PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?

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PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
TITELTHEMA

PFLEGE
Krank
gespart
Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund:
Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?

TEXT: ANINA FRISCHKNECHT UND BIRTHE HOMANN

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021

14 Beobachter 14/2021
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
ZAHLEN: BEOBACHTER/AK | QUELLE: HÄMMIG: «GESUNDHEIT VON BESCHÄFTIGTEN IN GESUNDHEITSBERUFEN» (2018), OBSAN | FOTO: GETTYIMAGES
                                                   30%
                                                der Personen, die
                                                 in Pflegeberufen
                                                  arbeiten, haben
                                                 einige oder viele
                                               Burn-out-Symptome.

                                                   40%
                                                  der Pflegekräfte
                                                   steigen wieder
                                                 aus dem Beruf aus.

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021   65 000
                                                 Pflegende werden
                                                    im Jahr 2030
                                               voraussichtlich fehlen.
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
Wenn der Frühdienst kam, habe ich oft                    Jeder achte in der Schweiz lebende Mensch
geweint. Ich war einfach nur froh, dass nichts
Schlimmes passiert war in der Nacht.»
                                                     ist im Schnitt einmal jährlich im Spital oder
                                                     in einer psychiatrischen Klinik; das sind          Tödliche
«Jeder Tag ist eine Zerreissprobe – zwischen
                                                     über eine Million stationäre Patientinnen und
                                                     Patienten. Und mehr als 165 000 Menschen           Fehler
dem, was ich tun müsste, und dem, was                leben in Heimen. Weil Pflegepersonal und Zeit      Diese sogenannten uner-
möglich ist. Es passieren gefährliche Fehler.»       am Krankenbett fehlt, kommt es zu vermeid­         wünschten Ereignisse
                                                     baren Fehlern. Im Fachjargon heissen sie «un­      ­wären vermeidbar, wenn in
«Nach mehr als einem Jahr Corona-Ausnahme­           erwünschte Ereignisse». Sie werden in einer         Akutspitälern genügend
zustand bin ich am Ende, der Akku ist leer.»         nationalen Datenbank anonymisiert erfasst,          quali­fizierte Pflegestunden
                                                     dem sogenannten Cirrnet (Critical Incident          zur Verfügung stünden:
«Einmal habe ich einem Patienten ein                 Reporting & Reacting Network). Es geht unter
Medikament falsch dosiert. Es war Glück,             anderem um Verwechslung von Medikamen­              243
dass nichts passiert ist. Uns fehlt die Zeit,        ten, doppelt verabreichte Dosen Blutverdün­
extra vorsichtig zu sein.»                           ner oder vernachlässigte Kontrollen von frisch     vermeidbare Todesfälle
                                                                                                        pro Jahr
                                                     Operierten.
«Auf der psychiatrischen Station sind                    Wer beim Pflegepersonal spart, verschuldet
Gespräche unser einziges Werkzeug.                   nachweislich und mutwillig enorme Folgekos­
Viel mehr gibt es nicht, nur noch Medikamente.       ten und den vermeidbaren Tod unzähliger
Wenn wir für Gespräche keine Zeit                    Patienten. Das sagt die amerikanische Pflege­
mehr haben, was leisten wir noch für die             wissenschaftlerin Linda H. Aiken. Sie hat ­diese
Gesundheit unserer Patienten?»                       Zusammenhänge über Jahrzehnte hinweg in                         4649
                                                     zahlreichen Studien untersucht.

W
                                                     Kritischer Wert bei den Diplomierten. Das
                        ir haben nach Pflege­        Schweizer Gesundheitssystem gilt als eines
                                                                                                        vermeidbare Stoffwechsel-
                        fachkräften gesucht,         der besten der Welt. Doch solche Studien hat       Entgleisungen pro Jahr
                        die von ihrer Arbeit         man lange Zeit ignoriert. Eine Analyse im          (etwa Vorfälle mit Blutzucker,
                        ­erzählen. Die Rückmel­      Auftrag des Schweizer Berufsverbands der           Sauerstoffsättigung

                                                                                                                                         INFOGRAFIK: BEOBACHTER/AK | QUELLE: HÄMMIG: «EXPLAINING BURNOUT AND THE INTENTION TO LEAVE THE PROFESSION [...]» (2018), OBSAN, BFS | FOTO: 123RF
                                                                                                        oder Blutdruck)
                         dungen kamen schnell        Pflegefachfrauen und -männer (SBK) ergab:
                         und dutzendfach. Aus        Wovor Pflegefachleute, aber auch Ärztinnen
dem ganzen Land, von Pflegeheimen bis zu             schon lange warnen, ist auch in der Schweiz
psychiatrischen Einrichtungen, von den Akut­
spitälern bis zur Spitex. Sie alle klingen gleich.
Zu viele Patienten, zu viel Druck. Zu wenig gut
ausgebildetes Pflegefachpersonal, zu wenig
                                                     Realität. Wenn in einer Station der Anteil der
                                                     diplomierten Pflegefachpersonen auf unter
                                                     75 bis 80 Prozent sinkt, wird es gefährlich und
                                                     endet im schlimmsten Fall tödlich.
                                                                                                        357
                                                                                                        Millionen
Zeit. Und zu viele Fehler. Nicht erst seit Corona.                                                      Franken kosten
    Richtige Pflege, gute Pflege, damit man          «Am Bett eines sterbenden Patienten muss
                                                                                                        diese Vorfälle
schnell wieder gesund wird oder würdevoll            ich ausschalten, dass ich eigentlich bei
alt werden kann, ist schwierig geworden.             Patient zwei sein müsste, um eine Infusion zu
                                                                                                        pro Jahr in den
­Darunter leiden die Angestellten, aber auch         wechseln, und dass Patient drei schon seit
                                                                                                        Akutspitälern.
 die Patientinnen und Patienten.                     30 Minuten mit Durchfall auf dem Topf sitzt,
                                                     Patient vier sich den Katheter herausgerissen
«Der Ursprung der Pflege liegt bei den Nonnen.       hat und stark blutet. Die ganze Nacht lösche
Sie haben sich aufopfernd um ihre Patienten          ich Brände. Ich bin die einzige diplomierte
gekümmert. Von uns erwartet man die                  Pflegefachfrau für 30 Patienten.»
gleiche Selbstlosigkeit. Das entspricht nicht
der Realität. Pflege ist ein sehr komplexer, «243 Todesfälle pro Jahr wären vermeidbar,
professioneller Beruf, der weit über die     wenn genügend Fachpersonal eingestellt
Nächstenliebe hinausgeht.»                   ­würde», sagt Michael Simon. Er ist Professor
                                              für Pflegewissenschaft an der Universität
Die Stimmen, die sich durch diesen Text zie­  ­Basel und forscht am Berner Inselspital im
hen, stammen von 16 Pflegenden, die endlich    Pflegebereich. Zusammen mit dem Berner
gehört werden wollen. Fast nur von Frauen.     Ökonomen Michael Gerfin hat er für die SBK
Nur knapp ein Fünftel des Pflegepersonals      untersucht, wie unerwünschte Ereignisse und
ist männlich. Die Pflegefachfrauen erzählen    die Anzahl qualifizierter Pflegefachkräfte auf
Beobachter      NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
anonym von ihrem Arbeitsalltag, weil sie       den Stationen zusammenhängen. Die Daten
Angst vor negativen Folgen haben. Ihre Bot­    für die Berechnung stammen vom Bundesamt
schaft: Wenn man bei den Arbeitsbedingun­      für Statistik und beziehen sich auf die Jahre
gen der Pflege spart, spart man auch an der    2012 bis 2017, der SBK hatte keinen Einfluss auf
Gesundheit der Bevölkerung.                    die Analyse. 

16 Beobachter 14/2021
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
«Die ganze Nacht
                 lösche ich Brände.
                 Ich bin die einzige
                    diplomierte
                 Pflegefachfrau für
                   30 Patienten.»

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
«Vielen ist nicht bewusst, dass die Pflege­
fachpersonen sozusagen das Frühwarn­
                                                  mässig zu vermeidbaren Spitaleintritten
                                                  kommt. Kosten von jährlich fast 100 Millionen
                                                                                                        «Uns fehlt ein
system im Spital sind», sagt Simon. Die           Franken könnten durch mehr qualifiziertes             Sicherheits­
­Ärztinnen und Ärzte sind viel weniger am Bett.
 Es sind die Pflegefachkräfte, die handeln
                                                  Personal in den Heimen vermieden werden.
                                                  Das Potenzial an Einsparungen aus der ambu­
                                                                                                        dispositiv,
 ­müssen, wenn Patienten bluten, verwirrt sind,   lanten Versorgung wie der Spitex beträgt bis          das auch im
  fiebern oder wenn die Therapie nicht so läuft
  wie e ­ rwartet. Das braucht ge­
                                                  zu 1,5 Milliarden Franken im Jahr.
                                                                     Ältere, chronisch kranke Men­      grössten
  schultes und gut ausgebildetes                                schen möchten möglichst lange           Stress dafür

                                        42%                                                             sorgt, dass
  Personal. Und es braucht vor                                  daheimbleiben. Dazu kommt,
  allem auch Zeit am Bett, um
  ­                                                             dass die Aufenthaltsdauer in
  ­Verschlechterungen frühzeitig zu
   erkennen.
                                                                ­Spitälern immer kürzer gewor­
                                                                 den ist. Mit der Zahl der Patien­
                                                                                                        keine Fehler
                                          der Spital-            tinnen und Patienten ist auch der      passieren.»
«Wir Pflegende sind Piloten in            eintritte in           Bedarf an Spitex-Mitarbeitenden
­einem Cockpit, müssen tausend          der Langzeit- gestiegen: Vor zehn Jahren waren
 Sachen kontrollieren. Im Alters-        pflege sind             es noch 32 000, heute sind es          «Statt ein
 heim kommen pro Patient gut
 acht Diagnosen. Aber im Gegen-
                                        vermeidbar.              fast 40 000 Angestellte. «Eine
                                                                 ­gute Qualität ist auch hier uner­
                                                                                                        Gehtraining
                                                                                                        zu machen,
                                            1,5
 satz zu Piloten fehlt uns ein                                    lässlich, um gesundheitsbeding­
 ­Sicherheitsdispositiv, das auch
  im grössten Stress dafür sorgt,
                                                                  te Komplikationen, Spitaleintritte
                                                                  und unnötige Kosten zu vermei­
                                                                                                        muss ich
  dass keine Fehler passieren.»                                   den», sagt Nathalie Möckli von        meine Be­
                                          Milliarden
«Jeden Tag müssen wir nach              Franken pro
                                                                  der Universität Basel, die an einer
                                                                  nationalen Studie zur Versor­         wohner aus
­unserem Dienst in ein System            Jahr kosten              gungsqualität im Spitexbereich        Zeitmangel
 eintragen, wie gefährlich der Tag      vermeidbare               arbeitet. Erste Ergebnisse sollen
                                                                                                        direkt in den
                                                                  im Sommer 2022 vorliegen.
 war. Die Skala reicht von 1 bis 7,
                                        Spitaleintritte
 ab 5 ist es ‹gefährliche Pflege›. Es
 gibt fast jeden Tag eine 6 oder 7.»
                                           aus der                Paradox: Mehr Pflege spart Geld.
                                                                                                        Rollstuhl
                                         ambulanten           Mit mehr qualifiziertem Pflege­           setzen.»
Die SBK-Analyse über die Akut­           Versorgung.          fachpersonal liessen sich in Spi­
spitäler zeigt nicht nur, dass viele                          tälern, Heimen und bei der Spitex
                                                                                                        «Jeder Tag
                                         100
Patientinnen und Patienten un­                                bis zu 2 Milliarden Franken Ge­
nötigerweise sterben, sondern
auch: Anders als oft behauptet
                                                              sundheitskosten pro Jahr ein­
                                                              sparen. Nicht beziffern lässt sich,
                                                                                                        ist eine
führen Verbesserungen bei der
                                        Millionen
                                                              wie viel unnötiges Leiden ver­            Zerreiss­

                                                                                                                         ZAHLEN: BEOBACHTER/AK | QUELLE: SBK, GYGLI U. A.: «REGIONAL VARIATION OF AVOIDABLE HOSPITALISATIONS» (2021)
Pflege nicht zu einer Kosten­
explosion. Im Gegenteil, es lies­     Franken pro
                                                              hindert werden könnte.
                                                                  Spitäler und Kliniken könnten
                                                                                                        probe.»
sen sich jährlich 357 Millionen        Jahr kosten            nicht einfach mehr Personal
                                      vermeidbare
Franken sparen. Die Rechnung
ist einfach: Wenn es zu wenig
                                                              ­einstellen, sagt dagegen Anne
                                     Spitaleintritte Bütikofer, Direktorin des Spital­                  «Nur noch
Fachpersonal gibt, kommt es zu       aus der statio- verbands H+. «Mehr Personal                        zwei aus
mehr unerwünschten Ereignis­          nären Lang-              muss auch finanziert werden.
                                                                                                        meiner
sen. Unerwünschte Ereignisse            zeitpflege.            Hier sind Politik und Versicherer
verursachen eine längere Liege­
dauer – das kostet.
                                                               gefragt, die entsprechenden Rah­
                                                               menbedingungen und finanziel­
                                                                                                        42-köpfigen
                                               len Mittel zur Verfügung zu stellen.» Das                Abschluss­
«Unser Heimleiter hat den Hausdienst
als Pflegepersonen rekrutiert. Er
                                               ­fordert auch die SP-Nationalrätin Barbara
                                                Gysi (siehe Interview, Seite 22). Die Kosten­
                                                                                                        klasse
meinte, mit ein bisschen Einlernzeit            frage wird gern delegiert, die Patientensicher­         arbeiten
können sie genau das Gleiche leisten
wie eine ausgebildete Fachkraft.»
                                                heit bleibt auf der Strecke.
                                                   Doch selbst wenn Spitäler, Heime und
                                                                                                        im Beruf.»
                                                Spitex bereit sind, mehr qualifiziertes Pflege­
Das gilt auch für die Langzeitpflege. Hier      fachpersonal einzustellen, ist das noch nicht
fehlt am meisten qualifiziertes Personal. Weil  die Lösung. Denn mehr als 40 Prozent der
Beobachter       NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
Stellen nicht besetzt werden können, springen   Pflegenden steigen aus ihrem Beruf aus.
                                                ­
häufig Pflegehelferinnen oder Pflegeassisten­   Die Pflege brennt aus.
tinnen ein, denen es an Wissen und Erfahrung
mangelt. Auch hier konnte Pflegewissen­         «Das aktuelle System fährt die Fachkräfte
schaftler Simon aufzeigen, dass es regel­       gegen die Wand. Nur noch zwei aus meiner

18 Beobachter 14/2021
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
42-köpfigen Abschlussklasse arbeiten                 «Das System heute geht zulasten der Patienten,
im Beruf.»                                           die wehrlos sind: Demente, Verwirrte, Nieren-,
                                                     Lungen- oder Krebspatienten, Suchtkranke,
                                                                                                        Pflegeberufe
«Ich arbeite momentan bewusst temporär               Sterbende. Das geht doch nicht.»                   Pflegehelferin* (SRK) holt
auf einer chirurgischen Abteilung, weil                                                                 und füllt Material auf und
so die Kündigungsfrist nur zwei Tage beträgt.»       Die Probleme in der Pflege gehen uns alle an.      hilft bei der Pflege.
                                                     Wir liegen irgendwann krank im Spital, und
«Pflege war einmal mein Traumjob. Jetzt ist es       unsere Angehörigen müssen im Heim auf die          Assistentin Gesundheit
einfach nur noch ein Job. In vier Jahren werde       Pflegenden warten. Warum passiert nichts?          (EBA) hilft bei der Körper­
ich pensioniert, sonst würde ich aussteigen.»           Die Lösung, so scheint es, haben auch die       pflege und Mobilisation.
                                                     Spitäler noch nicht gefunden. Kliniken könn­
Corona hat diese Situation noch verschärft.          ten nicht mehr Geld ausgeben, als sie einneh­      Fachfrau Gesundheit (EFZ)
Pflegewissenschaftler Michael Simon wird             men, sagt Anne Bütikofer, Direktorin des Spi­      befolgt Anordnungen der
deutlich: «Es gibt viele Pflegekräfte, die sagen:    talverbands H+. «Anders als in der Privatwirt­     Pflegefachperson, macht
never ever again.» Applaus allein reicht nicht.      schaft haben die Spitäler aufgrund der Tarife      Körperpflege, Mobilisation,
Mehr als 20 Prozent aller Pflegenden wollen          und Leistungsaufträge kaum Spielraum, sich         erhebt Vitalzeichen.
nach der Pandemie aus ihrem Beruf aus­               innerhalb der knappen finanziellen Mittel
steigen, ergab eine kürzlich durchgeführte           zu bewegen oder diese umzuverteilen.» Die          Diplomierte Pflegefachfrau
Umfrage der Beratungsfirma McKinsey.                 Bevölkerung möchte tiefere Krankenkassen­          (HF) arbeitet auf Verord­
   2019 haben 4525 junge Pflegende die Berufs­       prämien, die Patienten möchten die beste Ver­      nung der Ärztin, verabreicht
ausbildung als Fachkraft Gesundheit abge­            sorgung. Darunter leidet am Ende die Pflege.       Medikamente, organisiert
schlossen. Wenn man sie langfristig im Beruf                                                            Austritte, Reha, überwacht
halten will, müssen die Arbeitsbedingungen           Geld in Computersysteme verlocht. Jacqueline       pflegerische Massnahmen.
besser werden. Hochrechnungen des Schwei­            Martin kennt den Spardruck, unter dem die
zerischen Gesundheitsobservatoriums gehen            Spitäler leiden, ebenso wie die Nöte der Pfle­     Pflegeexpertin (FH) ist auf
davon aus, dass im Jahr 2030 fast 65 000 Pfle­       genden. Die Chefin der Careum Hochschule           Themen wie Wundpflege
gende fehlen werden. Genauso alarmierend             Gesundheit in Zürich war zuvor einige Jahre        oder Schmerz spezialisiert.
sind die Zahlen zur psychischen Belastung in         Pflegedirektorin des Unispitals Basel. Sie habe
Gesundheitsberufen (siehe Seite 15).                 immer wieder feststellen müssen, dass in den       Pflegefachfrau ANP
                                                     Spitälern oft Millionen für IT-­Sys­teme ein­      (Bachelor) arbeitet neben
Der Politik geht die Initiative zu weit. Seit mehr   gesetzt werden, die nur schlecht aufeinander       einer Pflegeexpertin im
als drei Jahren liegt deshalb die Volksinitia-       abgestimmt sind. Dadurch komme es nicht            Büro oder einer Pflege­
tive für eine starke Pflege auf dem Tisch. Sie       nur zu Fehlern, auch die Arbeits­belastung ver­    fachperson am Bett.
fordert eine Ausbildungsoffensive, mehr Per­         vielfache sich. «So geht Geld verloren, das an
sonal, mehr Eigenverantwortung und bessere           anderen Orten dringend gebraucht würde.»           Pflegewissenschaftlerin
Arbeitsbedingungen. Doch der Politik gehen               Es sei beispielsweise eine Illusion, dass      APN (Master) erarbeitet
die geforderten Massnahmen zu weit. Das              die Spitäler ihre grossen Bauvorhaben selbst       Pflegemodelle.
Bundesparlament hat einen indirekten Gegen­          finanzieren könnten, wie das im Fallpauscha­
vorschlag verabschiedet. Die Initiative kommt        lensystem Swiss DRG 2012 vor­gesehen ist.          Bereichsleiterin Pflege
frühestens im Spätherbst 2021 vors Volk.             ­Entsprechend gross sei die Gefahr, dass beim      gehört zum Kader einer
                                                      Personal gespart werde. «Wie es heute läuft,      grösseren Gesundheits­-
«Fünf Minuten hat eine Bewohnerin nach mir            ist teilweise katastrophal. Wir dürfen die        organisation.
geläutet, weil sie aufs WC wollte. Mir hat das        Pflege nicht zu Tode sparen.»
Herz wehgetan, aber ich war mit einem Notfall            Dass die Pflege systemrelevant ist, hat        Pflegedienstleiterin ist
beschäftigt. Sie ist selber aufgestanden, ge-         Corona deutlich gezeigt. Dennoch haben
                                                      ­                                                 die oberste Führungskraft.
stürzt, hat den Kopf angeschlagen und musste          die Krankenkassen, Versicherungen und die         Arbeitet Seite an Seite mit
ins Spital. Dort hatte sie einen Schlaganfall.        Pharmabranche die lauteste Stimme. «Nie­          der ärztlichen Leitung.
Danach wollte sie nicht mehr leben.»                  mand aus diesen Branchen will zugunsten der
                                                      Pflege auf Gewinn verzichten», sagt Jac­queline   *Pflege ist ein Frauenberuf.
«Statt ein Gehtraining zu machen, muss ich            Martin. Der Rückhalt dieser Branchen in der       Laut Bundesamt für Statistik
                                                                                                        waren in den Spitälern im Jahr
meine Bewohner aus Zeitmangel direkt in               Politik sei gross. Dabei könnte etwa mit weni­
                                                                                                        2019 gerade mal 18 Prozent
den Rollstuhl setzen. So nehme ich ihnen das          ger hohen Medikamentenmargen im Gesund­           der Pflegenden Männer.
letzte Stück Freiheit.»                               heitswesen gut gespart werden. 

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
Wie viel Gehör sich Versicherer und Phar­      hoch spezialisierter medizinischer Beruf mit
ma in Bern verschaffen, zeigte sich jüngst,
als die Pflegeinitiative behandelt wurde. Am
                                                   immenser Verantwortung.
                                                        Und die Fälle, für die Pflegeleute heute      Der Lohn
schwersten hatten es Initiative und Gegen­         ­verantwortlich sind, sind komplexer als früher.   Das Gehalt des Pflegefach-
vorschlag im Ständerat. Dort sitzt Josef Dittli,    Einfache, selbständige Patienten, etwa nach       personals lag 2017 gut
Präsident des zweitgrössten Versicherer­            einer Meniskusoperation, werden schnell nach      10 Prozent unter dem
verbands Curafutura, in der Gesundheits­            Hause geschickt. Das spart zwar Kosten, führt     Durchschnittslohn in der
kommission. «Die Forderungen der Initiative         aber auch dazu, dass die Stationen voll sind      Schweiz. Einige Länder
gehören nicht in die Verfassung», sagt er. Sie      mit Menschen, die an mehrfachen Erkrankun­        im Vergleich.
würden zwar im Grundsatz akzeptiert, gingen         gen leiden. Bei diesen komplizierten Fällen
in der Umsetzung aber zu weit. Dittli und           kann die kleinste Unaufmerksamkeit schwere        Durchschnittslohn
der Ständerat haben deshalb eine massive            Folgen haben. Auch bei der Nachtwache sind
Kürzung der Investitionen in die Ausbildung         die Pflegenden stark gefordert. Das Schlaf­             Chile                 +80%
von Pflegefachpersonen verlangt. Nur der            spital existiert nicht mehr, oft werden auch
Druck der Corona-Krise hat dieses Vorhaben          nachts komplizierte Chemotherapien oder               Mexiko                  +80%
am Ende verhindert. Den Gegenvorschlag              Behandlungen mit Antibiotika durchgeführt.
­findet Dittli gut. Er erfülle die wesentlichen         Diese neuen Herausforderungen haben                 Israel        +50%
 Punkte der Initiative weitgehend.                  ­dazu geführt, dass das Personal ausbrennt
                                                     und gefährliche Fehler entstehen. So schildern
                                                                                                      Luxemburg           +50%
«Gut, aber nicht wirksam genug.» Stimmt              es die vielen Pflegenden, die sich beim Beob­
nicht, sagen die Pflegenden und das Initiativ­       achter gemeldet haben. Der veränderte Pflege­
komitee. Bessere Arbeitsbedingungen werden           alltag lasse sich nur mit Personal stemmen,         Spanien      +30%
nicht angesprochen. Ohne Vereinbarkeit von           das bestens ausgebildet ist und dem Beruf
Beruf und Familie und ohne mehr Personal             möglichst lange treu bleibt. Doch das ist nur           USA      +30%
und weniger Stress sei die Zukunft des Pflege­       möglich mit besseren Arbeitsbedingungen.
berufs und damit die Versorgung der Bevölke­            Gute und sichere Pflege ist teuer. Aber sie   Niederlande       +20%
rung weiterhin gefährdet. Der Gegenvorschlag         kostet weniger, als die Versicherer sagen. Es
beinhalte zwar gute Massnahmen, bestätigt            gibt zudem wirksamere Mittel, um die Kosten      Deutschland     +10%
auch Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des              zu senken, als beim Personal zu sparen. Allem
­Pflege-Fachverbands SBK, «aber keine, die           voran bei unnötigen Untersuchungen.
                                                                                                       Dänemark       +10%
 dem anhaltenden Pflegenotstand wirksam                 Das Pflegepersonal, immerhin eine der
 entgegentreten».                                    grössten Gruppen unter den Arbeitnehmerin­
    Sollte das Volk die Initiative annehmen,         nen in der Schweiz, und die Patientinnen und          Italien    +10%
 müsste die politische Debatte über deren            Patienten brauchen bessere Lösungen. Politik,
                                                                                                       Vereinigtes
 ­Umsetzung wieder von vorn beginnen.                Heime und Spitäler müssen gemeinsam Leit­         Königreich 0
                                                     planken für eine bessere Pflege erarbeiten.
«Die Politik ruht sich darauf aus, dass wir                                                                -10%      Frankreich
Pflegenden alles Menschenmögliche machen,          Der Enthusiasmus ist noch da. Verdient hätte
damit unsere Patienten nicht leiden.             das auch der 15-jährige Johann aus Zürich.
                                                                                                           -10%      Schweiz
Wir überziehen Arbeitszeiten, arbeiten           Er startet frisch und voller Enthusiasmus in
unterbezahlt und krank. Und wenn wir             einen Beruf, der vor grossen Umwälzungen
mal bessere Arbeitsbedingungen fordern,          steht. Nach den Sommerferien wird der                   -20%        Lettland

hört niemand hin.»                               junge Zürcher, noch unbeeindruckt von der

                                                                                                                                         INFOGRAFIK: BEOBACHTER/AK | QUELLE: OECD: «HEALTH AT A GLANCE 2019» | FOTO: 123RF
                                                 Pflegekrise, seine Lehre als Fachangestellter              -30%     Litauen
«Wir sind David, und die Krankenversicherer      Gesundheit auf der Psychiatrie beginnen.
sind Goliath. Wir haben keine Chance, solange       Er hat den Beruf sehr bewusst gewählt –
Politiker nicht verstehen, dass Pflege mehr ist, weil er gern mit Menschen arbeitet und ihn die
als kurz mit dem Waschlappen übers Gesicht       Wirkung von Medikamenten interessiert. Er
zu fahren.»                                      freue sich extrem auf Ausbildung und Arbeit,
                                                 hat aber auch grossen Respekt: «Wenn jemand
«Der Umgang mit Alten, Kranken und               eine Überdosis schluckt und mit Schaum vor
Schwachen wird ausgeblendet. Also wird           dem Mund herumtorkelt, ist das schon heftig.»
der Pflegeberuf ausgeblendet. So ändert          Er müsse lernen, mit solch schwierigen Situ­
sich nie etwas.»                                 ationen umzugehen. Für jemanden wie ihn,
                                                 den Menschen per se interessieren, sei der
In der Pflege arbeiten zwar immer noch mehr­     Pflegeberuf ideal. Dass die Belastung hoch ist
Beobachter        NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
heitlich Frauen, für die die Arbeit am Men­      und viele Pflegefachleute früh wieder aus dem
schen im Zentrum steht. Aber nur, weil es sich   Beruf aussteigen, schreckt den jungen Mann
um einen Frauenberuf handelt, lässt er sich      nicht ab, im Gegenteil: «Es fühlt sich genau
nicht einfach mit irgendwem ersetzen. Pflege     richtig an. Spätestens seit Corona wissen doch       Lesen Sie zum Thema auch
ist keine angeborene Fähigkeit, sondern ein      alle, wie wichtig die Pflege ist.»                  das Interview auf Seite 22.

20 Beobachter 14/2021
«Wir müssen
                 immer eintragen,
                wie gefährlich der
                Tag war. Von 1 bis 7,
                ab 5 ist es ‹gefähr­
                   liche Pflege›.
                 Es gibt fast jeden
                  Tag eine 6 oder
                      eine 7.»

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
«Für die Pflegenden
ein Schlag ins Gesicht»
PFLEGE-NOTSTAND. Verbesserungen im Gesundheitssystem sind nur schwer durchsetzbar.
SP-Nationalrätin Barbara Gysi sagt, welche Kräfte dabei im Parlament spielen.

                                Barbara Gysi, wir stellen eine Diskrepanz fest:   Vorgänger im Präsidium, der heutige Bundes-
                                Im Volk haben die Anliegen der Pflegenden viel    rat Ignazio Cassis, sind dabei wichtige Figuren.
                                Rückhalt, aber die Politik schiebt das Dossier
                                seit Jahren vor sich her. Warum?                  Weshalb können die Pflegefachkräfte in diesem
                                Die Politik hat manchmal Mühe, zu verstehen,      Kräftemessen nicht mithalten?
                                wie bedeutend die Rolle der Pflege im Gesund-     Sie sind per se nicht sehr politisch. Die Pflege-
                                heitswesen ist. Dass man nicht bereit ist, die    lobby ist sehr klein im Vergleich zur Pharma-
                                Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist für die     lobby, den Krankenkassen und den Leistungs-
                                Pflegenden ein Schlag ins Gesicht. Dennoch        erbringern wie Spitälern und Heimen. Es hat
                                läuft aber auch einiges: Der indirekte Gegen-     nur wenige Personen mit pflegerischem Hin-
                                vorschlag zur Pflegeinitiative wurde in beiden    tergrund im Parlament, und nicht alle politi-
                                Kammern verabschiedet. Er ist vor allem eine      sieren in ihren Themen. Im Gegensatz zu den
«Die Pflege­                    Ausbildungsoffensive, in die eine Milliarde       Juristinnen und Bauern.
lobby ist                       Franken gesteckt werden soll, sowie eine Auf-
sehr klein                      wertung des Berufs mit eigenverantwortlicher      Wenn Pflegefachkräfte berichten, wie es in
im Vergleich                    Abrechnungsmöglichkeit. Dass mehr Geld in
                                die Ausbildung von Pflegepersonal fliesst, ist
                                                                                  ­Heimen, Spitälern oder bei der Spitex zugeht,
                                                                                   bekommt man Angst.
zur Lobby                       begrüssenswert. Wichtig ist aber, dass wir        Viele Pflegende sind unter Druck, haben wenig
der Pharma,                     Leute nicht nur ausbilden, sondern sie auch       Zeit für die Patienten, und oft sind Stationen
der Kranken­                    zu fairen Bedingungen anstellen. Es braucht       unterbesetzt, das stimmt. Zur Care-Arbeit

kassen,                         bessere Löhne und mehr Personal, sonst wird
                                die Pflegekrise immer grösser.
                                                                                  ­gehört ja gerade auch, dass man sich hinsetzt,
                                                                                   zuhört und auf die Fragen und Sorgen der
Spitäler und                                                                       ­Patientinnen eingeht. Wenn das nicht mehr
Heime.»                         Die Pflegeinitiative will aber mehr?                möglich ist, ist das ein Alarmsignal. Trotzdem
                                Sie ist ein Massnahmenpaket gegen den dro-          habe ich insgesamt ein gutes Gefühl unseren
Barbara Gysi, 57, ist
SP-Nationalrätin, St. Gallen,   henden Pflegenotstand. Bessere Arbeitsbedin-        Gesundheitseinrichtungen gegenüber. Das
Mitglied der Kommission         gungen und mehr Autonomie für Pflegende             Personal kompensiert sehr viel, indem es
für soziale Sicherheit und      sind zentrale Forderungen. Ebenso soll mehr         ­unheimliche Lasten auf sich nimmt.
Gesundheit (SGK) und            Personal ausgebildet werden. Es geht um eine
sitzt im Initiativkomitee       generelle Aufwertung des Berufs. Der Selbst-      Ein grosser Teil des Pflegepersonals
der Pflegeinitiative.           wert der Pflege wird gesteigert, schliesslich     steigt irgendwann aus dem Beruf aus.
                                sind es nicht mehr Ordensschwestern, die zu       Was läuft falsch?
                                Gottes Lohn arbeiten. Es ist ein eigenständiger   Wir haben es verpasst, klare Standards für die
                                Beruf mit viel Verantwortung. Die heute noch      Personaldotation sicherzustellen. Der Pflege-
                                gültige Bezeichnung «Hilfsberuf» ist eine         notstand ist schon da, er kommt nicht erst
                                ­Zumutung. Jetzt entscheidet das Volk über        2030, wie oft gesagt wird. Schon heute werden
                                 den Stellenwert der Pflege.                      fast 40 Prozent des Pflegepersonals aus dem
                                                                                  umliegenden Ausland rekrutiert. Das ist einer-
                                Welche Argumente zählen im Parlament?             seits egoistisch, schliesslich fehlt es auch im
                             Das Kostenargument zieht natürlich gut. Es           Ausland an Fachpersonal. Andererseits wird
                             wurde mit horrenden und abstrusen Zahlen             es wegen des demografischen Wandels nicht
                             von Seiten der Kassen Angst gemacht, wie teu-        reichen. Wir brauchen mehr und gut quali­
                             er eine Annahme der Pflegeinitiative käme. Die       fiziertes Personal aus der Schweiz. Die Corona-­
Beobachter NR           14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
                             Krankenkassenlobby, allen voran der zweit-           Pandemie hat deutlich gezeigt, wie immens
                             grösste Verband Curafutura, ist gut vernetzt         wichtig gutes Fachpersonal ist.
                             und hat stark lobbyiert. Dessen Präsident,
                                                                                                                                      FOTO: PD

                             FDP-Ständerat Josef Dittli, der auch in der          Das weiss man ja nicht erst seit Corona.
                             ­Gesundheitskommission sitzt, oder auch sein         Was muss sich ändern?

22 Beobachter 14/2021
Ich wünsche mir eine deutlich vom Bund            Die hohen Kosten im Gesundheitswesen                  «Sobald man
­bestimmte Gesundheitspolitik. Im Gesund­         ­kommen nicht von der Pflege. Sondern von
 heitswesen ist sehr vieles kantonalisiert. Der    unnötigen Operationen, falschen Anreizen,
                                                                                                        selbst krank
 Bund ist zwar für das Krankenversicherungs­       horrenden Honoraren von Chefärzten. Die              ist, sind die
 gesetz zuständig, die Umsetzung aber liegt bei    Technisierung spielt auch eine Rolle, teure          Kosten dann
 den Kantonen. Die Langzeitpflege ist sogar oft
 auf Gemeindeebene angesiedelt. Es gibt sehr
                                                   ­Geräte müssen ausgelastet werden. Wenn alle
                                                    unnötigen Untersuchungen und Operationen
                                                                                                        plötzlich
 viele Akteure, die mitreden und oft nur ihre       vermieden würden, würde sehr viel gespart.          nicht mehr
 eigenen Interessen vertreten. Das alles führt      Auf der anderen Seite will man, sobald man          relevant.»
 zu Versplitterungen.                               dann selbst krank ist – oder eine nahestehen­
                                                    de Person –, einfach nur die bestmögliche Be­
Was könnte der Bund besser?                         handlung, die Kosten sind plötzlich nicht mehr
Der Zugang zum Gesundheitswesen ist sehr            relevant. Klar ist: Investitionen in die Arbeits­
unterschiedlich, das ist nicht fair. Es kommt       bedingungen steigern die Qualität und verhin­
darauf an, wo man lebt und welche Kranken­          dern damit Fehler und schliesslich Kosten.
kasse man hat. Je nachdem sind die Leistun­
gen deutlich besser oder schlechter, das ist      Wie wollen Sie klarmachen, dass es um
nicht in Ordnung. Der Bund müsste verbind­        die Patientensicherheit geht und nicht
liche Vorgaben zu den Arbeitsbedingungen          um zusätzliche Kosten?
machen, Personalschlüssel festsetzen und          Das Gesundheitswesen muss klarer als Ser­
dafür sorgen, dass alles überall vergleichbar     vice public verstanden werden, und es müs­
umgesetzt wird. Das ist im föderalistischen       sen mehr öffentliche Gelder fliessen, damit
Schweizer System aber kaum umsetzbar. Es          das nicht die Bürgerinnen und Bürger allein
brauchte eine Verfassungsänderung.                tragen müssen. Unser Kopfprämiensystem ist
                                                  nicht fair: Wenn die mit dem dicken Porte­
Es kommt immer das Killerargument                 monnaie auch eine dicke Prämienrechnung
der hohen Kosten, der steigenden Prämien.         hätten, sähe vieles anders aus.
Wie sehr leidet die Pflege darunter?              INTERVIEW: BIRTHE HOMANN UND ANINA FRISCHKNECHT

Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
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