Die Normativität des Korans - Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman - AIWG

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Die Normativität des Korans - Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman - AIWG
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Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman

Die Normativität
des Korans
Die Normativität des Korans - Dr. Farid Suleiman, Dr. Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman - AIWG
Inhaltsverzeichnis

Vorwort4

Einführung6

 odelle koranischer Normativität – eine Gedankensammlung
M
aus der bisherigen Forschung                                 7

 ie Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen
D
Pluralismus?                                                 10

 ugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht
Z
in Deutschland                                               15

Fazit19

Literaturverzeichnis20

Über die Autor_innen                                         21

Impressum22
4

                                          Vorwort

                                          Der Koran hat eine besondere Bedeutung für
                                          Menschen muslimischen Glaubens. Er gilt als
                                          göttliche Offenbarung, die mit dem Propheten
                                          Muhammad als Medium der Menschheit über­
                                          mittelt wurde. Dem hohen rituellen, ästhetischen
                                          und religiös-emotionalen Wert des Korans als Wort
                                          Gottes steht allerdings ein weniger stark verbreite­
                                          tes grundlegendes theologisches Wissen zu seiner
                                          Erschließung gegenüber. Die Entstehungsgeschichte
                                          und der Offenbarungskontext sind beim Verständnis
                         Dr. Rida Inam,   und der Auslegung des Texts von essentieller Be­
    Koordinatorin Wissenschaftsformate    deutung. Vor allem aber die wissenschaftlichen
                                          Diskurse in den Jahrhunderten seit der Offenbarung
                                          des Korans, aus denen das unend­liche Spektrum
                                          an Auslegungen und deren Wandel über die Jahr­
                                          hunderte hervorgeht, sind wenig bis gar nicht
                                          bekannt.
                                              Der Koran als Primärquelle des Islams ist für
                                          die meisten Muslim_innen im Alltag handlungs­
                                          weisend. Es gibt Verse zu gottesdienstlichen Hand­
                                          lungen (ʿibādāt), wie zum Beispiel Fasten, Beten und
                                          Spenden; ebenso gibt es Verse zu zwischenmensch­
                                          lichem Handeln (muʿāmalāt), wie zum Beispiel
                                          zwischenmenschliche Etiquette, Kleiderordnung
                                          und Erbrecht. Je detaillierter solche Verse die isla­
                                          mische Lebensführung beschreiben, desto norma­
                                          tiver erscheinen sie. Beispielsweise werden Verse,
                                          die Erbregelungen beinhalten, fast einstimmig als
                                          normativ angesehen, weil diese besonders prä­
                                          zise die Aufteilung des Erbes ansprechen. Sind die­
                                          se und andere solcher Verse deshalb buchstäblich
                                          umzusetzen? Welche Rolle spielen der historische
                                          Kontext und auf die damalige Gesellschaft zuge­
                                          schnittene Deutungsmuster bei ihrer Auslegung
                                          und Anwendung? Wer kann und darf diese Fragen
                                          beantworten und wer bestimmt die Auslegung der
                                          Verse?
                                                                                                         5

    Die Frage, ob der gesellschaftliche Kontext      im islamischen Recht diskutiert. Daraus geht her­
dem normativen Gehalt des Korans oder aber der       vor, dass Absolutheitsansprüche allein schon auf­
normative Gehalt des Korans bei der Auslegung        grund der Vielfalt der bestehenden Meinungen
an den gesellschaftlichen Kontext angepasst wer­     klassischer und zeitgenössischer Rechtsgelehrter
den müsse, wird unter Muslim_innen seit jeher        schwer haltbar sind. Schließlich werden religions­
kontrovers diskutiert. Dieses Spannungsverhältnis    pädagogische Vorschläge unterbreitet, wie Schü­
verschärft sich in säkularen Gesellschaften der      ler_innen im Islamischen Religionsunterricht die
Moderne.                                             komplexe Vielfalt des Islams nähergebracht wer­
    Die Longterm-Forschungsgruppe (LFG) der          den kann.
Akademie für Islam in Wissenschaft und Ge­sell­          Das Thema Normativität des Korans be­
schaft (AIWG) zur „Normativität des Korans im        steht aus vielen kleineren und größeren Frage­
Zeichen gesellschaftlichen Wandels“ befasst sich     stellungen, die aus unterschiedlichen wissen­
mit eben dieser Frage nach der Auslegung und         schaftlichen Disziplinen heraus bearbeitet
Anwendung von sogenannten Normenversen des           werden müssen. Die beteiligten Wissenschaft­
Korans unter gegenwärtigen Bedingungen. Ein          ler_innen der LFG erforschen neben bestehen­
Projektteam, bestehend aus Wissenschaftler_in­       den Modellen der Normativität auch den Begriff
nen der Islamischen Theologie, beleuchtet die        selbst (āyāt al-aḥkām). Darüber hinaus wer­
Frage aus exegetischer, islamrechtlicher und         den einzelne sogenannte Normenverse unter
religions­pädagogischer Sicht und erarbeitet da­     die Lupe genommen, um an ihnen das Konzept
mit eine stabile Grundlage für ein pluralistisches   der Normativität zu reflektieren. Diese und an­
Verständnis der islamischen Religionsauslegung       dere Einzelunterfangen werden unter größeren
sowie ein Konzept für einen Wissenstransfer in       Fragestellungen nach den Prinzipien und Werten
die Gesellschaft hinein, insbesondere über den       geclustert, die aus Normenversen abgeleitet wer­
Islamischen Religionsunterricht an öffentlichen      den können – wie zum Beispiel das koranische
Schulen in Deutschland.                              Menschenbild, das koranische Gottesbild oder
    Der vorliegende Artikel reflektiert klassische   das koranische Verständnis von Gerechtigkeit
Diskurse zur Normativität des Korans und erläu­      und von Gemeinschaft. Damit liefert die multi­
tert die Vielfalt an Deutungsweisen unter ande­      perspektivische Untersuchung dieser LFG eine für
rem anhand des oben genannten Beispiels der          den deutschsprachigen Raum einzigartige und um­
Verse zum Erbrecht (u.a. Sure 4:11). Es gibt ver­    fassende Abhandlung zu Fragen der Normativität
schiedene Modelle koranischer Normativität,          des Korans, die dem enormen thematischen und
von denen einige vorgestellt werden, um da­ran       historischen Spektrum der Diskurse gerecht wird
zu zeigen, dass das Vorhandensein eines brei­        und die Dynamik und den Wandel im Verständnis
ten Spektrums an Konzepten zur Auslegung in          des Korans aufzeigt und erklärt.
sich schon eine buchstäbliche Auffassung des
Korans infrage stellt. Des Weiteren werden im
Artikel verschiedene Formen der Urteilsbildung
6                                                                                  DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

    Einführung
    Die Normativität des Korans im Spannungsfeld
    überzeitlicher Gültigkeit und historischer Gebundenheit

    Gegenstand dieses Beitrags bilden die sogenann­       den Islamischen Religionsunterricht an deut­
    ten Normenverse (āyāt al-aḥkām) des Korans,           schen Schulen didaktische Anregungen dafür,
    also diejenigen, denen traditionell ein normati­      wie im Unterricht mit der Deutungsvielfalt von
    ver Gehalt nachgesagt wird. Diese Verse bilden        Normenversen umgegangen werden kann.
    in der islamischen Auslegungsgeschichte den               Dieser Beitrag führt diese Perspektiven zu­
    Kernkorpus für die Ableitung normativer Aus­          sammen, um einen Einblick in das größere For­
    sagen, die bis heute die islamische Kultur bezie­     schungsvorhaben zur Frage des Verständnisses
    hungsweise die Glaubensinhalte, Einstellungen         und Umgangs mit den Normenversen des Korans
    und Handlungen von Muslim_innen prägen.               zu geben und daraus einzelne Zwischenergebnisse
    Eine Reihe dieser Verse, insbesondere solche die      und -überlegungen zur Diskussion zu stellen.
    Fragen von Geschlechterverhältnis, Gewalt oder        Er richtet sich nicht nur an Fachwissenschaft­
    den Umgang mit Andersgläubigen thematisie­            ler_innen, sondern an eine breitere Leserschaft,
    ren, stellen Muslim_innen im Allgemeinen und          die sich für gesellschaftspolitische, pädagogisch-
    muslimische Religionslehrkräfte im Speziellen vor     didaktische sowie theologische Debatten zu diesem
    Herausforderungen. Die Frage der Ableitung nor­       Fragekomplex interessiert. Tatsache ist, dass es
    mativer Aussagen aus dem Koran und die damit          immer eine Tendenz gegeben hat, und vermut­
    verbundene Problematik in ihrer Anwendung kann        lich immer geben wird, einen allgemeinen Konsens
    aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wer­        über koranische Auslegungen herbeizuführen.
    den. Der erste Abschnitt von Farid Suleiman unter­    Dieser Beitrag regt hingegen zu einem differen­
    zieht Modelle koranischer Normativität einer philo­   zierten Vorgehen an, indem er unter anderem da­
    sophisch-textwissenschaftlichen Betrachtung. Im       rauf verweist, dass auch dann wenn von einer
    Folgeabschnitt zeigt Abdelaali El Maghraoui einen     Normativität bestimmter Verse auszugehen ist,
    islamrechtlichen Zugang zur Thematik auf, indem       das Konzept der Normativität selbst in mindestens
    er die Pluralität an Auslegungsweisen durch frü­      drei unterschiedlichen Formen verstanden werden
    here Gelehrte des Islams anhand von Beispielen        kann. Dies lässt sich schlussendlich dahingehend
    darlegt und erörtert. Im letzten Abschnitt be­        verstehen, dass keine Auslegung koranischer Verse
    fasst sich Sara Rahman mit dem Thema aus reli­        eine stete Gültigkeit – etwa über Zeit und Kontext
    gionspädagogischer Perspektive und bietet für         hinaus – beanspruchen kann.

     Die Wissenschaftsformate der AIWG ermög­             mithilfe eines multidimensionalen Ansatzes wis­
     lichen standortübergreifende und interdiszip­        senschaftlich zu ordnen und in einen Bezug zu
     linäre Forschung zu islambezogenen Themen            praktischen Fragestellungen von Muslim_innen
     durch die Vernetzung von Wissenschaftler_innen       zu bringen.
     der verschiedenen islamisch-theologischen            Das standortübergreifende Projekt wird von
     Standorte.                                           Prof. Dr. Mohammed Nekroumi (Universität
     Zu den Wissenschaftsformaten gehört auch die         Nürnberg-Erlangen), Prof. Dr. Mouez Khalfaoui
     Longterm-Forschungsgruppe „Normativität des          (Universität Tübingen) und Prof. Dr. Fahimah
     Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“.       Ulfat (Universität Tübingen) geleitet. Es hat im
     Das Ziel dieser Forschungsgruppe ist es, die         September 2018 begonnen und endet im Sep­
     Debatte über die Normenverse des Korans              tember 2022.
Modelle koranischer Normativität – eine Gedankensammlung aus der bisherigen Forschung                                                                                                                                          7

Modelle koranischer Normativität – eine
Gedankensammlung aus der bisherigen Forschung

Der flexible Charakter der islamischen Geboten­                                                                                                            zu verzerren, was sich nicht vollständig verhindern
lehre wird oft mittels einer Aussage des Gelehrten                                                                                                         lässt. So lässt sich zum Beispiel mit Recht dafür
Ibn Qayyim al-Ǧawziyya aus dem 14. Jahrhundert                                                                                                             argumentieren, dass es eine iǧtihād-freie Lesart
betont. Er schreibt:                                                                                                                                       des Korans (sowie auch jedes anderen Texts) nicht
                                                                                                                                                           gibt, was darauf hindeutet, dass ein Urteil darüber,
      „Wer den Menschen fatwās rein auf der Basis                                                                                                          ob ein bestimmter Vers eindeutig ist oder nicht,
      schriftlich tradierter Meinungen erteilt, ungeachtet                                                                                                 sich grundsätzlich anzweifeln lässt. Diese wichtige
      der Verschiedenheit ihrer Sitten, ihrer Gebräuche,                                                                                                   Erkenntnis steht jedoch nicht im Widerspruch zu
      ihrer Zeiten, ihrer Orte, ihrer Zustände und ihrer                                                                                                   der Aussage, dass bestimmte Verse im klassisch-
      Begleitumstände, der geht und führt in die Irre.“1                                                                                                   sunnitischen Islam rechtsschulübergreifend als
                                                                                                                                                           eindeutig gesehen wurden.
Der Grundgedanke hierzu ist: Die islamischen                                                                                                                   Beispielhaft lässt sich das koranische Gebot
Gebote wahren und verwirklichen die Interessen                                                                                                             anführen, dass in bestimmten Erbkonstellationen
der Menschen. Die Interessen, aber auch die                                                                                                                eine Tochter halb so viel erbt wie ihr Bruder. Nach
Art und Weise, ihnen Rechnung zu tragen, hän­                                                                                                              klassischer Lehre kann hier kein iǧtihād stattfinden,
gen unter anderem von den Lebensrealitäten der                                                                                                             das heißt das Gebot bleibt unabhängig von der
Menschen ab. Also muss sich die islamische Ge­                                                                                                             Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaft bestehen.5
botenlehre entsprechend wandeln, was sich in der                                                                                                               In Anbetracht der erwähnten Zeit- und Orts­
Zeit- und Ortsgebundenheit der fatwā,2 die Ibn                                                                                                             gebundenheit der fatwā zieht die eben be­spro­
Qayyim al-Ǧawziyya hier anspricht, widerspiegelt.                                                                                                          chene Erbschaftsthematik grund­legende Fragen
    Bevor ich auf diesen Gedankengang zurück­                                                                                                              nach sich: Gilt die Zeit- und Orts­gebundenheit
komme, ist es nötig, eine wichtige Einschränkung                                                                                                           der fatwā deswegen, weil es grundsätzlich weder
innerhalb der klassischen Gebotenlehre zu nen­                                                                                                             Gott noch dem Menschen möglich ist, ein Gebot
nen, die den Spielraum des fatwā-Erteilenden mi­                                                                                                           so zu formulieren, dass es in allen denkbaren
nimiert. So gilt die weithin anerkannte Regel, die                                                                                                         Zuständen einer Gesellschaft den Zweck erfüllt,
auch Abdelaali El Maghraoui im nächsten Abschnitt                                                                                                          die Interessen der Menschen zu wahren und zu
dieses Artikels thematisieren wird: lā iǧtihād maʿa                                                                                                        verwirklichen, oder gilt sie deswegen, weil dies nur
wuǧūd an-naṣṣ, was bedeutet, dass Gebote, die sich                                                                                                         dem Menschen nicht möglich ist?
aus eindeutigen (naṣṣ)3 Versen des Korans ergeben,                                                                                                             Sollte Ersteres der Fall sein, folgt, dass auch die
nicht Gegenstand des iǧtihād (Anstrengung zur                                                                                                              Gebote, die den als naṣṣ (eindeutig) eingestuften
Urteilsfindung) sein dürfen.4                                                                                                                              Versen entnommen werden, grund­sätzlich als zeit-
    Eine kurze Betrachtung wie die vorliegende läuft                                                                                                       und ortsgebunden zu verstehen sind. Nimmt man
Gefahr, komplexe Sachverhalte durch Vereinfachung                                                                                                          hingegen Letzteres an, ergibt sich das Problem,
                                                                                                                                                           dass die menschengemachten fatwās dann
                                                                                                                                                           niemals den Geboten, so wie Gott sie erlassen hat,
1     Ibn Qayyim al-Ǧawziyya, Iʿ lām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-
                                                                                                                                                           entsprechen können, da nur Gott im Gegensatz
      ʿālamīn, hrsg. v. Muḥammad Ibrāhīm, Beirut: Dār al-kutub
      al-ʿilmiyya, 1991, Bd. 3, S. 66. Der Originaltext lautet:                                                                                            zu den Menschen in der Lage ist, ein überzeitlich
    ‫اس ِب ُم َج َّر ِد الْ َم ْن ُق و ِل ِف ي الْ ُك تُ ِب َع لَى ا ْخ ِت َل ِف ُع ْر ِف ِه ْم َو َع َوائِ ِد ِه ْم‬      َ ‫َم ْن أَفْ تَ ى ال َّن‬          gültiges Gebot zu erlassen.
                            ‫َوأَ ْز ِم َن ِت ِه ْم َوأَ ْم ِك َن ِت ِه ْم َوأَ ْح َوالِ ِه ْم َوقَ َرائِ نِ أَ ْح َوالِ ِه ْم فَ َق ْد ضَ َّل َوأَضَ َّل‬
2     Der Begriff fatwā wird üblicherweise mit „Rechtsgutachten“
      übersetzt und ist hier in seiner allgemeinen Form zu verstehen,
      das heißt als ein jegliches Rechtsgutachten, ganz unabhängig da-
      von, ob es sich zu bekannten oder neuen Fragestellungen äußert.
                                                                                                                                                           5   Auf der Webseite des ägyptischen Fatwā-Amts ist zum Beispiel
3     Der Ausdruck naṣṣ bedeutet hier also nicht „Text“, so wie das im                                                                                         zu lesen, dass die Verteilung des Erbes im Koran überzeitlich
      modernen Arabisch häufig der Fall ist.                                                                                                                   festgelegt sei und nicht von den Lebensrealitäten der
4     Entgegen anderslautender Behauptungen hat auch der hanbali-                                                                                              Menschen abhänge; siehe: https://www.dar-alifta.org/AR/
      tische Gelehrte aṭ-Ṭūfī (gest. 1316) diese Regel anerkannt.                                                                                              ViewFatawaConcept.aspx?ID=128 (letzter Zugriff: 9.7.2020).
8                                                                                                 DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

    Die Grundproblematik, die sich hier auftut, er­                     Mann zum Beispiel der Versorger und die Frau die
    gibt sich aus dem Bestreben, zum einen den                          Versorgte ist. Sollte sich diese Ordnung faktisch
    Geboten Gottes einen überzeitlichen Charakter                       verändern, ist diese zu reformieren und nicht das
    zuzuschreiben. Zum anderen gilt es, die Prakti­                     Gebot.
    kabilität der religiösen Gebote vor dem Hinter­
    grund der Tatsache zu wahren, dass die sozio­                       b. N
                                                                            ormen als Impuls für
    politischen Gegebenheiten von Ort zu Ort und                           eine ideale Gesellschaftsordnung
    von Zeit zu Zeit verschieden sind. Zugespitzt                       Das zweite Konzept gleicht dem ersten d­arin, dass
    ergibt sich daraus folgendes Dilemma: Je mehr                       es ebenfalls von einer bestimmten reli­giös ange­
    von den islamischen Geboten als wandelbar                           strebten Gesellschaftsordnung ausgeht. Die Gebote,
    einstuft werden, desto stärker wird der Ein­                        die sich aus den Normenversen ableiten lassen,
    druck entstehen, der normative Gehalt der                           erachten die Anhänger_innen dieses Konzepts al­
    im 7. Jahrhundert offenbarten Gottesrede sei                        lerdings nur als einen Entwicklungsimpuls hin zu
    lediglich von historischer Relevanz. Je mehr man                    dieser idealen Ordnung. Sie sehen das oben er­
    von den Geboten hingegen als kontextindifferent                     wähnte Gebot im Erbrecht vor dem Hintergrund,
    und damit als überzeitlich gültig einstuft, desto                   dass Frauen im vorislamischen Arabien nicht nur
    mehr droht die Religion zu verknöchern, was                         nicht erben durften, sondern sogar selbst ver­
    wiederum dazu beiträgt, dass Gesellschaften                         erbt werden konnten. Die Forderung des Korans,
    sich an anderen Ordnungsmodellen als das der                        der Tochter halb so viel zuzusprechen wie ihrem
    Religion zu orientieren versuchen.                                  Bruder, wird damit als revolutionärer oder radi­
        Der komplexen Diskussion, die sich hinter                       kaler Schritt hin zu einer geschlechtergerechten
    diesen holzschnittartig aufgezeigten Problem­                       Ordnung verstanden – aber auch nur als erster
    feldern verbirgt, kann hier nicht ausreichend                       Schritt, insofern tiefergreifende Veränderungen
    Rechnung getragen werden. Vielmehr sollen                           in den damaligen Gesellschaften nicht realisier­
    drei Konzeptionen koranischer Normativität im                       bar oder zumutbar gewesen wären. Tochter und
    Spannungsfeld zwischen universaler Geltung und                      Sohn in heutiger Zeit den gleichen Erbanteil zuzu­
    zeitlicher Gebundenheit in idealtypischer Weise                     sprechen würde demgemäß keinen Widerspruch
    dargestellt werden.6 Erläutert werden die drei                      zum Koran erzeugen, sondern vielmehr einen
    Konzeptionen am oben beschriebenen Beispiel                         im Koran angelegten Impuls hin zu dem, was die
    aus dem Erbrecht.                                                   Vertreter_innen dieses Konzepts als eine gerechte
                                                                        Gesellschaftsordnung vollenden.
    a. A
        npassung der
       Lebensverhältnisse an die Normen                                 c. A
                                                                            kzeptanz der Vielfalt
    Gemäß der ersten Konzeption sollen die Normen                          verschiedener Gesellschaftsordnungen
    nicht an die Lebensverhältnisse der Gesellschaften                  In der dritten Konzeption geht man davon aus, dass
    angepasst werden, sondern andersherum die                           der Koran, insofern er sich an alle Menschen zu allen
    Lebens­verhältnisse an die Normen. Man geht dabei                   Zeiten und an allen Orten richtet, eine große Vie­falt
    davon aus, dass das Normengeflecht im Koran da­                     verschiedener Gesellschaftsordnungen zulässt und
    rauf abzielt, eine bestimmte Gesellschaftsordnung                   nicht nur eine bestimmte Ordnung als das Ideal an­
    zu erzeugen und zu erhalten. Genauer gesagt han­                    strebt. Der Koran gibt demnach nur einen allgemei­
    delt es sich dabei um das patriarchalische Modell,                  nen Rahmen, der nicht jede Gesellschaftsordnung
    das im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel                  umfasst, aber zu­min­dest viele umfassen kann.
    vorherrschend war. Anhand unseres Beispiels, dem                    Wenn wir das auf die Geschlechterrollen herunter­
    Erbrecht der Frau, bedeutet es folgendes: Dass                      brechen, so lässt sich sagen, dass es keine kon­
    eine Tochter in manchen Erbkonstellationen nur                      kreten Rollenverständnisse gibt, die man als das
    halb so viel erbt wie ein Sohn, bleibt als Gebot be­                islamische Ideal mit überzeitlicher Gültigkeit
    stehen, weil es im Einklang mit einer als natür­                    ausmachen könnte, sondern viele verschiede­
    lich (oder: schöpfungsinhärent) angenomme­                          ne Verständnisse, die sich je nach den raumzeit­
    nen Geschlechterordnung steht, nach der der                         lichen Gegebenheiten unterschiedlich ausbuch­
                                                                        stabieren lassen können. Der Koran hat seine
                                                                        direkte Hörerschaft dort abgeholt, wo sie sich ge­
    6   Innerhalb der islamischen Tradition gibt es mehr als diese
                                                                        sellschaftlich befand, nämlich in einem patriarcha­
        drei  Konzepte, es handelt sich also nur um eine Auswahl. Der
        Hinweis auf die idealtypische Darstellung soll auch hervor-     lischen System; jedoch hat er dieses System we­
        heben, dass wohl keines der vorgestellten Modelle in dieser     der bestätigt noch verneint. Indem er das System
        Ausschließlichkeit von konkreten Personen vertreten wird.
9

Die Projektgruppe aus den drei Standorten kam regelmäßig zusammen, um die Forschung zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

weder verworfen noch als überzeitlich gültig aus­                         Manifestation dieses Systems in den konkreten
gewiesen hat, trug er dem Umstand Rechnung,                               Normen des Korans). Die ersten zwei vorgestellten
dass Gesellschaftsformen sich im Rahmen spezifi­                          Konzepte koranischer Normativität bauen auf
scher Lebensbedingungen ausbilden und vor de­                             dieser Idee auf, die sich jedoch selbst nicht
ren Hintergrund eine Berechtigung haben kön­                              koranisch absichern lässt, sondern, wie gesagt,
nen, die sie jedoch verlieren kann, wenn sich der                         dem griechischen Denken zuzuordnen ist. Auch die
Hintergrund ändert. Was der Koran aus Sicht der                           dritte Konzeption steht in expliziter Form weder
Vertreter_innen dieses Modells jedoch macht,                              im Einklang noch im Widerspruch zum Koran. Sie
ist, korrigierend auf bestimmte soziale Normen                            unterscheidet sich von den ersten zwei Modellen
einzuwirken, wenn diese den konkreten kora­                               da­rin, dass sie den normativen Gehalt des Korans
nischen Gerechtigkeitsansprüchen nicht genü­                              immer nur unter Berücksichtigung des Kontexts,
gen. So darf es laut dem Koran zum Beispiel keine                         in den er eingebettet ist, zu verstehen versucht
Geschlechterordnung geben, in der Frauen ganz                             und daher auch kein abstraktes und damit von
vom Erbe ausgeschlossen werden oder gar vererbt                           jeder Praxis abgeschnittenes Prinzipiensystem
werden können (wie es im vorislamischen Arabien                           hinter ihm vermutet. Die ersten beiden Modelle
der Fall war). Auch in patriarchalisch verfassten                         basieren in ihrer Tendenz auf dem, was man als
Gesellschaften muss den Frauen in dieser Sicht ein                        Wesensethik bezeichnet, das dritte hingegen
Erbteil zugesprochen werden, auch wenn dieser                             auf der sogenannten Situationsethik. Auch
geringer ausfallen kann als der der Männer. Daraus                        hier gilt zu beachten, dass es sich lediglich um
lässt sich dann aber auch folgern, dass in egali­                         begriffliche Annäherungen an Modelle handelt,
tären Gesellschaften eine gleiche Erbverteilung                           deren Komplexität es nicht erlaubt, sie unter ein
angesetzt werden darf und in matriarchalischen                            bestimmtes Label zu sub­sumieren.
Gesellschaften Frauen mehr erben können als                                   Festgehalten werden kann soweit, dass das
Männer, die analog hierzu auch niemals beim Erbe                          (Vor-)Verständnis der normativen Dimension des
übergangen oder selbst vererbt werden dürfen.                             Korans weitreichende Konsequenzen für die kon­
                                                                          krete A­bleitung von Geboten hat, wie hier beispiel­
d. V
    erortung der drei Modelle in                                         haft an einer Erbrechtsfrage dargestellt wurde. Es
   einen größeren philosophischen                                         sollte allein daher schon nicht verwundern, dass
   Gesamtzusammenhang                                                     die muslimische Rechtstradition von einer enormen
Die Idee von überzeitlich gültigen Prinzipien,                            Vielfalt an Meinungen geprägt ist. Dieser Vielfalt
die den Geist der koranischen Gebotenlehre                                sollte mit einer reflektierten Gelassenheit, die nicht
ausmachen, ist eine philosophische, die sich                              mit Relativismus zu verwechseln ist, begegnet wer­
aus dem griechischen Denken speist. Sie fußt                              den, die zwar in der Tradition zu weiten Teilen prak­
auf Abstraktion sowie auf der Annahme des                                 tiziert wurde, jedoch in jüngerer Zeit dem Streben
Gegensatzes von Wirklichkeit (hier: überzeitlich                          nach Absolutheit und Vereindeutigung zu einem
gültiges Prinzipiensystem) und Erscheinung (hier:                         besorgniserregenden Grad gewichen ist.
10                                                                                                   DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

     Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes
     des normativen Pluralismus?

     In kaum einem anderen Zusammenhang trifft der
     Koran so klare und mathematisch genaue Aussagen
                                                                                Fiqh8
     wie im Beispiel der Verse zur Erbverteilung. Dies
     kann in Bezug auf die Mehrheit der Verse mit
     normativem Potential hingegen nicht behaup­                        Mit dem Begriff fiqh (arabisch    das heißt
     tet werden. Davon zeugt allein die Tatsache, dass                  „Erkenntnis, Verständnis, Einsicht“) wird das
     die Anzahl normativer Verse in der islamischen                     Ver­s tehen, Begreifen, Wissen oder die Klugheit
     Auslegungs- und Rechtstradition unterschiedlich                    zum Ausdruck gebracht (Ghandour 2020: 34 f.).
     geschätzt wird. Während manche Gelehrte bei der                    Damit ist in der islamischen Rechtslehre die
     Bestimmung solcher Verse einen eher großzügi­                      Beantwortung derjenigen Fragen gemeint, die
     gen Ansatz verfolgten, bevorzugten andere eine                     normativer und theologischer Natur sind und
     rigorose Herangehensweise.7 Es herrscht also eine                  die nach dem Ableben des Propheten Muḥam­
     Meinungsverschiedenheit darüber, welche Verse                      mad aufkamen (ebd.). Die Methoden zum
     als normativ betrachtet werden können und welche                   Verständnis der Quellen haben sich im Laufe
     nicht. Klare und einheitliche Angaben können hier                  der Zeit auf der Grundlage des Korans und der
     nicht gemacht werden. Diejenigen Verse, die mehr­                  Sunna entwickelt.
     heitlich als normativ angesehen werden, lassen
                                                                        Obwohl man sich im fiqh mit göttlichen Quel­
     wiederum oft Spielraum für Dissens darüber, was
                                                                        len auseinandersetzt, hat das Produkt dieser
     genau aus ihnen zu verstehen ist und wie sich das
                                                                        Aus­einandersetzung keinen sakralen oder
     Normative darin konkret umsetzen lässt. Dieser
                                                                        gött­lichen Charakter (Ghandour 2020: 34  f.).
     Interpretations- und Normativitätspluralismus ist in
                                                                        Denn die Methoden, die zu ihrer Erschließung
     erster Linie darauf zurückzuführen, dass im Koran
                                                                        angewandt werden, und die Erkenntnisse, die
     die grundsätzliche und allgemeine Darstellung ge­
                                                                        aus ihnen gewonnen werden, sind ein mensch­
     genüber ausführlicher Darlegung überwiegt. Im
                                                                        liches Produkt. Daher darf ein Rechtsgelehrter
     vorliegenden Abschnitt werden zunächst anhand
                                                                        niemals im Namen Gottes sprechen, sondern
     von bestimmten Normenversen die Hintergründe
                                                                        darf und kann seine Erkenntnisse nur als Be­
     dieses Pluralismus umrissen. Im nächsten Schritt
                                                                        mühung darstellen, dem Willen Gottes nahe­
     wird aufgezeigt, dass der normative Pluralismus
                                                                        zukommen. Im deutschen Kontext wird diese
     eine Eigenschaft ist, die sich innerhalb ein und der­
                                                                        Disziplin unterschiedlich übersetzt: islamisches
     selben Rechtsschule feststellen lässt. Dabei spielen
                                                                        Recht; islamische Jurisprudenz; islamische Nor­
     veränderte Lebenskontexte eine große Bedeutung.
                                                                        menlehre. Es ist eine maßgebliche Disziplin der
     Abschließend werden die Bestrebungen, den
                                                                        islamischen Theologie.
     normativen Pluralismus zu verengen, genauer
     beleuchtet.

                                                                    a. Wissenstheoretische Hintergründe
                                                                    Das islamische normative System wird mit dem
                                                                    Begriff fiqh bezeichnet. Rein sprachlich ge­
                                                                    sehen kann dieser Begriff mit „Verständnis“,
                                                                    „Kenntnis“ oder „Einsicht“ übersetzt werden. In
                                                                    den Rechtswerken steht er generell für selbst­
                                                                    ständiges Erfassen von Zusammenhängen be­
                                                                    ziehungsweise für Wissen um Erlaubtes und

     7   Dementsprechend reichen die Schätzungen hier von 250 bis
         1.800 Versen.                                              8     Die Infoboxen wurden von der AIWG erstellt.
Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen Pluralismus?                                                    11

Verbotenes. Fiqh als Disziplin zielt insgesamt auf              so eindeutig und immun gegen Interpretation,
die Ableitung und Gewinnung von Bestimmungen                    dass sie nur auf eindeutige und singuläre
(šarāʾiʿ) und Normen (aḥkām) ab. Sie befasst sich               Bestimmungen hinweisen. Vielmehr weist die
mit menschlichem Verhalten. Der so entstandene                  Mehrzahl dieser Verse unterschiedliche Grade von
Output, der in unzähligen über die Jahrhunderte                 Mehrdeutigkeit auf. Das in diesem Zusammenhang
hinweg verfassten Werken überliefert ist, ba­                   am häufigsten erwähnte Beispiel betrifft die
siert zwar auf Versen göttlichen Ursprungs, ist                 Wartefrist (ʿidda), die in Sure 2:228 geschiedenen
aber menschengemacht und weist letztlich kei­                   Frauen vorgeschrieben wird, bevor sie ein neues
nen Unfehlbarkeitsanspruch auf. Dafür spricht                   Eheverhältnis eingehen. Dort heißt es:
die Tatsache, dass die Gründerväter des fiqh das
Wissen, zu dem sie gelangt sind, überwiegend als                    „Die geschiedenen Frauen warten ihrerseits
Vermutung (ẓann) betrachten. Ihrer Wissenstheorie                   drei Zeitabschnitte (qurūʾ, Sg. qurʾ) ab. Und ihnen
nach ist der Wahrheitsgrad ihrer Ableitungen dann                   ist es nicht erlaubt, dass sie verbergen, was Gott
gegeben, sofern er auf einer Skala von 0 bis 1 ei­                  in ihrem Schoße schuf, wenn sie an Gott und den
nen Wert größer als 0,5 aufweist. Dabei steht der                   Jüngsten Tag glauben.“9
Wert 1 für Gewissheit (yaqīn), während der Wert 0
Unwissen (ǧahl) bedeutet. Im Rahmen des fiqh –                  Im ersten Vers von Sure 65 wird den Noch-Ehe­
vor allem in dem Bereich, der zwischenmensch­                   leuten zudem ausdrücklich befohlen, die Wartezeit
liche Bestimmungen enthält – haben wir meist mit                genau zu berechnen, auch wenn dieser Vers spe­
Wahrscheinlichkeiten zu tun und nicht mit gewis­                ziell an den Propheten adressiert ist:
sen oder definitiven Kenntnissen. Diese differen­
zierte Wissenskategorisierung bedeutet im Grunde                    „O Prophet! Wenn ihr euch von (euren) Frauen
eine klare Absage an Absolutheitsansprüche. Die                     scheiden lasst, so scheidet euch von ihnen für ihre
vormodernen Rechtsgelehrten waren sich offen­                       Wartezeit! Und berechnet die Wartezeit genau!
bar im Klaren darüber, dass sie überwiegend nur                     Und fürchtet Gott, euren Herrn!“
relatives und wahrscheinliches Wissen deduzie­
ren können. Somit waren die Tore für den nor­                   Man könnte vermuten, dass sich die normative
mativen Pluralismus offen. Man ging davon aus,                  Aussage „Und berechnet die Wartezeit genau!“
dass die Meinungen der eigenen Rechtsschule                     durch die Aussage „Die geschiedenen Frauen
nach bestem Wissen und Gewissen entwickelt                      warten ihrerseits drei Zeitabschnitte ab“ eindeu­
wurden; gleichzeitig schloss man jedoch nicht                   tig quantifizieren ließe. Doch die Rechtsgelehrten
aus, dass die Vertreter anderer Rechtsschulen                   standen vor dem Problem der sprachlichen Zwei­
auch recht haben können. So können etwa                         deutigkeit des Begriffs qurʾ: Er steht sowohl für
zwei Meinungen zum selben Sachverhalt, die im                   die Periode der Menstruation (ḥayḍa beziehungs­
Skalen­bereich zwischen 0,5 und kleiner als 1 liegen,           weise ṭamṯ) als auch für die dazwischen­liegende
parallel existieren, ohne dass die eine Meinung                 Zeit (ṭuhr), was unter den Rechtsschulen zu zwei
der anderen den Wahrheitsanspruch abspricht.                    unterschiedlichen Wartezeitberechnungen ge­
Dem Gültigkeits- und Wahrheitsanspruch von                      führt hat: Für die Hanafiten – sowie nach der be­
Rechtsmeinungen wurde auch in der Rechtspraxis                  kannten Meinung der Hanbaliten – beginnt die
islamischer Jurisprudenz Rechnung getragen. Ein                 Wartezeit mit der ersten Menstruation, während sie
Beispiel hierfür bietet das Prozessrecht. Dort wird             für die Malikiten und die Schafiiten mit der ersten
die Möglichkeit ausgeschlossen, Berufung gegen                  ṭuhr-Phase beginnt.
ein Urteil einzulegen, das ein Richter (arab.: Kadi)                Ein weiteres Beispiel dafür, dass ein Normen­
nach einer adäquaten Beweisführung gefällt hat.                 vers mehrere normative Aussagen zulässt, stellt
Begründet wird dies damit, dass ein auf adäquate                Sure 5:3 dar:
Weise gewonnenes Rechtsurteil nicht durch ein an­
deres zu revidieren ist.                                            „Verboten ist euch das Verendete (mayta), Blut,
                                                                    Schweinefleisch und das, worüber ein anderer als
b. Philologische Hintergründe                                       Gott angerufen wurde […].“
Auch wenn die vormodernen Rechtsgelehrten die
Etablierung eines einheitlichen Normensystems                   Eindeutig verboten wird in diesem Vers das
gewollt hätten, wären sie auf Hindernisse sprach­               Verendete. Die Rechtsgelehrten sind sich jedoch
licher beziehungsweise lexikalischer Natur ge­
stoßen. Nicht alle Normenverse sind sprachlich
                                                                9   eigene Übersetzung des Verfassers.
12                                                                                   DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

     nicht einig darüber, ob sich dieses Verbot nur        c. Unterschiedliche Lebenskontexte
     auf den Konsum des betreffenden Fleischs be­          Der normative Pluralismus geht, wie oben illus­triert,
     schränkt oder ob darunter jegliche Nutzung von        auf die Mehrdeutigkeit des Koran­texts selbst zurück.
     Verendetem fällt. Die erste Meinung ergibt sich       Er ist somit ein nicht wegzu­den­kendes, charakteris­
     aus dem Kontext. Immerhin ist im selben Vers          tisches Merkmal des islamischen Normensystems.
     ausdrücklich die Rede von Schweinefleisch (laḥm       Davon zeugt auch die Tatsache, dass innerhalb ei­
     al-ḫinzīr). Ein weiteres Indiz hierfür bietet zudem   ner Rechtsschule verschiedene Meinungen zum
     Sure 6:145, wo ausdrücklich nur der Verzehr von       selben Thema tradiert wurden.
     verendeten Tieren für verboten erklärt wird. Die
     zweite Meinung lässt sich aber dennoch nicht von
     der Hand weisen.
                                                                   Iǧmāʿ

                                                            (arabisch     „Konsens“) ist eine wichtige
             Maḏhab/maḏāhib                              Methode in der islamischen Rechtslehre. Der
                                                            Begriff bedeutet, dass alle relevanten Rechts­
      Mit dem Begriff Maḏhab, im Plural Maḏāhib          gelehrten einer Epoche in einer bestimmten
      (arabisch       „Verfahren, Ansicht, Lehre“),         Sache, auf Basis des Korans und der Sunna, in
      werden im islamhistorischen und islamwis­             ihrer Rechtsauffassung übereinstimmen und
      senschaftlichen Kontext die Rechtsschule(n)           somit einen Konsens gefunden haben (Rohe
      bezeichnet. Einem Maḏhab, also einer Rechts­         2015: 74).
      schule, folgt man als Gläubige_r in rechtlichen,
      religiösen, aber auch rituellen Fragen. Bis
      heute durchgesetzt haben sich ab dem 10.             Das Paradebeispiel hierfür bietet die Praxis des
      Jahrhundert insbesondere die vier sunniti­           Pioniers und Namensgebers der schafiitischen
      schen Rechtsschulen der Hanafiten, Malikiten,        Rechtsschule aš-Šāfiʿī (gest. 820). Bei ihm lassen
      Schafiiten und Hanba­liten und die zwei schii­       sich sowohl in Bezug auf den gottesdienstlichen
      tischen Rechtsschulen der Djafariten und der         als auch auf den zwischenmenschlichen Bereich
      Zaiditen.                                            verschiedene Meinungsrevidierungen feststellen.
                                                           Dies ist damit zu erklären, dass aš-Šāfiʿī zunächst
                                                           im Irak und dann in Ägypten wirkte, wo er nicht
                                                           nur auf neue Gelehrtenmeinungen stieß, sondern
                                                           auch auf veränderte Lebenskontexte. Selbst der
                                                           Autor Aḥmad an-Naḥrāwī, der in seinem Buch al-
                                                           Imām aš-Šāfiʿī fī maḏhabayhi l-qadīm wa-l-ǧadīd („Der
                                                           Imam aš-Šāfiʿī in seiner alten und neuen Lehre“) die
                                                           Unterschiede zwischen aš-Šāfiʿīs Rechtsbemühungen
                                                           im Irak und später in Ägypten zu relativieren und zu
                                                           nivellieren versucht, geht in diesem Zusammenhang
                                                           von 18 klaren Meinungsrevidierungen aus. Inner­
                                                           halb der maliktischen Rechtsschule haben sich
                                                           wiederum geografisch bedingt vier Ausprägungen
                                                           parallel entwickelt, die in Herangehensweise und
                                                           Ausübung differierten: die irakische, die maghrebi­
                                                           nische, die andalusische und die ägyptische.

                                                           d. Beschränkung des normativen Pluralismus
                                                           Das bisher Gesagte soll jedoch nicht als Begrün­
                                                           dung oder gar als Beleg dafür verstanden
                                                           werden, dass die islamische Rechtstradition
                                                           den normativen Pluralismus immer toleriert
                                                           hätte oder – um es mit Thomas Bauers Worten
                                                           zu sagen – stets ambiguitätstolerant gewesen
                                                           wäre. Die Etablierung des Konsenses (iǧmāʿ)
Die Wiederbelebung des vormodernen Geistes des normativen Pluralismus?                                                   13

als Rechtsinstrument, durch das (definitives)
Wissen generiert werden soll, setzte vielmehr                            Abū Ḥanīfa
dem normativen Pluralismus Grenzen. Durch
die Anwendung des iǧmāʿ wurde angestrebt, die                    Abū Ḥanīfa ist einer der bedeutendsten Rechts­
Meinungsverschiedenheiten zu beschränken oder                    gelehrten in der sunnitischen Tradition. Unter
gar die Gemeinschaft (umma) der Muslim_innen                     anderem ist die hanafitische Rechtsschule dafür
auf eine Meinung zu vereinigen. Fragen, über die                 bekannt, dass als Rechtsquellen neben dem
einmal ein Konsens herrschte, wurden durch den                   Koran, Hadith, Konsens und Analogieschluss,
Verweis auf den iǧmāʿ als eindeutig und endgültig                die persönliche Rechtsfindung der Gelehrten
beantwortet deklariert. Ein Beispiel dafür, das                  (Iǧtihād), die Suche nach der besten Lösung für
für Muslim_innen in Europa von Be­deutung sein                   die Gemeinde anerkannt ist.
kann, ist die Frage, ob es den des Arabischen
                                                                 Abū Ḥanīfa an-Nuʿmān b. Ṯābit b. Zūṭā al-Fārisī
unkundigen Muslim_innen erlaubt ist, beim
                                                                 wurde 699 in Kufa geboren, er verstarb 767 in
Pflichtgebet aus einer Koranübersetzung zu lesen,
                                                                 Bagdad. Er war ein Rechtsgelehrter/Jurist und
statt aus dem Original.
                                                                 Theologe des 8. Jahrhunderts (Yanagihashi
                                                                 2007). Sein Name wird als Eponym für die hana­
                                                                 fitische Rechtsschule verwendet.

         Fatwā                                                   Weitere Rechtsgelehrte, deren Namen als Epo­
                                                                 nyme für Rechtsschulen verwendet werden,
 (arabisch:       „Rechtsgutachten, Rechts­                      sind Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī
 meinung“) bedeutet im islamischen Recht                         (geb. 767 in Palästina; gest. 820 in Fustāt) (Scha­
 die von einer muslimischen Autorität                            fiitische Rechtsschule); Abū ʿAbdallāh Aḥmad b.
 erteilte Antwort auf die Anfrage einer/eines                    Muḥammad b. Ḥanbal aš-Šaibānī (geb.  780 in
 Gläubigen nach einer Rechtsauskunft über                        Bagdad; gest. 855 ebd.) (Hanbalitische Rechts­
 ein religiöses oder rechtliches Problem (Tyan/                  schule); Abū ʿAbdallāh Mālik b. Anas b. Mālik b.
 Walsh 2012 [1965]) beziehungsweise auf eine                     Abī ʿĀmir b. ʿAmr b. al-Ḥāriṯ b.Ġaymān b. Ḫuṯayn b.
 bestimmte normative Frage. Denjenigen, der                      ʿAmr b. al-Ḥāriṯ al-Aṣbaḥī (geb. um 711 in Medina;
 die Rechtsauskunft erteilt, nennt man Mufti                     gest. 795 ebd.) (Malikitische Rechtsschule); Abū
 und denjenigen, der um eine Auskunft bittet,                    ʿAbd Allāh Ǧaʿ far ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq (geb.
 Mustaftī (ebd.).                                                699/700 o. 702/703; gest. 765) und Zaid ibn ʿAlī b.
                                                                 al-Ḥusain (geb. 695 in Medina; gest. 740 in Kufa).
Nach Abū Ḥanīfa (gest. 767), wie wir den
Ausführungen des Rechtsgelehrten Muḥammad                       Abū Ḥanīfa ist wohlgemerkt auch der Auffassung,
Ibn Aḥmad as-Saraḫsī (gest. 1090) über das Gebet                dass die Gültigkeit des Pflichtgebets das Zitieren
in seinem Werk al-Mabsūṭ fī l-furūʿ entnehmen                   von etwas Unnachahmlichem, also etwas aus
können, wäre es zulässig, wenn ein_e Perser_in                  dem Koran, voraussetzt. Ihm zufolge geht aber
beim Pflichtgebet den Koran übersetzt in seiner /               die Unnachahmlichkeit des Korans durch die
ihrer Muttersprache liest. Abū Ḥanīfas Schüler                  Übersetzung nicht verloren. Denn diese Un­
Abu Yūsuf (gest. 798) und Muḥammad aš-Šaybānī                   nachahmlichkeit beziehe sich auf dessen Be­
(gest. 805) sprechen sich auch für die Zulässigkeit             deu­tungen. Der Koran sei die urewige und
dieser Praxis aus; sie fügen jedoch die Bedingung               unerschaffene Rede Gottes. Die Sprachen, in denen
hinzu, dass der/die Betende der arabischen Sprache              er sich manifestiere, seien hingegen erschaffen.
wirklich nicht mächtig sein sollte. Als Argu­ment               Mit anderen Worten: Den Koran macht nicht die
zieht Abū Ḥanīfa, so as-Saraḫsī, einen Bericht über             Sprache aus, in der er verkündet wurde, sondern
den persischen Prophetengefährten Salmān al-                    es kommt auf seine Bedeutungen an.
Fārisī aus dem 7. Jahrhundert heran. Demnach                        Dies ist eine Argumentation, in der die ästheti­
soll Salmān seinen Landsleuten eine Übersetzung                 sche Seite des Korans wohl zu kurz kommt.
der ersten Sure (al-Fātiḥa) zur Verfügung gestellt                  Nach as-Saraḫsī habe Abū Ḥanīfa eine kon­
haben, die sie dann beim Gebet verwendeten, bis                 geniale Übersetzung des Korans gemeint. Az-Zarkašī
sie das Arabische beherrschten.                                 (gest. 1392) hebt wiederum hervor, dass Abū Ḥanīfa
                                                                seine Meinung später revidiert habe. Al-Bāqillānī
                                                                (gest. 1013) stellt gar die Authentizität der Mei­nung
                                                                Abū Ḥanīfas infrage.
14                                                                                           DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

         Heute gilt die Nichtigkeit von Pflichtgebeten, die   würden eine überzeitliche Gültigkeit beanspru­
     nicht auf Arabisch gehalten werden beziehungs­           chen. Ihnen solle sich der Zeitgeist (rūḥ al-ʿaṣr) an­
     weise bei denen eine Koranübersetzung verwen­            passen und nicht andersherum.10 Dieses restrikti­
     det wird, als nicht hinterfragbarer Konsens. Dabei       ve Verständnis von iǧtihād ist jedoch irreführend.
     werden den Betroffenen verschiedene Lösungen             Denn gerade beim Vorliegen von autoritativen
     nahegelegt, die von der Option reichen, einen ara­       Texthinweisen bedarf es iǧtihād: Diese Hinweise sind,
     bischkundigen Vorbeter zu organisieren, bis hin zu       wie die oben zitierten Normenverse, nicht immer
     der Pflicht, mindestens die erste Sure auswendig         selbsterklärend. Sie sprechen nicht von selbst, son­
     zu lernen. Eine Wiederbelebung von Abū Ḥanīfas           dern sind interpretationsbedürftig.
     Auffassung scheint angesichts dieses Konsenses                Die Sicht von Ibn Bāz läuft auf eine Beschränkung
     unmöglich.                                               des Spielraums des normativen Pluralismus hin­
                                                              aus und sie ist problematisch, weil sie einen star­
                                                              ren Normativismus propagiert. Sie trägt weder
                                                              dem Kontext Rechnung, auf den die koranischen
              Iǧtihād                                         Normen in der Offenbarungszeit trafen, noch
                                                              den Grundprinzipien, die dahinterstecken und
      (arabisch        , das heißt „Anstrengung, Be­          über die die vormodernen Rechtsgelehrten ent­
      mühung, Eifer“). Der Begriff des iǧtihād hängt          sprechend ihrer jeweiligen Zeit reflektierten. Ein
      mit dem Prozess der Auseinandersetzung                  Paradigmenwechsel scheint hier mehr als gebo­
      und des Verständnisses göttlicher Quellen               ten, und als leitend sollten dabei, unabhängig von
      zusammen und bedeutet die selbstständige                Zeit und Ort, diese Prinzipien fungieren und weni­
      Interpretation der Quellen oder die eigene              ger der Wortlaut einzelner Normenverse. Ein solcher
      Urteilsbildung über rechtlich-theologische              Paradigmenwechsel ist im Sinne des koranisch nor­
      Fragen (Wehr 1985: 210). Er wird zugleich               mativen Gesamtgeists, dessen konkrete Ausformung
      als ein terminus technicus in der islamischen           dann einem steten Wandel und einer regelmäßigen
      Rechtstheorie und Rechtswissenschaft                    Aktualisierung ausgesetzt bleibt.
      verwendet, indem er auch für die Leistung der           Theoretische Konzepte zu einem sich stets aktua­
      Rechtsgelehrten steht, ein begründetes Urteil           lisierenden Verständnis der Normativität des Korans
      über rechtliche und gesellschaftliche Fragen zu         können ihre Signifikanz nur dann entfalten, wenn sie
      bilden. Er ist die Abkürzung für den Ausdruck           über ihre theologisch akademische Entstehungswelt
      iǧtihād ar-raʾy, der übersetzt „Bemühung um ein         hinaus den Sprung in die Gemeinschaft schaf­
      eigenes Urteil“ bedeutet (Hallaq 1997: 15).             fen. Parallel dazu bedarf es also vor allem der
                                                              Entwicklung ausgeklügelter religionspädagogi­
                                                              scher und -didaktischer Zugänge, die in modernen
     Die Beschränkung des normativen Pluralismus              Gesellschaften etwa Schüler_innen im Islamischen
     dauert bis in die Gegenwart an, wie sich in den          Religionsunterricht dazu befähigen, in religiöser
     Ausführungen mancher Akteur_innen beobach­               Mündigkeit und in reflektierendem Dialog einerseits
     ten lässt, die dem ultrakonservativen Milieu zuzu­       mit ihrer pluralistisch geprägten Tradition, anderseits
     ordnen sind und durch Online-Portale eine große          mit ihrem auf Säkularität und Rechtsstaatlichkeit fu­
     Reich­weite erzielen. Der Pluralismus wird dort nicht    ßenden Lebenskontext den normativen Gehalt des
     per se geleugnet; es wird aber suggeriert, dass er       Korans zu erkennen und einzuordnen.
     sich nur auf Rechtsfälle beschränke, für die kein
     autoritativer Hinweis aus dem Koran oder dem
     Hadith zu finden sei und die daher der Anwendung
     des iǧtihād, also des eigenständigen Räsonierens,
     bedürfen.
         Dies zeigen etwa die Erläuterungen des saudi­
     schen Gelehrten ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz zu dem Spruch
     „lā iǧtihād maʿa n-naṣṣ“. Damit sei gemeint, dass iǧ-
     tihād nur dann nötig sei, wenn Koran und Hadith
     über einen Fall nichts aussagen. Darüber beste­
                                                              10 Siehe auf der offiziellen Webseite des Gelehrten: https://bin-
     he unter den Gelehrten Konsens. Die autoritativen
                                                                 baz.org.sa/fatwas/1335/%D8%AD%D9%83%D9%85%D8%A7
     Hinweise seien gegen iǧtihād hingegen immun. Die            %D9%84%D8%A7%D8%AC%D8%AA%D9%87%D8%A7%D8%A
     ihnen innewohnenden Normen und Rechtsfolgen                 F%D9%85%D9%82%D8%A7%D8%A8%D9%84%D8%A7%D9%
                                                                 84%D9%86%D8%B5
Zugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland                                                       15

Zugänge zu Normenversen im Islamischen
Religionsunterricht in Deutschland

Ausgehend von den textwissenschaftlich-philo­                      Die so angestoßenen Diskussionen könnten ei­
sophischen sowie rechtswissenschaftlichen Dar­                     nen Gesprächsbedarf von Schüler_innen offen­
legungen ergibt sich die Frage, welche Konse­                      legen, der bei entsprechender pädagogischer
quenzen sich daraus für die religionspädagogische                  Begleitung nicht unbedingt unterbunden werden
Praxis ableiten lassen. Um diese zu behandeln                      muss. Im Gegenteil: Gerade das von Schüler_in­
werden im Folgenden didaktische Perspektiven                       nen gezeigte Interesse an Normenversen kann
auf bisherige theoretische Überlegungen für das                    als Lernanlass genommen werden, um vorhande­
Praxisfeld des Islamischen Religionsunterrichts                    ne Fehlkonzepte und Erkenntnislücken zu thema­
formuliert. Dabei soll Lehrenden des Unterrichts­                  tisieren und Lernende auf ihrem Weg hin zu mehr
fachs eine didaktische Orientierung bezie­                         religiöser Mündigkeit zu begleiten. Denn würde
hungsweise Anregung dafür gegeben werden,                          der Religionsunterricht solche herausfordernden
wie im Unterricht mit den eingangs erläuter­                       Gespräche nicht zulassen, liefe er Gefahr, Schüler_
ten Normenversen umge­gangen werden kann,                          innen mit diesen Themen sich selbst zu überlassen.
die Themen wie Geschlechterdifferenz oder den                          Wie Schüler_innen beim Thema des Umgangs
Umgang mit Andersgläubigen zum Gegenstand                          mit Normenversen angemessen pädagogisch be­
haben. Sie gewinnen auch dadurch an pädagogi­                      gleitet werden können, bildet die Leitfrage für die
scher Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass                     nachfolgenden prinzipiellen Überlegungen zur
Schüler_innen von sich aus diese Themen in den                     Unterrichtsgestaltung.
Religionsunterricht einbringen.

          Islamischer Religionsunterricht11

 Der Islamische Religionsunterricht (IRU) ist ein                  Art. 7 Abs. 3 GG:
 Religionsunterricht nach Maßgabe des Grund­                       „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen
 gesetzes (Art. 7 Abs. 3 GG). Er ist ein Religions­                mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentli-
 unterricht, der entsprechend den Grundsätzen                      ches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichts-
 der betreffenden Religionsgemeinschaft an                         rechtes wir der Religionsunterricht in Übereinstimmung
 öffentlichen Schulen in der Bundesrepublik                        mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
 Deutschland erteilt wird. Der Staat ist hierbei der               erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet
 Organisator des Religionsunterrichts, doch die                    werden, Religionsunterricht zu erteilen.“
 inhaltliche Verantwortung obliegt den jeweiligen
 Religionsgemeinschaften. Jedoch muss der IRU                      Da Bildung Ländersache ist, gibt es weder
 den Anforderungen eines staatlichen Lehrfachs                     eine einheitliche Einrichtung des islamischen
 entsprechen.                                                      Religions­unterrichts für alle deutschen Bundes­
                                                                   länder noch wird überall ein solcher bekenntniso­
                                                                   rientierter Religionsunterricht für Mus­lim_innen
                                                                   an den Schulen angeboten.

11 Detaillierte Informationen über den islamischen Religionsun-
   terricht in den einzelnen Bundesländern und über die Debatten
   rund um den islamischen Religionsunterricht können in der
   AIWG Expertise „Islamischer Relgionsunterricht“ nachgelesen
   werden. Diese ist abrufbar unter: https://aiwg.de/wp-content/
   uploads/2020/12/AIWG-Expertise-Isamischer-Religionsunter-
   richt-in-Deutschland_Onlinepublikation.pdf
16                                                                                  DIE NORMATIVITÄT DES KORANS

     a. Z
         ur Artikulation von                              eigene Leben haben. Vor diesem Hinter­grund ist die
        Begründungszusammenhängen befähigen                Frage zu stellen, inwieweit bestimm­te Verse über­
     Für eine reflektierte Auseinandersetzung mit nor­     haupt von Bedeutung für die Lebens­realität der
     mativen Glaubensaussagen ist es maßgeblich, dass      Lernenden sind. In diesem Zusammenhang wich­
     diese argumentativ erfasst und kommuniziert wer­      tig erscheint auch das gemeinsame Reflektieren
     den. So impliziert das eingangs erwähnte Beispiel     darüber, welche Form des Zusammenlebens aus
     aus dem Erbrecht eine gewisse Vorstellung von         Sicht der Schüler_innen in einer Gesellschaft über­
     Geschlechtergerechtigkeit. Schüler_innen zu be­       haupt erstrebenswert ist, sowie darüber, wel­
     fähigen, Begründungszusammenhänge zu arti­            che Freiheiten die rechtsstaatliche Ordnung dem
     kulieren, bedeutet hier, sie dazu einzuladen, ihre    Individuum und der muslimischen Gemeinde für
     Vorstellungen von Gerechtigkeit zu formulieren.       eine religiöse Lebensführung ermöglicht.
     Was ist Gerechtigkeit, was bedeutet es, gerecht zu
     handeln, und wann ist eine Handlung ungerecht?        c. P
                                                               luralität der Perspektiven
     Wie sieht gerechte Verteilung aus und woran wird         thematisieren und wertschätzen
     diese gemessen? Gerade Normenverse bieten sich        Pluralitätskompetenz ist eines der wesentlichen
     an, um mit Schüler_innen über ihre Vorstellungen      Ziele des Religionsunterrichts. Das bedeutet zu­
     von Moral und Gerechtigkeit ins Gespräch zu kom­      nächst, als Lehrperson dem breiten Horizont an
     men. Lehrkräfte begleiten die Schüler_innen beim      Deutungsmöglichkeiten im Sinne eines Beitrags zur
     Mitteilen von Sichtweisen hierbei als Moderator_in­   Erziehung zu Demokratie- und Pluralitätsfähigkeit
     nen. Dabei unterstützen die Lehrkräfte einerseits     positiv gegenüberzustehen. Es heißt dann aber
     die Lernenden dabei, ihre formulierten Zugänge        auch, Schüler_innen dabei zu begleiten, Pluralität
     verständlich und nachvollziehbar zu begrün­           im Glauben als etwas Positives und Wertvolles
     den. Andererseits stehen die Lehrkräfte vor der       wahrzunehmen. Hierzu kann man an die ein­
     Herausforderung, Sichtweisen, die außerhalb der       schlägigen islamtheologischen Arbeiten zur
     Grenzen der Rechtsstaatlichkeit stehen, in ihrer      Deutungspluralität als charakteristisches Merkmal
     Gültigkeit und Legitimität zu entkräften.             des islamischen Normensystems anknüpfen.
                                                               Mit Blick auf die in den Normenversen be­
     b. S
         inngebendes Anknüpfen an die                     handelten Themen bedeutet das zum einen, den
        Lebensrealitäten der Schüler_innen                 unterschiedlichen Verständnisweisen der Schü­­­­­ler_
     Lernende sollen im Religionsunterricht dazu be­       innen im Unterricht bejahend gegenüberzu­stehen.
     fähigt werden, nach dem Sinn zu fragen. Dies          Zum anderen bedeutet dies, den vorhandenen
     bedeutet einerseits, bereits konstruierte Be­         Interpretations- und Normativitätspluralismus
     deutungsdimensionen von Glaubensaussagen zu           unter den Gelehrten bei der Behandlung von
     berücksichtigen, und andererseits, neu Erlerntes      Normen­­versen im Unterricht zumindest exem­
     in die eigenen Deutungsperspektiven zu integrie­      plarisch aufzuzeigen. Dazu dient es der eigenen
     ren. Hierfür ist es gerade notwendig, Lernende        Horizonterweiterung, in groben Zügen die Gesell­
     dazu zu ermutigen, über subjektive Sinnzugänge        schaftsordnung auf der Arabischen Halbinsel des
     zu reflektieren. Sinnstiftung erfolgt dort, wo die    7. und 8. Jahrhunderts nachzeichnen zu können
     Lebensrealität von Lernenden tangiert wird.           und ins Verhältnis zur hiesigen Gesellschaft in
         Bei der Behandlung der Themen von Normen­         der heutigen Zeit zu setzen. Dabei erhalten die
     versen kann zum einen an die Lebensrealität der       Lernenden die Möglichkeit, die eigene Perspektive
     Lernenden angeknüpft werden, indem man ihnen          im Lichte dieser Verhältnissetzung zu reflektieren
     im Unterricht die Möglichkeit bietet, über eigene     sowie in Relation zu den diskutierten unterschiedli­
     Erfahrungen zu sprechen. Zum anderen erscheint        chen Lesarten zu betrachten. So bietet es sich bei
     gerade die Erörterung des historischen und gesell­    der Thematisierung von Geschlechtergerechtigkeit
     schaftlichen Kontextes der Normenverse für de­        am Beispiel des Erbschaftsverses an, entlang der im
     ren Verständnis notwendig, will man ihre tiefere      ersten Abschnitt erörterten Verhältnis­bestimmung
     Bedeutung erschließen. Hierbei bietet es sich an,     von Normativität und gesellschaft­licher Ordnungs­
     am Beispiel des oben genannten Erbschaftsverses       modelle vergleichend über Geschlechter­konzep­
     Schüler_innen dabei zu begleiten, sich zunächst ih­   tionen zur Zeit der Offenbarung und im heutigen
     rer eigenen Familienkonstellation bewusst zu wer­     Deutschland und Europa zu reflek­tieren. Denn
     den, um in einem weiteren Schritt darüber reflek­     erst vor dem Hintergrund der Analyse der
     tieren zu können, welche Implikationen die im Vers    Gesell­schaftsverhältnisse zur Zeit des Offen­
     thematisierten Erbschaftskonstellationen für das      barungs­verses wird ein tieferes Verständnis des
Zugänge zu Normenversen im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland                                             17

Bedeutungssinns der koranischen Erbschafts­                    Klärung von zentralen Begriffen notwendig, um
konstellationen möglich und können zeitgenössi­                aufzuzeigen, wie Verstehensprozesse innerhalb
sche theologische Handlungsoptionen diskutiert                 der islamischen Gelehrsamkeit historisch ge­
werden. Die Auslegungsvielfalt inner­halb der                  neriert wurden und wie diese, wie im zweiten
islamischen Theologie mitsamt der Selbstver­-                  Abschnitt skizziert, vom jeweiligen gesellschaft­
­ständ­lichkeit von Meinungspluralität in muslimi­             lichen Kontext abhängig waren. Am Beispiel des
 schen Fachkreisen kann hierdurch vermittelt                   Erbschaftsverses könnte dies bedeuten, unter­
 werden.                                                       schiedliche Begriffskategorien, die das Thema
                                                               Erbschaft tangieren, in den Fokus der unterricht­
d. S
    tellungnahme und                                          lichen Bearbeitung zu stellen. Denn auch wenn
   Positionierung ermöglichen                                  das Thema der Erbschaft eine geringe unmittel­
In enger Verbindung zum letzten Punkt steht die                bare Relevanz für junge Heranwachsende hat, so
Aufgabe, Lernende zur Einnahme von eigenen                     impliziert die koranische Erbschaftskonstellation
Standpunkten zu befähigen. Denn wenn Schü­                     Vorstellungen von Verantwortung, Gerechtigkeit,
le­r_innen im Religionsunterricht mit unterschied­             Geschlechterdifferenzierungen und Eigentum, die
lichen Aus­legungen konfrontiert werden, so ergibt             wiederum normative Spannungsfelder behandeln,
sich daraus der Anspruch, in Lebenssituationen                 welche nahe an der Lebensrealität von Schüler_
Position zu beziehen. Folglich stellt sich die Frage           innen liegen. Mit den Lernenden exemplarisch
für den/die Einzelnen, wie mit der dargestellten               die Implikation dieser Bedeutungsdimensionen
Pluralität im Unterricht umzugehen ist.                        bei der Thematisierung des Erbschaftsverses
     Das bedeutet für die Lehrperson, Schüler_in­              zu reflektieren, ermöglicht es, anhand die­
nen dabei zu unterstützen, sich in der Vielfalt von            ser Spannungsfelder das Zustandekommen des
Interpretationsmöglichkeiten zu orientieren, und               Normativitätspluralismus innerhalb der islami­
sie innerhalb des islamischen Wertehorizonts zur               schen Theologie aufzuzeigen.Darüber hinaus
Einnahme einer eigenen begründeten Position                    ist mit Schulung religiöser Ausdruckfähigkeit
zu befähigen. Dabei ist jedoch zu vermitteln, dass             gemeint, sich mit der inhärenten Symbolik
auch andere Meinungen, sofern sie fachlich theo­               von Ausdrücken reflektierend auseinander­
logisch argumentieren, ihre Legitimität haben                  zusetzen: Was bringt die unterschiedliche
können und das eine Wertung von Positionen in                  Erbschaftsverteilung zum Ausdruck? Welche
richtig/falsch unzulässig ist. Zumal die vormo­                Erwartungen stellte der Koran zur Zeit der
derne Rechtsgelehrsamkeit für den normativen                   Offenbarung an die Erbenden? Und welche
Pluralismus offen war. Das bedeutet aber, zuerst               Bedeutung wird dem Besitz im Koran überhaupt
die Interpretationsbedürftigkeit von Normenversen              zugesprochen? Dies meint auch, die emotio­
zu vermitteln, um sodann mit den Lernenden die                 nale und soziale Dimension unterschiedlicher
zentrale Frage zu diskutieren, welche fachlich theo­           Deutungsperspektiven mit zu berücksichtigen.
logisch fundierten Deutungsperspektive(n) mit den              Bei der Reflexion über diese und ähnliche Fragen
Normen und Werten in einer pluralen demokra­                   kann den Lernenden Raum gegeben werden,
tischen Gesellschaft korrespondieren können.                   um sich auf vielfältige Weise über Gedanken und
                                                               Gefühle zu verständigen.
e. Religiöse Ausdrucksfähigkeit ermöglichen
Religiöse Ausdrucksfähigkeit meint zum einen                   f. R
                                                                   eligiöse Praxis einüben
die fachsprachliche Kompetenz, um sich über be­                Dieser Aspekt beruht auf der Beobachtung, dass
stimmte Begriffe und Symbole verständigen zu                   muslimische Schüler_innen häufig eine star­
können. Zum anderen sollen Lernenden gerade im                 ke Heterogenität hinsichtlich ihrer religiösen
Religionsunterricht Möglichkeiten geboten wer­                 Grundhaltungen und Vorkenntnisse aufweisen,
den, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und                      was oft auf Traditionsabbrüche sowie auf die
Eindrücke auf vielfältige Weise zum Ausdruck zu                unterschiedlich starke religiöse Sozialisation
bringen.                                                       durch Familien und Moscheegemeinden zurück­
    Für die Erörterung von Normenversen im                     geführt werden kann. Dieser Heterogenität im
Religionsunterricht ergibt sich zum Beispiel die               Unterrichtsgeschehen gerecht zu werden, eröff­
Möglichkeit, Lernenden dazu zu verhelfen, sich ei­             net die Chance, durch einen pädagogisch bewuss­
nen ersten Eindruck darüber zu verschaffen, wie                ten Umgang einen Beitrag für den Zusammenhalt
unterschiedliche Verstehenshorizonte überhaupt                 der Gesellschaft und für die Festigung von Demo­
zustande kommen. Hierfür ist die exemplarische                 kratie und Zivilgesellschaft zu leisten. Ein auf die
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