OPTIK Anna Herrgott - Kunstmuseum Heidenheim
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Neu ist jedoch das Ausmaß der vi- suellen Optimierung, welches das digitale Zeitalter ermöglicht. Filter, Apps, Photoshop und auch für Laien erschwingliches Equipment haben so sehr in die alltägliche Darstellungen des Menschen ein- gegriffen, dass kaum mehr zu sagen ist, was echt und was mani- puliert ist. Die Arbeit LIVE SELFIE gewährt einen kleinen Einblick in die Me- chanismen hinter der heutigen Bildproduktion im Social Media. LIVE SELFIE, 2022, Ringlichter mit Stativ, Spiegel auf Die Arbeit besteht aus sogenann- Titelseite: Anna Herrgott: NAKED.2, 2016, Transfertechnik auf Holz, je 13 x 18 x 2 cm, © Anna Hergott Holz, Podest ten Ringlichtern. Diese sorgen für ein schattenarmes, gleichmä- Der Wahrheitsanspruch von Bil- ßig beleuchtetes Motiv. Auch als dern war schon immer mit Vor- Glamour- oder Schönheitslicht sicht zu genießen. Denn Darstel- bekannt, sind diese Hilfsmittel lungen von Personen, Objekten unverzichtbar für Influencer auf oder Gegebenheiten sind anfällig sämtlichen sozialen Plattformen. für Beschönigungen, Verzerrun- Denn auch wenn die Onlinestars gen oder Übertreibungen. Das der heutigen Zeit authentisch und zeigt auch ein Blick in die Kunst- nahbar wirken sollen, so steckt geschichte: Porträtierte ließen doch eine Menge Arbeit dahinter, sich gerne schöner, größer oder nicht gänzlich alltäglich, sondern mächtiger darstellen, als sie es in möglichst perfekt auszusehen. Wirklichkeit waren. Und auch die Herrgotts Installation ermöglicht vermeintlich neutrale Fotografie dem Publikum den direkten Ver- wurde schon früh zu politischen gleich des eigenen Spiegelbilds Zwecken manipuliert. mit und ohne Hilfsmittel. Wenn sich Anna Herrgott in ihren Neben den Stars des Social Media Arbeiten mit geschönten Idealbil- werden vor allem Frauen auch dern beschäftigt, ist dies also über andere Plattformen mit per- erst einmal kein neues Thema. fekt inszenierten Schönheiten
konfrontiert. Hierzu zählen neben dieser Magazine ist heute beinahe Werbeclips und Plakaten vor al- so normal, dass Anna Herrgott lem Beauty- oder Frauenmaga- sich fragte, ob die „ästhetische zine. Diese sind nach den immer Fiktion“ unser Unterbewusstsein gleichen Mustern aufgebaut und bereits so sehr in Beschlag ge- unterscheiden sich im Inhalt nur nommen hat, dass wir den Anblick marginal. Im Zentrum der Cover eines ungeschönten Fotos auf der dieser Zeitschriften steht in der Frontseite eines solchen Druck- Regel ein den aktuellen Schön- werks nicht akzeptieren würden. heitsnormen entsprechendes Mo- Aus diesem Grund hat die Künst- del. Dieses wird stundenlang ge- lerin mit LE PURTUREL Werke ge- schminkt, frisiert, in Szene gesetzt schaffen, welche die visuelle Auf- und fotografiert. Aus hunderten machung solcher Zeitschriften wie von Fotos wird das Beste ausge- Vogue, Elle oder Cosmopolitan wählt, das danach noch aufwendig zitieren, die Models jedoch durch am Rechner optimiert wird. Das unretuschierte Gesichter ersetzt. Ergebnis sind Gesichter ohne Zudem ersetzte die Künstlerin Poren, ohne Falten, mit perfekten die schlagwortartigen Titel durch weißen Zähnen und idealisierten, kritische oder auffordernde Bot- manchmal physisch sogar un- schaften. möglichen Körpern. Der Anblick LE PURTUREL, 2011, Leuchtkasten, Fotografik, Diabelichtung auf Acrylglas 3
eigene Aussehen gemeint ist. Die trivialen Inhalte rund um Promis, Mode und Körperoptimierung wurden durch Hinweise auf die Auswirkungen des Klimawandels ersetzt. Damit weist die Künst- lerin nicht nur auf die fehlenden politischen und gesellschaftlich relevanten Themen in Hoch- glanzblättern hin, sondern stellt einen direkten Zusammenhang zwischen Modewelt und globaler Erwärmung her. Denn die Mode- industrie verbraucht unglaub- liche Ressourcen. Gerade die sogenannte Fast Fashion bringt in unfassbarem Tempo neue Kol- FEMME (SUR)VIVAL, 2020, XT-Spiegel, handgraviert lektionen heraus und motivert damit Käufer*innen zum noch schnelleren Konsum. Dass ein Frauen- und Fashionmagazine Großteil der Kleidung in Ländern sind auch Thema der Spiegel- wie Bangladesch, Indien oder und Glasarbeiten Herrgotts. Statt Pakistan produziert wird, durch eines Models sehen sich die Be- die teils giftigen Stoffe dortige sucher*innen nun aber selbst auf Flüsse verschmutzt und auf wei- einem fiktiven Zeitschriftencover. ten Transportwegen in deutsche Das eigene Spiegelbild betrach- Geschäfte reist, ist bekannt, findet tend mag ein erster Impuls sein, in der glitzernden Welt der Mode- sich vorzustellen, wie es wäre, auf magazine aber keinen Platz. einem aufwendig produzierten Hochglanzmagazin abgelichtet Sämtliche Studien zum Thema zu sein. Welche Pose würde ich Körperbilder kommen zu er- einnehmen, welchen Gesichts- nüchternden Ergebnissen. Die ausdruck wählen? Und empfindet britische Girls‘ Attitude Survey man sich als „Hot or Not“, wie es belegte 2020, dass 80 % der auf dem Titel heißt? Erst bei ge- Mädchen zwischen 11 und 21 nauerer Betrachtung zeigt sich, darüber nachdenken, ihr Aus- dass mit „Heiß“ gar nicht das sehen zu verändern, da sie sich 4
BODYFICATION, 2007, Fotografie auf Papier, Schutzfolie (gerahmt) nicht für gut genug halten. Eine rin es selbst formulierte. Ein Six- Studie von Stern TV im Jahr 2017 pack, eine breite Brust und mus- hat ergeben, dass 91 Prozent der kulöse Waden, ein größerer Bu- deutschen Frauen unzufrieden sen, eine schmalere Taille … Die mit ihrem Körper sind. Und in jün- gezeichneten Linien geben Aus- geren Studien wird immer deut- kunft über die jeweils individuel- licher, Körperbildstörungen sind len Idealbilder. Der Blick von au- vermehrt auch bei jungen Män- ßen lässt manche dieser Wünsche nern zu verzeichnen. Social-Me- unverständlich erscheinen, zumal dia-Kanäle befeuern diesen Trend die meisten der Änderungen rein mit enormer Geschwindigkeit. optischer Natur sind, aber keiner- Für ihr Projekt BODYFICATION be- lei funktionelle Verbesserungen fragte Anna Herrgott verschiede- bewirken würden. ne Personen nach ihren „Problem- stellen“, die sie gerne beseitigen Schönheitsideale und unser Um- oder verändern würden. Die Wün- gang mit ihnen unterliegen einem sche wurden, wie bei Schönheits- steten Wandel. Ein Blick in die operationen üblich, auf die Haut Kunstgeschichte macht dies deut- gezeichnet. „Es entstanden tem- lich. Vor allem die „Rubens-Frau- poräre Skizzen, Zeichnungen in en“ sind ein bekanntes Beispiel für einer chirurgischen Geheimspra- Körperdarstellungen, die sich von che, den Kürzeln eines Bildhauers heutigen Idealen unterscheiden. gleichend, Wünsche in grafischen Um die Absurdität des heutigen Linien formuliert“, wie die Künstle- Optimierungswahns zu entlarven 5
BODYFICATION ON_No. 8, 2010, Mixed Media, Öl auf Leinwanddruck, Fineliner oder auch notwendige Revisionen gott die veränderte Darstellung sichtbar zu machen, greift Herr- von Nacktheit. Die Gesichter der gott in einer Reihe von Werken Frauen auf den Kunstwerken der immer auch historische Beispiele Vergangenheit sind hier verpixelt. auf und bringt sie in einen Kontext Das Unkenntlichmachen von Per- mit der Gegenwart. sonen steht im Zusammenhang mit Diskussionen um Persönlich- Für BODYFICATION ON beispiels- keitsrechte. Gerade in der digi- weise zeichnete sie, ähnlich wie talen Zeit ist die Debatte um das bei dem ausgestellten Fotoprojekt Recht am eigenen Bild relevant, Bodyfication, Zeichnungen der da Bilder in Sekundenschnelle plastischen Chirurgie auf berühm- tausendfach geteilt werden kön- te Aktdarstellungen der Geschich- nen. Heikel ist dies vor allem, te. So wird deutlich, dass François wenn es sich um sensible Darstel- Bouchers Diana aus heutiger lungen, etwa von Nacktheit han- Sicht wohl keinen Modeljob be- delt. Denn durch eine Verpixelung kommen würde. wird die Identität der oder des Dargestellten zwar unkenntlich Für NAKED.2 thematisierte Herr- gemacht, der Körper bleibt jedoch 6
sichtbar und wird so zu einem LIKE YOURSELF. Auf einzelnen Objekt der Betrachtung. Dadurch handgravierten Spiegeln sind Na- bewegen sich Herrgotts Werke men von Körperteilen zu lesen. Zu zwischen Voyeurismus und Exhi- Beginn des Museumsbesuchs er- bitionismus, privat und öffentlich, halten alle Besucher*innen einen anonym und sichtbar. Sticker mit erhobenem Daumen, der berühmte Like-Button, wie In ihren Werken setzt sich Anna man ihn von Facebook kennt. Herrgott kritisch mit der konflikt- Farblich unterschieden zwischen geladenen Auseinandersetzung Männern, Frauen, Kindern und mit dem eigenen Erscheinungs- divers dürfen Besucher*innen bild auseinander. Immer wieder einen Sticker unter denjenigen zeigt sie auf, wie sehr uns Medien Körperteil kleben, mit dem sie am unter Druck setzen, einem bei- glücklichsten sind. So stehen am nahe utopischen Bild zu entspre- Ende der Ausstellung ein positiv chen. Ziel dieser Auseinanderset- gestimmtes Meinungsbild und zung ist es, die medialen Stress- ein Aufruf, nicht nur auf vermeint- mechanismen zu enttarnen, zu liche Fehlstellen, sondern auch dekonstruieren und so zu positi- auf schöne Aspekte des Körpers veren Selbstbildern zu verhelfen. zu achten. Aus diesem Grund steht am Ende der Ausstellung die Installation LIKE YOURSELF, 2021, XT-Spiegel (handgraviert), Multiplex 7
DAS KÖRPERBILD IM KONFLIKT Der heutige Mensch befindet sich hierbei und welche Akteur*innen in einem permanenten Kampf. Ei- haben ein Interesse daran, dass nem Kampf mit dem eigenen Kör- wir uns unglücklich im eigenen per. Ein Kampf, den wir, wie die Körper fühlen? Psychotherapeutin Susie Orbach Die Geschichte der Körperbildstö- schreibt, nur verlieren können.1 rungen geht einher mit der Ent- Wir unterscheiden unseren Kör- wicklung des Kapitalismus in der per schon länger nicht mehr in Spätmoderne sowie mit der Ent- „gesund und arbeitsfähig“ und wicklung von Freiheit und Demo- „krank und nicht arbeitsfähig“, kratie. Beide Aspekte weisen Ana- sondern er ist zu einem Projekt logien auf, sodass hier parallel geworden, an dem fortwährend verlaufende und miteinander ver- gearbeitet werden muss, der zu bundene Aspekte vermutet wer- optimieren ist, um konkurrenzfä- den können. hig, fit und attraktiv zu sein. Der Anfang des „Projekts“ beginnt In seiner Abhandlung über das schon mit jungen Jahren. Unter Spiegelstadium von Kindern hat den zehn- und elfjährigen Mäd- der Psychoanalytiker Jacques La- chen gibt bereits jedes vierte an, can einen wichtigen Beitrag zum schon einmal eine Diät gemacht Thema des Selbst verfasst. Er ana- zu haben.2 Beendet ist das Projekt lysierte den Moment, in dem Kin- auch im hohen Alter nicht mehr. der fähig sind, das eigene Spiegel- Angesichts von Antifaltencreme- bild und damit sich selbst zu werbungen beim Teleshopping, erkennen.3 immer neuen und immer absur- Die Auseinandersetzung mit dem deren Diäten in Frauenzeitschrif- Ich ist für die Entwicklung einer ei- ten und der vermehrten Präsenz genen Identität notwendig und von sogenannten Best Ager Mo- wird immer wieder am Spiegelbild dels zeigt sich, dass auch Rent- abgeglichen. Wie wir uns sehen, ner*innen in den Fokus des Mar- ist dabei jedoch nicht neutral. Wie ketings der Kosmetik-, Mode- und Homi K. Bhabha richtig festhielt, Fitnessindustrie geraten sind. ist Identität keine passive Abbil- Doch wie kam es, dass sich das dung gegebener Merkmale, son- Körperempfinden der Gegenwart dern wird stets neu verhandelt. so stark verändert hat? Welche Hierbei sei, so Bhabha, Dialektik, Rolle spielt der Konsummarkt also die Konklusion aus Wider- 9
sprüchen von zentraler Bedeu- was gerade in digitalen Zeiten der tung.4 Fall ist. Dazu später mehr. Wer wir sind und wie wir uns se- Nun hat sich die Gesellschaft im hen, das sind Fragen, die eng mit 20. und 21. Jahrhundert radikal sozialen Beziehungen, dem Ver- verändert. Im Falle der oben ge- gleich und der Sozialisation ver- nannten Zusammenhänge sind knüpft sind. In diesem Kontext ist hier zwei Punkte wichtig. Zum ei- geschichtlich gesehen das Einge- nen ist die Einbindung in eine so- bundensein in eine Gemeinschaft ziale Gruppe nicht mehr so klar bedeutsam: Religion, Riten, Tradi- definiert, wie noch in früheren Zei- tionen, Sprache und Regeln set- ten. Die Grenzen sind fluider ge- zen Grenzen und Normen, inner- worden. Der britische Soziologe halb derer sich eine Persönlichkeit Anthony Giddens spricht hier von entwickeln kann. Sie dient zur Ab- „Entbettungsmechanismen“.5 War grenzung von Anderen und zur man in früheren Jahrhunderten Festigung zwischenmenschlicher womöglich Teil einer großen Fa- Bindungen, gibt Richtung, Gewiss- milie, eines überschaubaren heit, Halt und definiert einen Teil Dorfs, einer Religionsgemein- der Identität. schaft, einer Gilde, einer Sprach- gemeinschaft und eines Fürsten- Innerhalb unserer Beziehungs- tums, so fallen viele dieser komplexe finden immer wieder beziehungs- und identitätsstiften- Vergleichsprozesse statt. Ständig den Bindungen weg. Städte und vergleichen wir uns mit anderen Dörfer werden größer und anony- Menschen, was vor allem bei Ju- mer, Familienstrukturen deutlich gendlichen der Fall ist. Der ver- kleiner und über größere Distan- gleichende Blick ist dabei meis- zen verteilt, Religionen verlieren tens aufwärts gerichtet. Die Be- an Einfluss und so weiter. Damit trachteten können dabei zum Bei- verlieren auch strukturgebende spiel die Eltern, Führungskräfte, Riten und Traditionen zunehmend Gleichaltrige oder Prominente im an Bedeutung. Sie weichen einer weitesten Sinne sein. vernetzten Moderne, in der das Die Vergleiche können motivie- Internet eine völlig neue Reich- rend sein, wenn versucht wird, die weite an möglichen Kontakten zu- eigenen Leistungen anzupassen. lässt. Das hat auch Auswirkungen Gleichsam können sie jedoch auf das Abgleichen mit Anderen. auch zu Selbstzweifeln führen, Statt mit einzelnen Mitgliedern ei- 10
ner Gemeinschaft sehen wir uns anderen Plattformen Inhalte, etwa mit einer schier unendlichen Flut Fotos, Videos oder Liveübertra- an Bildern konfrontiert, die sich gungen, hochladen. Werden die uns zum Vergleich anbieten. Spit- Inhalte häufig aufgerufen, gelikt zensportler*innen, Influencer*, oder kommentiert, steigen die Supermodels, Popstars … Spätes- Prominenz der Person und die tens seit dem Aufkommen der Zahl der Follower, die regelmäßig Massenmedien haben wir es mit die Inhalte konsumieren und Superlativen zu tun, mit denen wir kommentieren. Wem viele Men- uns messen können und auch sol- schen folgen, der wird auch at- len. Hierbei wird man zwangsläu- traktiv für Unternehmen. Influen- fig schlecht abschneiden. Durch cer erhalten von Unternehmen Social Media wurden die Möglich- Geld, Reisen oder Sachmittel, die keiten des Vergleichens nochmals dann zum Inhalt neuer Beiträge vervielfacht und beschleunigt. 95 werden. Prozent der 10- bis 18-Jährigen nutzen heute Social-Media-Kanä- Diese Form des Marketings ist le und werden dort mit „Vorbil- revolutionär. Ole Nymonen und dern“ konfrontiert. Die Intimität, Wolfgang M. Schmitt haben die- die durch die Struktur des Social sen Umstand in ihrem Buch „In- Medias vorgetäuscht wird, macht fluencer – die Ideologie des Wer- die dortigen Stars scheinbar greif- bekörpers“ analysiert. barer. In einer Welt, die immer Das Besondere an Influencern ist, komplexer wird, kann diese ver- dass sie „weder fiktive Personen, meintliche Vertrautheit zu einem noch Promis sind“.6 Sie wirken Ersatz für die verloren gegange- nahbar. Zum einen, weil es sich nen Gemeinschaften früherer Zei- um Personen handelt, die nicht ten werden. unbedingt aus wohlhabenden oder einflussreichen Kreisen kom- Wie Anna Herrgott in ihren Wer- men. Social Media gibt sich de- ken deutlich macht, sind diese mokratisch: Jede*r kann senden, Vorbilder jedoch alles andere als jede*r kann empfangen und da- echt. Photoshop, Beleuchtungen durch kann auch jede*r zum Influ- und Filter verzerren das Bild der encer werden. Tatsächlich handelt Realität. Doch wie funktioniert das es sich jedoch um „Winner- System Influencer? Takes-All-Märkte“7, die nur einem Influencer sind Personen, die auf kleinen Teil der Internetnutzer Youtube, TikTok, Instagram oder offenstehen. 11
Zum anderen ist die Form der geworden“.9 Beinahe sämtliche Kommunikation eine andere. Fol- menschliche Handlungen, vor al- lower werden direkt ansprechen, lem aber Akte des menschlichen können im Chat und in Kommen- Körpers, werden zur Perfor- tarspalten direkt reagieren. Ge- manz.10 Was zählt ist nicht unbe- filmt wird in scheinbar privaten dingt die Leistung, die ein Indivi- Räumen. Dadurch wirken Stars duum erbringt, sondern wie viel des Social Media nicht wie un- Effekt sie damit erreicht, wie ein- greifbare Filmstars, sondern wie zigartig die Handlung zu sein die beste Freundin von Nebenan, scheint und wie sehr sie andere die von ihren alltäglichen Proble- damit erreicht. Der Wahrheitsge- men erzählt, ihre neueste Errun- halt und der Diskurs gehen verlo- genschaften präsentiert oder ren. Fake News eignen sich besser einfach zeigt, wie sie ihren Tag zur Generierung von viel Auf- beginnt. merksamkeit als trockene Infor- mationen. Dass der ehemalige Dass die Beiträge massiv von US-Präsident Donald Trump mit Werbung durchzogen sind, ist gar einer Unmenge an unsinnigen nicht so augenscheinlich. Früher Twitter-Posts ein unglaubliches war Werbung eine eher als stö- mediales Echo erfuhr, verwundert rend empfundene Unterbrechung dadurch nicht. Denn elektronische eines Films oder eine Anzeige in Massenmedien haben, wie By- einem Printmedium. Im Social ung-Chul Han es formulierte, eine Media kommt sie stattdessen als „amphitheatrale Struktur, bei dem Unterhaltung daher. Die Influen- das Publikum nicht zum Diskurs, cer sind nicht bloß Werbefiguren. sondern zur Passivität verdammt Sie sind Werbekörper.8 Werbung ist“.11 In der schieren Menge an In- ist Teil ihres Alltags geworden. formationen, die dieses digitale Andreas Reckwitz sieht in den Amphitheater sendet, bleiben vor Auftritten des Social Media perfor- allem solche Nachrichten im Kopf, mative Authentizität, was eigent- die uns berühren – im Positiven lich ein Widersprich ist. Denn au- wie im Negativen. thentisch zu sein bedeutet, selbstgenügsam zu sein und eben Das bedeutet nicht nur einen neu- nicht das Ziel zu haben, den Er- en Status der Empfänger*innen, wartungen anderer zu entspre- sondern auch der Sender*innen. chen. In der Spätmoderne ist „Au- Social Media Stars können sich thentizität jedoch [zur] Erwartung nicht auf vergangenen Erfolgen 12
ausruhen. Wer nicht sendet, ist Vorbilder für einen gesunden und nicht sichtbar und wer nicht sicht- fitten Lifestyle. Mit motivierenden bar ist, verliert wertvolle Deals mit Sprüchen und Lebensweisheiten Unternehmen. Das führt zu einem strahlen sie einen dauerhaften erheblichen Druck. Optimismus aus und senden die Botschaft, dass jede*r so ausse- Dass dieser Komplex an digitaler hen kann, wenn er oder sie nur Vernetzung auch Auswirkungen ausreichend an sich arbeitet. auf den Körper hat, leuchtet ein. Denn der Kampf um Sichtbarkeit Wie das geht, erklären die Fitness- ist primär ein visueller. Das zeigt Influencer in Videos, in denen sie sich auch an der Menge soge- Übungen vormachen, Ernäh- nannter Fitness-Influencer. Daniel rungstipps geben und natürlich Fox (Instagram: @magic_fox) Produkte bewerben. Ihre Körper gehört mit seinen 2,2 Millionen sind nicht mehr nur Körper, sie Followern zu den Stars der Szene. werden verdinglicht, zur Ware und Seine Followerzahl ist im Ver- Waren können optimiert werden. gleich zu Pamela Reif (Instagram: Dass die Aufnahmen im Social @pamela_rf) mit 6,8 Millionen Media natürlich nicht (nur) das Followern (Stand 20.5.22) jedoch ‚Ergebnis eines ausgewogenen deutlich geringer. Beide sind Sinn- Lebens sind, sondern durch har- bilder eines Kults um den perfek- tes Training, Filter, Photoshop, ten, den aktuellen Schönheits- eine einseitige bis krankhafte Er- standards entsprechenden „Body“. nährung oder eben eine Essstö- Sie präsentieren sich ihren Fans rung und Anabolika produziert aber nicht als unerreichbare Idea- werden müssen, wird selbstre- le, sondern mimen freundliche dend nicht thematisiert. Posts von Daniel Fox und Pamela Reif, Quelle: Instagram 13
Influencern ablesen. Attraktivität Impliziert wird auch eine sexuelle wird durch Bilder vermittelt. Attraktivität. Eva Illouz hat in ihrem Um genauer zu sein geht es hier- eindrucksvollen Werk „Warum bei jedoch nicht um Schönheit. Liebe endet – Eine Soziologie ne- Vielmehr geht es, wie Illouz richtig gativer Beziehungen“ dargelegt, feststellt, um Sexyness. Schönheit dass Beziehungen die Form eines ist angeboren, Sexyness kann Markts angenommen haben.12 künstlich erzeugt werden. „Sexy- ness ist demokratischer als Der Kampf um sexuelle Selbstbe- Schönheit, weil sie einer größeren stimmung ab den 1960er Jahren, Zahl von Menschen offensteht [...] die Anti-Baby-Pille, die Sexualisie- und weil sie das Ergebnis einer rung durch Medien und die Frei- Selbstinzenierung ist und nicht heit in der Partnerwahl haben Ge- von angeborener Schönheit.“13 Es wissheiten und feste Gefüge wie geht darum, einen aktuellen Look die Ehe abgeschwächt. One- zu präsentieren und der ist zu Tei- Night-Stands, Partnerwechsel und len künstlich produzierbar oder die Möglichkeit, sich nicht binden käuflich. „Durch Sport, Mode, Kos- zu müssen, führen zu einer nie metik, medizinische und pharma- dagewesenen Wahlfreiheit, aber zeutische Produkte verwandelt sie auch zu erheblichen Unsicherhei- [die Frau] den Körper in eine ten. Der Liebesmarkt wird im Netz Oberfläche, die visuell als ein über immer größer, was zu neuen Aus- seine Fähigkeit, sexuelles Begeh- wahlmechanismen führt. Sinn- ren auszulösen, definiertes Objekt bildhaft stehen hierfür Datingapps konsumiert werden soll.“14 wie Tinder. Hier werden Usern po- tenzielle Partner*innen angezeigt. Ob man sich selbst in dem Look Innerhalb des Bruchteils einer Se- wohl fühlt, ist nicht mehr wichtig. kunde wird entschieden, ob das Der Blick auf sich selbst ist zu ei- präsentierte Bild attraktiv oder nem Spiegel-Selbst (looking- nicht attraktiv ist und entspre- glass self) geworden. Das bedeu- chend nach links (nicht interes- tet, dass die (vermutete) Meinung siert) oder nach rechts (interes- von außen mit der eigenen iden- siert) gewischt. Es entstehen tisch wird. Die Werbebilder sind so Attraktivitätsmärkte, in denen je- selbstverständlich geworden, dass weilige Schönheitsstandards viele Menschen nicht mehr aus punkten. Welche das jeweils sind, dem eigenen ästhetischen Ge- das lässt sich bei den angesagten schmack urteilen. Unsere Mei- 14
nung ist von Bildern von außen beitet, ist gesellschaftlich nicht re- beeinflusst. Dies geschieht meist levant. Auffällig ist zudem, dass unterbewusst. In den 1990er und sich Modetrends nicht mehr nur 2000er Jahren wäre eine sehr eng auf Bekleidung konzentrieren, anliegende Hose noch als unmo- sondern längst den Körper selbst disch und hässlich eingestuft wor- zum Ziel gemacht haben. In ei- den. In den 2010er Jahren trugen nem Jahrzehnt ist der Silikonbu- Stars vermehrt Skinny Jeans, was sen stilvoll, dann wiederum sollen bald weltweit zum Trend wurde. Frauen möglichst dürr sein, dann Nun kann man einwenden, dass wieder sind es kurvige Hinterteile, diese Trendwechsel nichts Neues die als besonders schön angese- sind, sondern die ganze Modege- hen und präsentiert werden. schichte durchziehen. Das ist rich- tig. Neu sind jedoch die Globalität Das Erstaunliche am Fall der Influ- von Trends, ihre Schnelligkeit, die encer ist, dass sie ihren Körper Rolle der Medienbilder und die nicht für das andere Geschlecht in Einheitlichkeit der Erscheinungen. Szene setzen. Am Beispiel der Folgten in früheren Zeiten einige weiblichen Social Media Stars hal- modebewusste Menschen einem ten Ole Nymonen und Wolfgang Trend, umfasst dieser heute deut- M. Schmitt fest, dass diese den lich mehr Menschen weltweit und „Male Gaze16 nicht primär für mehrere Generationen. Manche Männer reproduzieren, die ihre Erscheinungen sind so umfas- Bilder betrachten könnten, son- send, dass man in den führenden dern sie machen ihren Followerin- Kleidungsgeschäften kaum mehr nen vor, wie diese den männlichen Alternativen hat. Und hierin liegt Blick bestätigen sollen.“17 Das Ziel- ein entscheidendes Merkmal der publikum der weiblichen Influen- Spätmoderne. Der Konsummarkt cer sind also Frauen, das der gibt vor, dass Konsument*innen männlichen Männer. Die Botschaft immer die Wahl haben. Sie wer- ist jedoch: So solltest du ausse- ben mit Individualität, die man hen, um begehrenswert zu sein. durch Fashion und Looks ausdrü- Diesen Umstand betrachtend cken kann. Tatsächlich handelt es zeigt sich deutlich, womit wir es sich aber um Scheinfreiheiten. hier eigentlich zu tun haben: Es „Die Verpflichtung des Konsums geht in erster Linie um Werbung. wird als Wahlfreiheit verkauft“, Gerade in der digitalen Hyperkul- schreibt Zygmunt Bauman.15 Wer tur offenbart sich die enge Vernet- nicht kauft, wer nicht an sich ar- zung von Emanzipation, Freiheit 15
und Konsum. Nymonen und Objekte eklatant zu Tage tritt und Schmitt nennen etwa die Serie ihn zu einer “promethischen „Sex in the City“ als Paradebeispiel Scham” führt.20 für diesen Umstand. Die Frauen in der Serie, die durchaus als Vorläu- Der Markt wird täglich mit neuen fer der heutigen Influencer gese- Produkten gefüttert, bei denen hen werden können, sind durch- uns weisgemacht wird, dass wir aus selbstbestimmt und emanzi- sie unbedingt brauchen. Längst piert, aber nur, weil sie es sich zählen nicht mehr die Qualitäten leisten können.18 Die meisten Zu- eines Produkts, sondern sein Neu- schauerinnen der Sendung kön- heitsstatus, seine Attraktivität, sei- nen es nicht, träumen aber den- ne Originalität, seine Rarität und noch von einem Paar Monolo sein Versprechen.21 Es soll „die At- Blahniks, um ebenso mondän und traktivität und damit den Markt- erfolgreich zu sein, wie die Titel- wert des Käufers […] erhöhen, [es] figur Carrie Bradshaw. Doch findet sich im Groß- und Kleinge- selbst, wenn sie eines hätten, wä- druckten, zumindest aber zwi- ren sie, entgegen der implizierten schen Zeilen, in den Prospekten Botschaft, nicht glücklicher. aller Produkte – einschließlich je- ner, die augenscheinlich in erster Es ist ein Markenzeichen der Kon- Linie oder sogar ausschließlich sumgesellschaft, dass Konsu- dem reinen Vergnügen des Kon- ment*innen nicht zufrieden ge- sumenten dienen sollen.“22 [...]. stellt werden. Zygmunt Bauman Anna Herrgott macht in ihren In- hat dies in „Leben als Konsum“ stallationen die Bedeutung des analysiert. „Die Konsumgesell- Körpers in der konsumistischen schaft floriert, solange sie erfolg- Spätmoderne deutlich. Sie zeigt reich dafür sorgt, dass die Nicht- auf subtile Weise, welchen Stress Befriedigung ihrer Mitglieder [...] und welchen Druck die Medien fortwährend ist.19 Günther Anders auf uns ausüben. Sie deutet an, hat hierfür den Begriff „promethi- wie der Körper zur Ware wird, mit sche Scham“ verwendet. Er stellt der wir eigentlich ständig un- fest, dass Produkte nicht mehr Be- glücklich sein sollen, um durch die dürfnisse stillen, sondern diese Arbeit daran die Wirtschaft zu be- erst wecken. Und er stellt eine Un- feuern. Sie lässt uns darüber vollkommenheit des Menschen nachdenken, ob wir nicht weg- fest, die angesichts der immer kommen können von negativen perfekteren von ihm produzierten Selbstbildern, sondern uns viel- 16
mehr auf das Positive des Körpers konzentrieren könnten, um so den Griffen der Konsumgesellschaft zu entkommen. * Hinweis: Da Influencer und Follower eng- 9 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der lische Begriffe sind, werden diese im vor- Singularitäten: Zum Strukturwandel der liegenden Text nicht gegendert. Moderne, Suhrkamp Verlag, 2019, S. 247 1 Susie Orbach: Bodies. Im Kampf mit dem 10 Ebd., S. 237 Körper, Arche Verlag 2021, S. 8 11 Byung-Chul Han: Infokratie, 2 Susanne P. Kreikebaum: Körperbild, Körper- Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2021, S. 24 zufriedenheit, Diätverhalten und Selbst- 12 Eva Illouz: Warum Liebe endet – Eine Sozio- wert bei Mädchen und Jungen im Alter logie negativer Beziehungen, suhrkamp von sieben bis dreizehn Jahren: Eine inter- Verlag, Frankfurt am Main, 2020, S. 33 kulturelle Vergleichsstudie (USA – D) und 13 Ebd. S. 159 Längsschnittuntersuchung (D), unter: 14 Ebd. http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/d/2003/ 15 Zygmunt Bauman: Leben als Konsum, uni-koeln/11w1031.pdf [Stand: 19.5.22] Hamburger Edition, 2009, S. 99 3 Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar, Buch 1 : 16 Der „male gaze“, übersetzt das „männliche (1953 – 1954): Freuds technische Schriften, Starren“ oder auch der „männliche Blick“, Turia + Kant Verlag, 2015 bezeichnet eine Darstellung von Frauen 4 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, durch die metaphorischen Augen eines Routledge, London/New York, 1994, S. 25 Mannes. Die Frau wird dadurch mehr als 5 Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Objekt betrachtet als als Mensch. Moderne, suhrkamp Verlag, Frankfurt am 17 Ole Nymonen und Wolfgang M. Schmitt, Main, 1997 S. 106f. 6 Ole Nymonen und Wolfgang M. Schmitt: 18 Vgl. Ebd. S. 23 Influencer – die Ideologie des Werbe- 19 Zygmunt Bauman, S. 64 körpers, edition suhrkamp 2021, S. 9 20 Günther Anders: Die Antiquiertheit des 7 Winner-Take-All Märkte heißt, dass sich ein Menschen, Erster Band : Über die Seele im großer Teil des gesamten Erfolgs auf eine Zeitalter der zweiten industriellen Revolu- kleine Gruppe verteilt. Wenige Firmen teilen tion, Verlag C. H. Beck, München 1983 sich den gesamten Markt. Je erfolgreicher 21 Vgl. Reckwitz, S. 119 – 179 eine Marke oder ein Produkt, desto mehr 22 Zygmunt Bauman, S. 76f. weitere Erfolge lassen sich damit erzielen, selbst, wenn diese nicht unbedingt eine hohe Qualität haben. Hier spricht man vom sog. Matthäus-Effekt. 8 Ebd. S. 52 17
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Die Broschüre erscheint anlässlich der Ausstellung: OPTIK Anna Herrgott 17. Juli – 30. Oktober 2022 im Kunstmuseum Heidenheim Herausgeber und Veranstalter: Stadt Heidenheim, Fachbereich Kultur, Matthias Jochner Texte: Marco Hompes Gestaltung: Miriam Röhrig Lektorat: Helene Reich Copyright, sofern nicht anders angegeben, bei der Künstlerin © Kunstmuseum Heidenheim Auflage: 800 Stück Ein herzliches Dankeschön an unsere Sponsorinnen und Sponsoren, an das gesamte Team des Kunstmuseums sowie an alle, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben. Hermann-Voith- Stiftung 19
Kunstmuseum Heidenheim Hermann Voith Galerie Marienstraße 4, 89518 Heidenheim Tel. 07321 327-4810 oder -4814 kunstmuseum@heidenheim.de www.kunstmuseum-heidenheim.de
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