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Umweltethik
Konrad Ott
Der Artikel skizziert die sieben wesentlichen Argumentationsmuster, die zum Schutz von Naturwesen bzw.
Naturgütern vorgebracht werden können. Dies geschieht vor dem Hintergrund einiger ontologischer Annah-
men über Umwelten, Natur und Wildnis, des Begriffs des Schutzes und des Hinweises auf unterschiedliche
theoretische Ansätze („Paradigmata“) in der Umweltethik. Diese sieben Argumentationsmuster beziehen
sich auf unterschiedliche Werthinsichten von Natur: Angewiesenheit auf natürliche Ressourcen, Erfahrungs-
formen guten Lebens, Zukunftsverantwortung in Ansehung von Natur, moralischer Selbstwert von bestimmten
Naturwesen, tugendhafte Einstellungen, sog. ökosophische Weltbilder und religiöse Zugangsweisen.
Im Medium dieser Argumente kann ein einseitig auf Beherrschung und Nutzung beruhendes Naturverhältnis
erweitert und korrigiert werden. Die Rekonstruktion ermöglicht es allen umweltethisch interessierten
Personen, eigenständig eine vertretbare Konzeption von Umweltethik zu entwickeln, indem sie sich im
Medium präsumtiv guter Gründe bewegen.

Zitations- und Lizenzhinweis
Ott, Konrad (2020): Umweltethik. In: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature /
Online Lexikon Naturphilosophie. ISSN 2629-8821. https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742
Dieses Werk ist unter der Creative Commons-Lizenz 4.0 (CC BY-ND 4.0) veröffentlicht.

                                                            dass aus Tatsachenbehauptungen und Naturgesetzen
1. Einführung
                                                            keine normativen Aussagen abgeleitet werden können.
Die Umwelt- oder Naturethik als ein mittlerweile
                                                            Biologie und Ökologie sind Naturwissenschaften, die
etabliertes Feld der interdisziplinär orientierten
                                                            beispielsweise nicht begründen können, warum Arten
praktischen Philosophie rekonstruiert die wesentlichen
                                                            geschützt werden sollen. Im Folgenden wird der
Argumentationsmuster, die zum Schutz von natürlichen
                                                            etablierte Ausdruck „Umweltethik“ beibehalten.
Entitäten und zur nachhaltigen Nutzung der Naturgüter
geltend gemacht werden können (Krebs 1997; 1999; Bren-      Gegenstandsbereich
ner 2008; Ott 2010). Terminologisch hat sich der Ausdruck   Schutz ist ein Wertbegriff; geschützt werden soll, was
„Umweltethik“ als Übersetzung von „environmental            aufgrund seiner Werthaftigkeit des Schutzes würdig und
ethics“ im deutschsprachigen Raum durchgesetzt,             aufgrund bestimmter Umstände schutzbedürftig ist
obgleich „Naturethik“ sachlich präziser ist. Den Aus-       (Rolston 1988). Schutz kann normativ institutionalisiert
druck „Bioethik“ sollte man für die moralischen Themen      werden (etwa durch Ausweisung von Schutzgebieten).
der medizinnahen Lebenswissenschaften reservieren,          Die Umweltethik setzt bei ihren argumentativen Bemü-
obschon es einige Überschneidungen zwischen Bio- und        hungen ontologisch voraus, dass es natürliche Entitäten
Naturethik gibt (etwa im Bereich der Umweltgesundheit).     („Naturwesen“) realiter gibt und dass die Rede von
Der gelegentlich verwendete Ausdruck „ökologische           Natürlichkeit sinnvoll bleibt (Lie 2016), obschon in der
Ethik“ könnte zu der Fehldeutung führen, als könnte auf     heutigen Welt viele Naturwesen mit menschlichen
der Grundlage der wissenschaftlichen Ökologie eine Ethik    Praxisformen vermittelt, das heißt graduell überformt
errichtet werden (Eser/Potthast 1999). Dies ist aufgrund    sind. Der Gegenstandsbereich der Umweltethik sind
des Verbots des sog. naturalistischen Fehlschlusses         diejenigen Entitäten, deren Entstehung, Existenz und
nicht möglich (Potthast/Ott 2016). Dieses Verbot besagt,    Lebensvollzüge sich nicht ausschließlich oder primär
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menschlichem Handeln verdanken. Diese Entitäten be-                Werthinsichten (Axiologie)
zeichnen wir als „Naturwesen“. Daher zählt die Tierethik,          Man kann die Werthinsichten von Naturwesen sieben
deren Gegenstandsbereich sowohl die domestizierten                 Kategorien bzw. Argumentationsmustern zuordnen:
als auch die wild lebenden Tiere, vor allem die Wirbel-            • Angewiesenheitswerte und instrumentelle Werte
tiere sind, wesentlich zur Umweltethik. Werden
                                                                   •   kulturell-eudaimonistische Werte
Lebewesen biotechnisch stark modifiziert (etwa Labor-
                                                                   •   Zukunftsverantwortung und Nachhaltigkeit
mäuse), ist von „Biofakten“ (Karafyllis 2003) zu sprechen.
                                                                   •   (existentielle) Tugenden
Die Grenzen zwischen Naturwesen und Biofakten sind
                                                                   •   moralische Selbstwerte für bestimmte Naturwesen
fließend. Der Umweltbegriff wiederum bezieht sich,
                                                                   • neue „ökosophische“ Weltbilder und
strenggenommen, auf diejenigen Umwelten, in denen
                                                                   • religiöse Traditionen.
Menschen oder außermenschliche Lebewesen faktisch
existieren. So leben viele Menschen in artifiziellen               Diese Kategorien schließen einander nicht aus, können
Umwelten (Bibliotheken, Büros, Fabrikanlagen, Sport-               also in unterschiedlichen Variationen vertreten werden.
hallen, Tiefgaragen usw.). Die Gestaltung derartiger               Daraus ergibt sich, dass es mehr als nur eine, aber nicht
Umwelten fällt nicht in das Kerngebiet der Umweltethik.            unendlich viele vertretbare Varianten und Konzepte
                                                                   von Umweltethik geben kann. Als reflexive Disziplin
„Natur“                                                            möchte die Umweltethik keine bestimmte Moral ver-
„Natur“ ist der Inbegriff für alle Naturwesen, seien sie           bindlich vorschreiben, sondern es Personen ermöglichen,
lebendig oder unbelebt. Natur ist dabei nicht mit Wildnis          sich diese Kategorien kritisch und diskursiv, das heißt
gleichzusetzen. Daher ist die Rede von einem „Ende der             im Austausch mit anderen Personen, selbst anzueignen.
Natur“ (im Sinne von McKibben 1989) falsch, die auf                Eine letztverbindliche Umweltethik wird es schon aus
dieser Gleichsetzung beruht. Der Planet enthält nach wie           begründungs- und argumentationstheoretischen Erwä-
vor viele Naturwesen. Natur ist insofern ein Skalenbegriff         gungen nicht geben können, da zentrale Probleme wie
zwischen den Polen „Wildnis“ und „Artefakt“. Der Wildnis-          das Inklusionsproblem bislang fundamental umstritten
begriff differenziert sich zwischen dem Idealpol einer             sind und unterschiedliche Theorietypen von Umwelt-
absoluten Wildnis ohne jeglichen menschlichen Einfluss             ethik miteinander existieren.
und einer relativen Wildnis, in der der menschliche
Einfluss nachweisbar, aber für das Naturgeschehen                  Umweltethische Theorietypen
unerheblich ist. Absolute Wildnis dürfte es (vielleicht)           Man kann drei Theorietypen unterscheiden. Der „klassi-
noch in der Antarktis und der Tiefsee geben. Weiterhin             sche“ Theorietypus rückt das Inklusionsproblem und
kann man primäre von sekundärer Wildnis unterscheiden,             damit die Frage nach moralischen Selbstwerten für
wobei jene historisch ursprünglich ist, während diese              Naturwesen in den Mittelpunkt, rechtfertigt eine
für Gebiete zutrifft, die geschichtlich genutzt worden             bestimmte Lösung (siehe unten) und leitet hieraus eine
sind, aber in denen die menschliche Nutzung eingestellt            Naturschutzkonzeption ab, die Grundsätze, Tugenden
wurde (wie etwa in Kernzonen von Nationalparken).                  und Vorrangregeln umfasst. Ein Musterbeispiel für diesen
Auch relative und sekundäre Wildnisse sowie überformte             Theorietypus ist Paul Taylors „Respect for Nature“ (1986).
Naturgebilde (etwa die Lüneburger Heide) können                    Ein zweiter Theorietypus ist der Umweltpragmatismus,
durchaus schutzwürdig sein. Häufig verwendete natur-               der von menschlichen Praxisformen im Umgang mit
schutzfachliche Kriterien für Schutzwürdigkeit sind                Natur ausgeht (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Jagd,
Naturnähe, Seltenheit, Standortgemäßheit und Gefähr-               Segeln, Wandern, Gärtnern, Hege und Pflege usw.) und
dung. Die naturschutzfachlichen Einstufungskonzepte                die darin involvierten Werte expliziert und ordnet.
(Usher/Erz 1994; Romahn 2003) setzen umweltethische                Hierzu zählt die Praxis des Naturschutzes mitsamt ihren
Argumente voraus. Sie sind daher begründungs                       diversen Leitlinien sowie der Renaturierung (Ott 2015b).
theoretisch an die Umweltethik rückgebunden. Über                  Ein Musterbeispiel für den Umweltpragmatismus ist
die naturphilosophischen Grundlagen der Umweltethik                Bryan Nortons „Sustainability“ (2005). Einen dritten
informieren Beiträge in Kirchhoff et al. (2017).                   Theorietyp stellen die sog. postmodernen Umwelt-

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ethiken dar, die sich einer einfachen Charakterisierung           3. Eudaimonistische Werte
entziehen (wollen). In diesen Ansätzen spielen Narrative,
                                                                  Kulturelle oder eudaimonistische („eudaimonia“ = gutes
Literatur, bildhafte Darstellungen, alternative mediale
                                                                  Leben) Werte machen geltend, dass Naturerfahrungen
Naturzugänge und ein spielerischer Umgang mit den
                                                                  wesentlich zu einem reichen, gelingenden und sinner-
Möglichkeiten, Mensch-Umwelt-Verhältnisse zu insze-               füllten Leben hinzugehören (Ott 2016). Diese Werte
nieren, eine gewichtige Rolle. Musterbeispiele für                gliedern sich auf in unterschiedliche Weisen von Natur-
postmoderne Umweltethiken sind Donna Haraways                     genuss wie etwa naturästhetische Erfahrungen (Seel
„Staying with the Trouble“ (2016) und Timothy Mortons             1991), Heimatgefühle angesichts vertrauter Landschaften
„Dark Ecology“ (2016). Ein Vorschlag zur Wahl des                 (Scruton 2012) und Erholung in der Natur. Diese Werte
Theorietyps erfolgt am Ende des Artikels.
                                                                  vermitteln sich mit naturverbundenen Praktiken wie
                                                                  Gärtnern, Wandern, Segeln, Tauchen usw. Die Natur-
2. Angewiesenheitswerte                                           phänomenologie bietet eine philosophische Methode,
Angewiesenheitsargumente machen geltend, dass                     Arten und Weisen des erlebten und erfahrenen Natur-
Menschen als leiblich verfasste und prekäre Wesen                 genusses sprachlich zu artikulieren (Böhme/Schiemann
auf einen kontinuierlichen Metabolismus mit einer                 1997). Die eudaimonistischen Werte erklären, warum
äußeren Natur angewiesen sind, zu dessen Aufrecht-                viele Menschen Naturkontakte in ihrem Leben nicht
erhaltung auch ein pfleglicher Umgang mit natür-                  missen möchten. Sie untergliedern sich in den Wert der
lichen Ressourcen und Umweltmedien zählt. Dieser                  Erholung in der Natur, der Erfahrung des Naturschönen,
Metabolismus sollte aufgrund des Wertes der                       der Vertrautheit heimatlicher Landschaften bis hin zum
leiblichen Gesundheit möglichst schadstoffarm von-                Wert von Einheitserfahrungen. Bryan Norton (1987) hat
stattengehen, weshalb der Eintrag von Gift- und                   geltend gemacht, dass Naturerfahrungen Menschen
Schadstoffen minimiert werden sollte (Schäfer 1993).              nicht unverändert lassen, sondern auf ihre Einstellungen
Hieraus ergeben sich Konzepte naturverträglichen                  und Haltungen transformierend wirken („transformative
und schadstoffarmen Wirtschaftens. Im Bereich der                 values“). Diese Transformationswerte führen zu Fragen
Schadstoffe kommt es umweltpolitisch auf die                      einer Umwelttugendethik (siehe unten). Ähnliches gilt
Setzung von Grenzwerten an, in die normative                      auch für die Auffassung, Natur sei eine unverzichtbare
Annahmen wie etwa Vorsorge und Schutz vorge-                      „Resonanzsphäre“ für menschliche Erfahrungen (Rosa
schädigter Personen eingehen. Strikte Vorsorgegrenz-              2014).
werte (wie für Feinstäube) konkurrieren dann freilich
mit eingespielten Üblichkeiten (wie dem Individual-               4. Zukunftsverantwortung und Nachhaltigkeit
verkehr). Der vorausgesetzte Wert menschlicher
                                                                  Die Werte der ersten beiden Kategorien (Angewiesen-
Gesundheit führt dann auch zu der Frage, ob und
                                                                  heit/Gesundheit, Naturgenuss/Transformationswerte)
inwieweit Aufenthalte in bestimmten Naturformatio-
                                                                  können in eine intergenerationelle Perspektive über-
nen (Wald, Küste, Gebirge) der leiblichen Gesundheit
                                                                  tragen werden. Es geht dann um die Kunst, in Ansehung
förderlich sind. Die Heilwirkungen von Wäldern und
                                                                  von Natur langfristig zu denken (Klauer et al. 2013), und
Küsten und die gesundheitsförderlichen Tätigkeiten
                                                                  um die Frage, auf welche Naturausstattung zukünftige
des Wanderns und Badens werden auch medizinisch
                                                                  Generationen legitime Ansprüche haben könnten
nicht mehr in Frage gestellt. Gesundheitsbezogene
                                                                  (Zukunftsverantwortung). Diese Frage führt in Theorien
und kulturelle Gründe verschränken sich in sozialen               und Konzepte von Nachhaltigkeit (hierzu Ott/Döring
Bewegungen wie in früheren Zeiten etwa in der                     2011) und damit zugleich in die Problemfelder des
Lebensreform- und Wandervogelbewegung (Wolschke-                  Klimawandels, der Land- und Forstwirtschaft, der
Buhlman 1990; Wedemeyer-Kolwe 2017).                              Renaturierungsökologie und auch des Meeresschutzes

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einschließlich der Fischerei. In einer Grundkonzeption           6. Anthropozentrik: Schutzgüter und Biophilie
von Nachhaltigkeit, die auf den Schutz und die
                                                                 Die bisherigen Kategorien sind anthropozentrisch,
Förderung der Naturkapitalien großen Wert legt (sog.
                                                                 das heißt sie beruhen zwar auf einem umfassenden
„starke“ Nachhaltigkeit), stellt der Naturschutz eine
                                                                 praktischen Vernunftinteresse an gelingenden Natur-
wesentliche Dimension von Nachhaltigkeitspolitik dar             beziehungen, erkennen aber nur Menschen Würde und
(Ott 2015b). Übersichtsartikel zu Spezialgebieten wie            Rechte zu. Naturwesen sind in der Anthropozentrik
etwa Klimaschutz, Renaturierung, Moorschutz, Ozean               Bestände von Naturkapitalien, die nachhaltig zu bewirt-
und Fischerei finden sich im „Handbuch Umweltethik“              schaften sind, oder Naturgüter, die aufgrund ihrer
(Ott et al. 2016).                                               Schönheit, ihrer Seltenheit, ihrer Erholungswirksamkeit
                                                                 usw. unter Schutz zu stellen sind. Das Verständnis
5. Umwelttugendethik                                             dieser Kategorien erhellt, dass Menschen dabei keines-
Die Werte und Verpflichtungen dieser ersten drei                 wegs als Wesen vorgestellt werden müssen, die gierig
Kategorien (Angewiesenheit, eudaimonistische Werte,              und kurzsichtig die Natur plündern. Sofern sie sich
Nachhaltigkeit) führen fast zwangsläufig zu der Frage,           Natur in den bisher genannten Werthinsichten in unter-
welche Art von Mensch jemand im Zeitalter des                    schiedlichen kulturellen und geschichtlichen Kontexten
Anthropozän sein möchte, wenn man sich als vergäng-              aneignen, werden sie ipso facto zu naturverbundenen
liches naturverbundenes Glied in einer Reihe von                 Persönlichkeiten. Menschen dürften als Erbschaft der
Generationen versteht. Diese Frage bezieht sich auf              Koevolution womöglich auch eine biophile Neigungs-
unterschiedliche Einstellungen in Anbetracht von Natur           struktur besitzen (Wilson 1984), die allerdings in der
einschließlich der eigenen leiblichen Naturseite.                Moderne unterdrückt oder (als „Romantik“) belächelt
                                                                 wurde. Es kann zu einem aufregenden Experiment mit
Diese Fragerichtung führt in den Bezirk einer Umwelt-
                                                                 der eigenen Leiblichkeit und Sinnlichkeit werden, an
tugendethik (Sandler/Cafaro 2005). Hege und Pflege,
                                                                 sich selbst in phänomenologischer Einstellung biophile
Schonung, Rücksicht, Mäßigung, aber auch freudige
                                                                 Neigungen freizulegen, etwa im Nachvollzug archaischer
Zuwendung, Lebensbejahung und Dankbarkeit sind
                                                                 Leiberfahrungen (im Sinne von Rappe 1995). Vertretbar
einige diesbezügliche Haltungen. Jede Tugendethik
                                                                 sind auch Konzepte, die (starke) Biophilie mit (schwacher)
hat eine pädagogische Dimension. Die Umwelttugend-
                                                                 Biozentrik zu einer existentiellen Grundhaltung des
ethik vermittelt sich daher mit den Praktiken der
                                                                 Schonens und Förderns lebendiger Strukturen verknüp-
Umwelt- und Naturbildung. Die Umwelttugendethik
                                                                 fen (Wetlesen 1999). Daher kann es unterschiedliche
kennt freilich nicht nur Tugenden, sondern auch Laster,
                                                                 authentische „Umwelttugendstile“ geben, die sich an
was die Gefahr eines ungezügelten Moralisierens von
                                                                 religiöse Überlieferungen anlehnen wie etwa schama-
heutigen Lebensstilen als „lasterhaft“ mit sich bringt.
                                                                 nische, buddhistische, daoistische und pagane Stile.
So findet sich in der Umwelttugendethik gelegentlich
eine eigentümliche Rekordsucht maximalen Verzichten-
Könnens verbunden mit Appellen, den Rekordhalter-                7. Physiozentrik
innen oder Rekordhaltern nachzueifern. Die Umwelt-               Die Kategorie der moralischen Selbstwerte (auch oft
tugendethik sollte demgegenüber auch Unzulänglich-               „Eigenwerte“ genannt) führt über die Anthropozentrik
keiten, Gewohnheiten, verfehlte Anreizsysteme,                   hinaus, sofern und indem sie zum Schutz von bestimmten
Klügeleien und Willensschwäche in Rechnung stellen               Naturwesen um ihrer selbst willen führt (sog. Physio-
und die umweltethische Perfektibilität der Menschen              zentrik). Naturwesen sind um ihrer selbst willen zu
nicht gleichsam mit der Brechstange durchsetzen                  schützen genau dann, wenn ihnen eine moralisch
wollen. Asketen sind immer das gelebte Paradox                   relevante Eigenschaft zukommt. Die wohl sicherste
des abschreckenden Vorbildes.                                    moralisch relevante Eigenschaft liegt in der Fähigkeit,

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Konrad Ott | Umweltethik | 2020 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742

sein eigenes Handeln an moralischen Maßstäben zu                   an das sich eine komplexe Kasuistik anschließt, die von
orientieren. In diesem Sinne haben für Immanuel Kant               Schimpansen und Walen über Libellen und Spinnen, für
Würde nur Wesen, die in der Lage sind, anhand des                  manche gar bis hin zu Pflanzen reicht. Entscheidend ist
Kategorischen Imperativs ihre Maximen auf Verallge-                bei dieser Eigenschaft der Weltoffenheit, dass ein Natur-
meinerbarkeit hin zu prüfen (Kant 1785). Diese Wesen               wesen aufgrund seiner organischen Ausstattung (Gehirn,
sind immer auch um ihrer selbst willen zu achten.                  Nervenzellen) etwas von seiner Umwelt mitbekommt,
Würde bedeutet, sich mit Gründen an Gründen orien-                 eigene Freude und eigenen Schmerz empfinden und sich
tieren zu können. Möglich ist es auch, Menschen, die               anderen durch Laute oder körperliche Signale (wie etwa
entweder noch nicht oder nicht mehr über diese human-              Bienen durch ihre „Tänze“) mitteilen kann. Diese Lösung
spezifische Fähigkeit verfügen, aus Gattungssolidarität            schließt alles Anorganische, Gene, Viren und – je nach
derivativ Würde zuzuschreiben. Es ist jedoch ethisch               empirischem Befund – auch große Gruppen von Orga-
falsch, Kants Selbstzweckformel aus ihrem Begründungs-             nismen (Phyto- und Zooplankton, Bakterien, Pilze und
kontext zu lösen und sie einfach auf Lebewesen oder                Pflanzen) aus der Moralgemeinschaft aus. Allerdings
alles Existierende auszuweiten. Die Kategorie der Würde            ist es innerhalb der neueren Pflanzenphysiologie und
lässt sich nicht auf Naturwesen beziehen, obwohl                   -ökologie umstritten, mit welchen Begriffen das komplexe
sich diese Terminologie häufig findet, etwa wenn von               Verhalten von Pflanzen (etwa die biochemische Informa-
„Pflanzenwürde“ gesprochen wird.                                   tionsübertragung als „Kommunikation“) beschrieben
                                                                   werden sollte. Zur Pflanzenethik siehe Kallhoff (2002).
Nun kann es durchaus mehr als nur genau eine mora-
lisch relevante Eigenschaft und Status-Kategorie geben,
darunter auch solche, die Naturwesen zukommen.                     8. Ökologische Weltbilder
Bestimmte Eigenschaften führen nicht zum Status                    In ökologischen Weltbildern wie der Tiefenökologie von
„Würde“, sondern zum Status der direkten Berücksichti-             Arne Næss (Næss 1989) schließlich wird die Umweltethik
gungswürdigkeit, das heißt sie fungieren als Kriterium für         nicht axiologisch oder moralisch, sondern ontologisch
die Zu- oder Aberkennung moralischen Selbstwertes                  fundiert (Hendlin 2016). Zu diesen Ansätzen rechnet
(à Inklusionsproblem) (Ott 2008; Warren 2000).                     auch Klaus Michael Meyer-Abichs an Nikolaus von Kues
In der Physiozentrik werden unterschiedliche Kriterien             anknüpfender metaphysischer Holismus (Meyer-Abich
direkter moralischer Berücksichtigungswürdigkeit disku-            1997). Es wird zumeist davon ausgegangen, dass die
tiert. So werden Empfindungsfähigkeit (Sentientismus),             Natur („physis“) sich unterschiedlichen Menschen an
spürendes Gewahren (Zoozentrik), Lebendig-Sein (Bio-               unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Weise
zentrik), biozönotische Selbstorganisation (Ökozentrik)            zeigen (Heidegger 1976: „lichten“) kann und dass die
oder Existenz (Holismus) als moralisch relevante Eigen-            modernen Deutungen von Natur als wertfreier Objekti-
schaften bzw. Kriterien geltend gemacht. Auch der                  vität (Physikalismus) und nutzbares Ressourcenlager
Begriff des Interesses wird als Kriterium herangezogen,            (Ökonomik) nur zwei von vielen möglichen Deutungen
wobei zwischen schwachen und starken Interessen                    sind. Die Tiefenökologie bestreitet insofern das Deutungs-
unterschieden wird. Ein starkes Interesse liegt vor,               monopol des modernen wissenschaftlichen Weltbildes
wenn ein Naturwesen ein Interesse an etwas nimmt bzw.              auf eine Weise, die diesem Weltbild nicht direkt wider-
dieses Interesse „hat“. Ein schwaches Interesse liegt              spricht. Der Physik zeigt sich die Natur als Objektivität
vor, wenn etwas im Interesse eines Naturwesens ist.                unter Gesetzen. Einer technischen Welteinstellung
Ein Löwe hat Interesse, während Wasser im Interesse                (Heidegger 1962: „Gestell“) zeigt sie sich als Ressourcen-
einer Topfpflanze ist.                                             basis. Die Natur wird hierdurch physikalistisch und
Eine angemessene Lösung des Inklusionsproblems könnte              technologisch „festgestellt“. Dadurch werden andere
darin liegen, die Eigenschaften der Empfindungs- und               Naturzugänge versperrt. Diese Sperrungen will die
der Kommunikationsfähigkeit zu einem gradierbaren                  Tiefenökologie lösen. Religiöse, spirituelle und „öko-
Konzept von Weltoffenheit zu verknüpfen (Ott 2015a),               sophische“ Naturdeutungen und -zugänge gelten in der

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Konrad Ott | Umweltethik | 2020 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742

Tiefenökologie als Bedingungen der Möglichkeit, Aus-               Im Rahmen einer post-säkularen Übersetzungsarbeit,
wege aus der Naturkrise der Moderne zu finden.                     wie sie Jürgen Habermas (2005) vorgeschlagen hat,
Ethisch steht die Tiefenökologie, wie Næss sie verstand,           können religiöse Personen ihren säkular und agnostisch
der Tugendethik am nächsten. Da Næss (aufgrund seiner              eingestellten Mitbürgerinnen und Mitbürgern erläutern,
philosophischen Ausbildung im empiristisch-logisch                 warum es für sie guten Sinn ergibt, „coram Deo“ zu
orientierten „Wiener Kreis“) glaubte, moralische Forde-            leben „etsi Deus non daretur“ („auch/als wenn es Gott
rungen und Gebote seien letztlich Befehle, entwickelte             nicht gäbe“). Diese Erläuterungen können selbst-
er seine Umweltethik über eine Grenzbestimmung der                 verständlich keine Beweisführungen sein.
kantischen Pflichtenlehre, nämlich der „schönen Seele“,
die aus Neigung tut, was ihr die Pflicht aufträgt.
                                                                   10. Fazit
Anhängerinnen und Anhänger der Tiefenökologie
                                                                   Insgesamt korrigiert oder erweitert die Umweltethik
bedürfen der Pflichten und Gebote nur als provisori-
                                                                   aufgrund ihrer unterschiedlichen Argumentations-
scher Anhaltspunkte; sie handeln „richtig“ aus Freude
                                                                   stränge ein primär an Beherrschung und Ausnutzung
und Großmut. Nichts ist für sie „schöner“ als äußerlich
                                                                   interessiertes Naturverständnis. Das vertiefte Begrei-
einfach im Einklang mit der Natur zu leben und sich
                                                                   fen der Argumente ermöglicht es jeder verständigen
mit Naturwesen zu identifizieren (Næss: „widening
                                                                   Person, sich eine eigene Konzeption von Umweltethik
identification“). Das Inklusionsproblem wird in der Tiefen-
                                                                   anzueignen, indem sie sich mit Gründen an Gründen
ökologie im Sinne des Physiozentrismus behoben, ohne
                                                                   orientiert. Diese Konzeptionen lassen sich dann in über-
dass hierfür, wie geglaubt wird, rationale Begründungen
                                                                   greifende philosophische Strömungen und Theorie-
vonnöten wären. Selbstwert der Natur ist für Tiefen-
                                                                   typen einordnen. Durch diese Einordnung bekommt
ökologen eine Selbstverständlichkeit, die einer Begrün-
                                                                   eine inhaltliche Konzeption ein philosophisches Profil.
dung nicht bedürftig ist.
                                                                   Eine stark an der Praxis der Argumentation orientierte
                                                                   Konzeption ordnet sich einer Diskurstheorie praktischer
9. Religiöse Traditionen                                           Vernunft („Diskursethik“) zu. Der Umweltpragmatismus
Die Religionen sind Traditionen auch des Natur-                    (Norton 2005) steht in der Tradition des Pragmatismus
umgangs und sind auf ihre Stellungen zur säkularen                 (vgl. Schneider 1963, Kapitel VIII und IX), insofern er
Umweltethik befragt worden (siehe Beiträge in Jenkins              seinen Ausgang bei menschlichen Praxisformen im
et al. 2017). Was die jüdisch-christliche Tradition anbe-          Umgang mit Natur nimmt und diese Praxisformen auf
trifft (siehe Link 1991; Neumann-Gorsolke 2004), so                reformerische Weise naturverträglicher gestalten
wurde dem angeblich „harten“ Unterwerfungsauftrag                  möchte. Eine Koalition aus Diskursethik und Pragmatis-
des priesterschriftlichen Schöpfungsnarrativs der                  mus könnte sich als philosophisch robuste und trag-
angeblich „sanfte“ Auftrag entgegengestellt, den Frucht-           fähige Grundlage der Umweltethik erweisen.
garten zu „bebauen und zu bewahren“ (Gen 2, 15).                   Die Umweltethik ist nicht an eine bestimmte geschicht-
Diese Lesart verfehlt allerdings beide Schöpfungs-                 liche Epoche gebunden, da die Frage nach gelingenden
narrative. Eine Neulektüre des Sechs-Tage-Werkes, an               und guten Mensch-Natur-Verhältnisse mindestens so
das der Höhepunkt des Sabbat anschließt, führt zu                  alt ist wie die Philosophie selbst. Eine umfassende
einer komprimierten Merkformel für den Menschen,                   Übersicht findet sich bei Clarence J. Glacken (1967).
der in der Zusage des (Prokreations-)Segens als ein bild-          Gleichwohl verwundert es nicht, dass die Umweltethik
haftes Zeichen und als Mandatar inmitten einer sehr                als akademische Disziplin in einer Epoche entstand, in
guten Schöpfung verantwortungsvoll „coram Deo“                     der die Diagnosen einer globalisierten Naturkrise nicht
(„lebend in der Gegenwart Gottes") aufzutreten befugt              mehr ignoriert werden konnten. Als diagnostische Über-
ist (siehe Hardmeier/Ott 2015). Ein Gipfelpunkt dieses             schrift für unsere Epoche bietet sich der geo-logische
Schöpfungsnarrativs ist das exklamatorische „hinne“:               Ausdruck „Anthropozän“ an (vgl. Ehlers/Krafft 2006).
„Ja, sieh doch nur“, mit dem die Augen des Mandatars               Viele Menschen auch der jüngeren Generation erleben
auf die Pracht der Natur (als Schöpfung) gerichtet werden.

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Konrad Ott | Umweltethik | 2020 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742

die Jetztzeit in der Verschränkung von Lebens- und               Literatur
Weltzeit, in der viel auf dem Spiel steht. Kann die
                                                                 Böhme, Gernot/Schiemann, Gregor (Hg.) 1997: Phäno-
Menschheit in naher Zukunft den Klimawandel, den                     menologie der Natur. Frankfurt/M., Suhrkamp.
Verlust an Biodiversität, den Schwund an fruchtbaren             Brenner, Andreas 2008: UmweltEthik. Ein Lehr- und
Böden und die Rodung der Primärwälder, die Versau-                   Lesebuch. Fribourg, Paulus.
erung und Vermüllung der Ozeane, die Ausweitung                  Ehlers, Eckardt/Krafft, Thomas (Hg.) 2006: Earth System Sci-
                                                                     ence in the Anthropocene. Berlin/Heidelberg, Springer.
urbaner Strukturen und auch das Wachstum der                     Elliot, Robert (Hg.) 1995: Environmental Ethics. Oxford,
menschlichen Population stoppen oder wenigstens                      Oxford University Press.
begrenzen? Werden sich Konzepte von Nachhaltigkeit               Eser, Uta/Potthast, Thomas 1999: Naturschutzethik.
durchsetzen oder werden autoritäre oder liberalis-                   Eine Einführung für die Praxis. Baden-Baden, Nomos.
tische Politikstile an Dominanz gewinnen, für die                Glacken, Clarence 1967: Traces on the Rhodian Shore.
                                                                     Nature and Culture in Western Thought from
Umweltfragen sekundär sind?                                          Ancient Times to the End of the Eighteenth Century.
Dabei ist es nicht entscheidend, ob das Anthropozän                  Berkeley, University of California Press.
1950, 1750, 1550 oder bereits im Neolithikum (so                 Habermas, Jürgen 2005: Religion in der Öffentlichkeit.
                                                                     In: Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und
Scott 2017) seine Ursprünge hat. Entscheidend ist, ob                Religion. Frankfurt/M., Suhrkamp: 119–154.
die Umweltethik im voll ausgeprägten Anthropozän                 Haraway, Donna 2016: Staying with the Trouble. Making
der Jetztzeit den entscheidenden Schritt von der                     Kin in the Chthulucene. Durham, Duke University Press.
bloßen Moralität (Kant) zur wirklichen Sittlichkeit              Hardmeier, Christof/Ott, Konrad 2015: Naturethik und bib-
(Hegel) gehen kann. Sittlichkeit schließt Kultur, Recht,             lische Schöpfungserzählung. Ein diskurs-theoretischer
                                                                     und narrativ-hermeneutischer Brückenschlag. Stutt-
Ökonomie und Politik ein. Diesen Schritt kann die                    gart, Kohlhammer.
Umweltethik nicht alleine gehen. Für sich genommen,              Heidegger, Martin 1962: Die Technik und die Kehre.
ist sie dazu verurteilt, im Medium der Reflexion und                 Neske, Pfullingen.
der Analyse der aufgezeigten Argumentationslinien                Heidegger, Martin 1976: Vom Wesen der Wahrheit.
und Kategorien zu verbleiben. Sie hat keine Kraft                    Frankfurt/M., Klostermann.
                                                                 Hendlin, Yogi H. 2016: Tiefenökologie. In: Ott, Konrad/
außer dem zwanglosen Zwang guter Gründe. Es muss                     Dierks, Jan/Voget-Kleschin, Lieske (Hg.): Handbuch
zwar der transzendentale Wille der Umweltethik                       Umweltethik. Stuttgart, Metzler: 195–202.
sein, im Anthropozän zur Gestalt des objektiven                  Jenkins, Willis/Tucker, Mary E./Grim, John (Hg.) 2017:
Geistes (im Sinne Hegels) zu werden, aber dieser                     Routledge Handbook of Religion and Ecology.
transzendentale Wille muss gesellschaftspolitische                   New York, Routledge.
                                                                 Kallhoff, Angela 2002: Prinzipien der Pflanzenethik.
Wirklichkeit werden. In diesem Sinne liegt die Zukunft               Die Bewertung pflanzlichen Lebens in Biologie und
der Umweltethik nicht bei ihr allein.                                Philosophie. Frankfurt/M., Campus.
                                                                 Kant, Immanuel [1785] 2000: Grundlegung zur Metaphysik
                                                                     der Sitten. In: Immanuel Kant. Werkausgabe in 12 Bän-
Basisliteratur                                                       den, Band VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grund-
Elliot, Robert (Hg.) 1995: Environmental Ethics. Oxford,             legung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von
    Oxford University Press.                                         Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M., Suhrkamp: 7–102.
Krebs, Angelika (Hg.) 1997: Naturethik. Grundtexte der           Karafyllis, Nicole C. (Hg.) 2003: Biofakte. Versuch über
    gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion.                 den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen.
    Frankfurt/M., Suhrkamp.                                          Paderborn, Mentis.
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