-2 unkontrolliert (oder                      Trotz der traurigen Nachrichten, die uns aus
unkontrollierbar) ausbreitet und es zu                        norditalienischen Krankenhäusern und von
ökonomischen oder sogar politischen                           anderen Orten des europäischen Kontinents
Zusammenbrüchen kommt, kann nicht                             erreichten, ist wichtig hervorzuheben:
prinzipiell ausgeschlossen werden. Die                        Europa hat eine unkontrollierte Ausbreitung
Folgen einer solchen Entwicklung wären                        von SARS-CoV-2 vorerst verhindert.
jedoch so schwerwiegend, dass die Zukunft
des ÖPNV (Öffentlicher                                        Nachdem die italienische Regierung am 09.
Personennahverkehr) wohl in den                               März 2020 eine schwere
Hintergrund rücken würde.                                     Ausgangsbeschränkung verhängt hat, zogen
                                                              viele europäische Länder nach und
Im Gegensatz dazu würde ein Best-Case-                        schränkten die soziale Interaktion und
Szenario ein schnelles Ende der Pandemie                      Bewegungsfreiheit ihrer Bürger*innen stark
nahelegen, etwa durch die unerwartet                          ein. Diese Maßnahmen scheinen SARS-CoV-
schnelle Entwicklung eines Impfstoffs.v Im                    2 vorerst eingedämmt zu haben.
Nachhinein würde die Krise dann wirken
wie eine dramatische, aber kurzlebige                         Die meisten Bürger*innen Europas scheinen
Unterbrechung eines sonst weithin linear                      sich derweil an die Regeln und
verlaufenden Geschehens.                                      Empfehlungen ihrer Regierungen zu halten.
                                                              Sie teilen ein Bewusstsein für den Ernst der
Die strategischen Implikationen eines                         Lage und die Solidarität mit Menschen in
solchen Best-Case-Szenarios für urbane                        kritischen Berufen. Homeschooling und
Mobilität und den ÖPNV hielten sich in                        Homeoffice haben Einzug in den
Grenzen. Dennoch nehmen wir später noch                       europäischen Alltag gehalten.
einmal auf dieses Szenario Bezug, wenn wir
die strategischen Implikationen der                           Parallel wurde ein Großteil der Wirtschaft
Pandemie erläutern.                                           heruntergefahren. Obwohl europäische
                                                              Staaten und die EU Soforthilfen und
Im Folgenden konzentrieren wir uns                            Garantien in Billionenhöhe bereitstellten,
hingegen darauf, das eingangs eingeführte                     kämpfen viele, besonders kleine und
Szenario weiter auszuarbeiten und so die                      mittelständische Unternehmen mit
schwerwiegenden, von SARS-CoV-2                               Liquiditätsproblemen und schicken ihre

Abbildung 1: Ausblick auf die potenzielle Entwicklung der SARS-CoV-2 Pandemie

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Mitarbeiter*innen in Kurzarbeit, beurlauben         Einschränkungen bedeutet die Lockerung
sie oder kündigen ihnen.                            jedoch nicht.iii

Gleichzeitig steigt das Risiko, dass sich die       Auch sind neue Infektionswellen möglich.
aktuellen Maßnahmen substanziell negativ            Eindämmende Maßnahmen könnten immer
auf die physische und psychische                    dann eingeführt werden, wenn die Zahl
Gesundheit der Bevölkerung auswirken.               kritischer COVID-19 Fälle gewisse
Entsprechend wächst der Druck, die                  Grenzwerte übersteigt. Länder wie Japan,
weitreichenden Eindämmungsmaßnahmen                 Taiwan und Singapur erleben schon heute
zu lockern.                                         Situationen, die sich zu einer zweiten
                                                    Infektionswelle entwickeln könnten.
Phase 2: Kalibrierung                               Wie lang in dieser Situation Eindämmungs-
Nach der anfänglichen Krisenreaktion                und Verlangsamungsperioden jeweils
werden wir voraussichtlich in eine länger           andauern würden, ist schwer
andauernde Kalibrierungsphase übergehen.            vorherzusagen. Eine der oben erwähnten
In dieser Phase werden epidemiologische             Simulationen legt nahe, dass zwei Drittel der
Notwendigkeiten so kalibriert werden                Zeit Eindämmungsmaßnahmen notwendig
müssen, dass sie mit ökonomischen und               sein könnten.vi Angesichts der großen
gesellschaftlichen Grundbedürfnissen in             Ungewissheit der gegenwärtigen Situation
Einklang gebracht werden können. Dies               stellt dies jedoch nur eine Prognose dar.
wird zur Lockerung der Einschränkungen              Die konkrete Anzahl, Länge und Intensität
führen. Dennoch werden wir                          künftiger Infektionswellen bleibt unklar. Sie
höchstwahrscheinlich nicht einfach in den           wird von einer Vielzahl von Faktoren
Vorkrisen-Alltag zurückkehren können.               abhängen, zum Beispiel von den
                                                    Auswirkungen höherer Temperaturen auf
Hin und Her zwischen Verlangsamung und              das Virus, von möglichen Mutationen, die
Eindämmung schafft unstete Lage                     sich auf die Reproduktionsrate des Virus
                                                    auswirken könnten, von der tatsächlichen
In der Kalibrierungsphase werden wir
                                                    Zahl der infizierten Personen, von der
vermutlich ein Hin und Her zwischen
                                                    Entwicklung der Intensivpflegekapazitäten
Verlangsamungs- und Eindämmungs-
                                                    in den Krankenhäusern, von Innovationen
perioden beobachten können.
                                                    bei der Behandlung von COVID-19, von
Schon heute gehen vielerorts die                    neuen Testmethoden und -praktiken sowie
Infektionszahlen zurück. Dies wird dazu             von der Wirksamkeit von Quarantäne- und
führen, dass die momentanen                         sozialen Distanzierungsmaßnahmen und
Eindämmungsmaßnahmen zeitnah durch                  deren Einhaltung.
weniger strenge Verlangsamungs-
maßnahmen ersetzt werden können. Damit              Krisenmüdigkeit und hitzige Debatten könnten
wäre die gesellschaftliche und                      zu suboptimalen Maßnahmen führen
wirtschaftliche Normalität jedoch noch
nicht zurückgewonnen. Zwei kürzlich                 Während sich die meisten Menschen
veröffentlichte Simulationen legen nahe,            anfänglich an einschränkende Maßnahmen
dass soziale Kontakte auch nach dieser              hielten, könnte die Angst vor dem Virus
Lockerung reduziert bleiben werden, und             mittelfristig abnehmen und Raum für
zwar um 25-40 %.vi Dies erscheint weit              Krisenmüdigkeit machen. Als Folge würden
weniger drastisch als die 70-75 %                   sich weniger Menschen an bestehende
Reduzierung, die die Simulationen für               Maßnahmen halten und das Risiko neuer
Eindämmungsperioden annehmen. Eine                  Infektionswellen würde steigen.
vollständige Aufhebung der

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Wahrscheinlich ist auch, dass zunehmende           durch verringerten Konsum und weniger
Zweifel an Legitimität und                         wirtschaftliche Aktivität.
Verhältnismäßigkeit bestehender
Einschränkungen aufkommen, insbesondere            Struktureller Wandel zur Digitalisierung von
wenn die negativen wirtschaftlichen                Arbeit, Bildung und Freizeit
Auswirkungen der Pandemie in der
breiteren Gesellschaft spürbar werden.             Die langwierige Kalibrierungsphase könnte
                                                   zu guter Letzt der Digitalisierung des Alltags
Dies könnte wiederum politische                    zum Durchbruch verhelfen, zum Beispiel in
Handlungen provozieren, die aus                    den Bereichen Arbeit, Bildung oder Freizeit.
epidemiologischer Perspektive suboptimal           Je länger die Kalibrierungsphase anhält,
sind und eine Ausbreitung des Virus nicht          desto wahrscheinlicher wird es, dass sich
effektiv bekämpfen. Besonders in Ländern           sogar zögerliche Menschen an Homeoffice,
und Regionen mit anstehenden Wahlen                E-Learning und private Videotelefonate
besteht dieses Risiko.                             gewöhnen werden.

Schwierige Wirtschaftslage und ungewisse           Phase 3: Ausklang
Staatsausgaben
                                                   Erst die Entwicklung eines SARS-CoV-2
Obwohl sich die Wirtschaft im Verlauf der          Impfstoffs wird die Ausklangsphase der
Krise etwas erholen wird, könnten                  Pandemie einläuten. Rund 70 Projekte
fortlaufende Einschränkungen und erneute           beschäftigen sich momentan weltweit mit
Eindämmungsperioden kleine wie große               der Entwicklung eines solchen Impfstoffs.viii
Unternehmen weiterhin vor                          Die Entwicklung ist jedoch zeitaufwendig.
Herausforderungen stellen. Das                     Vielversprechende Impfstoffkandidaten
Umsatzpotenzial von Cafés und Restaurants          müssen eine lange Reihe von Tierversuchen,
beispielsweise könnte sich durch                   klinischen Studien an Menschen und
anhaltendes Social Distancing stark                Zulassungsprozessen durchlaufen. Die
verringern.                                        Weltgesundheitsorganisation (WHO) und
Eine zügige Erholung der Wirtschaft ist            andere Expert*innen gehen daher davon
unter diesen Umständen eher                        aus, dass es 18 Monate dauern könnte, bis
unwahrscheinlich, die Arbeitslosenquote            ein Impfstoff zur Verfügung steht.ix
dürfte weiterhin über Vorkrisenniveau              Einige Projekte haben die Phase der
verharren. Es bleibt unklar, ob und wann die       Tierversuche bereits übersprungen und
europäischen Volkswirtschaften wieder              erste Testreihen an Menschen gestartet.
einen Wachstumskurs einschlagen.vii                Eine Fertigstellung in 18 Monaten erscheint
Abhängig von der wirtschaftlichen Stärke           jedoch weiterhin ambitioniert. Laut Peter
vor der Pandemie, dem Ausmaß der                   Hotez, einem führenden Experten für
Pandemie und den Reaktionen auf diese              Infektionskrankheiten und
könnte sich das Bild von Land zu Land sehr         Impfstoffentwicklung vom Bayer College of
unterscheiden.                                     Medicine, sei ein solch ehrgeiziger
Staaten und Kommunen könnten schließlich           Zeitrahmen nur zu halten, wenn „die
dazu gezwungen werden, ihre Ausgaben zu            Zeichen gut stehen“.x
überdenken und neu zu priorisieren. Sie            Die Produktion und Verbreitung des
stehen vor einer zweifachen                        Impfstoffs dürften weitere Zeit in Anspruch
Herausforderung: Die wirtschaftlichen              nehmen.xi Wie viel Zeit, das hängt unter
Rettungsmaßnahmen sind kostspielig,                anderem von den Produktionskapazitäten
gleichzeitig schwinden die Steuereinnahmen         zum Zulassungszeitpunkt, dem Land der
                                                   Impfstoff-Entwicklung und Vereinbarungen

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

zur Verteilung zwischen Staaten ab. Sollte
der Impfstoff anfänglich nur in begrenzten
Mengen verfügbar sein, so könnte es
notwendig werden, die Bevölkerung in
mehreren Schritten zu impfen.
Risikogruppen und Menschen, die in stark
gefährdeten Berufen arbeiten, würden in
einer solchen Situation wahrscheinlich
zuerst geimpft. Die breite Bevölkerung
müsste sich hingegen weiter gedulden.

Die Ausklangsphase wird voraussichtlich
mit einer ökonomischen und
gesellschaftlichen Erholung einhergehen.
Manche Lebensbereiche könnten sich aber
für immer verändern. Die zunehmende
Digitalisierung wird wirtschaftliche
Strukturen und alltägliche Gewohnheiten
auch weiterhin beeinflussen. Ebenso dürften
gewisse gesellschaftliche Normen bestehen
bleiben, die während der Pandemie
entstanden sind. Es ist zum Beispiel
keineswegs ausgemacht, dass
Begrüßungsformen wie Umarmungen und
Händeschütteln die Pandemie überleben.
Auch das gründliche Händewaschen, das
Nießen in die Armbeuge und das Tragen von
Masken in gewissen Situationen könnte sich
über die Krise hinaus etablieren.

Alles in Allem dürfte die SARS-CoV-2
Pandemie unser Leben in den kommenden
Jahren nachhaltig beeinflussen. Die drei
beschriebenen Phasen zeigen, dass die
Pandemie ihren Charakter mit der Zeit
verändern wird. Der Übergang zwischen
den einzelnen Phasen wird dabei eher
schrittweise als plötzlich erfolgen.
Außerdem ist es wahrscheinlich, dass
besonders die Kalibrierungsphase von Land
zu Land unterschiedlich verlaufen wird,
abhängig von politischen Entscheidungen
und gesellschaftlichen Einstellungen.

Trotz der verbleibenden Ungewissheiten
helfen uns die drei hier vorgestellten Phasen
besser zu verstehen, welche Auswirkungen
SARS-CoV-2 auf urbane Mobilität und den
ÖPNV haben könnte. Im Folgenden werden
wir diese Auswirkungen näher betrachten.

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Das Mobilitätsverhalten: Nachfrage, Volatilität und die Wahl
des Verkehrsmittels

Die SARS-CoV-2 Pandemie wird sich in den                        Trend verstetigen wird. Zum Ausklang der
nächsten Jahren erheblich auf das                               Pandemie wird der ÖPNV voraussichtlich
Mobilitätsverhalten auswirken. Nachdem                          wieder an Beliebtheit gewinnen.
sie in der Krisenphase drastisch
                                                                Schließlich werden Menschen in der
eingebrochen ist, wird sich die Nachfrage
                                                                volatilen Kalibrierungsphase ihre
nach Mobilität voraussichtlich wieder
                                                                Verkehrsmittelwahl wahrscheinlich
erholen. Anhaltende Einschränkungen und
                                                                zunehmend flexibel auf die jeweilige
Infektionsängste werden die Nachfrage
                                                                Risikolage abstimmen. Hieraus könnte sich
jedoch auch während der
                                                                ein genereller Flexibilitätsanspruch
Kalibrierungsphase weiter belasten. Erst
                                                                entwickeln, der über die SARS-CoV-2
zum Ausklang der Pandemie ist eine
                                                                Pandemie hinaus Bestand haben könnte.
wesentliche Nachfrageerholung zu
erwarten. Doch selbst dann könnte die
gestiegene Beliebtheit von digitalen                            Phase 1: Krise
Aktivitäten wie Homeoffice und E-Learning
                                                                Mit dem Ausbruch der SARS-CoV-2 Krise
dafür sorgen, dass die Nachfrage hinter                         ist die Mobilitätsnachfrage in ganz Europa
dem Vorkrisenniveau zurückbleibt.                               dramatisch eingebrochen. Auch in
Insbesondere in der Kalibrierungsphase ist                      Deutschland weisen Smartphone-Tracking-
darüber hinaus eine wesentlich höhere                           Daten darauf hin: Zwischen Ende Februar
Volatilität der Nachfrage wahrscheinlich,                       und Ende März 2020 ist die
hervorgerufen durch neue Infektionswellen                       durchschnittliche, täglich zurückgelegte
und dadurch nötige Eindämmungs-                                 Distanz um 47 % gesunken.xii
maßnahmen (siehe Box 1 im vorherigen                            Die Daten zeigen außerdem eine klare
Kapitel).                                                       Verschiebung der Verkehrsmittelwahl
In der bisherigen Krise hat sich auch die                       (siehe Abbildung 3). Das Fahrrad hat seinen
Wahl des Verkehrsmittels geändert.                              Modal Split-Anteil verdreifacht und ist
Menschen nutzten seltener den ÖPNV und                          damit das Verkehrsmittel der Stunde.
häufiger Formen des Individualverkehrs.
Allerdings ist ungewiss, ob sich dieser

Abbildung 2: Ausblick auf das Mobilitätsverhalten über die SARS-CoV-2 Pandemie hinweg

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Abbildung 3: Entwicklung des Modal Split von Ende Februar bis Ende März 2020 in Deutschland

Abbildung 4: Menge der Apple Maps Richtungsanfragen pro Stadt, relativ zum 13. Januar 2020

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

Der Anteil an zu Fuß zurückgelegten                  vergangenen Epidemien und Pandemien –
Strecken hat sich fast verdoppelt, der Pkw-          besonders im Hinblick auf den ÖPNV.
Anteil erhöhte sich um rund 10 %.

Der Anteil des ÖPNV am Modal Split ist               Eindeutiges Infektionsrisiko im ÖPNV, aber
hingegen um rund ein Drittel geschrumpft.            unklarer Einfluss auf Infektionen insgesamt
In absoluten Zahlen ging die ÖPNV-                   Trotz Kontroversen weist die Wissenschaft
Nachfrage in deutschen Großstädten, als              mehrheitlich darauf hin, dass ÖPNV-
auch in vielen europäischen Hauptstädten,            Nutzung das Risiko erhöht, sich mit akuten
um 75-95 % zurück.xiii                               Atemwegserkrankungen beziehungsweise
Nicht alle Verkehrsmittel des ÖPNV sind              grippeähnlichen Krankheiten
dabei gleichermaßen von der Krise                    anzustecken.xv
betroffen. In Deutschland verzeichnen sie            Die übergeordnete Bedeutung von
zwar alle einen Nachfragerückgang. Der               Infektionen im ÖPNV bleibt hingegen
Rückgang bei Bussen verlief jedoch                   etwas unklar. So stellt die frühe Fassung
ungefähr proportional zum Rückgang der               einer Simulationsstudie zur Verbreitung
Gesamtnachfrage. Den Schienenverkehr                 von SARS-CoV-2 in Berlin fest, dass
hingegen traf es deutlich härter (siehe              ungefähr 10 % aller Infektionen im ÖPNV
Abbildung 3, rechte Seite). Dieses                   stattfänden.xvi
Phänomen wurde auch vom Institute for
Transportation and Development Policy                Eine andere Simulationsstudie beschäftigt
(ITDP) beobachtet. Das Institut vermutet,            sich mit Infektionsdynamiken bei einer
dass Nutzer*innen eher den Bus als die U-            hypothetischen Influenzaepidemie in New
Bahn wählen, weil sie Social Distancing an           York City. Sie folgert, dass nur rund 4 % der
unterirdischen Standorten als schwieriger            Infektionen auf das U-Bahn-System
wahrnehmen.xiv                                       zurückzuführen sind. Im Vergleich dazu
                                                     stecken sich 30 % der Infizierten in
Auch New Mobility-Anbieter haben mit                 Haushalten an, 25 % in Schulen und 9 % am
drastischen Maßnahmen auf die Krise                  Arbeitsplatz.xvii
reagiert. So stellte der in Berlin ansässige
                                                     Eine dritte Simulationsstudie beschäftigt
Ridesharing-Anbieter Berlkönig sein
                                                     sich mit einer hypothetischen
reguläres Angebot vollständig ein und
                                                     Influenzapandemie in Peking. Sie legt nahe,
konzentrierte sich ausschließlich auf den
                                                     dass die Schließung des ÖPNV zu 20 %
kostenlosen Transport von
                                                     weniger influenzabedingten
Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens.
                                                     Krankenhausfällen führen würde. Aus
Ähnlich reagierte der Carsharing-Anbieter
                                                     methodischen Gründen ist diese
Share Now. Er etablierte spezielle Tarife für
                                                     vergleichsweise hohe Zahl aber nur bedingt
Personal in systemrelevanten Branchen
                                                     repräsentativ und überschätzt
wie dem Gesundheitswesen oder der
                                                     wahrscheinlich den Effekt des ÖPNV.xviii
Lebensmittelversorgung. E-Scooter-
Anbieter wie Lime wiederum stellten ihren
Betrieb vollständig ein.                             Überschätztes Risiko führt nicht automatisch
                                                     zu entsprechendem Handeln
Exkurs: Wissenschaftliche Erkenntnisse zu            Reales Infektionsrisiko ist eine Sache,
Pandemien und dem ÖPNV                               Risikowahrnehmung und Verhalten eine
                                                     andere. Empirische Studien über vorige
Um mögliche Effekte der Pandemie auf das
                                                     Epidemien, wie etwa SARS (2002-2003)
zukünftige Mobilitätsverhalten besser zu
                                                     und A(H7N9) (2013-2017), oder
verstehen, hilft ein Blick auf Studien zu
                                                     Pandemien, wie die Schweinegrippe (2009-

                                                10
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

2010),xix zeigen ein uneinheitliches Bild im        Peking zeigt, dass die Nutzung des ÖPNV
Vergleich von Wahrnehmung und                       während des Infektions-Höhepunkts im
Verhalten.                                          April 2003 um 60 % einbrach. In der
                                                    zweiten Maihälfte desselben Jahres gingen
Einerseits steht ÖPNV-Vermeidung weit
                                                    die Infektionszahlen gegen Null. Das
oben auf der Liste, wenn es darum geht,
                                                    vorherige Fahrgastniveau im ÖPNV wurde
Infektionsrisiken zu vermeiden: Als
                                                    jedoch erst Anfang Juli annähernd wieder
Europäer*innen in einer Studie nach den
                                                    erreichten.xxiv
riskantesten Orten im Falle einer
möglichen Influenzapandemie gefragt                 Einer in Taipeh durchgeführten SARS-
wurden, landete der ÖPNV auf Platz 1                Studie zufolge kann dieses Muster durch
(56 % der Befragten). 79 % der Befragten            eine Kombination von – wie der Autor es
sagten weiterhin aus, den ÖPNV auch                 nennt – „frischer Angst“ und „verbleibender
persönlich vermeiden zu wollen.xx                   Angst“ erklärt werden. Die
                                                    Nutzungsschwankungen im ÖPNV waren
Andererseits spiegelt sich diese hohe
                                                    ähnlich derer in Peking. Der Autor fand
Aufmerksamkeit nicht unbedingt auch im
                                                    heraus, dass sich der Verlust an Fahrgästen
Verhalten wider. 2014 wurde in Hong Kong
                                                    im Laufe der Epidemie umgekehrt
die Verbindung zwischen
                                                    proportional zu der Anzahl neu gemeldeter
Risikowahrnehmung und Verhalten
                                                    SARS-Infektionen verhielt – mit jedem
untersucht. Der Untersuchungszeitraum
                                                    gemeldeten Fall gingen Fahrgäste verloren.
fiel mit der zweiten Welle des Vogelgrippe-
                                                    Er beobachtete, dass diese „frische Angst“-
Virus A(H7N9) und dem parallelen
                                                    Reaktion mit der Zeit abflaute. Es dauerte
Höhepunkt der winterlichen Grippe
                                                    jedoch rund 28 Tage, bis die „verbleibende
zusammen. 60 % der Befragten gaben an,
                                                    Angst“ gänzlich verschwunden war.
ihr Infektionsrisiko durch Vermeidung
                                                    Während dieser Zeit kehrten die Fahrgäste
öffentlicher Orte und des ÖPNV reduzieren
                                                    schrittweise zurück, bis die Fahrgastzahlen
zu wollen. Allerdings setzten nur 7 % der
                                                    schließlich das Vorkrisenniveau
Befragten dies auch um.xxi
                                                    erreichten.xxv Ähnliche Muster von frischer
Weitere Studien berichten von ähnlichen             und verbleibender Angst wurden auch
Mustern. So wurden zu Beginn der                    während der SARS-Pandemie in Hong Kong
Schweinegrippe 2009 Bürger*innen des                beobachtet.xxvi
Vereinigten Königreichs (UK) interviewt.
                                                    Die hier vorgestellten wissenschaftlichen
Das Ergebnis: Rund 48 % der Befragten
                                                    Erkenntnisse legen drei Dinge nahe:
stimmten vollkommen oder tendenziell zu,
                                                    Erstens kann durch flexible
dass eine reduzierte ÖPNV-Nutzung eine
                                                    Verkehrsmittelwahl tatsächlich das
wirksame Maßnahme gegen das Virus sei.
                                                    Infektionsrisiko reduziert werden.
Nur 2,8 % nutzten den ÖPNV allerdings
                                                    Zweitens spiegeln sich geäußerte
auch weniger.xxii In einer weiteren Studie
                                                    Risikowahrnehmungen und geplante
zur Risikovermeidung während der
                                                    Vermeidungsstrategien nicht unbedingt in
Schweinegrippe-Pandemie in Spanien,
                                                    wirklichem Verhalten wider. Zahlen, die
gaben nur circa 3 % der Befragten an, den
                                                    lediglich geplantes Verhalten abbilden,
ÖPNV tatsächlich zu vermeiden.xxiii
                                                    sollten deshalb mit einer gewissen Vorsicht
                                                    betrachtet werden. Und drittens scheinen
Durch Angst ausgelöste Vermeidung des               die Fahrgäste, die den ÖPNV vermeiden,
ÖPNV nimmt mit der Zeit ab                          dies eher wegen gemeldeter
Was sagt die Wissenschaft schließlich über          Infektionszahlen als wegen gemeldeter
                                                    Todesfälle zu tun. Nach der Vermeidung
die Erholung der Fahrgastzahlen nach einer
Krise? Eine Studie zur SARS-Epidemie in             des ÖPNV dauert es rund einen Monat, um
                                                    vollständig zu normalen Verhältnissen

                                               11
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

zurückzukehren – angenommen weitere                           vermutlich zu starken Nachfrageschwan-
kritische Entwicklungen bleiben aus.                          kungen führen. Zusätzlich könnten Teile
                                                              der Bevölkerung dazu neigen, zeitweise
Mit diesen Erkenntnissen im Blick wenden
                                                              Einschränkungen in ihrer Mobilität
wir uns jetzt dem Mobilitätsverhalten
                                                              überzukompensieren, sobald die
während der Kalibrierungsphase zu.
                                                              Einschränkungen gelockert werden.

Phase 2: Kalibrierung                                         Bei der Wahl des Verkehrsmittels wird es
                                                              der ÖPNV weiterhin schwer haben. Auch
Durch die Lockerung der restriktiven                          wenn die Ausbreitung des Virus vorerst
Maßnahmen während der                                         unter Kontrolle gebracht wurde, die Angst
Kalibrierungsphase wird sich auch das                         vor einer Ansteckung wird noch einige
Mobilitätsverhalten ändern.                                   Wochen anhalten. Erst wenn sie abnimmt,
Krisenmüdigkeit und Immunität in der                          werden „risikoreichere“ Verkehrsmittel
Bevölkerung werden zunehmen.                                  wieder attraktiver. Abbildung 5 zeigt das
Dennoch könnte sich die                                       relativ hohe Risiko, das mit der ÖPNV-
Mobilitätsnachfrage weiterhin deutlich                        Nutzung assoziiert wird. Erst mit dem
unter dem Vorkrisen-Niveau bewegen,                           Abklingen der „verbleibenden Angst“
zumindest zu Beginn der                                       würde der ÖPNV demnach wieder zum
Kalibrierungsphase. So ist es                                 attraktiven Verkehrsmittel werden.
wahrscheinlich, dass die wirtschaftliche                      Der ÖPNV würde deshalb von längeren
Lage schwierig bleibt und die dadurch                         Abständen zwischen Infektionswellen
entstehende Arbeitslosigkeit die Nachfrage                    profitieren. Sollte es hingegen zu schnell
mindert. Auch die anhaltende                                  aufeinander folgenden Wellen kommen,
Digitalisierung des Soziallebens kann zur                     würde das die Wiedergewinnung von
Nachfrageminderung beitragen.                                 Fahrgästen erschweren.
Das Hin und Her zwischen Eindämmungs-                         Darüber hinaus könnt es dazu kommen,
und Verlangsamungsperioden wird                               dass Nutzer*innen ihr Verkehrsmittel

Abbildung 5: Vergleich des wahrgenommenen Risikos pro Transportmittel

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

wöchentlich, wenn nicht sogar täglich, neu            ausbreitungen für nicht-immune
wählen. Abhängig von der Krisensituation              Bevölkerungteile erneute Einschränkungen
und der subjektiven Risikowahrnehmung                 bedeuten. Andererseits, könnten flexiblere
würden sie dann schnell und regelmäßig                Arbeitsregelungen längerfristig nicht nur
zwischen ÖPNV, Privatauto und Fahrrad                 die Pendler*innenzahl reduzieren. Sie
hin und her wechseln.                                 könnten auch für flexiblere Arbeitszeiten
                                                      sorgen. Dadurch könnten sich Fahrgäste
Phase 3: Ausklang                                     gleichmäßiger über den Tag hinweg
                                                      verteilen und Verkehrsspitzen verkleinert
Die Mobilitätsnachfrage wird vermutlich               werden. Zum Beispiel könnten sich
erst während der Ausklangsphase                       Pendler*innen dazu entscheiden, morgens
annähernd das Vorkrisen-Niveau                        von zu Hause zu arbeiten und zur
erreichen. In dieser Phase ist von einer              Mittagszeit ins Büro zu fahren, um dort den
Lockerung der meisten Einschränkungen                 Rest des Tages an Meetings teilzunehmen.
auszugehen. Weiterhin wird die Impfstoff-
bedingte Immunität breiter                            Bezogen auf die Wahl des Transportmittels
Bevölkerungsschichten zunehmend Ängste                scheinen erste Daten die Annahme zu
(sowie tatsächliche Infektionsrisiken)                widerlegen, dass privat genutzt PKW die
abbauen.                                              Gewinner der Krise sein werden. Einer
                                                      kürzlichen Umfrage unter deutschen
Manche Entwicklungen sprechen aber                    Bürger*innen nach könnten nur
dagegen, dass die Nachfrage vollständig auf           Fahrradfahren und Zufußgehen wirklich
das Vorkrisen-Niveau zurückzukehrt.                   populärer werden. Eine zunehmende
Anhaltende wirtschaftliche                            Nutzung des privaten Autos lässt sich
Schwierigkeiten könnten in manchen                    hingegen aus den Daten nicht entnehmen
Ländern weiterhin für hohe                            (siehe Abbildung 6). Hinsichtlich des ÖPNV
Arbeitslosigkeit sorgen. Die Digitalisierung          zeigt die Umfrage einerseits die größte
von Arbeit und Bildung könnte darüber                 Änderung im Nutzungsverhalten: Nur 52 %
hinaus die Mobilitätsnachfrage auch                   der Befragten gaben an, den ÖPNV in
langfristig weiter reduzieren.                        Zukunft gleich häufig zu nutzen.
In der Tat: In Deutschland gaben zwei                 Eine Veränderung müsste für den ÖPNV
Drittel der Befragten einer Studie an, in             jedoch nicht unbedingt negativ ausfallen.
Zukunft öfter von zu Hause aus arbeiten zu            Zwar gaben 19 % der Befragten an, den
wollen.xxvii Eine Umfrage aus dem                     ÖPNV in Zukunft weniger regelmäßig
Vereinigten Königreich (UK) kommt zu
ähnlichen Ergebnissen: 29 % der
Befragten würden ihre Arbeitszeit
langfristig gern zwischen Homeoffice und
Büro aufteilen. 17 % der Befragten
würden sogar gerne ausschließlich von zu
Hause arbeiten. Laut den Organisatoren
der Umfrage könnte der Pendlerverkehr
dadurch um 20-25 % zurückgehen. xxviii

Die Nachfragevolatilität wird in der
Ausklangsphase also vermutlich von zwei
gegensätzlichen Faktoren beeinflusst
werden – einer erhöht, der andere
mindert die Volatilität. Einerseits könnten
gelegentliche, lokale Infektions-              Abbildung 6: Veränderung der Fortbewegungsmittel nach der SARS-CoV-2 Krise

                                                13
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

nutzen zu wollen. Gleichzeitig plant jedoch
ein fast ebenso großer Teil der Befragten
(17 %), sich in Zukunft öfter mit dem ÖPNV
fortzubewegen.xxix

Letztendlich ist von einer Erholung des
ÖPNV-Modal Splits während der
Ausklangsphase auszugehen. Neue
Verhaltens- und unter Umständen auch
Rechtsnormen können das Vertrauen in
den öffentlichen Verkehr wieder herstellen.
Ein Beispiel für solch vertrauensbildende
Verhaltensweisen wäre das Tragen von
Gesichtsmasken. Zusätzlich wird eine
weitverbreitete Immunität das Fahren mit
Bus und Bahn weniger riskant machen.

Außerdem werden manche
Verhaltensänderungen der Pandemie
wahrscheinlich bestehen bleiben. So
könnten Fahrgäste in Zukunft mehr
Flexibilität (zum Beispiel in Preismodellen)
und multimodale Integration fordern,
nachdem sie sich während der
Kalibrierungsphase an entsprechende
Angebote gewöhnt haben.

Insgesamt ist zu erwarten, dass sich urbane
Mobilität über die drei Phasen der
Pandemie hinweg stark verändern wird.
Diese Bewertung berücksichtigt jedoch
keine expliziten strategischen Maßnahmen
von Verkehrsunternehmen und -behörden.
Im folgenden Kapitel untersuchen wir, was
letztere tun können, um die Stellung des
ÖPNV durch die Krise hinweg zu
verbessern.

                                               14
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

ÖPNV-Strategie: Die Bedeutung tiefgreifender Initiativen

Verkehrsunternehmen und -behörden
                                                     „Darauf war niemand vorbereitet” - Betriebsleiter eines
bewerkstelligen im Moment alles, um die
                                                     ÖPNV-Unternehmens in Südeuropa
Herausforderungen der SARS-CoV-2 Krise
zu meistern. Sie desinfizieren Fahrzeuge
                                                     Herausforderungen legt. Dennoch haben
und Haltestellen, führen Auslastungslimits
                                                     wir auch auf ein mögliches Best-Case-
ein, um Social Distancing zu ermöglichen,
                                                     Szenario hingewiesen. Auch dieses bleibt
und ergreifen eine Vielzahl weiterer
                                                     möglich. Es ist daher wichtig zu betonen,
Maßnahmen zum Schutz von Personal und
                                                     dass die im Folgenden beschriebenen
Fahrgästen.
                                                     Initiativen „zukunftsrobust“ sind. Das heißt,
Dieses Krisenmanagement ist essenziell.              sie haben substanziellen Mehrwert sowohl
Mit dem Übergang von der Krisenphase in              im hier betrachteten Szenario als auch in
die Kalibrierungsphase der Pandemie                  einem Best-Case-Szenario.
stellen sich jedoch zusätzlich langfristige,
                                                     In einigen Fällen gestaltet sich der
strategische Fragen, die wir in diesem
                                                     Mehrwert der Initiativen je nach Szenario
Kapitel untersuchen.
                                                     unterschiedlich, wie zum Beispiel bei der
Dabei ist wichtig zu betonen: Der ÖPNV               Erweiterung des ÖPNV-Angebots. Im Best-
bleibt das Rückgrat urbaner Mobilität.               Case-Szenario ist diese Strategie – wie
Gerade in der momentanen Situation ist es            bereits vor der SARS-CoV-2 Pandemie –
wichtig, die Transformation des                      entscheidend, um urbane Mobilität
öffentlichen Verkehrs voranzutreiben.                zugänglicher und nachhaltiger zu machen
Zentrale strategische Initiativen sollten            und neue Kund*innen für den ÖPNV zu
keineswegs hinausgezögert oder                       gewinnen. Im hier vorgestellten Szenario ist
abgebrochen werden. Ganz im Gegenteil:               die Angebotserweiterung jedoch
Die genauere Analyse zeigt, dass gerade              mindestens genauso wichtig. Nur läge der
solche Initiativen ein integraler Bestandteil        Mehrwert, vor allem in den nächsten zwei
der Antwort auf die Pandemie sein werden.            Jahren, nicht unbedingt in der Gewinnung
Dies gilt insbesondere für die                       neuer Kund*innen, sondern auf zwei
Angebotserweiterung, multimodale                     anderen Aspekten: Nur mit mehr Platz sind
Angebote, einfache und flexible                      bei weiter bestehendem Social Distancing
Preisgestaltung, das Vorantreiben der                Fahrgastzahlen wie vor der Krise möglich
Digitalisierung und die Transformation hin           und ausbaubedingte Infrastruktur-projekte
zu agilen Organisationsstrukturen.                   können als lokale Konjukturmaßnahmen
                                                     wirken.
Wir bauen in der folgenden Diskussion auf
die Erkenntnisse der vorangegangenen
                                                     Es gibt keine Alternative zum ÖPNV als
beiden Kapitel auf. Zusätzlich haben wir
                                                     Rückgrat urbaner Mobilät
rund 20 Interviews mit
Verkehrsunternehmen, -behörden und -                 Die urbane Mobilität stand schon lange vor
expert*innen sowie mit New Mobility-                 der SARS-CoV-2 Pandemie vor
Akteuren aus ganz Europa, Südostasien,               Herausforderungen, zum Beispiel dem
dem Nahen Osten und Lateinamerika                    wachsenden Stauaufkommen,
geführt.                                             zunehmender Luftverschmutzung und der
                                                     Umsetzung eines effektiven Klimaschutzes.
Wie bereits im Kapitel zur Pandemie
                                                     Der ÖPNV galt als Schlüsselfaktor bei der
erwähnt, konzentrieren wir uns auf ein
                                                     Bewältigung dieser Probleme.
Szenario, das den Fokus auf erwartbare

                                                15
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

               Hat die SARS-CoV-2 Pandemie etwas                                entscheidender Bestandteil urbaner
               daran geändert? Um es auf den Punkt zu                           Mobilität bleiben muss. Abbildung 7 zeigt
               bringen: Nein. Es gibt keine Alternative zum                     anhand eines Gedankenexperiments die
               ÖPNV als Rückgrat der städtischen                                Auswirkungen einer signifikanten
               Mobilität.                                                       Reduzierung des ÖPNV auf den
                                                                                öffentlichen Raum. In Anlehnung an die
„Wir überzeugen die Menschen gerade davon, dem ÖPNV                             während der Krisenphase beobachteten
fernzubleiben, und später werden wir sie davon                                  Entwicklungen des Modal Splits (siehe
überzeugen müssen, zurückzukommen“ - Koordinator eines                          vorangegangenes Kapitel), geht das
Verkehrsunternehmens in Osteuropa                                               Experiment von einer Halbierung des
                                                                                ÖPNV-Modal Split-Anteils in der Zeit nach
               Es wird zwar im Moment häufig vom                                der Pandemie aus. Es wird dabei
               privaten Pkw als dem Gewinner der                                angenommen, dass rund die Hälfte der
               Pandemie gesprochen. Bei der Betrachtung                         verlorenen Fahrgäste auf das Privatauto
               der Risikoprofile verschiedener                                  umsteigt. Die Abbildung legt nahe, dass
               Transportmittel (siehe Abbildung 5 des                           eine solche Entwicklung den städtischen
               vorherigen Kapitels) scheint dies auch                           öffentlichen Raum schnell überlasten
               durchaus plausibel. Dennoch: Die zum                             könnte.
               Schluss des letzten Kapitels dargestellten
               Umfragewerte geben keine klaren
                                                                                Eine ÖPNV-Angebotserweiterung bleibt
               Hinweise auf die Richtigkeit dieser
                                                                                elementar wichtig
               Hypothese. Es ist daher davon auszugehen,
               dass der ÖPNV auch in Zukunft eine                               Aber macht es darüber hinaus Sinn, das
               wichtige Rolle spielen wird.                                     ÖPNV-Angebot zu erweitern? Hier lautet
                                                                                die Antwort: Ja. Die ÖPNV-
               Auch eine kursorische Betrachtung der
                                                                                Angebotserweiterung bleibt
               Nutzung städtischer, öffentlicher Räume
                                                                                Kernbestandteil der Zukunft urbaner
               zeigt, dass ein attraktiver ÖPNV ein

 Abbildung 7: Darstellung des relativen Raumes, der von Fahrzeugen und Personen genutzt wird. Die Infrastruktur wird nicht berücksichtigt. Die
 Unterschiede zwischen den Karten basieren auf einer hypothetischen Änderung des Modal Split: Vor der Krise auf der Grundlage des Berliner Modal Split
 von 2018, hypothetische Veränderung nach der Krise: Anteil des öffentlichen Verkehrs um 50 % reduziert, Anteile von Autos, Fahrrädern und
 Fußgänger*innen um 7,5 %, 4 % bzw. 2 % gesteigert. Geteilte Annahmen: Konstante Gesamtmobilitätsnachfrage. Konstante Auslastung von 1,3 Personen
 pro Auto und 40 Personen pro Bus. Konstanter Platzbedarf von 1 Quadratmeter pro Fußgänger*in, 2 Quadratmeter pro Radfahrer*in, 10 Quadratmeter
 pro Auto und 30 Quadratmeter pro Bus.

                                                                          16
Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

            Mobilität. Schon vor der Pandemie war die                  Busspuren, Haltestellen oder ganze
            Erweiterung wichtig, um Stau,                              U-Bahn-Linien. Bei der Planung
            Luftverschmutzung und Klimawandel                          dieser Maßnahmen ist es wichtig,
            entgegen zu wirken. SARS-CoV-2 ändert                      die Möglichkeit anhaltender Social
            nichts an der Bedeutung dieser Vorhaben.                   Distancing-Anforderungen
                                                                       mitzudenken.
„Social Distancing ist bei einer zunehmenden Zahl an               •   Schließlich ist hervorzuheben, dass
Fahrgästen eine ernstzunehmende Herausforderung für                    besonders Zug- und U-Bahn-
den ÖPNV“ - ÖPNV-Planungsleiter aus Lateinamerika                      projekte sehr langfristig gedacht
                                                                       sind. Schon zu Baubeginn geben sie
            Tatsächlich liefert die Pandemie weitere                   Impulse für die lokale Wirtschaft.
            Gründe für die Erweiterung des ÖPNV-                       Ihre Wirkung auf die urbane
            Angebots. Kurzfristig geht es dabei                        Mobilität entfalten sie
            wahrscheinlich zuerst um Busnetze, denn                    wahrscheinlich jedoch erst dann,
            solange weiterhin Infektionsangst herrscht,                wenn die Pandemie größtenteils
            könnten Fahrgäste den Bus weiterhin                        überwunden sein wird.
            häufiger nutzen als Bahnen und Trams.
            Schienengebundene Verkehrsmittel                   Multimodale Integration schafft Flexibilität
            bleiben dennoch wichtig, vor allem auf             und geht auf Kundenbedürfnisse ein
            längere Sicht.
                                                               Die Integration von New Mobility-Diensten
            Insgesamt hat die Angebotserweiterung im           in ein multimodales Mobilitätsangebot ist
            Laufe der SARS-CoV-2 Pandemie folgende             ein weiteres, wichtiges strategisches
            Vorteile:                                          Handlungsfeld. New Mobility-Dienstleister
                                                               sind in den letzten Jahren enorm
                •   Formen des Social Distancings
                                                               expandiert. In vielen Städten ist es heute
                    werden wahrscheinlich noch bis in
                                                               ohne Weiteres möglich, sich kurzfristig und
                    die zweite Jahreshälfte 2021 in
                                                               auf Minuten- oder Kilometerbasis ein Auto,
                    Kraft bleiben. Dies wird weiterhin
                                                               ein Fahrrad, oder verschiedene Arten von
                    die Fahrgastkapazität von Bussen
                                                               Rollern zu leihen. Auch Ridehailing-und
                    und Bahnen einschränken. Zur
                                                               Ridesharing-Dienste sind weit verbreitet.
                    Bedienung der Kund*innen, die
                    nach Lockerung der                         Es ist umstritten, ob und wie diese Dienste
                    Eindämmungsmaßnahmen in den                einen Beitrag zu einem nachhaltigen und
                    ÖPNV zurückkehren, braucht es              leistungsstarken urbanen Mobilitäts-
                    daher zusätzliche Kapazität.               Ökosystem leisten. Ridehailing-Anbietern
                •   Während der Pandemie können                wie Uber und Lyft wurde beispielsweise
                    darüber hinaus Maßnahmen wie               nachgewiesen, mehr Stau zu erzeugen.xxx
                    „Pop-up“-Bus- und Fahrradspuren            E-Scootern werden wiederum fehlende
                    umgesetzt werden, die sonst kaum           Sicherheit, eine überbordende Nutzung des
                    denkbar gewesen wären. Solche              öffentlichen Raumes, und fehlende
                    Projekte können die urbane                 ökologische und ökonomische
                    Mobilität auch über die Pandemie           Nachhaltigkeit vorgeworfen.
                    hinaus prägen.
                •   Einige Monate in die Zukunft               Der ÖPNV hat jedoch begonnen, mit
                    gedacht, kann die                          einigen New Mobility-Anbietern zu
                    Angebotserweiterung als                    kooperieren. Dies betrifft vor allem
                    städtisches Konjunkturprogramm             Ridesharing-Dienstleister. Deren Ansatz,
                    wirken. Dies gilt insbesondere für         Fahrgäste in größeren Fahrzeugen
                    Infrastrukturprojekte wie neue             zusammenzubringen, liegt näher am
                                                               Grundgedanken des ÖPNV.

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

„Wir glauben fest an Mobility-as-a-Service und flexible             •   Weiterhin können multimodale
Verkehre, aber der öffentliche Verkehr muss das Rückgrat                Lösungen den Nachfragedruck auf
bleiben” – Vizepräsident eines ÖPNV-Unternehmens in                     Busnetze in der Kalibrierungsphase
Nordeuropa                                                              abfangen. Wenn die Auslastung von
                                                                        Bussen zu groß wird, könnte
             Eine entsprechende Kooperation gibt es                     Nutzer*innen ein Umstieg auf
             zum Beispiel in Berlin, wo die Berliner                    Leihfahrräder oder-roller
             Verkehrsbetriebe (BVG) zusammen mit                        angeboten werden. So würde
             ViaVan den Ridesharing-Anbieter Berlkönig                  Mobilität fortwährend
             betreiben. Ein weiteres Beispiel bietet die                sichergestellt und gleichzeitig das
             Gemeinde Sant Cugat in der Provinz                         Infektionsrisiko reduziert.
             Barcelona. Sie hat sich mit Shotl                      •   Die SARS-CoV-2 Pandemie könnte
             zusammengetan, um verschiedene                             dabei die Position von
             Stadtviertel per On-Demand-Verkehr an                      Verkehrsunternehmen in der
             nahegelegene Bahnhöfe anzubinden. Die                      Verhandlung mit New Mobility-
             SARS-CoV-2 Krise hat zu weiteren                           Anbietern stärken, denn auch diese
             Kooperationen geführt. So übernimmt zum                    wurden hart von der Pandemie
             Beispiel der Ridesharing-Anbieter MOIA                     getroffen. Dies könnte ihre
             seit Kurzem Nachtfahrten für den                           Bereitschaft dafür steigern, die
             Hamburger Verkehrsbund (HVV).                              gesamtstädtische Mobilität im Blick
                                                                        zu haben, statt Mobilitätsangebote
             In manchen Fällen haben ÖPNV-
                                                                        ausschließlich auf den Stadtkern zu
             Unternehmen die multimodale Integration
                                                                        konzentrieren.
             noch weiter vorangetrieben. Die BVG-App
                                                                    •   Wie im vorangegangenen Kapitel
             Jelbi zum Beispiel integriert die Angebote
                                                                        erwähnt, könnte die Pandemie
             des ÖPNV, den Berlkönig sowie Sharing-
                                                                        schließlich auch langfristig zu
             Autos, -Fahrräder und -Roller von
                                                                        höheren Erwartungen im Hinblick
             Kooperationspartnern. Auch auf Jelbi brach
                                                                        auf eine flexible
             die ÖPNV-Nutzung zu Beginn der SARS-
                                                                        Verkehrsmittelwahl führen.
             CoV-2 Pandemie ein – um 90 % zwischen
                                                                        Multimodale Angebote bieten
             Januar und April 2020. Im gleichen
                                                                        Verkehrsunternehmen einen Weg,
             Zeitraum stiegen jedoch die Buchungen
                                                                        auf diese Erwartungen zu reagieren.
             von Sharing-Angeboten, insbesondere von
             Fahrrädern, um 6 %. Dies deutet schon jetzt
             auf den Mehrwert hin, den multimodale              „Unser multimodales Angebot hilft uns, wieder Vertrauen
             Angebote für den ÖPNV haben können:                in den ÖPNV aufzubauen und flexibel auf die Entwicklung
                                                                der Pandemie zu reagieren” – Leiter einer öffentlichen
                 •   Multimodale Angebote stärken die           multimodalen Mobilitätsplattform in Nordeuropa
                     Kundenbindung, da sie
                     Nutzer*innen auch in volatilen
                     Perioden im eigenen, ÖPNV-                 Einfache und flexible Preisgestaltung führt zu
                     zentrierten Ökosystem halten.              Kundenvertrauen
                     Innerhalb dieses Ökosystems
                     können Nutzer*innen schnell und            Die Preisgestaltung ist eine wichtige, aber
                     einfach vom Bus auf Sharing-               ebenso umstrittene Komponente des
                     Dienste umsteigen, wenn die                ÖPNV-Angebots. Für viel Gesprächsstoff
                     Infektionszahlen steigen. Und noch         hat das Wiener 365 Euro-Ticket gesorgt, in
                     wichtiger: Bei sinkenden                   Luxemburg fahren die Gäste des ÖPNV
                     Infektionszahlen können sie                sogar umsonst. Solche Initiativen sind für
                     genauso schnell wieder in Bus und          die Fahrgäste attraktiv, erzeugen aber auch
                     Bahn zurückkehren.                         Kritik: Sie seien zu kostspielig für ÖPNV-

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

             Betreiber, würden Autofahrer*innen nicht               •   Einfache und flexible Preismodelle
             zum Umstieg auf Bus und Bahn bewegen                       steigern das Vertrauen der
             und wären ohne einen gleichzeitigen                        Kund*innen. Wegen des Risikos
             Ausbau von ÖPNV-Angebot und -Qualität                      neuer Infektionswellen werden
             wirkungslos.xxxi                                           Monats- und Jahrestickets
                                                                        unattraktiv. Der Kauf von einzelnen
             Andere Städte haben einen alternativen
                                                                        Fahrkarten ist über längere Zeit
             Weg gewählt und Pay-as-you-go
                                                                        hingegen teuer. Einfache
             Ticketsysteme eingeführt. In London, zum
                                                                        Preismodelle und -obergrenzen
             Beispiel, greifen automatische
                                                                        geben Fahrgästen hingegen die
             Preisobergrenzen, sobald gewisse Tages-
                                                                        Sicherheit, immer zum günstigsten
             oder Wochenlimits erreicht werden. Diese
                                                                        Fahrpreis unterwegs zu sein.
             Art flexible Preisgestaltung kann bei der
                                                                    •   Eine intelligente und dynamische
             Bewältigung der SARS-CoV-2 Pandemie
                                                                        Preisgestaltung könnte darüber
             helfen, ohne die Debatte um einen
                                                                        hinaus zur Steuerung von Fahrgast-
             kostenfreien öffentlichen Nahverkehr
                                                                        strömen beitragen. Dies könnte die
             austragen zu müssen.
                                                                        Überfüllung von Haltestellen und
                                                                        Fahrzeugen vermeiden und so
„Eine zentrale Plattform, für die Bezahlung verschiedener               Infektionsrisiken senken.
Verkehrsträger spart Kunden wertvolle Zeit“ - Mobility              •   Längerfristig könnten flexible
Smart Card-Expertin aus Ostasien                                        Preismodelle mit dem oben
                                                                        beschriebenen multimodalen
             In Hong Kong wiederum wurde das lokale                     Angebot kombiniert werden. Für
             Bezahlsystem Octupus Card genutzt, um                      die innovativeren unter den
             schnell auf die SARS-CoV-2 Pandemie zu                     Verkehrsunternehmen könnten
             reagieren: Die Gültigkeit der digitalen                    sich so neue Geschäftsmodelle
             Fahrkarten wurde verlängert und die                        ergeben, zum Beispiel im Bereich
             Regierung nutzte das System, um Fahrten                    Mobility-as-a-Service.
             zu subventionieren. Sobald Fahrgäste mit
             der Octopus Card über 200 Hong Kong                 Digitalisierung kann die Transformation des
             Dollar im Monat ausgaben, erstattete die            öffentlichen Verkehrs unterstützen
             Regierung ein Drittel davon. Daten aus dem
             Octopus-System wurden außerdem in                   Der Begriff Digitalisierung umfasst eine
             Kooperation mit der Medizinischen                   ganze Reihe von Phänomenen. Diese
             Fakultät der University of Hong Kong zur            reichen von der Tendenz, Dinge
             Erforschung und Eindämmung der                      zunehmend online zu erledigen, über die
             Pandemie ausgewertet.                               Entstehung neuer, häufig App-basierter
                                                                 Geschäftsmodelle, hin zum
             Einfache und flexible Preissysteme können           Bedeutungsgewinn von Cloud-Computing,
             somit bei der Bewältigung der SARS-CoV-2            Big Data Analysen und künstlicher
             Pandemie helfen:                                    Intelligenz (KI). Schon seit Jahren stehen
                 •   Wie das Beispiel Hong Kong zeigt,           diese Themen ganz oben auf der politischen
                     können digitale Preismodelle                und wirtschaftlichen Agenda.
                     schnell angepasst werden. Somit             Auch für den ÖPNV birgt die
                     können Kund*innen für ihre                  Digitalisierung großes Potenzial, sowohl in
                     Loyalität belohnt werden,                   der Interaktion mit Kund*innen als auch bei
                     beispielsweise durch längere                der Verbesserung interner Prozesse. Diese
                     Gültigkeit ihrer Tickets oder durch         Möglichkeiten werden jedoch bisher nur
                     Rabatte.                                    begrenzt ausgeschöpft.

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Wie weiter nach dem Lockdown? – Ein Handlungsleitfaden

„Es ist entscheidend für das Überleben des öffentlichen                   Andererseits können sie den
Verkehrs, Innovationen – einschließlich der Digitalisierung               Betreibern helfen, ihr Angebot
– proaktiv anzustoßen” - Strategischer Planer für                         anzupassen und Engpässe zu
öffentlichen Verkehr in Südeuropa                                         vermeiden.
                                                                      •   Schließlich profitieren auch interne
              Wie bereits beschrieben, treibt die                         Abläufe von der
              Pandemie den Digitalisierungsgrad der                       Prozessdigitalisierung sowie von Big
              Arbeit und anderer Lebensbereiche schon                     Data Analysen und KI. Die letzteren
              heute voran. Für den Nahverkehrssektor                      beiden helfen, erhöhte Volatilität
              bietet die Digitalisierung jedoch weitaus                   besser zu verstehen, zu
              größere Chancen als nur die Einführung des                  visualisieren und zu bewältigen,
              Homeoffices:                                                zum Beispiel in den in den
                                                                          Bereichen Personal, Betrieb,
                 •   Sowohl für multimodale Integration                   Instandhaltung und Beschaffung.
                     als auch für einfache und flexible                   Eine dynamische Personalplanung
                     Preisgestaltung ist die                              kann helfen, kurzfristige Engpässe
                     Digitalisierung entscheidend.                        bei Fahrer*innen zu vermeiden. Sie
                     Flexible Preisgestaltung beruht                      könnte außerdem dazu beitragen,
                     beispielsweise auf automatischer                     Infektionsdynamiken unter den
                     Fahrtenanalyse, automatischen                        Mitarbeiter*innen zu verfolgen und
                     Zuweisungen und Deckelungen von                      so Folgeinfektionen zu vermeiden.
                     Fahrpreisen und automatischen
                     Zahlungsprozessen. All dies                   Effektives Krisenmanagement und schnelle
                     erfordert einen hohen                         Transformation durch agile Organisation
                     Digitalisierungsgrad.
                 •   Ein digitalisierter Ticketkauf                Der Begriff „agil“ beschreibt eine
                     reduziert darüber hinaus das                  Arbeitsmethodik mit Ursprung in der
                     Infektionsrisiko erheblich, da es die         Software-Entwicklung. Inzwischen hat die
                     Interaktion mit physischen                    Methodik in vielen anderen Gebieten Fuß
                     Oberflächen, Fahrkarten und                   gefasst.xxxii „Agil“ betont eigenständige
                     Bargeld unnötig macht. In Bussen              Arbeit in kleinen, funktionsübergreifenden
                     ist dieser Effekt besonders groß, da          Teams. Arbeit wird in iterativen Zyklen
                     hier Fahrkarten häufig noch direkt            (Sprints) strukturiert. Der Fokus liegt auf
                     von Fahrer*innen verkauft werden.             dem schnellen Testen von Prototypen.
                 •   Direkte Kommunikation in Echtzeit             Langfristiges Planen nach der Wasserfall-
                     ist ein weiterer Vorteile digitaler           Methodik spielt eine untergeordnete Rolle.
                     Lösungen. Mobile Push-
                                                                   Wir verwenden den Begriff „agil“ hier in
                     Benachrichtigungen können
                                                                   einem etwas breiteren Sinne. Er soll
                     Fahrgäste zum Beispiel effizient
                                                                   Organisationen beschreiben, die schnelle,
                     über Änderungen in Risikolevel und
                                                                   gut informierte Entscheidungen treffen,
                     ÖPNV-Angebot informieren.
                                                                   sich rasch an die Volatilität während der
                 •   Datenanalyse und KI-Tools können
                                                                   SARS-CoV-2 Pandemie anpassen, und die
                     weiterhin helfen, systematisch und
                                                                   strategische Initiativen zielgerichtet und
                     nahezu in Echtzeit Informationen
                                                                   zügig umsetzen können.
                     über Auslastung, Fahrgastströme
                     und Systemengpässe zu generieren.             Der Aufbau agiler Organisationsstrukturen
                     Solche Daten können einerseits                mag für die meisten öffentlichen
                     genutzt werden, um die Inhalte für            Verkehrsunternehmen und -behörden
                     die eben genannte                             bisher keine Priorität gehabt haben.
                     Fahrgastinformation zu liefern.               Allerdings wird der Nahverkehrssektor, wie

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