Die Normativität des Korans - Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman - AIWG
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p a p e r Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman Die Normativität des Korans
Inhaltsverzeichnis Vorwort4 Einführung6 odelle koranischer Normativität – eine Gedankensammlung M aus der bisherigen Forschung 7 ie Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen D Pluralismus? 10 ugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht Z in Deutschland 15 Fazit19 Literaturverzeichnis20 Über die Autor_innen 21 Impressum22
4 Vorwort Der Koran hat eine besondere Bedeutung für Menschen muslimischen Glaubens. Er gilt als göttliche Offenbarung, die mit dem Propheten Muhammad als Medium der Menschheit über mittelt wurde. Dem hohen rituellen, ästhetischen und religiös-emotionalen Wert des Korans als Wort Gottes steht allerdings ein weniger stark verbreite tes grundlegendes theologisches Wissen zu seiner Erschließung gegenüber. Die Entstehungsgeschichte und der Offenbarungskontext sind beim Verständnis Dr. Rida Inam, und der Auslegung des Texts von essentieller Be Koordinatorin Wissenschaftsformate deutung. Vor allem aber die wissenschaftlichen Diskurse in den Jahrhunderten seit der Offenbarung des Korans, aus denen das unendliche Spektrum an Auslegungen und deren Wandel über die Jahr hunderte hervorgeht, sind wenig bis gar nicht bekannt. Der Koran als Primärquelle des Islams ist für die meisten Muslim_innen im Alltag handlungs weisend. Es gibt Verse zu gottesdienstlichen Hand lungen (ʿibādāt), wie zum Beispiel Fasten, Beten und Spenden; ebenso gibt es Verse zu zwischenmensch lichem Handeln (muʿāmalāt), wie zum Beispiel zwischenmenschliche Etiquette, Kleiderordnung und Erbrecht. Je detaillierter solche Verse die isla mische Lebensführung beschreiben, desto norma tiver erscheinen sie. Beispielsweise werden Verse, die Erbregelungen beinhalten, fast einstimmig als normativ angesehen, weil diese besonders prä zise die Aufteilung des Erbes ansprechen. Sind die se und andere solcher Verse deshalb buchstäblich umzusetzen? Welche Rolle spielen der historische Kontext und auf die damalige Gesellschaft zuge schnittene Deutungsmuster bei ihrer Auslegung und Anwendung? Wer kann und darf diese Fragen beantworten und wer bestimmt die Auslegung der Verse?
5 Die Frage, ob der gesellschaftliche Kontext im islamischen Recht diskutiert. Daraus geht her dem normativen Gehalt des Korans oder aber der vor, dass Absolutheitsansprüche allein schon auf normative Gehalt des Korans bei der Auslegung grund der Vielfalt der bestehenden Meinungen an den gesellschaftlichen Kontext angepasst wer klassischer und zeitgenössischer Rechtsgelehrter den müsse, wird unter Muslim_innen seit jeher schwer haltbar sind. Schließlich werden religions kontrovers diskutiert. Dieses Spannungsverhältnis pädagogische Vorschläge unterbreitet, wie Schü verschärft sich in säkularen Gesellschaften der ler_innen im Islamischen Religionsunterricht die Moderne. komplexe Vielfalt des Islams nähergebracht wer Die Longterm-Forschungsgruppe (LFG) der den kann. Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesell Das Thema Normativität des Korans be schaft (AIWG) zur „Normativität des Korans im steht aus vielen kleineren und größeren Frage Zeichen gesellschaftlichen Wandels“ befasst sich stellungen, die aus unterschiedlichen wissen mit eben dieser Frage nach der Auslegung und schaftlichen Disziplinen heraus bearbeitet Anwendung von sogenannten Normenversen des werden müssen. Die beteiligten Wissenschaft Korans unter gegenwärtigen Bedingungen. Ein ler_innen der LFG erforschen neben bestehen Projektteam, bestehend aus Wissenschaftler_in den Modellen der Normativität auch den Begriff nen der Islamischen Theologie, beleuchtet die selbst (āyāt al-aḥkām). Darüber hinaus wer Frage aus exegetischer, islamrechtlicher und den einzelne sogenannte Normenverse unter religionspädagogischer Sicht und erarbeitet da die Lupe genommen, um an ihnen das Konzept mit eine stabile Grundlage für ein pluralistisches der Normativität zu reflektieren. Diese und an Verständnis der islamischen Religionsauslegung dere Einzelunterfangen werden unter größeren sowie ein Konzept für einen Wissenstransfer in Fragestellungen nach den Prinzipien und Werten die Gesellschaft hinein, insbesondere über den geclustert, die aus Normenversen abgeleitet wer Islamischen Religionsunterricht an öffentlichen den können – wie zum Beispiel das koranische Schulen in Deutschland. Menschenbild, das koranische Gottesbild oder Der vorliegende Artikel reflektiert klassische das koranische Verständnis von Gerechtigkeit Diskurse zur Normativität des Korans und erläu und von Gemeinschaft. Damit liefert die multi tert die Vielfalt an Deutungsweisen unter ande perspektivische Untersuchung dieser LFG eine für rem anhand des oben genannten Beispiels der den deutschsprachigen Raum einzigartige und um Verse zum Erbrecht (u.a. Sure 4:11). Es gibt ver fassende Abhandlung zu Fragen der Normativität schiedene Modelle koranischer Normativität, des Korans, die dem enormen thematischen und von denen einige vorgestellt werden, um daran historischen Spektrum der Diskurse gerecht wird zu zeigen, dass das Vorhandensein eines brei und die Dynamik und den Wandel im Verständnis ten Spektrums an Konzepten zur Auslegung in des Korans aufzeigt und erklärt. sich schon eine buchstäbliche Auffassung des Korans infrage stellt. Des Weiteren werden im Artikel verschiedene Formen der Urteilsbildung
6 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS Einführung Die Normativität des Korans im Spannungsfeld überzeitlicher Gültigkeit und historischer Gebundenheit Gegenstand dieses Beitrags bilden die sogenann den Islamischen Religionsunterricht an deut ten Normenverse (āyāt al-aḥkām) des Korans, schen Schulen didaktische Anregungen dafür, also diejenigen, denen traditionell ein normati wie im Unterricht mit der Deutungsvielfalt von ver Gehalt nachgesagt wird. Diese Verse bilden Normenversen umgegangen werden kann. in der islamischen Auslegungsgeschichte den Dieser Beitrag führt diese Perspektiven zu Kernkorpus für die Ableitung normativer Aus sammen, um einen Einblick in das größere For sagen, die bis heute die islamische Kultur bezie schungsvorhaben zur Frage des Verständnisses hungsweise die Glaubensinhalte, Einstellungen und Umgangs mit den Normenversen des Korans und Handlungen von Muslim_innen prägen. zu geben und daraus einzelne Zwischenergebnisse Eine Reihe dieser Verse, insbesondere solche die und -überlegungen zur Diskussion zu stellen. Fragen von Geschlechterverhältnis, Gewalt oder Er richtet sich nicht nur an Fachwissenschaft den Umgang mit Andersgläubigen thematisie ler_innen, sondern an eine breitere Leserschaft, ren, stellen Muslim_innen im Allgemeinen und die sich für gesellschaftspolitische, pädagogisch- muslimische Religionslehrkräfte im Speziellen vor didaktische sowie theologische Debatten zu diesem Herausforderungen. Die Frage der Ableitung nor Fragekomplex interessiert. Tatsache ist, dass es mativer Aussagen aus dem Koran und die damit immer eine Tendenz gegeben hat, und vermut verbundene Problematik in ihrer Anwendung kann lich immer geben wird, einen allgemeinen Konsens aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wer über koranische Auslegungen herbeizuführen. den. Der erste Abschnitt von Farid Suleiman unter Dieser Beitrag regt hingegen zu einem differen zieht Modelle koranischer Normativität einer philo zierten Vorgehen an, indem er unter anderem da sophisch-textwissenschaftlichen Betrachtung. Im rauf verweist, dass auch dann wenn von einer Folgeabschnitt zeigt Abdelaali El Maghraoui einen Normativität bestimmter Verse auszugehen ist, islamrechtlichen Zugang zur Thematik auf, indem das Konzept der Normativität selbst in mindestens er die Pluralität an Auslegungsweisen durch frü drei unterschiedlichen Formen verstanden werden here Gelehrte des Islams anhand von Beispielen kann. Dies lässt sich schlussendlich dahingehend darlegt und erörtert. Im letzten Abschnitt be verstehen, dass keine Auslegung koranischer Verse fasst sich Sara Rahman mit dem Thema aus reli eine stete Gültigkeit – etwa über Zeit und Kontext gionspädagogischer Perspektive und bietet für hinaus – beanspruchen kann. Die Wissenschaftsformate der AIWG ermög mithilfe eines multidimensionalen Ansatzes wis lichen standortübergreifende und interdiszip senschaftlich zu ordnen und in einen Bezug zu linäre Forschung zu islambezogenen Themen praktischen Fragestellungen von Muslim_innen durch die Vernetzung von Wissenschaftler_innen zu bringen. der verschiedenen islamisch-theologischen Das standortübergreifende Projekt wird von Standorte. Prof. Dr. Mohammed Nekroumi (Universität Zu den Wissenschaftsformaten gehört auch die Nürnberg-Erlangen), Prof. Dr. Mouez Khalfaoui Longterm-Forschungsgruppe „Normativität des (Universität Tübingen) und Prof. Dr. Fahimah Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“. Ulfat (Universität Tübingen) geleitet. Es hat im Das Ziel dieser Forschungsgruppe ist es, die September 2018 begonnen und endet im Sep Debatte über die Normenverse des Korans tember 2022.
Modelle koranischer Normativität – eine Gedankensammlung aus der bisherigen Forschung 7 Modelle koranischer Normativität – eine Gedankensammlung aus der bisherigen Forschung Der flexible Charakter der islamischen Geboten zu verzerren, was sich nicht vollständig verhindern lehre wird oft mittels einer Aussage des Gelehrten lässt. So lässt sich zum Beispiel mit Recht dafür Ibn Qayyim al-Ǧawziyya aus dem 14. Jahrhundert argumentieren, dass es eine iǧtihād-freie Lesart betont. Er schreibt: des Korans (sowie auch jedes anderen Texts) nicht gibt, was darauf hindeutet, dass ein Urteil darüber, „Wer den Menschen fatwās rein auf der Basis ob ein bestimmter Vers eindeutig ist oder nicht, schriftlich tradierter Meinungen erteilt, ungeachtet sich grundsätzlich anzweifeln lässt. Diese wichtige der Verschiedenheit ihrer Sitten, ihrer Gebräuche, Erkenntnis steht jedoch nicht im Widerspruch zu ihrer Zeiten, ihrer Orte, ihrer Zustände und ihrer der Aussage, dass bestimmte Verse im klassisch- Begleitumstände, der geht und führt in die Irre.“1 sunnitischen Islam rechtsschulübergreifend als eindeutig gesehen wurden. Der Grundgedanke hierzu ist: Die islamischen Beispielhaft lässt sich das koranische Gebot Gebote wahren und verwirklichen die Interessen anführen, dass in bestimmten Erbkonstellationen der Menschen. Die Interessen, aber auch die eine Tochter halb so viel erbt wie ihr Bruder. Nach Art und Weise, ihnen Rechnung zu tragen, hän klassischer Lehre kann hier kein iǧtihād stattfinden, gen unter anderem von den Lebensrealitäten der das heißt das Gebot bleibt unabhängig von der Menschen ab. Also muss sich die islamische Ge Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaft bestehen.5 botenlehre entsprechend wandeln, was sich in der In Anbetracht der erwähnten Zeit- und Orts Zeit- und Ortsgebundenheit der fatwā,2 die Ibn gebundenheit der fatwā zieht die eben bespro Qayyim al-Ǧawziyya hier anspricht, widerspiegelt. chene Erbschaftsthematik grundlegende Fragen Bevor ich auf diesen Gedankengang zurück nach sich: Gilt die Zeit- und Ortsgebundenheit komme, ist es nötig, eine wichtige Einschränkung der fatwā deswegen, weil es grundsätzlich weder innerhalb der klassischen Gebotenlehre zu nen Gott noch dem Menschen möglich ist, ein Gebot nen, die den Spielraum des fatwā-Erteilenden mi so zu formulieren, dass es in allen denkbaren nimiert. So gilt die weithin anerkannte Regel, die Zuständen einer Gesellschaft den Zweck erfüllt, auch Abdelaali El Maghraoui im nächsten Abschnitt die Interessen der Menschen zu wahren und zu dieses Artikels thematisieren wird: lā iǧtihād maʿa verwirklichen, oder gilt sie deswegen, weil dies nur wuǧūd an-naṣṣ, was bedeutet, dass Gebote, die sich dem Menschen nicht möglich ist? aus eindeutigen (naṣṣ)3 Versen des Korans ergeben, Sollte Ersteres der Fall sein, folgt, dass auch die nicht Gegenstand des iǧtihād (Anstrengung zur Gebote, die den als naṣṣ (eindeutig) eingestuften Urteilsfindung) sein dürfen.4 Versen entnommen werden, grundsätzlich als zeit- Eine kurze Betrachtung wie die vorliegende läuft und ortsgebunden zu verstehen sind. Nimmt man Gefahr, komplexe Sachverhalte durch Vereinfachung hingegen Letzteres an, ergibt sich das Problem, dass die menschengemachten fatwās dann niemals den Geboten, so wie Gott sie erlassen hat, 1 Ibn Qayyim al-Ǧawziyya, Iʿ lām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al- entsprechen können, da nur Gott im Gegensatz ʿālamīn, hrsg. v. Muḥammad Ibrāhīm, Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmiyya, 1991, Bd. 3, S. 66. Der Originaltext lautet: zu den Menschen in der Lage ist, ein überzeitlich اس ِب ُم َج َّر ِد الْ َم ْن ُق و ِل ِف ي الْ ُك تُ ِب َع لَى ا ْخ ِت َل ِف ُع ْر ِف ِه ْم َو َع َوائِ ِد ِه ْم َ َم ْن أَفْ تَ ى ال َّن gültiges Gebot zu erlassen. َوأَ ْز ِم َن ِت ِه ْم َوأَ ْم ِك َن ِت ِه ْم َوأَ ْح َوالِ ِه ْم َوقَ َرائِ نِ أَ ْح َوالِ ِه ْم فَ َق ْد ضَ َّل َوأَضَ َّل 2 Der Begriff fatwā wird üblicherweise mit „Rechtsgutachten“ übersetzt und ist hier in seiner allgemeinen Form zu verstehen, das heißt als ein jegliches Rechtsgutachten, ganz unabhängig da- von, ob es sich zu bekannten oder neuen Fragestellungen äußert. 5 Auf der Webseite des ägyptischen Fatwā-Amts ist zum Beispiel 3 Der Ausdruck naṣṣ bedeutet hier also nicht „Text“, so wie das im zu lesen, dass die Verteilung des Erbes im Koran überzeitlich modernen Arabisch häufig der Fall ist. festgelegt sei und nicht von den Lebensrealitäten der 4 Entgegen anderslautender Behauptungen hat auch der hanbali- Menschen abhänge; siehe: https://www.dar-alifta.org/AR/ tische Gelehrte aṭ-Ṭūfī (gest. 1316) diese Regel anerkannt. ViewFatawaConcept.aspx?ID=128 (letzter Zugriff: 9.7.2020).
8 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS Die Grundproblematik, die sich hier auftut, er Mann zum Beispiel der Versorger und die Frau die gibt sich aus dem Bestreben, zum einen den Versorgte ist. Sollte sich diese Ordnung faktisch Geboten Gottes einen überzeitlichen Charakter verändern, ist diese zu reformieren und nicht das zuzuschreiben. Zum anderen gilt es, die Prakti Gebot. kabilität der religiösen Gebote vor dem Hinter grund der Tatsache zu wahren, dass die sozio b. N ormen als Impuls für politischen Gegebenheiten von Ort zu Ort und eine ideale Gesellschaftsordnung von Zeit zu Zeit verschieden sind. Zugespitzt Das zweite Konzept gleicht dem ersten darin, dass ergibt sich daraus folgendes Dilemma: Je mehr es ebenfalls von einer bestimmten religiös ange von den islamischen Geboten als wandelbar strebten Gesellschaftsordnung ausgeht. Die Gebote, einstuft werden, desto stärker wird der Ein die sich aus den Normenversen ableiten lassen, druck entstehen, der normative Gehalt der erachten die Anhänger_innen dieses Konzepts al im 7. Jahrhundert offenbarten Gottesrede sei lerdings nur als einen Entwicklungsimpuls hin zu lediglich von historischer Relevanz. Je mehr man dieser idealen Ordnung. Sie sehen das oben er von den Geboten hingegen als kontextindifferent wähnte Gebot im Erbrecht vor dem Hintergrund, und damit als überzeitlich gültig einstuft, desto dass Frauen im vorislamischen Arabien nicht nur mehr droht die Religion zu verknöchern, was nicht erben durften, sondern sogar selbst ver wiederum dazu beiträgt, dass Gesellschaften erbt werden konnten. Die Forderung des Korans, sich an anderen Ordnungsmodellen als das der der Tochter halb so viel zuzusprechen wie ihrem Religion zu orientieren versuchen. Bruder, wird damit als revolutionärer oder radi Der komplexen Diskussion, die sich hinter kaler Schritt hin zu einer geschlechtergerechten diesen holzschnittartig aufgezeigten Problem Ordnung verstanden – aber auch nur als erster feldern verbirgt, kann hier nicht ausreichend Schritt, insofern tiefergreifende Veränderungen Rechnung getragen werden. Vielmehr sollen in den damaligen Gesellschaften nicht realisier drei Konzeptionen koranischer Normativität im bar oder zumutbar gewesen wären. Tochter und Spannungsfeld zwischen universaler Geltung und Sohn in heutiger Zeit den gleichen Erbanteil zuzu zeitlicher Gebundenheit in idealtypischer Weise sprechen würde demgemäß keinen Widerspruch dargestellt werden.6 Erläutert werden die drei zum Koran erzeugen, sondern vielmehr einen Konzeptionen am oben beschriebenen Beispiel im Koran angelegten Impuls hin zu dem, was die aus dem Erbrecht. Vertreter_innen dieses Konzepts als eine gerechte Gesellschaftsordnung vollenden. a. A npassung der Lebensverhältnisse an die Normen c. A kzeptanz der Vielfalt Gemäß der ersten Konzeption sollen die Normen verschiedener Gesellschaftsordnungen nicht an die Lebensverhältnisse der Gesellschaften In der dritten Konzeption geht man davon aus, dass angepasst werden, sondern andersherum die der Koran, insofern er sich an alle Menschen zu allen Lebensverhältnisse an die Normen. Man geht dabei Zeiten und an allen Orten richtet, eine große Viefalt davon aus, dass das Normengeflecht im Koran da verschiedener Gesellschaftsordnungen zulässt und rauf abzielt, eine bestimmte Gesellschaftsordnung nicht nur eine bestimmte Ordnung als das Ideal an zu erzeugen und zu erhalten. Genauer gesagt han strebt. Der Koran gibt demnach nur einen allgemei delt es sich dabei um das patriarchalische Modell, nen Rahmen, der nicht jede Gesellschaftsordnung das im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel umfasst, aber zumindest viele umfassen kann. vorherrschend war. Anhand unseres Beispiels, dem Wenn wir das auf die Geschlechterrollen herunter Erbrecht der Frau, bedeutet es folgendes: Dass brechen, so lässt sich sagen, dass es keine kon eine Tochter in manchen Erbkonstellationen nur kreten Rollenverständnisse gibt, die man als das halb so viel erbt wie ein Sohn, bleibt als Gebot be islamische Ideal mit überzeitlicher Gültigkeit stehen, weil es im Einklang mit einer als natür ausmachen könnte, sondern viele verschiede lich (oder: schöpfungsinhärent) angenomme ne Verständnisse, die sich je nach den raumzeit nen Geschlechterordnung steht, nach der der lichen Gegebenheiten unterschiedlich ausbuch stabieren lassen können. Der Koran hat seine direkte Hörerschaft dort abgeholt, wo sie sich ge 6 Innerhalb der islamischen Tradition gibt es mehr als diese sellschaftlich befand, nämlich in einem patriarcha drei Konzepte, es handelt sich also nur um eine Auswahl. Der Hinweis auf die idealtypische Darstellung soll auch hervor- lischen System; jedoch hat er dieses System we heben, dass wohl keines der vorgestellten Modelle in dieser der bestätigt noch verneint. Indem er das System Ausschließlichkeit von konkreten Personen vertreten wird.
9 Die Projektgruppe aus den drei Standorten kam regelmäßig zusammen, um die Forschung zu diskutieren und weiterzuentwickeln. weder verworfen noch als überzeitlich gültig aus Manifestation dieses Systems in den konkreten gewiesen hat, trug er dem Umstand Rechnung, Normen des Korans). Die ersten zwei vorgestellten dass Gesellschaftsformen sich im Rahmen spezifi Konzepte koranischer Normativität bauen auf scher Lebensbedingungen ausbilden und vor de dieser Idee auf, die sich jedoch selbst nicht ren Hintergrund eine Berechtigung haben kön koranisch absichern lässt, sondern, wie gesagt, nen, die sie jedoch verlieren kann, wenn sich der dem griechischen Denken zuzuordnen ist. Auch die Hintergrund ändert. Was der Koran aus Sicht der dritte Konzeption steht in expliziter Form weder Vertreter_innen dieses Modells jedoch macht, im Einklang noch im Widerspruch zum Koran. Sie ist, korrigierend auf bestimmte soziale Normen unterscheidet sich von den ersten zwei Modellen einzuwirken, wenn diese den konkreten kora darin, dass sie den normativen Gehalt des Korans nischen Gerechtigkeitsansprüchen nicht genü immer nur unter Berücksichtigung des Kontexts, gen. So darf es laut dem Koran zum Beispiel keine in den er eingebettet ist, zu verstehen versucht Geschlechterordnung geben, in der Frauen ganz und daher auch kein abstraktes und damit von vom Erbe ausgeschlossen werden oder gar vererbt jeder Praxis abgeschnittenes Prinzipiensystem werden können (wie es im vorislamischen Arabien hinter ihm vermutet. Die ersten beiden Modelle der Fall war). Auch in patriarchalisch verfassten basieren in ihrer Tendenz auf dem, was man als Gesellschaften muss den Frauen in dieser Sicht ein Wesensethik bezeichnet, das dritte hingegen Erbteil zugesprochen werden, auch wenn dieser auf der sogenannten Situationsethik. Auch geringer ausfallen kann als der der Männer. Daraus hier gilt zu beachten, dass es sich lediglich um lässt sich dann aber auch folgern, dass in egali begriffliche Annäherungen an Modelle handelt, tären Gesellschaften eine gleiche Erbverteilung deren Komplexität es nicht erlaubt, sie unter ein angesetzt werden darf und in matriarchalischen bestimmtes Label zu subsumieren. Gesellschaften Frauen mehr erben können als Festgehalten werden kann soweit, dass das Männer, die analog hierzu auch niemals beim Erbe (Vor-)Verständnis der normativen Dimension des übergangen oder selbst vererbt werden dürfen. Korans weitreichende Konsequenzen für die kon krete Ableitung von Geboten hat, wie hier beispiel d. V erortung der drei Modelle in haft an einer Erbrechtsfrage dargestellt wurde. Es einen größeren philosophischen sollte allein daher schon nicht verwundern, dass Gesamtzusammenhang die muslimische Rechtstradition von einer enormen Die Idee von überzeitlich gültigen Prinzipien, Vielfalt an Meinungen geprägt ist. Dieser Vielfalt die den Geist der koranischen Gebotenlehre sollte mit einer reflektierten Gelassenheit, die nicht ausmachen, ist eine philosophische, die sich mit Relativismus zu verwechseln ist, begegnet wer aus dem griechischen Denken speist. Sie fußt den, die zwar in der Tradition zu weiten Teilen prak auf Abstraktion sowie auf der Annahme des tiziert wurde, jedoch in jüngerer Zeit dem Streben Gegensatzes von Wirklichkeit (hier: überzeitlich nach Absolutheit und Vereindeutigung zu einem gültiges Prinzipiensystem) und Erscheinung (hier: besorgniserregenden Grad gewichen ist.
10 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen Pluralismus? In kaum einem anderen Zusammenhang trifft der Koran so klare und mathematisch genaue Aussagen Fiqh8 wie im Beispiel der Verse zur Erbverteilung. Dies kann in Bezug auf die Mehrheit der Verse mit normativem Potential hingegen nicht behaup Mit dem Begriff fiqh (arabisch das heißt tet werden. Davon zeugt allein die Tatsache, dass „Erkenntnis, Verständnis, Einsicht“) wird das die Anzahl normativer Verse in der islamischen Vers tehen, Begreifen, Wissen oder die Klugheit Auslegungs- und Rechtstradition unterschiedlich zum Ausdruck gebracht (Ghandour 2020: 34 f.). geschätzt wird. Während manche Gelehrte bei der Damit ist in der islamischen Rechtslehre die Bestimmung solcher Verse einen eher großzügi Beantwortung derjenigen Fragen gemeint, die gen Ansatz verfolgten, bevorzugten andere eine normativer und theologischer Natur sind und rigorose Herangehensweise.7 Es herrscht also eine die nach dem Ableben des Propheten Muḥam Meinungsverschiedenheit darüber, welche Verse mad aufkamen (ebd.). Die Methoden zum als normativ betrachtet werden können und welche Verständnis der Quellen haben sich im Laufe nicht. Klare und einheitliche Angaben können hier der Zeit auf der Grundlage des Korans und der nicht gemacht werden. Diejenigen Verse, die mehr Sunna entwickelt. heitlich als normativ angesehen werden, lassen Obwohl man sich im fiqh mit göttlichen Quel wiederum oft Spielraum für Dissens darüber, was len auseinandersetzt, hat das Produkt dieser genau aus ihnen zu verstehen ist und wie sich das Auseinandersetzung keinen sakralen oder Normative darin konkret umsetzen lässt. Dieser göttlichen Charakter (Ghandour 2020: 34 f.). Interpretations- und Normativitätspluralismus ist in Denn die Methoden, die zu ihrer Erschließung erster Linie darauf zurückzuführen, dass im Koran angewandt werden, und die Erkenntnisse, die die grundsätzliche und allgemeine Darstellung ge aus ihnen gewonnen werden, sind ein mensch genüber ausführlicher Darlegung überwiegt. Im liches Produkt. Daher darf ein Rechtsgelehrter vorliegenden Abschnitt werden zunächst anhand niemals im Namen Gottes sprechen, sondern von bestimmten Normenversen die Hintergründe darf und kann seine Erkenntnisse nur als Be dieses Pluralismus umrissen. Im nächsten Schritt mühung darstellen, dem Willen Gottes nahe wird aufgezeigt, dass der normative Pluralismus zukommen. Im deutschen Kontext wird diese eine Eigenschaft ist, die sich innerhalb ein und der Disziplin unterschiedlich übersetzt: islamisches selben Rechtsschule feststellen lässt. Dabei spielen Recht; islamische Jurisprudenz; islamische Nor veränderte Lebenskontexte eine große Bedeutung. menlehre. Es ist eine maßgebliche Disziplin der Abschließend werden die Bestrebungen, den islamischen Theologie. normativen Pluralismus zu verengen, genauer beleuchtet. a. Wissenstheoretische Hintergründe Das islamische normative System wird mit dem Begriff fiqh bezeichnet. Rein sprachlich ge sehen kann dieser Begriff mit „Verständnis“, „Kenntnis“ oder „Einsicht“ übersetzt werden. In den Rechtswerken steht er generell für selbst ständiges Erfassen von Zusammenhängen be ziehungsweise für Wissen um Erlaubtes und 7 Dementsprechend reichen die Schätzungen hier von 250 bis 1.800 Versen. 8 Die Infoboxen wurden von der AIWG erstellt.
Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen Pluralismus? 11 Verbotenes. Fiqh als Disziplin zielt insgesamt auf so eindeutig und immun gegen Interpretation, die Ableitung und Gewinnung von Bestimmungen dass sie nur auf eindeutige und singuläre (šarāʾiʿ) und Normen (aḥkām) ab. Sie befasst sich Bestimmungen hinweisen. Vielmehr weist die mit menschlichem Verhalten. Der so entstandene Mehrzahl dieser Verse unterschiedliche Grade von Output, der in unzähligen über die Jahrhunderte Mehrdeutigkeit auf. Das in diesem Zusammenhang hinweg verfassten Werken überliefert ist, ba am häufigsten erwähnte Beispiel betrifft die siert zwar auf Versen göttlichen Ursprungs, ist Wartefrist (ʿidda), die in Sure 2:228 geschiedenen aber menschengemacht und weist letztlich kei Frauen vorgeschrieben wird, bevor sie ein neues nen Unfehlbarkeitsanspruch auf. Dafür spricht Eheverhältnis eingehen. Dort heißt es: die Tatsache, dass die Gründerväter des fiqh das Wissen, zu dem sie gelangt sind, überwiegend als „Die geschiedenen Frauen warten ihrerseits Vermutung (ẓann) betrachten. Ihrer Wissenstheorie drei Zeitabschnitte (qurūʾ, Sg. qurʾ) ab. Und ihnen nach ist der Wahrheitsgrad ihrer Ableitungen dann ist es nicht erlaubt, dass sie verbergen, was Gott gegeben, sofern er auf einer Skala von 0 bis 1 ei in ihrem Schoße schuf, wenn sie an Gott und den nen Wert größer als 0,5 aufweist. Dabei steht der Jüngsten Tag glauben.“9 Wert 1 für Gewissheit (yaqīn), während der Wert 0 Unwissen (ǧahl) bedeutet. Im Rahmen des fiqh – Im ersten Vers von Sure 65 wird den Noch-Ehe vor allem in dem Bereich, der zwischenmensch leuten zudem ausdrücklich befohlen, die Wartezeit liche Bestimmungen enthält – haben wir meist mit genau zu berechnen, auch wenn dieser Vers spe Wahrscheinlichkeiten zu tun und nicht mit gewis ziell an den Propheten adressiert ist: sen oder definitiven Kenntnissen. Diese differen zierte Wissenskategorisierung bedeutet im Grunde „O Prophet! Wenn ihr euch von (euren) Frauen eine klare Absage an Absolutheitsansprüche. Die scheiden lasst, so scheidet euch von ihnen für ihre vormodernen Rechtsgelehrten waren sich offen Wartezeit! Und berechnet die Wartezeit genau! bar im Klaren darüber, dass sie überwiegend nur Und fürchtet Gott, euren Herrn!“ relatives und wahrscheinliches Wissen deduzie ren können. Somit waren die Tore für den nor Man könnte vermuten, dass sich die normative mativen Pluralismus offen. Man ging davon aus, Aussage „Und berechnet die Wartezeit genau!“ dass die Meinungen der eigenen Rechtsschule durch die Aussage „Die geschiedenen Frauen nach bestem Wissen und Gewissen entwickelt warten ihrerseits drei Zeitabschnitte ab“ eindeu wurden; gleichzeitig schloss man jedoch nicht tig quantifizieren ließe. Doch die Rechtsgelehrten aus, dass die Vertreter anderer Rechtsschulen standen vor dem Problem der sprachlichen Zwei auch recht haben können. So können etwa deutigkeit des Begriffs qurʾ: Er steht sowohl für zwei Meinungen zum selben Sachverhalt, die im die Periode der Menstruation (ḥayḍa beziehungs Skalenbereich zwischen 0,5 und kleiner als 1 liegen, weise ṭamṯ) als auch für die dazwischenliegende parallel existieren, ohne dass die eine Meinung Zeit (ṭuhr), was unter den Rechtsschulen zu zwei der anderen den Wahrheitsanspruch abspricht. unterschiedlichen Wartezeitberechnungen ge Dem Gültigkeits- und Wahrheitsanspruch von führt hat: Für die Hanafiten – sowie nach der be Rechtsmeinungen wurde auch in der Rechtspraxis kannten Meinung der Hanbaliten – beginnt die islamischer Jurisprudenz Rechnung getragen. Ein Wartezeit mit der ersten Menstruation, während sie Beispiel hierfür bietet das Prozessrecht. Dort wird für die Malikiten und die Schafiiten mit der ersten die Möglichkeit ausgeschlossen, Berufung gegen ṭuhr-Phase beginnt. ein Urteil einzulegen, das ein Richter (arab.: Kadi) Ein weiteres Beispiel dafür, dass ein Normen nach einer adäquaten Beweisführung gefällt hat. vers mehrere normative Aussagen zulässt, stellt Begründet wird dies damit, dass ein auf adäquate Sure 5:3 dar: Weise gewonnenes Rechtsurteil nicht durch ein an deres zu revidieren ist. „Verboten ist euch das Verendete (mayta), Blut, Schweinefleisch und das, worüber ein anderer als b. Philologische Hintergründe Gott angerufen wurde […].“ Auch wenn die vormodernen Rechtsgelehrten die Etablierung eines einheitlichen Normensystems Eindeutig verboten wird in diesem Vers das gewollt hätten, wären sie auf Hindernisse sprach Verendete. Die Rechtsgelehrten sind sich jedoch licher beziehungsweise lexikalischer Natur ge stoßen. Nicht alle Normenverse sind sprachlich 9 eigene Übersetzung des Verfassers.
12 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS nicht einig darüber, ob sich dieses Verbot nur c. Unterschiedliche Lebenskontexte auf den Konsum des betreffenden Fleischs be Der normative Pluralismus geht, wie oben illustriert, schränkt oder ob darunter jegliche Nutzung von auf die Mehrdeutigkeit des Korantexts selbst zurück. Verendetem fällt. Die erste Meinung ergibt sich Er ist somit ein nicht wegzudenkendes, charakteris aus dem Kontext. Immerhin ist im selben Vers tisches Merkmal des islamischen Normensystems. ausdrücklich die Rede von Schweinefleisch (laḥm Davon zeugt auch die Tatsache, dass innerhalb ei al-ḫinzīr). Ein weiteres Indiz hierfür bietet zudem ner Rechtsschule verschiedene Meinungen zum Sure 6:145, wo ausdrücklich nur der Verzehr von selben Thema tradiert wurden. verendeten Tieren für verboten erklärt wird. Die zweite Meinung lässt sich aber dennoch nicht von der Hand weisen. Iǧmāʿ (arabisch „Konsens“) ist eine wichtige Maḏhab/maḏāhib Methode in der islamischen Rechtslehre. Der Begriff bedeutet, dass alle relevanten Rechts Mit dem Begriff Maḏhab, im Plural Maḏāhib gelehrten einer Epoche in einer bestimmten (arabisch „Verfahren, Ansicht, Lehre“), Sache, auf Basis des Korans und der Sunna, in werden im islamhistorischen und islamwis ihrer Rechtsauffassung übereinstimmen und senschaftlichen Kontext die Rechtsschule(n) somit einen Konsens gefunden haben (Rohe bezeichnet. Einem Maḏhab, also einer Rechts 2015: 74). schule, folgt man als Gläubige_r in rechtlichen, religiösen, aber auch rituellen Fragen. Bis heute durchgesetzt haben sich ab dem 10. Das Paradebeispiel hierfür bietet die Praxis des Jahrhundert insbesondere die vier sunniti Pioniers und Namensgebers der schafiitischen schen Rechtsschulen der Hanafiten, Malikiten, Rechtsschule aš-Šāfiʿī (gest. 820). Bei ihm lassen Schafiiten und Hanbaliten und die zwei schii sich sowohl in Bezug auf den gottesdienstlichen tischen Rechtsschulen der Djafariten und der als auch auf den zwischenmenschlichen Bereich Zaiditen. verschiedene Meinungsrevidierungen feststellen. Dies ist damit zu erklären, dass aš-Šāfiʿī zunächst im Irak und dann in Ägypten wirkte, wo er nicht nur auf neue Gelehrtenmeinungen stieß, sondern auch auf veränderte Lebenskontexte. Selbst der Autor Aḥmad an-Naḥrāwī, der in seinem Buch al- Imām aš-Šāfiʿī fī maḏhabayhi l-qadīm wa-l-ǧadīd („Der Imam aš-Šāfiʿī in seiner alten und neuen Lehre“) die Unterschiede zwischen aš-Šāfiʿīs Rechtsbemühungen im Irak und später in Ägypten zu relativieren und zu nivellieren versucht, geht in diesem Zusammenhang von 18 klaren Meinungsrevidierungen aus. Inner halb der maliktischen Rechtsschule haben sich wiederum geografisch bedingt vier Ausprägungen parallel entwickelt, die in Herangehensweise und Ausübung differierten: die irakische, die maghrebi nische, die andalusische und die ägyptische. d. Beschränkung des normativen Pluralismus Das bisher Gesagte soll jedoch nicht als Begrün dung oder gar als Beleg dafür verstanden werden, dass die islamische Rechtstradition den normativen Pluralismus immer toleriert hätte oder – um es mit Thomas Bauers Worten zu sagen – stets ambiguitätstolerant gewesen wäre. Die Etablierung des Konsenses (iǧmāʿ)
Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen Pluralismus? 13 als Rechtsinstrument, durch das (definitives) Wissen generiert werden soll, setzte vielmehr Abū Ḥanīfa dem normativen Pluralismus Grenzen. Durch die Anwendung des iǧmāʿ wurde angestrebt, die Abū Ḥanīfa ist einer der bedeutendsten Rechts Meinungsverschiedenheiten zu beschränken oder gelehrten in der sunnitischen Tradition. Unter gar die Gemeinschaft (umma) der Muslim_innen anderem ist die hanafitische Rechtsschule dafür auf eine Meinung zu vereinigen. Fragen, über die bekannt, dass als Rechtsquellen neben dem einmal ein Konsens herrschte, wurden durch den Koran, Hadith, Konsens und Analogieschluss, Verweis auf den iǧmāʿ als eindeutig und endgültig die persönliche Rechtsfindung der Gelehrten beantwortet deklariert. Ein Beispiel dafür, das (Iǧtihād), die Suche nach der besten Lösung für für Muslim_innen in Europa von Bedeutung sein die Gemeinde anerkannt ist. kann, ist die Frage, ob es den des Arabischen Abū Ḥanīfa an-Nuʿmān b. Ṯābit b. Zūṭā al-Fārisī unkundigen Muslim_innen erlaubt ist, beim wurde 699 in Kufa geboren, er verstarb 767 in Pflichtgebet aus einer Koranübersetzung zu lesen, Bagdad. Er war ein Rechtsgelehrter/Jurist und statt aus dem Original. Theologe des 8. Jahrhunderts (Yanagihashi 2007). Sein Name wird als Eponym für die hana fitische Rechtsschule verwendet. Fatwā Weitere Rechtsgelehrte, deren Namen als Epo nyme für Rechtsschulen verwendet werden, (arabisch: „Rechtsgutachten, Rechts sind Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī meinung“) bedeutet im islamischen Recht (geb. 767 in Palästina; gest. 820 in Fustāt) (Scha die von einer muslimischen Autorität fiitische Rechtsschule); Abū ʿAbdallāh Aḥmad b. erteilte Antwort auf die Anfrage einer/eines Muḥammad b. Ḥanbal aš-Šaibānī (geb. 780 in Gläubigen nach einer Rechtsauskunft über Bagdad; gest. 855 ebd.) (Hanbalitische Rechts ein religiöses oder rechtliches Problem (Tyan/ schule); Abū ʿAbdallāh Mālik b. Anas b. Mālik b. Walsh 2012 [1965]) beziehungsweise auf eine Abī ʿĀmir b. ʿAmr b. al-Ḥāriṯ b.Ġaymān b. Ḫuṯayn b. bestimmte normative Frage. Denjenigen, der ʿAmr b. al-Ḥāriṯ al-Aṣbaḥī (geb. um 711 in Medina; die Rechtsauskunft erteilt, nennt man Mufti gest. 795 ebd.) (Malikitische Rechtsschule); Abū und denjenigen, der um eine Auskunft bittet, ʿAbd Allāh Ǧaʿ far ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq (geb. Mustaftī (ebd.). 699/700 o. 702/703; gest. 765) und Zaid ibn ʿAlī b. al-Ḥusain (geb. 695 in Medina; gest. 740 in Kufa). Nach Abū Ḥanīfa (gest. 767), wie wir den Ausführungen des Rechtsgelehrten Muḥammad Abū Ḥanīfa ist wohlgemerkt auch der Auffassung, Ibn Aḥmad as-Saraḫsī (gest. 1090) über das Gebet dass die Gültigkeit des Pflichtgebets das Zitieren in seinem Werk al-Mabsūṭ fī l-furūʿ entnehmen von etwas Unnachahmlichem, also etwas aus können, wäre es zulässig, wenn ein_e Perser_in dem Koran, voraussetzt. Ihm zufolge geht aber beim Pflichtgebet den Koran übersetzt in seiner / die Unnachahmlichkeit des Korans durch die ihrer Muttersprache liest. Abū Ḥanīfas Schüler Übersetzung nicht verloren. Denn diese Un Abu Yūsuf (gest. 798) und Muḥammad aš-Šaybānī nachahmlichkeit beziehe sich auf dessen Be (gest. 805) sprechen sich auch für die Zulässigkeit deutungen. Der Koran sei die urewige und dieser Praxis aus; sie fügen jedoch die Bedingung unerschaffene Rede Gottes. Die Sprachen, in denen hinzu, dass der/die Betende der arabischen Sprache er sich manifestiere, seien hingegen erschaffen. wirklich nicht mächtig sein sollte. Als Argument Mit anderen Worten: Den Koran macht nicht die zieht Abū Ḥanīfa, so as-Saraḫsī, einen Bericht über Sprache aus, in der er verkündet wurde, sondern den persischen Prophetengefährten Salmān al- es kommt auf seine Bedeutungen an. Fārisī aus dem 7. Jahrhundert heran. Demnach Dies ist eine Argumentation, in der die ästheti soll Salmān seinen Landsleuten eine Übersetzung sche Seite des Korans wohl zu kurz kommt. der ersten Sure (al-Fātiḥa) zur Verfügung gestellt Nach as-Saraḫsī habe Abū Ḥanīfa eine kon haben, die sie dann beim Gebet verwendeten, bis geniale Übersetzung des Korans gemeint. Az-Zarkašī sie das Arabische beherrschten. (gest. 1392) hebt wiederum hervor, dass Abū Ḥanīfa seine Meinung später revidiert habe. Al-Bāqillānī (gest. 1013) stellt gar die Authentizität der Meinung Abū Ḥanīfas infrage.
14 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS Heute gilt die Nichtigkeit von Pflichtgebeten, die würden eine überzeitliche Gültigkeit beanspru nicht auf Arabisch gehalten werden beziehungs chen. Ihnen solle sich der Zeitgeist (rūḥ al-ʿaṣr) an weise bei denen eine Koranübersetzung verwen passen und nicht andersherum.10 Dieses restrikti det wird, als nicht hinterfragbarer Konsens. Dabei ve Verständnis von iǧtihād ist jedoch irreführend. werden den Betroffenen verschiedene Lösungen Denn gerade beim Vorliegen von autoritativen nahegelegt, die von der Option reichen, einen ara Texthinweisen bedarf es iǧtihād: Diese Hinweise sind, bischkundigen Vorbeter zu organisieren, bis hin zu wie die oben zitierten Normenverse, nicht immer der Pflicht, mindestens die erste Sure auswendig selbsterklärend. Sie sprechen nicht von selbst, son zu lernen. Eine Wiederbelebung von Abū Ḥanīfas dern sind interpretationsbedürftig. Auffassung scheint angesichts dieses Konsenses Die Sicht von Ibn Bāz läuft auf eine Beschränkung unmöglich. des Spielraums des normativen Pluralismus hin aus und sie ist problematisch, weil sie einen star ren Normativismus propagiert. Sie trägt weder dem Kontext Rechnung, auf den die koranischen Iǧtihād Normen in der Offenbarungszeit trafen, noch den Grundprinzipien, die dahinterstecken und (arabisch , das heißt „Anstrengung, Be über die die vormodernen Rechtsgelehrten ent mühung, Eifer“). Der Begriff des iǧtihād hängt sprechend ihrer jeweiligen Zeit reflektierten. Ein mit dem Prozess der Auseinandersetzung Paradigmenwechsel scheint hier mehr als gebo und des Verständnisses göttlicher Quellen ten, und als leitend sollten dabei, unabhängig von zusammen und bedeutet die selbstständige Zeit und Ort, diese Prinzipien fungieren und weni Interpretation der Quellen oder die eigene ger der Wortlaut einzelner Normenverse. Ein solcher Urteilsbildung über rechtlich-theologische Paradigmenwechsel ist im Sinne des koranisch nor Fragen (Wehr 1985: 210). Er wird zugleich mativen Gesamtgeists, dessen konkrete Ausformung als ein terminus technicus in der islamischen dann einem steten Wandel und einer regelmäßigen Rechtstheorie und Rechtswissenschaft Aktualisierung ausgesetzt bleibt. verwendet, indem er auch für die Leistung der Theoretische Konzepte zu einem sich stets aktua Rechtsgelehrten steht, ein begründetes Urteil lisierenden Verständnis der Normativität des Korans über rechtliche und gesellschaftliche Fragen zu können ihre Signifikanz nur dann entfalten, wenn sie bilden. Er ist die Abkürzung für den Ausdruck über ihre theologisch akademische Entstehungswelt iǧtihād ar-raʾy, der übersetzt „Bemühung um ein hinaus den Sprung in die Gemeinschaft schaf eigenes Urteil“ bedeutet (Hallaq 1997: 15). fen. Parallel dazu bedarf es also vor allem der Entwicklung ausgeklügelter religionspädagogi scher und -didaktischer Zugänge, die in modernen Die Beschränkung des normativen Pluralismus Gesellschaften etwa Schüler_innen im Islamischen dauert bis in die Gegenwart an, wie sich in den Religionsunterricht dazu befähigen, in religiöser Ausführungen mancher Akteur_innen beobach Mündigkeit und in reflektierendem Dialog einerseits ten lässt, die dem ultrakonservativen Milieu zuzu mit ihrer pluralistisch geprägten Tradition, anderseits ordnen sind und durch Online-Portale eine große mit ihrem auf Säkularität und Rechtsstaatlichkeit fu Reichweite erzielen. Der Pluralismus wird dort nicht ßenden Lebenskontext den normativen Gehalt des per se geleugnet; es wird aber suggeriert, dass er Korans zu erkennen und einzuordnen. sich nur auf Rechtsfälle beschränke, für die kein autoritativer Hinweis aus dem Koran oder dem Hadith zu finden sei und die daher der Anwendung des iǧtihād, also des eigenständigen Räsonierens, bedürfen. Dies zeigen etwa die Erläuterungen des saudi schen Gelehrten ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz zu dem Spruch „lā iǧtihād maʿa n-naṣṣ“. Damit sei gemeint, dass iǧ- tihād nur dann nötig sei, wenn Koran und Hadith über einen Fall nichts aussagen. Darüber beste 10 Siehe auf der offiziellen Webseite des Gelehrten: https://bin- he unter den Gelehrten Konsens. Die autoritativen baz.org.sa/fatwas/1335/%D8%AD%D9%83%D9%85%D8%A7 Hinweise seien gegen iǧtihād hingegen immun. Die %D9%84%D8%A7%D8%AC%D8%AA%D9%87%D8%A7%D8%A ihnen innewohnenden Normen und Rechtsfolgen F%D9%85%D9%82%D8%A7%D8%A8%D9%84%D8%A7%D9% 84%D9%86%D8%B5
Zugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland 15 Zugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland Ausgehend von den textwissenschaftlich-philo Die so angestoßenen Diskussionen könnten ei sophischen sowie rechtswissenschaftlichen Dar nen Gesprächsbedarf von Schüler_innen offen legungen ergibt sich die Frage, welche Konse legen, der bei entsprechender pädagogischer quenzen sich daraus für die religionspädagogische Begleitung nicht unbedingt unterbunden werden Praxis ableiten lassen. Um diese zu behandeln muss. Im Gegenteil: Gerade das von Schüler_in werden im Folgenden didaktische Perspektiven nen gezeigte Interesse an Normenversen kann auf bisherige theoretische Überlegungen für das als Lernanlass genommen werden, um vorhande Praxisfeld des Islamischen Religionsunterrichts ne Fehlkonzepte und Erkenntnislücken zu thema formuliert. Dabei soll Lehrenden des Unterrichts tisieren und Lernende auf ihrem Weg hin zu mehr fachs eine didaktische Orientierung bezie religiöser Mündigkeit zu begleiten. Denn würde hungsweise Anregung dafür gegeben werden, der Religionsunterricht solche herausfordernden wie im Unterricht mit den eingangs erläuter Gespräche nicht zulassen, liefe er Gefahr, Schüler_ ten Normenversen umgegangen werden kann, innen mit diesen Themen sich selbst zu überlassen. die Themen wie Geschlechterdifferenz oder den Wie Schüler_innen beim Thema des Umgangs Umgang mit Andersgläubigen zum Gegenstand mit Normenversen angemessen pädagogisch be haben. Sie gewinnen auch dadurch an pädagogi gleitet werden können, bildet die Leitfrage für die scher Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass nachfolgenden prinzipiellen Überlegungen zur Schüler_innen von sich aus diese Themen in den Unterrichtsgestaltung. Religionsunterricht einbringen. Islamischer Religionsunterricht11 Der Islamische Religionsunterricht (IRU) ist ein Art. 7 Abs. 3 GG: Religionsunterricht nach Maßgabe des Grund „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen gesetzes (Art. 7 Abs. 3 GG). Er ist ein Religions mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentli- unterricht, der entsprechend den Grundsätzen ches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichts- der betreffenden Religionsgemeinschaft an rechtes wir der Religionsunterricht in Übereinstimmung öffentlichen Schulen in der Bundesrepublik mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften Deutschland erteilt wird. Der Staat ist hierbei der erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet Organisator des Religionsunterrichts, doch die werden, Religionsunterricht zu erteilen.“ inhaltliche Verantwortung obliegt den jeweiligen Religionsgemeinschaften. Jedoch muss der IRU Da Bildung Ländersache ist, gibt es weder den Anforderungen eines staatlichen Lehrfachs eine einheitliche Einrichtung des islamischen entsprechen. Religionsunterrichts für alle deutschen Bundes länder noch wird überall ein solcher bekenntniso rientierter Religionsunterricht für Muslim_innen an den Schulen angeboten. 11 Detaillierte Informationen über den islamischen Religionsun- terricht in den einzelnen Bundesländern und über die Debatten rund um den islamischen Religionsunterricht können in der AIWG Expertise „Islamischer Relgionsunterricht“ nachgelesen werden. Diese ist abrufbar unter: https://aiwg.de/wp-content/ uploads/2020/12/AIWG-Expertise-Isamischer-Religionsunter- richt-in-Deutschland_Onlinepublikation.pdf
16 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS a. Z ur Artikulation von eigene Leben haben. Vor diesem Hintergrund ist die Begründungszusammenhängen befähigen Frage zu stellen, inwieweit bestimmte Verse über Für eine reflektierte Auseinandersetzung mit nor haupt von Bedeutung für die Lebensrealität der mativen Glaubensaussagen ist es maßgeblich, dass Lernenden sind. In diesem Zusammenhang wich diese argumentativ erfasst und kommuniziert wer tig erscheint auch das gemeinsame Reflektieren den. So impliziert das eingangs erwähnte Beispiel darüber, welche Form des Zusammenlebens aus aus dem Erbrecht eine gewisse Vorstellung von Sicht der Schüler_innen in einer Gesellschaft über Geschlechtergerechtigkeit. Schüler_innen zu be haupt erstrebenswert ist, sowie darüber, wel fähigen, Begründungszusammenhänge zu arti che Freiheiten die rechtsstaatliche Ordnung dem kulieren, bedeutet hier, sie dazu einzuladen, ihre Individuum und der muslimischen Gemeinde für Vorstellungen von Gerechtigkeit zu formulieren. eine religiöse Lebensführung ermöglicht. Was ist Gerechtigkeit, was bedeutet es, gerecht zu handeln, und wann ist eine Handlung ungerecht? c. P luralität der Perspektiven Wie sieht gerechte Verteilung aus und woran wird thematisieren und wertschätzen diese gemessen? Gerade Normenverse bieten sich Pluralitätskompetenz ist eines der wesentlichen an, um mit Schüler_innen über ihre Vorstellungen Ziele des Religionsunterrichts. Das bedeutet zu von Moral und Gerechtigkeit ins Gespräch zu kom nächst, als Lehrperson dem breiten Horizont an men. Lehrkräfte begleiten die Schüler_innen beim Deutungsmöglichkeiten im Sinne eines Beitrags zur Mitteilen von Sichtweisen hierbei als Moderator_in Erziehung zu Demokratie- und Pluralitätsfähigkeit nen. Dabei unterstützen die Lehrkräfte einerseits positiv gegenüberzustehen. Es heißt dann aber die Lernenden dabei, ihre formulierten Zugänge auch, Schüler_innen dabei zu begleiten, Pluralität verständlich und nachvollziehbar zu begrün im Glauben als etwas Positives und Wertvolles den. Andererseits stehen die Lehrkräfte vor der wahrzunehmen. Hierzu kann man an die ein Herausforderung, Sichtweisen, die außerhalb der schlägigen islamtheologischen Arbeiten zur Grenzen der Rechtsstaatlichkeit stehen, in ihrer Deutungspluralität als charakteristisches Merkmal Gültigkeit und Legitimität zu entkräften. des islamischen Normensystems anknüpfen. Mit Blick auf die in den Normenversen be b. S inngebendes Anknüpfen an die handelten Themen bedeutet das zum einen, den Lebensrealitäten der Schüler_innen unterschiedlichen Verständnisweisen der Schüler_ Lernende sollen im Religionsunterricht dazu be innen im Unterricht bejahend gegenüberzustehen. fähigt werden, nach dem Sinn zu fragen. Dies Zum anderen bedeutet dies, den vorhandenen bedeutet einerseits, bereits konstruierte Be Interpretations- und Normativitätspluralismus deutungsdimensionen von Glaubensaussagen zu unter den Gelehrten bei der Behandlung von berücksichtigen, und andererseits, neu Erlerntes Normenversen im Unterricht zumindest exem in die eigenen Deutungsperspektiven zu integrie plarisch aufzuzeigen. Dazu dient es der eigenen ren. Hierfür ist es gerade notwendig, Lernende Horizonterweiterung, in groben Zügen die Gesell dazu zu ermutigen, über subjektive Sinnzugänge schaftsordnung auf der Arabischen Halbinsel des zu reflektieren. Sinnstiftung erfolgt dort, wo die 7. und 8. Jahrhunderts nachzeichnen zu können Lebensrealität von Lernenden tangiert wird. und ins Verhältnis zur hiesigen Gesellschaft in Bei der Behandlung der Themen von Normen der heutigen Zeit zu setzen. Dabei erhalten die versen kann zum einen an die Lebensrealität der Lernenden die Möglichkeit, die eigene Perspektive Lernenden angeknüpft werden, indem man ihnen im Lichte dieser Verhältnissetzung zu reflektieren im Unterricht die Möglichkeit bietet, über eigene sowie in Relation zu den diskutierten unterschiedli Erfahrungen zu sprechen. Zum anderen erscheint chen Lesarten zu betrachten. So bietet es sich bei gerade die Erörterung des historischen und gesell der Thematisierung von Geschlechtergerechtigkeit schaftlichen Kontextes der Normenverse für de am Beispiel des Erbschaftsverses an, entlang der im ren Verständnis notwendig, will man ihre tiefere ersten Abschnitt erörterten Verhältnisbestimmung Bedeutung erschließen. Hierbei bietet es sich an, von Normativität und gesellschaftlicher Ordnungs am Beispiel des oben genannten Erbschaftsverses modelle vergleichend über Geschlechterkonzep Schüler_innen dabei zu begleiten, sich zunächst ih tionen zur Zeit der Offenbarung und im heutigen rer eigenen Familienkonstellation bewusst zu wer Deutschland und Europa zu reflektieren. Denn den, um in einem weiteren Schritt darüber reflek erst vor dem Hintergrund der Analyse der tieren zu können, welche Implikationen die im Vers Gesellschaftsverhältnisse zur Zeit des Offen thematisierten Erbschaftskonstellationen für das barungsverses wird ein tieferes Verständnis des
Zugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland 17 Bedeutungssinns der koranischen Erbschafts Klärung von zentralen Begriffen notwendig, um konstellationen möglich und können zeitgenössi aufzuzeigen, wie Verstehensprozesse innerhalb sche theologische Handlungsoptionen diskutiert der islamischen Gelehrsamkeit historisch ge werden. Die Auslegungsvielfalt innerhalb der neriert wurden und wie diese, wie im zweiten islamischen Theologie mitsamt der Selbstver- Abschnitt skizziert, vom jeweiligen gesellschaft ständlichkeit von Meinungspluralität in muslimi lichen Kontext abhängig waren. Am Beispiel des schen Fachkreisen kann hierdurch vermittelt Erbschaftsverses könnte dies bedeuten, unter werden. schiedliche Begriffskategorien, die das Thema Erbschaft tangieren, in den Fokus der unterricht d. S tellungnahme und lichen Bearbeitung zu stellen. Denn auch wenn Positionierung ermöglichen das Thema der Erbschaft eine geringe unmittel In enger Verbindung zum letzten Punkt steht die bare Relevanz für junge Heranwachsende hat, so Aufgabe, Lernende zur Einnahme von eigenen impliziert die koranische Erbschaftskonstellation Standpunkten zu befähigen. Denn wenn Schü Vorstellungen von Verantwortung, Gerechtigkeit, ler_innen im Religionsunterricht mit unterschied Geschlechterdifferenzierungen und Eigentum, die lichen Auslegungen konfrontiert werden, so ergibt wiederum normative Spannungsfelder behandeln, sich daraus der Anspruch, in Lebenssituationen welche nahe an der Lebensrealität von Schüler_ Position zu beziehen. Folglich stellt sich die Frage innen liegen. Mit den Lernenden exemplarisch für den/die Einzelnen, wie mit der dargestellten die Implikation dieser Bedeutungsdimensionen Pluralität im Unterricht umzugehen ist. bei der Thematisierung des Erbschaftsverses Das bedeutet für die Lehrperson, Schüler_in zu reflektieren, ermöglicht es, anhand die nen dabei zu unterstützen, sich in der Vielfalt von ser Spannungsfelder das Zustandekommen des Interpretationsmöglichkeiten zu orientieren, und Normativitätspluralismus innerhalb der islami sie innerhalb des islamischen Wertehorizonts zur schen Theologie aufzuzeigen.Darüber hinaus Einnahme einer eigenen begründeten Position ist mit Schulung religiöser Ausdruckfähigkeit zu befähigen. Dabei ist jedoch zu vermitteln, dass gemeint, sich mit der inhärenten Symbolik auch andere Meinungen, sofern sie fachlich theo von Ausdrücken reflektierend auseinander logisch argumentieren, ihre Legitimität haben zusetzen: Was bringt die unterschiedliche können und das eine Wertung von Positionen in Erbschaftsverteilung zum Ausdruck? Welche richtig/falsch unzulässig ist. Zumal die vormo Erwartungen stellte der Koran zur Zeit der derne Rechtsgelehrsamkeit für den normativen Offenbarung an die Erbenden? Und welche Pluralismus offen war. Das bedeutet aber, zuerst Bedeutung wird dem Besitz im Koran überhaupt die Interpretationsbedürftigkeit von Normenversen zugesprochen? Dies meint auch, die emotio zu vermitteln, um sodann mit den Lernenden die nale und soziale Dimension unterschiedlicher zentrale Frage zu diskutieren, welche fachlich theo Deutungsperspektiven mit zu berücksichtigen. logisch fundierten Deutungsperspektive(n) mit den Bei der Reflexion über diese und ähnliche Fragen Normen und Werten in einer pluralen demokra kann den Lernenden Raum gegeben werden, tischen Gesellschaft korrespondieren können. um sich auf vielfältige Weise über Gedanken und Gefühle zu verständigen. e. Religiöse Ausdrucksfähigkeit ermöglichen Religiöse Ausdrucksfähigkeit meint zum einen f. R eligiöse Praxis einüben die fachsprachliche Kompetenz, um sich über be Dieser Aspekt beruht auf der Beobachtung, dass stimmte Begriffe und Symbole verständigen zu muslimische Schüler_innen häufig eine star können. Zum anderen sollen Lernenden gerade im ke Heterogenität hinsichtlich ihrer religiösen Religionsunterricht Möglichkeiten geboten wer Grundhaltungen und Vorkenntnisse aufweisen, den, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und was oft auf Traditionsabbrüche sowie auf die Eindrücke auf vielfältige Weise zum Ausdruck zu unterschiedlich starke religiöse Sozialisation bringen. durch Familien und Moscheegemeinden zurück Für die Erörterung von Normenversen im geführt werden kann. Dieser Heterogenität im Religionsunterricht ergibt sich zum Beispiel die Unterrichtsgeschehen gerecht zu werden, eröff Möglichkeit, Lernenden dazu zu verhelfen, sich ei net die Chance, durch einen pädagogisch bewuss nen ersten Eindruck darüber zu verschaffen, wie ten Umgang einen Beitrag für den Zusammenhalt unterschiedliche Verstehenshorizonte überhaupt der Gesellschaft und für die Festigung von Demo zustande kommen. Hierfür ist die exemplarische kratie und Zivilgesellschaft zu leisten. Ein auf die
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