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Online Encyclopedia Philosophy of Nature Online Lexikon Naturphilosophie © Human-Animal Studies Mieke Roscher Der Fokus der Human-Animal Studies liegt auf einer Analyse der kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen in der Betrachtung von nicht-menschlichen Tieren sowie Mensch-Tier-Beziehungen. Insofern handelt es sich bei den Human-Animal Studies weniger um ein eigenes Feld, als vielmehr um eine multi- disziplinäre Forschungsagenda, die unter Zuhilfenahme eines interdisziplinären Forschungsprogrammes und Methodenapparates die Auswirkung menschlichen Handelns auf die Lebensbedingungen nicht- menschlicher Lebewesen zu untersuchen gedenkt und gleichzeitig die Wirkmächtigkeit der Tiere in Bezug auf menschliche Gesellschaften betont. Ihnen ist es ein Anliegen, die gezogenen Grenzen zwischen Natur und Kultur zu durchbrechen und stattdessen die Kulturhaftigkeit tierlichen Seins herauszustellen. Sie interessieren sich sowohl dafür, was die Grenzlinien zwischen den Spezies eigentlich bedeuten und mit was für sozialen, zum Teil auch naturethischen Folgen sie behaftet sind, als auch dafür, ob und gegebenenfalls wie es möglich sein kann, aus einem nicht-anthropozentrischen Blickwinkel auf Tiere zu schauen. Um diese Anliegen der Human-Animal Studies darzustellen, stellt der Eintrag genealogisch bestimmte Entwicklungen eines Feldes vor, das durchaus noch durch seine disziplinäre Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Präsentiert werden die Debatten entlang der für das Feld bestimmenden Frage nach dem Leben und dem Dasein von Tieren und danach, wie diese erfahrbar gemacht werden können. Anhand der Kategorien Repräsentation/ Semiotik, Agency, Relationalität, Praxis/Praktiken und Materialität werden einschlägige Diskursfelder der Human-Animal Studies präsentiert, womit gleichzeitig umrissen ist, wie Tier-Mensch Beziehungen in diesem Feld forschungspraktisch gerahmt werden. Zitations- und Lizenzhinweis Roscher, Mieke (2021): Human-Animal Studies [deutschsprachige Fassung]. In: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie. ISSN 2629-8821. doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743. Dieses Werk ist unter der Creative Commons-Lizenz 4.0 (CC BY-ND 4.0) veröffentlicht. Untersuchung von Tier-Mensch-Beziehungen. Damit 1. Einleitung wollten die Pioniere und Pionierinnen des Feldes Das Aussterben einer großen Anzahl von Arten, das Zeit- zunächst einen theoretischen Beitrag zur Analyse von alter der „Extinktion“, hat zahlreiche ethisch-kritische Tier-Mensch-Verhältnissen liefern (DeMello 2012; Fragen nach dem Zusammenleben des Menschen mit Roscher 2012; Waldau 2013; Marvin/McHugh 2014), anderen Spezies auf diesem Planeten aufgeworfen, der in den letzten Jahren jedoch durch zahlreiche nicht zuletzt die Frage, wie sich das epochal gedeutete empirische Arbeiten ergänzt worden ist (z.B. Swart Anthropozän langfristig sozial und kulturell auf das 2010; Benson 2013; Bull et al. 2017; Reinert 2020). Verhältnis menschlicher Gesellschaften zu Tieren aus- Der Fokus der Human-Animal Studies liegt auf einer wirken wird (van Dooren 2018). Durchaus inspiriert von Analyse der kulturellen, politischen und gesellschaft- dieser kritischen Perspektive auf die Ko-Habitation der lichen Dimensionen in der Betrachtung von nicht- Spezies, die als krisenhaft gedeutet wird, fokussieren menschlichen Tieren sowie Mensch-Tier-Beziehungen. ungefähr seit den 1990er Jahren die interdisziplinären Das heißt, sie distanzieren sich von einer Sichtweise, die Human-Animal Studies die Verflechtung zwischen Tiere in den Raum der Natur verbannt bzw. Tiere auf Tieren und Menschen, und bemühen sich um eine ihre biologischen Funktionen reduziert. Mit einem Neuperspektivierung der Forschung in Bezug auf die interdisziplinären Hintergrund, der vor allem kultur-
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 und sozialwissenschaftlich geprägt ist, nutzen sie ihren beeinflusste (Steinbrecher 2015). Ihre Inspiration ziehen methodischen Werkzeugkasten, der auf die Analyse die Human-Animal Studies somit auf der einen Seite menschlicher Gesellschaften und ihrer kulturellen Ver- „aus einer Unsicherheit, die die rein naturwissenschaft- fasstheit ausgelegt ist, und applizieren ihn auf Tiere liche Erforschung von Tieren nicht mehr als hinreichend bzw. genauer auf Mensch-Tier-Beziehungen. Ihnen ist zur Erklärung tierlichen Lebens und Verhaltens“ (Krebber/ es somit ein Anliegen, die gezogenen Grenzen zwischen Roscher 2016: 12) erkennt, zum Beispiel wenn es um Natur und Kultur zu durchbrechen, indem sie auf die Fragen nachdrücklicher Verhaltensänderungen durch epistemologische und ethische Verkürzung eines ein- gegenseitige Annäherungen von Spezies im Zuge des seitig anthropozentrischen Blicks verweisen. Inwieweit Domestikationsprozesses geht (Russell 2014). Auf der eine andere, weniger auf den Menschen bezogene anderen Seite verweisen sie auf „die gewichtige Rolle, Perspektive möglich ist, gehört dabei zur zentralen Frage- die Tiere schon immer für die Entwicklung menschlicher stellung und methodischen Herausforderungen des Gesellschaften gehabt haben“ (Krebber/Roscher 2016: Feldes. Zudem soll auf die biopolitischen Implikationen 12), zum Beispiel im Umbruch von einer agrarischen zu dieser Grenze hingewiesen werden, das heißt heraus- einer industriellen Gesellschaft. arbeitet werden, welche Techniken der Macht(aus- übung) über das Verhältnis von Menschen zu Tieren 2. Gegenstandsbereich: eingeübt, deutlich gemacht und konsolidiert werden Inklusionen und Abgrenzungen (Asdal et al. 2016; Wadiwel 2018) Die erkenntnis- theoretische Forschung an, mit und über Tiere ergänzt Die Human-Animal Studies sind insgesamt ein junges und erweitert zoologisch-biologische oder ethologische Forschungsfeld, das historische genauso wie gegen- Erkundungen im Hinblick auf die Allgegenwärtigkeit wärtige Mensch-Tier-Beziehungen in den Blick nimmt von Tierdarstellungen, -symboliken und -geschichten und sich auf die Agenda geschrieben hat, informiert sowie im Hinblick auf die physische Anwesenheit auch durch die kognitive Ethologie sowie die Umwelt- von Tieren in menschlichen Gesellschaften. So werden und Lebenswissenschaften, den kulturellen Raum zu beispielsweise – über eine räumliche Analyse des kartieren, den Tiere, ihre symbolischen Repräsentationen Zusammenkommens von Menschen mit Tieren in und leib-körperlichen Existenzen sowie ihre subjektiven der seit dem 19. Jahrhundert in der westlichen Welt Erfahrungsmöglichkeiten bei der Formierung mensch- verbreiteten Gestaltung des gemeinsamen Wohnens licher Gesellschaften und einer gemeinsamen, kulturell mit Heimtieren oder in der künstlichen Welt des Zoos – geprägten Umwelt haben und gehabt haben (Emel/ die äußeren Bedingungen von Speziesannäherungen Taves 2018). mit den emotionalen Verflechtungen und der sozialen Dabei ist das Feld der Human-Animal Studies geprägt Akzeptanz der Begegnungen erkundet (Wischermann von beständiger Weiterentwicklung. Waren es zunächst 2017). sozialwissenschaftliche Studien, die sich mikrosoziolo- Der Ansatz der Human-Animal Studies privilegiert gisch oder psychologisch etwa für das Zusammenleben dabei einen Blick „von Nahem“ (Latour 2018: 87) bzw. mit unseren Heimtieren interessiert haben, und anthropo- von unten und arbeitet empirisch auf der Mikroebene logische Studien nicht-westlicher Gesellschaften, die des alltäglichen Zusammenlebens verschiedener die Theoriebildung angestoßen haben, findet ein großer Spezies, von denen der Mensch nur eine ist, heraus, Anteil der Forschung nun eher in den Geistes- und Kultur- welchen materiell-semiotischen Einfluss unterschied- wissenschaften, den Geschichts- und Literaturwissen- liche Spezies auf kulturelle Praktiken, gemeinsam schaften, der Philosophie und der Ethnologie statt. genutzte Räume und gesellschaftliche Interaktionen Sozialwissenschaftliche Zugänge wurden um ökonomi- haben und hatten (Buller 2015: 379). Untersucht wird sche, juridische und makrosoziologische Perspektiven beispielsweise, wie der gemeinsame Spaziergang von erweitert. Menschen und Hunden als eine Kulturtechnik, die im 18. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die methodi- Jahrhundert aufkam, sich sowohl auf die Infrastruktur schen Zugriffe ausdifferenziert, wobei insbesondere der Landschaft physisch auswirkte als auch den Multi-Spezies-Ansätze, in denen die Beobachtungs- Stellenwert der Hund-Mensch-Beziehung nachhaltig perspektive auf zwei oder mehr Spezies gleichzeitig Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 2
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 zielt, bzw. interspezifische Herangehensweisen, die auf Klima ebenso wie wirtschaftliche und soziale Struktu- Beziehungen zwischen Individuen oder Populationen ren in den Blick nehmen muss, die wiederum epochen- unterschiedlicher Arten fokussieren, erörtert werden. übergreifend zu lesen sind (Hill 2013). Diese wirken in den einzelnen Disziplinen, die von den Bei allen disziplinären Unterschieden ist den ver- Human-Animal Studies beeinflusst werden, mit jeweiligen schiedenartigen Human-Animal Studies gemeinsam, Fokusverschiebungen nach. In den historisch orientierten dass sie sich um eine Dezentrierung des Menschen, um Human-Animal Studies geht es beispielsweise darum, eine Wissenschaft „beyond the human“ (Cudworth/ mit historischem Blick das dynamische, interaktive Hobden 2013) bemühen, ohne aber die Menschen ganz Verhältnis von Menschen und Tieren zu beleuchten, die aus den Augen zu verlieren, sondern um ihn im Gegen- Wirkmacht letzterer zu historisieren und die materiellen teil als Teil einer multirelationalen Gemengelage zu Folgen des Zusammenlebens für die Tiere selbst einer begreifen. Für einige Forscherinnen und Forscher, die genaueren Untersuchung zu unterziehen (Roscher häufig eher ideologisch argumentieren, geht jedoch 2018). Die literaturwissenschaftlich geprägten Cultural diese Dezentrierung nicht weit genug; denn sie sehen and Literary Animal Studies versuchen ihrerseits, eine auch in solchen dezentrierenden Human-Animal Studies rein auf Motivik fokussierte Lesart des literarischen und ihren Methoden lediglich eine Verlängerung eines Textes zu überwinden, und sehen im literarischen Tier humanistischen Wissenschaftsideals, weil aus der Fest- ein besonderes Forschungsobjekt, das stets in Relation stellung des Anthropozentrismus keine grundsätzlich mit seiner Umwelt und seinem Subjektcharakter, also politischen Konsequenzen gezogen würden, die sich dem Charakter für das es überindividuell steht, zu lesen aktiv in einer Aufwertung der Tierwelt äußern müsste ist (McHugh 2009; Borgards 2015). Zum Beispiel werden (Wolfe 2009). Diese unter der Rubrik Critical Animal Textgattungen verglichen und auf ihre unterschiedliche Studies als eine Art „Standpunktwissenschaft“ (Krebber Ausformung tierlicher Symbolizität hin untersucht. 2018: 313) firmierende Stoßrichtung ist mehr noch Indem den Tieren eine Art Ko-Autorschaft zugesprochen als andere Strömungen in den Human-Animal Studies wird, brechen die literaturwissenschaftlichen Tierstudien geprägt von intersektionellen Fragestellungen und zudem mit allzu linearen Darstellungen von Sendern inspiriert von einer posthumanistischen Auslegungs- und Empfängern. Die Animal Geography fokussiert auf matrix. Der Begriff Human-Animal Studies droht des- die sozio-spatiale Vermessung der von Menschen und halb bisweilen unspezifisch zu werden, weil er sowohl Tieren genutzten Räume (Buller 2014; Gillespie/Collard als Klammerbegriff benutzt wird, um all diejenigen 2017), während die Multi-Species Ethnography mit der Forschungen zu benennen, die sich im weiteren Sinne Annahme einer immer schon gegebenen Vernetzung den Tier-Mensch-Beziehungen widmen, einschließlich und Untrennbarkeit von Menschen mit anderen Lebens- dem eben genannten kritisch-politischen Ansatz, formen neue ethnografische Methoden entwickelt wie auch als eigenständiger Forschungsansatz, der (Locke/Münster 2015). Letztere will sowohl die Wirk- Menschen und Tiere gleichermaßen betrachten will. macht wie auch die Erfahrungswelten anderer Spezies Es ist folglich noch nicht endgültig definierbar, ob es berücksichtigen und damit Anthropologie und Ethologie sich bei dem Feld um eine bestimmte Perspektive bzw. nicht mehr als separate Felder mit gänzlich unter- „Forschungshaltung“ (Borgards 2016: 5) oder nicht schiedlichen Zugängen betrachten. Archäozoologische doch eher um „eine Art supradisziplinären Forschungs- Studien schließlich, die über die stofflich-körperlichen organismus“ (Krebber/Roscher 2016: 11) handelt, der Überreste von Tieren in Form von Knochen, Federn, Fell an alle Disziplinen gleichermaßen neue Fragen stellt etc. Rückschlüsse auf frühere menschliche Gesellschaften und neue Impulse liefert. und ihre interspezifischen Kontakte mit Tieren ziehen Wie die obige Betrachtung zeigt, haben sich also wollen, verweisen auf die longue durée des Forschungs- durchaus so etwas wie Schulen herausgebildet, die sich feldes, das heißt auf die Beobachtung der langfristigen in ihrem erkenntnistheoretischen Anspruch, ihrem Entwicklungen der Beziehungen, die sich eben nicht politischen Ansinnen und ihren empirischen Umsetzun- mehr primär entlang bedeutender Ereignisse und gen unterscheiden, die sich über diese Unterscheidung Protagonisten und Protagonistinnen erzählen lässt, dennoch und trotz aller Fragmentation des Feldes sondern stattdessen auch Faktoren wie Landschaft und insgesamt eine gewisse Kontur zu geben vermocht Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 3
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 haben. Neben den bereits genannten Critical Animal nicht nur Tiere im engeren Sinne, sondern auch andere Studies und den Cultural and Literary Animal Studies Lebewesen wie Pilze und Pflanzen mitberücksichtigen zeigt sich dies besonders in den Multi-Species Studies (Tsing 2012). Eine andere, eher forschungspraktische und der Tiergeschichte. Allen ist allerdings gemein, dass Perspektive konzentriert sich hingegen auf jene Tiere, sie der präfigurierten, dualistischen Betrachtung von die in engem Kontakt mit Menschen leben, in der Regel Tieren und Tier-Mensch-Beziehungen neue Perspektiven also Heim- und Nutztiere, und fast immer auf Säuge- entgegensetzen, die quer zu klassischen Grenzziehungen tiere. Diese Tiere verfügten, so wird hier attestiert, über verlaufen und Beziehungen jenseits der Kategorien Du-Evidenz, das heißt sie seien fähig, aktive und rezi- Mensch, Natur, Kultur und Tier neu entwerfen. Mit der proke Beziehungen mit den Menschen aufzubauen. Bei Ausrufung des Animal Turn durch die Historikerin diesen Tieren wird zudem eine Form von Individualität Harriet Ritvo im Jahr 2007 hat diese Entwicklung an und damit eine gewisse Biografiefähigkeit voraus- Zugkraft gewonnen (Ritvo 2007). Der Animal Turn hat gesetzt (Gutjahr/Sebastian 2013: 64 f.; Krebber/Roscher disziplinübergreifend dazu geführt, Tiere als in soziale 2018), und es muss nicht erst bewiesen werden, dass Strukturen einer Interspezies-Gesellschaft mit Menschen sie zweifelsfrei Bestandteil der Mensch-Tier-Sozialität eingebunden zu begreifen und somit neue Fragen nach sind. Aus Sicht der Critical Animal Studies wird dies oft dem hieraus folgenden Status von Tieren zu stellen. als Beweis dafür gelesen, dass auch den Human-Animal Studies nicht alle Tiere gleich sind und sie somit in einer speziesistischen Hierarchisierung verfangen bleiben. Sie 3. Fragen der Human-Animal Studies würden somit nicht dem politisch-egalitärer Anspruch genügen, der die Frage nach dem Platz der Tiere in der 3.1 Wer ist Tier? wissenschaftlichen Auseinandersetzung aber zwangs- Das Themenfeld der Tier-Mensch-Beziehung berührt läufig mit sich bringe. Der relationale Ansatz, der von den Fragen, die methodischer wie theoretischer und hier Human-Animal Studies stark gemacht wird, antwortet auch wissensphilosophischer Natur sind und durchaus auf derlei Kritik einerseits mit dem Hinweis, dass erst praktische und empirische Konsequenzen für die an grundsätzlichere theoretische Fragen zu klären waren, ihnen interessierten Disziplinen haben. Insbesondere ehe man sich der komplizierteren, weil weniger doku- die Frage nach dem Subjektstatus und der Subjekt- mentierten Beziehungen zu Insekten, Amphibien und haftigkeit von Tieren und des tierlichen Selbst, die „im Fischen annehmen könnte. Eine Debatte darum, in- Kern um die gesellschaftliche Konstruktion der Wertigkeit wiefern Tiere Produzentinnen und Produzenten ihrer tierischen Lebens“ (Wischermann 2009: 10) zirkulieren, eigenen Erfahrungen sind, sei daher keine bloß mehr sind zwar zentral für die Diskussion darum, wen die ethische, sondern eine ganz praktische (de Giorgio 2016: Human-Animal Studies in den Fokus ihrer Analysen 169): Die Erfassung der unterschiedlichen Erfahrungs- stellen wollen, diese Fragestellung wird jedoch meist horizonte ließe sich eben vor allem über die Beziehungen nicht explizit gemacht. „Das Tier“ als Sammelbegriff für zum Menschen rekonstruieren. Da sich beispielsweise alles, was nicht-menschlich ist, so mag es zumindest die Beziehung zu Hunden oder Pferden über einen langen den Anschein haben, fungiert auch in den Human-Animal historischen Zeitraum mit unterschiedlichem Quellen- Studies noch als ein unbestimmtes „Anderes“, in das material aufarbeiten und belegen ließe, stünden sie eben jede Andersartigkeit vom Menschen projiziert natürlicherweise im Mittelpunkt. wird, als ein fast hermetisches, essenzialisiertes, Auch in der aktuellen Forschungsdiskussion sind mit ontologisches Gegenüber zum Menschen. Allerdings hat dem Tierbegriff – zumindest empirisch mit Blick auf die sich in den letzten Jahren eine deutlich wahrnehmbare tatsächliche Forschungspraxis – nicht alle Tiere gemeint Debatte darüber entspannt, was unter den Begriff (genauso wie mit dem Menschenbegriff oft lange des „Nicht-menschlichen Anderen“ zu subsumieren sei. Zeit nur eine bestimmte Instanz der Spezies Mensch Diese Debatte hat mehrere, sich teils entgegenstehende gemeint war, nämlich der weiße, männliche Europäer). Perspektiven hervorgebracht. Eine dieser Perspektiven, Allerdings haben sich die Human-Animal Studies bei die etwa von den Multi-Species Studies oder den der Frage, wer Tier im Sinne des zu untersuchenden Environmental Humanities favorisiert wird, möchte Subjekts ist, mit einem Kunstgriff beholfen. Mit Rekurs Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 4
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 auf Jacques Derrida, der den Begriff des Tieres per se 3.2 Wie fühlt es sich an, Tier zu sein? als eine Manifestation der Durchsetzung menschlicher Autorität in der Benennung des lebendigen „Anderen“ „What is it like to be a bat?“ fragte bereits 1974 der Philo- definiert hat (Derrida 2003: 23), wird darauf verwiesen, soph Thomas Nagel und argumentierte einerseits, dass dass der Begriff „Tier“ ihnen zunächst als eine Art Hilfs- es unmöglich sei, sich in eine andere Spezies hineinzu- mittel dient, über das dann in einem zweiten Schritt die fühlen, und andererseits, dass es das Bedürfnis gäbe, genauere Instanz „Tier“ zu ermitteln wäre. Die Eigen- genau dies zu tun (Nagel 1974). Nagels Analyse folgend mächtigkeit anderer Spezies würde sich erst in diesem wurde deshalb zunächst resümiert, dass Hineinfühlen zweiten Schritt offenbaren. Analog zu Derrida wird nur in Gestalt von Anthropomorphisierungen geschehen daher entweder mit der Nutzung des „Generalsingulars“ könne. „Tier“ auf den oben schon angesprochenen Konstruk- Indem sie einerseits eine solche Anthropomorphisie- tionscharakter des Nicht-Menschlichen als hermeti- rung von Tieren als unzulässig deklarieren und anderer- sches Gegenbild des Menschen hingewiesen oder seits mit der Frage konfrontiert sind, wie und ob, sich eine bewusst der Plural „Tiere“ benutzt, um darauf hinzu- tierliche Perspektive überhaupt „aus einer menschlichen weisen, dass sich hinter dem Begriff „Tiere“ hundert- Position erschließen lässt“ (Krebber 2018: 317), befinden tausende Arten verbergen. Zudem wird zunehmend sich die Human-Animal Studies im Zentrum erkenntnis- darauf rekurriert, dass es auch bei dieser kulturellen theoretischer Erörterungen, die auch in Bezug auf ihr Konstruktion des Tieres immer wieder Grenzgänger- methodisches Vorgehen immer wieder zu Tage treten. innen und Grenzgänger gab und gibt. Wo etwa Affen Eine integrative Betrachtung von Tieren und menschli- einzuordnen waren, wo sich hier die Mensch-Tier- cher Gesellschaft wirft unweigerlich weitere Fragen auf, Grenze darstellte, war bis zum 19. Jahrhundert etwa, ob und inwieweit die methodische Trennung durchaus umstritten (Fudge 2010). Auch die räumliche von Geistes- und Naturwissenschaften, der Erforschung Ausdifferenzierung der Tierhaltung im 19. Jahrhundert, von Kultur einerseits und von Natur andererseits, noch die zu einer Aufteilung der Haustiere in Heim- und angemessen ist, um Tieren als Teil der interspezifischen Nutztiere führte und mit diesen Aufteilungen neue Gesellschaften und ihren Erfahrungen und Handlungs- Bedeutungszuweisungen an Tiere – zum Beispiel von optionen innerhalb dieser Gesellschaften auf die Spur zu Huhn und Katze – mit sich brachte, weist auf die kommen. Indem sie sich einerseits auf außersprachliche Fluidität von Grenzen im menschlichen Nahraum hin. Handlungsfelder konzentrieren und andererseits auf Diese Grenzen müssten deshalb stets situativ ausgelegt die Anerkennung bestimmter gemeinsamer Erfahrungs- werden. Mit Bezug auf „liminale Tiere“ – ein Begriff, räume setzen – die sich etwa in geteilter Arbeit zwischen der ein Konzept aus der Anthropologie aufgreift, das Spürhund und Hundeführerin/Hundeführer oder Elefant rituelle Schwellenüberschreitungen markiert und auf und Mahout zeigen (Haraway 2008; Locke 2017) – und Tier-Mensch-Beziehungen ausweitet – werden diese diese Handlungen und gemeinsamen Erfahrungen durch Grenzziehungen und ihre Übertretungen produktiv eine Brille kritischer Verhaltensforschung lesen (Krebber gemacht, um die kulturellen Konstruktionen von Tieren 2018: 318), versuchen sie, den menschenzentrierten zu befragen (Wischermann 2017; Howell et al. 2018). Fokus zumindest aufzuweichen. Dies wird als eine Art von Immerhin: Die Human-Animal Studies stellen sich Verbindung von „Etho-ethnologie“ und „Ethno-ethologie“ den Herausforderungen, die die Fragen nach der (Brunois et al. 2006) gefasst, in der die anthropozen- Definition, wer Tier ist oder war, mit sich bringen. trische Exklusivität zur Disposition gestellt wird. Aus Dies beweisen etwa konzeptionelle Ansätze zur Unter- diesem Blickwinkel wird suggeriert, dass es nicht nur suchung von Mikroben oder die Brückenschläge zu einigen Menschen möglich sei, wie manche Tiere zu den Plant Studies (Turner et al. 2018), denn in diesen denken, sondern dass sich deshalb auch das konkrete werden sie ständig herausgefordert, über ihren Unter- Verhalten von Tieren durch Menschen antizipieren suchungsgegenstand zu reflektieren. ließe – und umgekehrt (Fudge 2013: 23). Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 5
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 Auch wenn Kühe (Fudge 2017), Pferde (Swart 2010) offenbarten. Andererseits zeigen sie auf, welchen Zu- und Elefanten (Locke 2017) Fledermäusen inzwischen den sammenhang es zwischen materiellen Spuren und dis- Rang als Subjekte erkenntnistheoretischer Reflexion kursiven Ikonografien gibt und inwiefern materiell-se- abgelaufen haben, bleibt die Frage nach der Tierperspek- miotische Bedeutungsveränderungen sich insgesamt tive aus einer nicht anthropozentrischen Sicht ein auf den Möglichkeitsraum des Handelns von Tieren und zentrales Kernthema der Human-Animal Studies, dem mit Tieren auswirkt (Benson 2011). Zum Beispiel wird durch verschiedene methodische Herangehensweisen gefragt, inwieweit die diskursive Aufwertung von Hun- und konzeptuelle Ansätze beigekommen werden soll. den und Pferden als Soldaten und Kameraden inner- Dabei geht es nicht so sehr darum, wirklich wie Tiere zu halb der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft sich fühlen, zu riechen, zu schmecken und wahrzunehmen, auf die Lebenserwartungen und Lebensbedingungen sondern eher darum, unterschiedliches Welterleben als einzelner Tiere auswirkte (Roscher 2016). permanente und kritische Intervention zu akzeptieren. Kategorien wie Intention oder Instinkt werden dafür als 4.2 Agency nicht hinreichend bzw. veraltet angesehen, stattdessen wird mit Konzepten von Agency und Praktiken gearbei- Die Frage nach der Agency, also der Möglichkeit, Hand- tet. Zudem wird darauf verwiesen, dass man Tiere als lungs- bzw. Wirkmacht an Tiere zu attribuieren, ohne zwar als Tiere zu betrachten habe, dass diese jedoch – unbedingt ein individuelles Selbst voraussetzen zu müs- genau wie Menschen auch – durch kulturelle, histori- sen (Pearson 2013; Rees 2017), kann zweifelsfrei als sche Transformationen geprägt seien, die wiederum ihr konstitutiv für die Human-Animal Studies angesehen Handeln genauso wie ihre Physis transformiere (Fudge werden. Agency wird hier einerseits, in Anlehnung 2017). an die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2005), als auf Mensch-Tier-Netzwerke verteilt gedeutet. Gerade weil es sich bei der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht um ein in 4. Konzepte der Human-Animal Studies allen Details ausbuchstabiertes methodisches Programm handelt, sie sich im Gegenteil als offen für Interpretati- 4.1 Repräsentation/Semiotik onen zeigt, können Tiere ganz unproblematisch auf das Kulturtheoretische Fragen nach dem Tier waren noch Tableau der Handelnden gehoben werden (Roscher bis in die jüngste Vergangenheit häufig geprägt von der 2018). Andererseits korreliert das Anliegen, Tieren Agency Annahme, dass Tiere in literarischen, historischen, zuzusprechen, aber auch mit einer tierethischen künstlerisch-ästhetischen und philosophischen Texten Haltung, die aus dem Diskurs um Tiere „kaum dauerhaft immer nur für die Repräsentation rein menschlicher auszuklammern“ ist (Krebber 2018: 314). Ethik und Diskurse stehen, in denen sie ausschließlich Spiegel- Kognitionsforschung bieten hierfür die leitgebenden und Übersetzungsfunktionen haben. Diesem sogenann- Diskurse (Andrews 2015; Grimm/Wild 2016; Petrus/Wild ten Repräsentationsansatz stellen die Human-Animal 2013), betonen allerdings die Relevanz von kognitiven Studies eine Perspektive gegenüber, die die Symbolizität Fähigkeiten für die Berücksichtigung von Tieren als von Tieren als Hinweise für eine materiale Interaktion Akteure und Akteurinnen, die mit dem Bezug auf die lesen will. Der Quellenwert von Tieren hängt nach dieser Akteur-Netzwerk-Theorie aus Angst vor einer erneuten Lesart einerseits von der kulturellen Relevanz ab, die Hierarchisierung der Handelnden gerade umgangen aus tiersensitiver Sicht auch von der jeweiligen zoo- werden soll. Auch subjekttheoretische Handlungs- semiotischen Ästhetik hervorgerufen wird. Es gilt da- modelle, die diesen Nachweis verlangen, grenzen den rum, quasi als Hintergrundfolie, zu beleuchten, welche Menschen per se vom Tier ab. Jedoch bleibt auch die spezifischen symbolischen Repräsentationen über Akteur-Netzwerk-Theorie nicht ohne Kritik: Als For- Tiere rezipiert und in Diskursen wirksam würden, zum schungsprogramm zeigt sie sich gegenüber Herrschafts- Beispiel wie kolonialistische Darstellungen von Stärke und Zurichtungsverhältnissen und den spezifischen sich eben immer auch in der symbolischen Beherr- Handlungskompetenzen und Handlungskontexten von schung der endemischen Fauna – Elefanten, Löwen Akteuren und Akteurinnen relativ blind. Tieren Wirk- oder Tiger waren hier gern genutzte Spezies – und Handlungsmacht zu geben, ihnen kulturelle und Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 6
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 materiale Akteurseigenschaften zuzusprechen, heißt „hybride“ Räume konzeptualisiert werden (Philo/Wilbert für die Human-Animal Studies deshalb explizit nicht, dass 2000; Buller 2014; Gillespie/Collard 2017). Vielmehr Tiere unabhängig agieren. Vielmehr seien sie als Teil werden räumliche Begegnungen als ein Brennglas komplexer Beziehungsassemblagen von Akteurinnen begriffen, unter dem sich Ort und Erfahrbarkeit von und Akteuren zu untersuchen (Pooley-Ebert 2015: 152), tierlich-menschlichen Beziehungen ausloten lassen. die in speziellen historischen, politischen, ökonomischen Raumaspekte spielen überdies bei der Erfassung der und kulturellen Kontexten verortet sind. Beispielsweise Umwelten von Tieren unter philosophisch-theoretischen wird die Vermarktung von Milch als einem Produkt eines Gesichtspunkten eine Rolle, zumal in den Environmental Tieres, das innerhalb des letzten Jahrhunderts allein Humanities (Wild/Hunderich 2018). Wie bereits in den mehrfache symbolische und wirtschaftliche Transforma- Vorläufern umweltorientierter Forschungen stehen tionen durchlebt hat, mithilfe von nuancierten Netzwerk- allerdings häufig, bei aller Wendung hin zur Logik der modellen transparenter gemacht (Nimmo 2011) oder die Dinge, das heißt zur Konzentration auf die Knoten- Akteursrolle von Hunden im Grenzschutz für die Konstruk- punkte und ihre materialen Ausformungen, öko- tion, die Aufrechterhaltung und die Anfechtung von systemtheoretische Überlegungen im Vordergrund, Grenzen erforscht (Pearson 2016). Stets geht es hier da- das heißt es wird erforscht, wie sich Relationen von rum, die spezifische Eingebundenheit tierlicher Akteure Menschen, Tieren und Dingen auf komplexe Öko- und Akteurinnen innerhalb spezifischer Interspezies- systeme auswirken (Bennett 2010; Huggan/Tiffin Gesellschaften zu durchleuchten. 2015). 4.3 Relationalität 4.4 Praxis/Praktiken Die Aktionen nicht-menschlicher Entitäten manifestieren Beziehungen lassen sich vor allem in Praktiken erfassen, sich also nicht im luftleeren Raum, sondern, und das ist die in die an ihnen Partizipierenden auch körperlich ein- für die Chronistinnen und Chronisten tierlichen geschrieben sind, wie es beispielsweise in der Tierzucht Handelns in Human-Animal Studies zentral, in Relationen, der Fall ist. Einem praxeologischen Ansatz folgend stellen Beziehungen und Verhältnissen. Sie sprechen deshalb die Human-Animal Studies deshalb nicht mehr die in Anlehnung an Donna Haraway von einer Ko-Produktion jeweilige Handlungskapazität menschlicher und tierlicher unter „Companions“ (Haraway 2004). Haraway hatte Akteure und Akteurinnen in den Mittelpunkt der ausgeführt, dass menschliche und tierliche Spezies Betrachtung, sondern vielmehr die Handlungen an sich überhaupt nur in Relation zueinander existieren, zumal (Roscher 2018; 2019). Nicht auf die intentionale Quali- im Rahmen von durch Kultur geprägten Lebens- und tät einer Handlung, sondern auf den Handlungsfluss, Gesellschaftsformen (Haraway 2008). In ähnlicher ihren Vollzug wird das Augenmerk gelegt. Sowohl die Manier geht auch die Historikerin Erica Fudge davon Beziehungen als auch die Akteure und Akteurinnen aus, dass bei der Betrachtung von Tieren der Blick von selbst werden nach dieser Perspektive performativ her- oben aufgeben werden müsse und stattdessen das gestellt. Ihre jeweiligen Bedeutungen erhalten sie erst permanente Nebeneinander zu fokussieren sei. „Living in den gemeinsamen Praktiken und Aushandlungs- alongside“ (Fudge 2017: 25) nimmt das vermischte prozessen, die die Verhältnisse zwischen Menschen Leben von Menschen und Tieren als Grundvoraussetzung und Tieren strukturieren und somit analytisch fassbar für den Nachweis tierlichen Handelns (Shaw 2013; machen. Anstatt also a priori einen fixen Akteursstatus Wilkie 2015; Jamieson 2018) und stellt das Soziale in anzunehmen, sehen die Human-Animal Studies das den Mittelpunkt; der Blick richtet sich auf die soziale hermeneutische Potenzial von „non-human agency“ Koproduktion. Verwiesen wird hier ebenso auf den darin, handlungstheoretisch erweitert die Prozess- räumlichen Aspekt des Nebeneinanders. Nicht nur die haftigkeit von Interspezies-Beziehungen zu untersuchen als Animal Geography perspektivierte Sozial- und (Baratay 2015; Cockram/Wells 2018). Um sich den Kulturgeographie beschäftigt sich deshalb mit den Orten, Praxen dieser multirelationalen Gebilde, den Spezies in an denen Menschen und Tiere unterschiedliche Interaktion, zu nähern, werden daher zunehmend ethno- Arten der Beziehungen aufbauen, die zunehmend als graphische Methoden wie zum Beispiel teilnehmende Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 7
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Mieke Roscher | Human-Animal Studies | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.80743 Beobachtung eingesetzt (Helmreich/Kirksey 2010; Hamil- biologische Essenzialismen zurückzufallen, denen ton/Taylor 2017). Für die proklamierte Beobachtung zufolge diese Handlungen sich etwa aus der physi- „von unten“ von Alltagspraktiken, in der Subjekt und schen Verfasstheit der Kuh natürlich ableiten würden. Objekt einer Handlung oftmals nicht eindeutig ausge- Stattdessen erläutern Human-Animal Studies die macht werden können, verlangen die Human-Animal kulturelle Entwicklung der Praktiken des Melkens, Studies deshalb eine Erweiterung der Theorien sozialen die eingebettet sind und waren in komplizierte Lebens, die Gesellschaft von Beginn an als Interspezies- Verhandlungen von Körpern und Geschlecht: von Gesellschaft anerkennt (Pearson/Weismantel 2010). Menschen wie von Tieren. Dies ist für die Human-Animal Studies insoweit von Relevanz, als damit auf die Volatilität sowohl des 5. Fazit Subjektbegriffes als auch des Gesellschaftsbegriffes hingewiesen wird, die selbst immer eine historische Die Human-Animal Studies gehen der Agenda nach, Dimension haben. Transformationen in der Beziehung zwischen Men- schen und den anderen Tieren, die sowohl Körper als auch deren diskursive Zuschreibungen betreffen, 4.5 Materialität empirisch dicht und theoretisch fundiert sichtbar Gesellschaftliche Praxen vom Tier her zu denken, von zu machen. Dabei zeigen sich die zentralen Heraus- realen Tieren mit wirklichen körperlichen Präsenzen, forderungen einerseits in der interdisziplinären eröffnet neue Wege, die Verflechtungen zwischen Perspektive, die das Themenfeld der Tier-Mensch- menschlichen und tierlichen Welten sichtbar zu machen. Verhältnisse erfordert, dem Zusammenbringen von Tierliche und menschliche Körper sind stofflich erfahr- naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher bar. Inspiriert von der philosophischen Schule des Forschung, sowie andererseits in der Frage, wie „New Materialism“, die den Begriff der Objekthaftig- dem Untersuchungsgegenstand Tier epistemologisch keit von Tieren zugunsten des Begriffs einer verkörper- angemessen begegnet werden kann. Kurz gefasst lichten Agency präferiert und in der die Diskussion um geht es darum, das semiotische und das ‘reale‘ Tier Agency quasi in der Seinsweise der Dinge aufgeht, historisch, philosophisch, künstlerisch, soziologisch wird der Materialität des Tieres und der Tier-Mensch- und naturwissenschaftlich zusammenzudenken und Beziehung in den Human-Animal Studies ein wichtiger zusammenzubringen. Stellenwert zugewiesen und Gegenständlichkeit als aktive Präsenz betrachtet. Vorausgesetzt wird dabei, Basisliteratur dass Dingliches die kulturelle Welt der Menschen beeinflusst und, mehr noch, der Mensch posthuma- DeMello, Margo 2012: Animals and Society. An Intro- nistisch aus seiner exzeptionellen Rolle herausgelöst duction to Human-Animal Studies. New York, wird (Rossini 2006; Coole/Frost 2010; Borgards 2017). Columbia University Press. Über den materiellen Körper werden zudem historische Haraway, Donna J. 2008: When Species Meet. Veränderungen konkret und auch jenseits evolutionä- Minneapolis, University of Minnesota Press. rer Prozesse erfahrbar und beschreibbar (Landes et al. Kalof, Linda (Hg.) 2017: The Oxford Handbook of Animal 2012; Eitler 2014). Indem die Körperlichkeit tierlicher Studies. Oxford, University Press Oxford. Leiber hervorgehoben wird, werden nicht nur die Marvin, Garry/McHugh, Susan (Hg.) 2014: The Rout- Debatten rund um Intersektionalität, das heißt um die ledge Handbook of Human-Animal Studies. London, Verschränkung verschiedener Ungleichheit generie- Routledge. render Strukturkategorien expliziert. Vielmehr wird Roscher, Mieke/Krebber, André/Mizelle, Brett (Hg.) auch auf die unterschiedlichen Erfahrbarkeiten von 2021 [im Druck]: Handbook of Historical Animal Handlungen verwiesen, zum Beispiel dem Melken von Studies. Berlin, de Gruyter. Kühen bzw. der Erfahrung des Gemolken-Werdens Shaw, David Gary 2013: A way with animals. In: History (Fudge 2013; Russell 2014), ohne dabei jedoch auf and Theory 52 (4): 1–12. Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 8
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