PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts?
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TITELTHEMA PFLEGE Krank gespart Bei der Pflege passieren tödliche Fehler. Der Grund: Das Personal ist überlastet. Warum tut sich nichts? TEXT: ANINA FRISCHKNECHT UND BIRTHE HOMANN Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 14 Beobachter 14/2021
ZAHLEN: BEOBACHTER/AK | QUELLE: HÄMMIG: «GESUNDHEIT VON BESCHÄFTIGTEN IN GESUNDHEITSBERUFEN» (2018), OBSAN | FOTO: GETTYIMAGES 30% der Personen, die in Pflegeberufen arbeiten, haben einige oder viele Burn-out-Symptome. 40% der Pflegekräfte steigen wieder aus dem Beruf aus. Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 65 000 Pflegende werden im Jahr 2030 voraussichtlich fehlen.
Wenn der Frühdienst kam, habe ich oft Jeder achte in der Schweiz lebende Mensch geweint. Ich war einfach nur froh, dass nichts Schlimmes passiert war in der Nacht.» ist im Schnitt einmal jährlich im Spital oder in einer psychiatrischen Klinik; das sind Tödliche «Jeder Tag ist eine Zerreissprobe – zwischen über eine Million stationäre Patientinnen und Patienten. Und mehr als 165 000 Menschen Fehler dem, was ich tun müsste, und dem, was leben in Heimen. Weil Pflegepersonal und Zeit Diese sogenannten uner- möglich ist. Es passieren gefährliche Fehler.» am Krankenbett fehlt, kommt es zu vermeid wünschten Ereignisse baren Fehlern. Im Fachjargon heissen sie «un wären vermeidbar, wenn in «Nach mehr als einem Jahr Corona-Ausnahme erwünschte Ereignisse». Sie werden in einer Akutspitälern genügend zustand bin ich am Ende, der Akku ist leer.» nationalen Datenbank anonymisiert erfasst, qualifizierte Pflegestunden dem sogenannten Cirrnet (Critical Incident zur Verfügung stünden: «Einmal habe ich einem Patienten ein Reporting & Reacting Network). Es geht unter Medikament falsch dosiert. Es war Glück, anderem um Verwechslung von Medikamen 243 dass nichts passiert ist. Uns fehlt die Zeit, ten, doppelt verabreichte Dosen Blutverdün extra vorsichtig zu sein.» ner oder vernachlässigte Kontrollen von frisch vermeidbare Todesfälle pro Jahr Operierten. «Auf der psychiatrischen Station sind Wer beim Pflegepersonal spart, verschuldet Gespräche unser einziges Werkzeug. nachweislich und mutwillig enorme Folgekos Viel mehr gibt es nicht, nur noch Medikamente. ten und den vermeidbaren Tod unzähliger Wenn wir für Gespräche keine Zeit Patienten. Das sagt die amerikanische Pflege mehr haben, was leisten wir noch für die wissenschaftlerin Linda H. Aiken. Sie hat diese Gesundheit unserer Patienten?» Zusammenhänge über Jahrzehnte hinweg in 4649 zahlreichen Studien untersucht. W Kritischer Wert bei den Diplomierten. Das ir haben nach Pflege Schweizer Gesundheitssystem gilt als eines vermeidbare Stoffwechsel- fachkräften gesucht, der besten der Welt. Doch solche Studien hat Entgleisungen pro Jahr die von ihrer Arbeit man lange Zeit ignoriert. Eine Analyse im (etwa Vorfälle mit Blutzucker, erzählen. Die Rückmel Auftrag des Schweizer Berufsverbands der Sauerstoffsättigung INFOGRAFIK: BEOBACHTER/AK | QUELLE: HÄMMIG: «EXPLAINING BURNOUT AND THE INTENTION TO LEAVE THE PROFESSION [...]» (2018), OBSAN, BFS | FOTO: 123RF oder Blutdruck) dungen kamen schnell Pflegefachfrauen und -männer (SBK) ergab: und dutzendfach. Aus Wovor Pflegefachleute, aber auch Ärztinnen dem ganzen Land, von Pflegeheimen bis zu schon lange warnen, ist auch in der Schweiz psychiatrischen Einrichtungen, von den Akut spitälern bis zur Spitex. Sie alle klingen gleich. Zu viele Patienten, zu viel Druck. Zu wenig gut ausgebildetes Pflegefachpersonal, zu wenig Realität. Wenn in einer Station der Anteil der diplomierten Pflegefachpersonen auf unter 75 bis 80 Prozent sinkt, wird es gefährlich und endet im schlimmsten Fall tödlich. 357 Millionen Zeit. Und zu viele Fehler. Nicht erst seit Corona. Franken kosten Richtige Pflege, gute Pflege, damit man «Am Bett eines sterbenden Patienten muss diese Vorfälle schnell wieder gesund wird oder würdevoll ich ausschalten, dass ich eigentlich bei alt werden kann, ist schwierig geworden. Patient zwei sein müsste, um eine Infusion zu pro Jahr in den Darunter leiden die Angestellten, aber auch wechseln, und dass Patient drei schon seit Akutspitälern. die Patientinnen und Patienten. 30 Minuten mit Durchfall auf dem Topf sitzt, Patient vier sich den Katheter herausgerissen «Der Ursprung der Pflege liegt bei den Nonnen. hat und stark blutet. Die ganze Nacht lösche Sie haben sich aufopfernd um ihre Patienten ich Brände. Ich bin die einzige diplomierte gekümmert. Von uns erwartet man die Pflegefachfrau für 30 Patienten.» gleiche Selbstlosigkeit. Das entspricht nicht der Realität. Pflege ist ein sehr komplexer, «243 Todesfälle pro Jahr wären vermeidbar, professioneller Beruf, der weit über die wenn genügend Fachpersonal eingestellt Nächstenliebe hinausgeht.» würde», sagt Michael Simon. Er ist Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Die Stimmen, die sich durch diesen Text zie Basel und forscht am Berner Inselspital im hen, stammen von 16 Pflegenden, die endlich Pflegebereich. Zusammen mit dem Berner gehört werden wollen. Fast nur von Frauen. Ökonomen Michael Gerfin hat er für die SBK Nur knapp ein Fünftel des Pflegepersonals untersucht, wie unerwünschte Ereignisse und ist männlich. Die Pflegefachfrauen erzählen die Anzahl qualifizierter Pflegefachkräfte auf Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 anonym von ihrem Arbeitsalltag, weil sie den Stationen zusammenhängen. Die Daten Angst vor negativen Folgen haben. Ihre Bot für die Berechnung stammen vom Bundesamt schaft: Wenn man bei den Arbeitsbedingun für Statistik und beziehen sich auf die Jahre gen der Pflege spart, spart man auch an der 2012 bis 2017, der SBK hatte keinen Einfluss auf Gesundheit der Bevölkerung. die Analyse. 16 Beobachter 14/2021
«Die ganze Nacht lösche ich Brände. Ich bin die einzige diplomierte Pflegefachfrau für 30 Patienten.» Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
«Vielen ist nicht bewusst, dass die Pflege fachpersonen sozusagen das Frühwarn mässig zu vermeidbaren Spitaleintritten kommt. Kosten von jährlich fast 100 Millionen «Uns fehlt ein system im Spital sind», sagt Simon. Die Franken könnten durch mehr qualifiziertes Sicherheits Ärztinnen und Ärzte sind viel weniger am Bett. Es sind die Pflegefachkräfte, die handeln Personal in den Heimen vermieden werden. Das Potenzial an Einsparungen aus der ambu dispositiv, müssen, wenn Patienten bluten, verwirrt sind, lanten Versorgung wie der Spitex beträgt bis das auch im fiebern oder wenn die Therapie nicht so läuft wie e rwartet. Das braucht ge zu 1,5 Milliarden Franken im Jahr. Ältere, chronisch kranke Men grössten schultes und gut ausgebildetes schen möchten möglichst lange Stress dafür 42% sorgt, dass Personal. Und es braucht vor daheimbleiben. Dazu kommt, allem auch Zeit am Bett, um dass die Aufenthaltsdauer in Verschlechterungen frühzeitig zu erkennen. Spitälern immer kürzer gewor den ist. Mit der Zahl der Patien keine Fehler der Spital- tinnen und Patienten ist auch der passieren.» «Wir Pflegende sind Piloten in eintritte in Bedarf an Spitex-Mitarbeitenden einem Cockpit, müssen tausend der Langzeit- gestiegen: Vor zehn Jahren waren Sachen kontrollieren. Im Alters- pflege sind es noch 32 000, heute sind es «Statt ein heim kommen pro Patient gut acht Diagnosen. Aber im Gegen- vermeidbar. fast 40 000 Angestellte. «Eine gute Qualität ist auch hier uner Gehtraining zu machen, 1,5 satz zu Piloten fehlt uns ein lässlich, um gesundheitsbeding Sicherheitsdispositiv, das auch im grössten Stress dafür sorgt, te Komplikationen, Spitaleintritte und unnötige Kosten zu vermei muss ich dass keine Fehler passieren.» den», sagt Nathalie Möckli von meine Be Milliarden «Jeden Tag müssen wir nach Franken pro der Universität Basel, die an einer nationalen Studie zur Versor wohner aus unserem Dienst in ein System Jahr kosten gungsqualität im Spitexbereich Zeitmangel eintragen, wie gefährlich der Tag vermeidbare arbeitet. Erste Ergebnisse sollen direkt in den im Sommer 2022 vorliegen. war. Die Skala reicht von 1 bis 7, Spitaleintritte ab 5 ist es ‹gefährliche Pflege›. Es gibt fast jeden Tag eine 6 oder 7.» aus der Paradox: Mehr Pflege spart Geld. Rollstuhl ambulanten Mit mehr qualifiziertem Pflege setzen.» Die SBK-Analyse über die Akut Versorgung. fachpersonal liessen sich in Spi spitäler zeigt nicht nur, dass viele tälern, Heimen und bei der Spitex «Jeder Tag 100 Patientinnen und Patienten un bis zu 2 Milliarden Franken Ge nötigerweise sterben, sondern auch: Anders als oft behauptet sundheitskosten pro Jahr ein sparen. Nicht beziffern lässt sich, ist eine führen Verbesserungen bei der Millionen wie viel unnötiges Leiden ver Zerreiss ZAHLEN: BEOBACHTER/AK | QUELLE: SBK, GYGLI U. A.: «REGIONAL VARIATION OF AVOIDABLE HOSPITALISATIONS» (2021) Pflege nicht zu einer Kosten explosion. Im Gegenteil, es lies Franken pro hindert werden könnte. Spitäler und Kliniken könnten probe.» sen sich jährlich 357 Millionen Jahr kosten nicht einfach mehr Personal vermeidbare Franken sparen. Die Rechnung ist einfach: Wenn es zu wenig einstellen, sagt dagegen Anne Spitaleintritte Bütikofer, Direktorin des Spital «Nur noch Fachpersonal gibt, kommt es zu aus der statio- verbands H+. «Mehr Personal zwei aus mehr unerwünschten Ereignis nären Lang- muss auch finanziert werden. meiner sen. Unerwünschte Ereignisse zeitpflege. Hier sind Politik und Versicherer verursachen eine längere Liege dauer – das kostet. gefragt, die entsprechenden Rah menbedingungen und finanziel 42-köpfigen len Mittel zur Verfügung zu stellen.» Das Abschluss «Unser Heimleiter hat den Hausdienst als Pflegepersonen rekrutiert. Er fordert auch die SP-Nationalrätin Barbara Gysi (siehe Interview, Seite 22). Die Kosten klasse meinte, mit ein bisschen Einlernzeit frage wird gern delegiert, die Patientensicher arbeiten können sie genau das Gleiche leisten wie eine ausgebildete Fachkraft.» heit bleibt auf der Strecke. Doch selbst wenn Spitäler, Heime und im Beruf.» Spitex bereit sind, mehr qualifiziertes Pflege Das gilt auch für die Langzeitpflege. Hier fachpersonal einzustellen, ist das noch nicht fehlt am meisten qualifiziertes Personal. Weil die Lösung. Denn mehr als 40 Prozent der Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 Stellen nicht besetzt werden können, springen Pflegenden steigen aus ihrem Beruf aus. häufig Pflegehelferinnen oder Pflegeassisten Die Pflege brennt aus. tinnen ein, denen es an Wissen und Erfahrung mangelt. Auch hier konnte Pflegewissen «Das aktuelle System fährt die Fachkräfte schaftler Simon aufzeigen, dass es regel gegen die Wand. Nur noch zwei aus meiner 18 Beobachter 14/2021
42-köpfigen Abschlussklasse arbeiten «Das System heute geht zulasten der Patienten, im Beruf.» die wehrlos sind: Demente, Verwirrte, Nieren-, Lungen- oder Krebspatienten, Suchtkranke, Pflegeberufe «Ich arbeite momentan bewusst temporär Sterbende. Das geht doch nicht.» Pflegehelferin* (SRK) holt auf einer chirurgischen Abteilung, weil und füllt Material auf und so die Kündigungsfrist nur zwei Tage beträgt.» Die Probleme in der Pflege gehen uns alle an. hilft bei der Pflege. Wir liegen irgendwann krank im Spital, und «Pflege war einmal mein Traumjob. Jetzt ist es unsere Angehörigen müssen im Heim auf die Assistentin Gesundheit einfach nur noch ein Job. In vier Jahren werde Pflegenden warten. Warum passiert nichts? (EBA) hilft bei der Körper ich pensioniert, sonst würde ich aussteigen.» Die Lösung, so scheint es, haben auch die pflege und Mobilisation. Spitäler noch nicht gefunden. Kliniken könn Corona hat diese Situation noch verschärft. ten nicht mehr Geld ausgeben, als sie einneh Fachfrau Gesundheit (EFZ) Pflegewissenschaftler Michael Simon wird men, sagt Anne Bütikofer, Direktorin des Spi befolgt Anordnungen der deutlich: «Es gibt viele Pflegekräfte, die sagen: talverbands H+. «Anders als in der Privatwirt Pflegefachperson, macht never ever again.» Applaus allein reicht nicht. schaft haben die Spitäler aufgrund der Tarife Körperpflege, Mobilisation, Mehr als 20 Prozent aller Pflegenden wollen und Leistungsaufträge kaum Spielraum, sich erhebt Vitalzeichen. nach der Pandemie aus ihrem Beruf aus innerhalb der knappen finanziellen Mittel steigen, ergab eine kürzlich durchgeführte zu bewegen oder diese umzuverteilen.» Die Diplomierte Pflegefachfrau Umfrage der Beratungsfirma McKinsey. Bevölkerung möchte tiefere Krankenkassen (HF) arbeitet auf Verord 2019 haben 4525 junge Pflegende die Berufs prämien, die Patienten möchten die beste Ver nung der Ärztin, verabreicht ausbildung als Fachkraft Gesundheit abge sorgung. Darunter leidet am Ende die Pflege. Medikamente, organisiert schlossen. Wenn man sie langfristig im Beruf Austritte, Reha, überwacht halten will, müssen die Arbeitsbedingungen Geld in Computersysteme verlocht. Jacqueline pflegerische Massnahmen. besser werden. Hochrechnungen des Schwei Martin kennt den Spardruck, unter dem die zerischen Gesundheitsobservatoriums gehen Spitäler leiden, ebenso wie die Nöte der Pfle Pflegeexpertin (FH) ist auf davon aus, dass im Jahr 2030 fast 65 000 Pfle genden. Die Chefin der Careum Hochschule Themen wie Wundpflege gende fehlen werden. Genauso alarmierend Gesundheit in Zürich war zuvor einige Jahre oder Schmerz spezialisiert. sind die Zahlen zur psychischen Belastung in Pflegedirektorin des Unispitals Basel. Sie habe Gesundheitsberufen (siehe Seite 15). immer wieder feststellen müssen, dass in den Pflegefachfrau ANP Spitälern oft Millionen für IT-Systeme ein (Bachelor) arbeitet neben Der Politik geht die Initiative zu weit. Seit mehr gesetzt werden, die nur schlecht aufeinander einer Pflegeexpertin im als drei Jahren liegt deshalb die Volksinitia- abgestimmt sind. Dadurch komme es nicht Büro oder einer Pflege tive für eine starke Pflege auf dem Tisch. Sie nur zu Fehlern, auch die Arbeitsbelastung ver fachperson am Bett. fordert eine Ausbildungsoffensive, mehr Per vielfache sich. «So geht Geld verloren, das an sonal, mehr Eigenverantwortung und bessere anderen Orten dringend gebraucht würde.» Pflegewissenschaftlerin Arbeitsbedingungen. Doch der Politik gehen Es sei beispielsweise eine Illusion, dass APN (Master) erarbeitet die geforderten Massnahmen zu weit. Das die Spitäler ihre grossen Bauvorhaben selbst Pflegemodelle. Bundesparlament hat einen indirekten Gegen finanzieren könnten, wie das im Fallpauscha vorschlag verabschiedet. Die Initiative kommt lensystem Swiss DRG 2012 vorgesehen ist. Bereichsleiterin Pflege frühestens im Spätherbst 2021 vors Volk. Entsprechend gross sei die Gefahr, dass beim gehört zum Kader einer Personal gespart werde. «Wie es heute läuft, grösseren Gesundheits- «Fünf Minuten hat eine Bewohnerin nach mir ist teilweise katastrophal. Wir dürfen die organisation. geläutet, weil sie aufs WC wollte. Mir hat das Pflege nicht zu Tode sparen.» Herz wehgetan, aber ich war mit einem Notfall Dass die Pflege systemrelevant ist, hat Pflegedienstleiterin ist beschäftigt. Sie ist selber aufgestanden, ge- Corona deutlich gezeigt. Dennoch haben die oberste Führungskraft. stürzt, hat den Kopf angeschlagen und musste die Krankenkassen, Versicherungen und die Arbeitet Seite an Seite mit ins Spital. Dort hatte sie einen Schlaganfall. Pharmabranche die lauteste Stimme. «Nie der ärztlichen Leitung. Danach wollte sie nicht mehr leben.» mand aus diesen Branchen will zugunsten der Pflege auf Gewinn verzichten», sagt Jacqueline *Pflege ist ein Frauenberuf. «Statt ein Gehtraining zu machen, muss ich Martin. Der Rückhalt dieser Branchen in der Laut Bundesamt für Statistik waren in den Spitälern im Jahr meine Bewohner aus Zeitmangel direkt in Politik sei gross. Dabei könnte etwa mit weni 2019 gerade mal 18 Prozent den Rollstuhl setzen. So nehme ich ihnen das ger hohen Medikamentenmargen im Gesund der Pflegenden Männer. letzte Stück Freiheit.» heitswesen gut gespart werden. Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
Wie viel Gehör sich Versicherer und Phar hoch spezialisierter medizinischer Beruf mit ma in Bern verschaffen, zeigte sich jüngst, als die Pflegeinitiative behandelt wurde. Am immenser Verantwortung. Und die Fälle, für die Pflegeleute heute Der Lohn schwersten hatten es Initiative und Gegen verantwortlich sind, sind komplexer als früher. Das Gehalt des Pflegefach- vorschlag im Ständerat. Dort sitzt Josef Dittli, Einfache, selbständige Patienten, etwa nach personals lag 2017 gut Präsident des zweitgrössten Versicherer einer Meniskusoperation, werden schnell nach 10 Prozent unter dem verbands Curafutura, in der Gesundheits Hause geschickt. Das spart zwar Kosten, führt Durchschnittslohn in der kommission. «Die Forderungen der Initiative aber auch dazu, dass die Stationen voll sind Schweiz. Einige Länder gehören nicht in die Verfassung», sagt er. Sie mit Menschen, die an mehrfachen Erkrankun im Vergleich. würden zwar im Grundsatz akzeptiert, gingen gen leiden. Bei diesen komplizierten Fällen in der Umsetzung aber zu weit. Dittli und kann die kleinste Unaufmerksamkeit schwere Durchschnittslohn der Ständerat haben deshalb eine massive Folgen haben. Auch bei der Nachtwache sind Kürzung der Investitionen in die Ausbildung die Pflegenden stark gefordert. Das Schlaf Chile +80% von Pflegefachpersonen verlangt. Nur der spital existiert nicht mehr, oft werden auch Druck der Corona-Krise hat dieses Vorhaben nachts komplizierte Chemotherapien oder Mexiko +80% am Ende verhindert. Den Gegenvorschlag Behandlungen mit Antibiotika durchgeführt. findet Dittli gut. Er erfülle die wesentlichen Diese neuen Herausforderungen haben Israel +50% Punkte der Initiative weitgehend. dazu geführt, dass das Personal ausbrennt und gefährliche Fehler entstehen. So schildern Luxemburg +50% «Gut, aber nicht wirksam genug.» Stimmt es die vielen Pflegenden, die sich beim Beob nicht, sagen die Pflegenden und das Initiativ achter gemeldet haben. Der veränderte Pflege komitee. Bessere Arbeitsbedingungen werden alltag lasse sich nur mit Personal stemmen, Spanien +30% nicht angesprochen. Ohne Vereinbarkeit von das bestens ausgebildet ist und dem Beruf Beruf und Familie und ohne mehr Personal möglichst lange treu bleibt. Doch das ist nur USA +30% und weniger Stress sei die Zukunft des Pflege möglich mit besseren Arbeitsbedingungen. berufs und damit die Versorgung der Bevölke Gute und sichere Pflege ist teuer. Aber sie Niederlande +20% rung weiterhin gefährdet. Der Gegenvorschlag kostet weniger, als die Versicherer sagen. Es beinhalte zwar gute Massnahmen, bestätigt gibt zudem wirksamere Mittel, um die Kosten Deutschland +10% auch Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des zu senken, als beim Personal zu sparen. Allem Pflege-Fachverbands SBK, «aber keine, die voran bei unnötigen Untersuchungen. Dänemark +10% dem anhaltenden Pflegenotstand wirksam Das Pflegepersonal, immerhin eine der entgegentreten». grössten Gruppen unter den Arbeitnehmerin Sollte das Volk die Initiative annehmen, nen in der Schweiz, und die Patientinnen und Italien +10% müsste die politische Debatte über deren Patienten brauchen bessere Lösungen. Politik, Vereinigtes Umsetzung wieder von vorn beginnen. Heime und Spitäler müssen gemeinsam Leit Königreich 0 planken für eine bessere Pflege erarbeiten. «Die Politik ruht sich darauf aus, dass wir -10% Frankreich Pflegenden alles Menschenmögliche machen, Der Enthusiasmus ist noch da. Verdient hätte damit unsere Patienten nicht leiden. das auch der 15-jährige Johann aus Zürich. -10% Schweiz Wir überziehen Arbeitszeiten, arbeiten Er startet frisch und voller Enthusiasmus in unterbezahlt und krank. Und wenn wir einen Beruf, der vor grossen Umwälzungen mal bessere Arbeitsbedingungen fordern, steht. Nach den Sommerferien wird der -20% Lettland hört niemand hin.» junge Zürcher, noch unbeeindruckt von der INFOGRAFIK: BEOBACHTER/AK | QUELLE: OECD: «HEALTH AT A GLANCE 2019» | FOTO: 123RF Pflegekrise, seine Lehre als Fachangestellter -30% Litauen «Wir sind David, und die Krankenversicherer Gesundheit auf der Psychiatrie beginnen. sind Goliath. Wir haben keine Chance, solange Er hat den Beruf sehr bewusst gewählt – Politiker nicht verstehen, dass Pflege mehr ist, weil er gern mit Menschen arbeitet und ihn die als kurz mit dem Waschlappen übers Gesicht Wirkung von Medikamenten interessiert. Er zu fahren.» freue sich extrem auf Ausbildung und Arbeit, hat aber auch grossen Respekt: «Wenn jemand «Der Umgang mit Alten, Kranken und eine Überdosis schluckt und mit Schaum vor Schwachen wird ausgeblendet. Also wird dem Mund herumtorkelt, ist das schon heftig.» der Pflegeberuf ausgeblendet. So ändert Er müsse lernen, mit solch schwierigen Situ sich nie etwas.» ationen umzugehen. Für jemanden wie ihn, den Menschen per se interessieren, sei der In der Pflege arbeiten zwar immer noch mehr Pflegeberuf ideal. Dass die Belastung hoch ist Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 heitlich Frauen, für die die Arbeit am Men und viele Pflegefachleute früh wieder aus dem schen im Zentrum steht. Aber nur, weil es sich Beruf aussteigen, schreckt den jungen Mann um einen Frauenberuf handelt, lässt er sich nicht ab, im Gegenteil: «Es fühlt sich genau nicht einfach mit irgendwem ersetzen. Pflege richtig an. Spätestens seit Corona wissen doch Lesen Sie zum Thema auch ist keine angeborene Fähigkeit, sondern ein alle, wie wichtig die Pflege ist.» das Interview auf Seite 22. 20 Beobachter 14/2021
«Wir müssen immer eintragen, wie gefährlich der Tag war. Von 1 bis 7, ab 5 ist es ‹gefähr liche Pflege›. Es gibt fast jeden Tag eine 6 oder eine 7.» Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
«Für die Pflegenden ein Schlag ins Gesicht» PFLEGE-NOTSTAND. Verbesserungen im Gesundheitssystem sind nur schwer durchsetzbar. SP-Nationalrätin Barbara Gysi sagt, welche Kräfte dabei im Parlament spielen. Barbara Gysi, wir stellen eine Diskrepanz fest: Vorgänger im Präsidium, der heutige Bundes- Im Volk haben die Anliegen der Pflegenden viel rat Ignazio Cassis, sind dabei wichtige Figuren. Rückhalt, aber die Politik schiebt das Dossier seit Jahren vor sich her. Warum? Weshalb können die Pflegefachkräfte in diesem Die Politik hat manchmal Mühe, zu verstehen, Kräftemessen nicht mithalten? wie bedeutend die Rolle der Pflege im Gesund- Sie sind per se nicht sehr politisch. Die Pflege- heitswesen ist. Dass man nicht bereit ist, die lobby ist sehr klein im Vergleich zur Pharma- Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist für die lobby, den Krankenkassen und den Leistungs- Pflegenden ein Schlag ins Gesicht. Dennoch erbringern wie Spitälern und Heimen. Es hat läuft aber auch einiges: Der indirekte Gegen- nur wenige Personen mit pflegerischem Hin- vorschlag zur Pflegeinitiative wurde in beiden tergrund im Parlament, und nicht alle politi- Kammern verabschiedet. Er ist vor allem eine sieren in ihren Themen. Im Gegensatz zu den «Die Pflege Ausbildungsoffensive, in die eine Milliarde Juristinnen und Bauern. lobby ist Franken gesteckt werden soll, sowie eine Auf- sehr klein wertung des Berufs mit eigenverantwortlicher Wenn Pflegefachkräfte berichten, wie es in im Vergleich Abrechnungsmöglichkeit. Dass mehr Geld in die Ausbildung von Pflegepersonal fliesst, ist Heimen, Spitälern oder bei der Spitex zugeht, bekommt man Angst. zur Lobby begrüssenswert. Wichtig ist aber, dass wir Viele Pflegende sind unter Druck, haben wenig der Pharma, Leute nicht nur ausbilden, sondern sie auch Zeit für die Patienten, und oft sind Stationen der Kranken zu fairen Bedingungen anstellen. Es braucht unterbesetzt, das stimmt. Zur Care-Arbeit kassen, bessere Löhne und mehr Personal, sonst wird die Pflegekrise immer grösser. gehört ja gerade auch, dass man sich hinsetzt, zuhört und auf die Fragen und Sorgen der Spitäler und Patientinnen eingeht. Wenn das nicht mehr Heime.» Die Pflegeinitiative will aber mehr? möglich ist, ist das ein Alarmsignal. Trotzdem Sie ist ein Massnahmenpaket gegen den dro- habe ich insgesamt ein gutes Gefühl unseren Barbara Gysi, 57, ist SP-Nationalrätin, St. Gallen, henden Pflegenotstand. Bessere Arbeitsbedin- Gesundheitseinrichtungen gegenüber. Das Mitglied der Kommission gungen und mehr Autonomie für Pflegende Personal kompensiert sehr viel, indem es für soziale Sicherheit und sind zentrale Forderungen. Ebenso soll mehr unheimliche Lasten auf sich nimmt. Gesundheit (SGK) und Personal ausgebildet werden. Es geht um eine sitzt im Initiativkomitee generelle Aufwertung des Berufs. Der Selbst- Ein grosser Teil des Pflegepersonals der Pflegeinitiative. wert der Pflege wird gesteigert, schliesslich steigt irgendwann aus dem Beruf aus. sind es nicht mehr Ordensschwestern, die zu Was läuft falsch? Gottes Lohn arbeiten. Es ist ein eigenständiger Wir haben es verpasst, klare Standards für die Beruf mit viel Verantwortung. Die heute noch Personaldotation sicherzustellen. Der Pflege- gültige Bezeichnung «Hilfsberuf» ist eine notstand ist schon da, er kommt nicht erst Zumutung. Jetzt entscheidet das Volk über 2030, wie oft gesagt wird. Schon heute werden den Stellenwert der Pflege. fast 40 Prozent des Pflegepersonals aus dem umliegenden Ausland rekrutiert. Das ist einer- Welche Argumente zählen im Parlament? seits egoistisch, schliesslich fehlt es auch im Das Kostenargument zieht natürlich gut. Es Ausland an Fachpersonal. Andererseits wird wurde mit horrenden und abstrusen Zahlen es wegen des demografischen Wandels nicht von Seiten der Kassen Angst gemacht, wie teu- reichen. Wir brauchen mehr und gut quali er eine Annahme der Pflegeinitiative käme. Die fiziertes Personal aus der Schweiz. Die Corona- Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021 Krankenkassenlobby, allen voran der zweit- Pandemie hat deutlich gezeigt, wie immens grösste Verband Curafutura, ist gut vernetzt wichtig gutes Fachpersonal ist. und hat stark lobbyiert. Dessen Präsident, FOTO: PD FDP-Ständerat Josef Dittli, der auch in der Das weiss man ja nicht erst seit Corona. Gesundheitskommission sitzt, oder auch sein Was muss sich ändern? 22 Beobachter 14/2021
Ich wünsche mir eine deutlich vom Bund Die hohen Kosten im Gesundheitswesen «Sobald man bestimmte Gesundheitspolitik. Im Gesund kommen nicht von der Pflege. Sondern von heitswesen ist sehr vieles kantonalisiert. Der unnötigen Operationen, falschen Anreizen, selbst krank Bund ist zwar für das Krankenversicherungs horrenden Honoraren von Chefärzten. Die ist, sind die gesetz zuständig, die Umsetzung aber liegt bei Technisierung spielt auch eine Rolle, teure Kosten dann den Kantonen. Die Langzeitpflege ist sogar oft auf Gemeindeebene angesiedelt. Es gibt sehr Geräte müssen ausgelastet werden. Wenn alle unnötigen Untersuchungen und Operationen plötzlich viele Akteure, die mitreden und oft nur ihre vermieden würden, würde sehr viel gespart. nicht mehr eigenen Interessen vertreten. Das alles führt Auf der anderen Seite will man, sobald man relevant.» zu Versplitterungen. dann selbst krank ist – oder eine nahestehen de Person –, einfach nur die bestmögliche Be Was könnte der Bund besser? handlung, die Kosten sind plötzlich nicht mehr Der Zugang zum Gesundheitswesen ist sehr relevant. Klar ist: Investitionen in die Arbeits unterschiedlich, das ist nicht fair. Es kommt bedingungen steigern die Qualität und verhin darauf an, wo man lebt und welche Kranken dern damit Fehler und schliesslich Kosten. kasse man hat. Je nachdem sind die Leistun gen deutlich besser oder schlechter, das ist Wie wollen Sie klarmachen, dass es um nicht in Ordnung. Der Bund müsste verbind die Patientensicherheit geht und nicht liche Vorgaben zu den Arbeitsbedingungen um zusätzliche Kosten? machen, Personalschlüssel festsetzen und Das Gesundheitswesen muss klarer als Ser dafür sorgen, dass alles überall vergleichbar vice public verstanden werden, und es müs umgesetzt wird. Das ist im föderalistischen sen mehr öffentliche Gelder fliessen, damit Schweizer System aber kaum umsetzbar. Es das nicht die Bürgerinnen und Bürger allein brauchte eine Verfassungsänderung. tragen müssen. Unser Kopfprämiensystem ist nicht fair: Wenn die mit dem dicken Porte Es kommt immer das Killerargument monnaie auch eine dicke Prämienrechnung der hohen Kosten, der steigenden Prämien. hätten, sähe vieles anders aus. Wie sehr leidet die Pflege darunter? INTERVIEW: BIRTHE HOMANN UND ANINA FRISCHKNECHT Beobachter NR 14_01/07/2021_HTML5_07/07/2021
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