POLICY BRIEF Pathways to Success - Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegs-karrieren im urbanen und internationalen Vergleich

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POLICY BRIEF Pathways to Success - Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegs-karrieren im urbanen und internationalen Vergleich
POLICY BRIEF

                      Pathways to Success
  Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegs-
  karrieren im urbanen und internationalen Vergleich

Worum geht es?
„ELITES – Pathways to Success“ ist ein europäisches Forschungsprojekt, das sich mit den er-
folgreichen Bildungs- und Berufskarrieren von Nachkommen von Einwanderern in sechs
Ländern beschäftigt. In Deutschland wurde das Projekt von der Stiftung Mercator gefördert,
es analysierte die Werdegänge von über 70 Persönlichkeiten, deren Eltern aus der Türkei
eingewandert sind und die in den Bereichen Jura, Wirtschaft, Verwaltung und Schule tätig
sind. Die meisten von ihnen arbeiten in verantwortungsvollen und führenden Positionen. Die
Interviews wurden in Berlin, in Frankfurt am Main und im Ruhrgebiet im Zeitraum 2012-14
durchgeführt.
Das Projekt interessiert sich insbesondere für den Einfluss von institutionellen Faktoren und
deren Zusammenspiel mit familiären Faktoren und Persönlichkeitsmerkmalen der Einzelnen.
Zu den institutionellen Faktoren gehören zum Beispiel die Offenheit einer Schule für Kinder
aus eingewanderten Familien oder die Rolle von Stereotypen bei der beruflichen Einstel-
lungspraxis, bei den familiären Faktoren gehören etwa der Bildungsgrad und die Sprach-
kenntnissen der Eltern. Als Vergleichsgruppe dienen Personen aus Familien ohne Zuwande-
rungsgeschichte, die ebenfalls einen Bildungsaufstieg vollzogen haben. Mit diesem Perso-
nenkreis wurden weitere 20 Interviews geführt.

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POLICY BRIEF Pathways to Success - Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegs-karrieren im urbanen und internationalen Vergleich
Die wichtigsten Ergebnisse                    Glück hatten, auf die spezielle Förderung
                                              durch eine Schlüsselperson zählen zu kön-
                                              nen. Das waren zum Beispiel Lehrkräfte,
Bildung                                       die sich einzelner Kinder besonders ange-
       Die meisten der (aufgrund ihrer be-    nommen haben, NachbarInnen oder die
ruflichen Position ausgewählten) Befrag-      Eltern von SchulfreundInnen. Die Studie
ten haben das Gymnasium besucht und           konnte somit erstmals zeigen, dass Schul-
sind darüber zu Abitur und Hochschulab-       erfolg unter sozialen AufgesteigerInnen
schluss gekommen. Sie gehörten damit zu       mit und ohne familiäre Zuwanderungsge-
einer kleinen Minderheit: nur sehr wenige     schichte häufig vom Zufall abhängig ist.
Kinder aus türkeistämmigen Arbeiterfami-            Eine starke Rolle haben bei der weit
lien schafften es in den vergangenen Jahr-    überwiegenden Zahl der Befragten die
zehnten in Deutschland auf das Gymnasi-       Eltern und Familien gespielt. Auch wenn
um, während dies in anderen EU-Staaten        die Eltern fachlich kaum helfen konnten,
weit häufiger der Fall ist. Auf die Schwie-   haben sie sich in der Regel bemüht, eine
rigkeiten dieses Wegs weisen viele Berich-    möglichst lernfördernde Umgebung zu
te hin über diskriminierende Erlebnisse       schaffen – sei es durch die Finanzierung
und Benachteiligung aufgrund des nicht-       von Nachhilfe oder die klare Priorisierung
deutschen bzw. nicht-akademischen Hin-        von Schule und Studium vor allem ande-
tergrunds.                                    ren. Auch unter den Geschwistern war
       Dank der höheren Dichte an Ge-         gegenseitige Unterstützung häufig zu fin-
samtschulen und Aufbaugymnasien für           den, bis hin zur Beteiligung an der Finan-
Schüler mit Mittlerem Schulabschluss sind     zierung des Studiums durch schon berufs-
im Ruhrgebiet und in Frankfurt/Main           tätige Geschwister.
deutlich mehr Befragte auf indirektem
Weg auf die Universität oder Fachhoch-
schule gelangt als in Berlin.                 Übergang in den Arbeitsmarkt
       Die im Grundsatz vorhandenen Mög-            Karrieren in den Bereichen Jura und
lichkeiten einer „langen Route“, bei der      Schule sind nur möglich mit einem Hoch-
verschiedene Qualifikationsstufen aufein-     schulstudium, aber auch für Interviewte,
ander folgen (z.B. Hauptschulabschluss –      die als UnternehmerInnen oder Manage-
Berufsfachschule – Fachoberschule –           rInnen in der freien Wirtschaft tätig sind,
Fachhochschule), werden kaum genutzt,         war es nur in Ausnahmefällen der Weg
weil der möglichst lange Verbleib im Bil-     über die Berufsausbildung, der zur aktuel-
dungssystem zu wenig gefördert und            len Position geführt hat. Meist wurde nach
stattdessen einseitig auf die berufliche      der Ausbildung oder berufsbegleitend ein
Ausbildung gesetzt wird.                      Studium angeschlossen.
       In keinem der drei in Deutschland            Im Übergang in den Arbeitsmarkt
betrachteten regionalen Schulsysteme          stehen Kriterien, die sich an tatsächlicher
wurden die Befragten systematisch und         Leistung orientieren, Spielräumen gegen-
verlässlich entsprechend ihrer Begabun-       über, in denen so genannte „Gatekeeper“
gen gefördert. Sehr viele Interviewte be-     auch nach nicht sachbezogenen Kriterien
richteten davon, dass ihre Schulen weder      den weiteren Berufsverlauf entscheidend
Interesse noch Glauben an ihre Talenten       beeinflussen können. Das können bei-
zeigten. Sie konnten sich oft nur deshalb     spielsweise Prüfende im Staatsexamen
durchsetzen, weil sie entweder besonders      oder bei der Lehrprobe sein oder auch
begabt und willensstark waren oder das        Vorgesetze bzw. Personalverantwortliche,

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die über eine Einstellung zu entscheiden        auch, dass ein vergleichbarer Erfolg für die
haben. Türkeistämmige BewerberInnen             zweite – und auch die dritte – Generation
müssen immer wieder damit rechnen,              in Deutschland bis heute keinesfalls
dass ihr „ethnischer Hintergrund“ von An-       selbstverständlich ist.
deren in stereotypen Bildern und sach-                 Die Befragten stellen nicht nur hin-
fremd als Entscheidungskriterium für die        sichtlich ihrer Karriereverläufe Ausnahmen
Vergabe von Stellen herangezogen wird.          dar, sondern sie sind vielfach auch außer-
      Auch am Arbeitsplatz steht der            gewöhnliche Persönlichkeiten, für die die
„Migrationshintergrund“ immer wieder im         Überwindung von immer wiederkehren-
Vordergrund – obwohl praktisch alle Be-         den strukturellen Hindernissen eine Her-
fragten bereits in Deutschland geboren          ausforderung und zusätzlicher Ansporn
wurden und/oder hier aufgewachsen sind.         waren. Das macht sie zu wichtigen Prota-
In den meisten Fällen handelt es sich „nur“     gonistInnen eines gesellschaftlichen Wan-
um ethnisierende Zuschreibungen (z.B.           dels, in dem ein routinierter Umgang mit
sich im Ton vergreifende scherzhaft ge-         Vielfalt und eine kompetente interkultu-
meinte Bemerkungen). Aber auch von              relle Orientierung immer wichtiger wer-
Diskriminierung und dem Gefühl der Un-          den.
gleichbehandlung im Zugang zu höheren           Die Interviews der Studie machen in bisher
Verantwortungsbereichen („gläserne De-
                                                nicht vorhandener Deutlichkeit erkennbar,
cke“) wird sowohl aus der freien Wirt-          dass noch immer zu wenige Institutionen
schaft als auch dem Öffentlichen Dienst
                                                auf diesen gesellschaftlichen Wandel vor-
berichtet.                                      bereitet und eingestellt sind. So bleibt das
      Für beide Aspekte – Übergang in den       besondere Potenzial, das die hoch kompe-
Beruf und die Situation am Arbeitsplatz –       tente zweite Generation für die aktive
hat die Studie damit sehr detaillierte Da-      Gestaltung der sich wandelnden Gesell-
ten und Berichte über Diskriminierung und       schaft beisteuern kann, noch vielfach un-
Benachteiligung, aber auch Chancen und          erkannt und ungenutzt.
Ressourcen in der hochqualifizierten zwei-
ten Generation erfasst.

Zugehörigkeit und Identitäten
       Verschiedene Studien (TIES u.a.)
haben gezeigt, dass Diskriminierungser-
lebnisse zu den stärksten negativ beein-
flussenden Faktoren für das Zugehörig-
keitsgefühl gehören. Das Gefühl oder gar
die Erkenntnis, von „der“ Mehrheitsgesell-
schaft trotz allen Bemühens als nicht
selbstverständlich zugehörig betrachtet zu
werden, durchziehen das Interviewmate-
rial. Angesichts dessen ist bemerkenswert,
dass sich die meisten Interviewten prak-
tisch uneingeschränkt in Deutschland und
auch am Wohnort zuhause fühlen. Sie sind
stolz auf den erreichten Bildungs- und be-
ruflichen Erfolg, gleichzeitig sehen sie aber

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Empfehlungen an die Politik                    und der Realschulabschluss als Regelab-
                                               schluss angestrebt werden. Dies wird bis-
                                               her kaum diskutiert, obwohl es ohne gro-
Bildungspolitischer Bereich                    ßen Aufwand umgesetzt werden könnte.
Aus den Erfolgsbiographien der Befragten             Übergänge in die Sekundarstufe II
im internationalen Vergleich und aus der       und der Zugang zumindest zum Fachabitur
Tatsache, dass sie in Deutschland immer        sollten erleichtert und ebenfalls als „Re-
noch weitgehend als Ausnahmen gesehen          gelweg“ etabliert werden. In fast allen
werden müssen, lassen sich Schlussfolge-       Bundesländern gibt es neben dem Gymna-
rungen ableiten, die zum großen Teil mit       sium nur noch eine Form der Gesamtschu-
den „Problemzonen“ des Bildungssystems         le, auch diese sollte aber überall regelhaft
zusammenhängen, die seit langem be-            auch über eine Oberstufe verfügen (siehe
kannt und vielfach benannt worden sind:        z.B. Bremen und Hamburg).
       Kinder aus eingewanderten Famili-             Der „Normalfall Vielfalt“ ist noch
en, ebenso wie Kinder aus nicht akademi-       immer institutionell kaum verankert. Das
schen Familien, profitieren besonders von      gilt für die Lehramtsausbildung ebenso
einem möglichst frühen Eintritt in die ers-    wie für die Zusammensetzung der Kolle-
te Bildungsinstitution. Die Studie bestätigt   gien. Hier ist ein größeres Engagement zur
die Forderung nach flächendeckenden            Ausbildung und Rekrutierung von Lehr-
Angeboten für frühkindliche Bildung, die       kräften mit Zuwanderungsgeschichte nö-
aber nicht durch die Erhebung von zum          tig. Gute Beispiele wie das Lehramtssti-
Teil beträchtlichen Gebühren konterka-         pendium „Horizonte“ oder das Projekt
riert werden sollten.                          „Schülercampus: Mehr Migranten werden
       Gerade bei Kindern mit nicht-           Lehrer“ sollten weitergeführt und ausge-
deutscher Herkunftssprache führt die frü-      baut werden.
he Selektion nach nur vier bzw. sechs Jah-           Das Thema Diskriminierung ist von
ren Grundschule sehr häufig zu Schulemp-       zentraler Bedeutung, wird aber im Bereich
fehlungen, die das tatsächliche Potenzial      Schule immer noch weitgehend ignoriert.
und Talent der Kinder nicht abbilden. Da       Hier sind Kooperationsbeziehungen mit
eine Verlängerung der Grundschulzeit po-       unabhängigen Beratungsstellen sowie
litisch in Deutschland zur Zeit nicht durch-   mehr geschultes Fachpersonal in den Auf-
setzbar wäre, sollten vor allem spätere        sichtsbehörden und den Schulen selbst
Korrekturmöglichkeiten für Fehlentschei-       nötig. Dazu gehört auch, Diskriminie-
dungen und für „Spätblühende“ in Form          rungserfahrungen „ansprechbar“ zu ma-
einer besseren horizontalen Durchlässig-       chen und den Schulen die Angst vor der
keit zwischen den verschiedenen Schul-         Bearbeitung und Lösung von vorgebrach-
formen geschaffen werden. Diese Diskus-        ten Fällen zu nehmen.
sion wird bisher kaum geführt bzw. zu                Auch der Hochschulbereich muss
sehr auf die weitere Verbreitung von Ge-       sich stärker auf die zunehmende Zahl an
samtschulen reduziert. Diese sind aber nur     Studierenden aus nicht-akademischen
dann eine wirkliche Alternative zum Gym-       Elternhäusern einstellen: Neben der flä-
nasium, wenn die bisherige Dreigliedrig-       chendeckenden Einführung dualer Stu-
keit und die Undurchlässigkeit zwischen        diengänge gehört dazu, dass auch in klas-
den Zweigen nicht intern weiter gepflegt       sisch universitären Studiengängen Kontak-
werden.                                        te zu potentiellen Arbeitgebern gefördert
       Der Hauptschulabschluss sollte an       werden. Insbesondere in „traditionellen“
Regelschulen nur noch die Ausnahme sein        Fächern wie Jura und Medizin sollten

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Betreuungsformen und Orientierungsmög-       Integrationspolitischer Bereich
lichkeiten verbessert werden. Eine gute      Selbst Kinder und Enkel von Zugewander-
Möglichkeit dazu bieten Mentoring-           ten wachsen in Deutschland in dem Be-
Programme.                                   wusstsein auf, nicht dazu zu gehören. Poli-
                                             tik und Medien transportieren dies ebenso
                                             wie eine Alltagssprache, die nach wie vor
Arbeitsmarktpolitischer Bereich              zwischen „Deutschen“ und „Migranten“
Da der politische Einfluss auf Unterneh-     unterscheidet. Mit dem Begriff „Migrati-
men der freien Wirtschaft im Allgemeinen     onshintergrund“ droht eine Zementierung
eher gering ist, sollte der Öffentliche      des „Andersseins“ auch für die vierte und
Dienst zum Vorreiter für die stärkere in-    fünfte Generation.
terkulturelle Öffnung auch der Führungs-            Nötig sind die Schaffung und öffent-
etagen werden. Dazu einige Ansätze:          liche Förderung von Maßnahmen zur Stär-
      Selbstverpflichtung auf Quoten für     kung der medialen, politischen und gesell-
Personen mit nicht-akademischem und/         schaftlichen Akzeptanz von Vielfalt als
oder Zuwanderungshintergrund in der          Normalfall. Dazu könnten Schulungen für
Ausbildung und bei der Vergabe von lei-      Medienmachende ebenso gehören wie die
tenden Stellen.                              Einführung von offiziellen Sprachregelun-
      Dazu werden auch aktive Maßnah-        gen mit einem gewissen Symbolgehalt
men benötigt, wie etwa eine verstärkte       (z.B. Vermeidung von Begriffen wie
Werbung für die Beschäftigungsmöglich-       „Deutschtürken“).
keiten, die gezielte Ermutigung junger              Ein inkludierender Diskurs muss die
Menschen verschiedenster Hintergründe,       in Deutschland geborenen und aufwach-
eine Laufbahn im Öffentlichen Dienst an-     senden jungen Menschen adressieren,
zustreben oder der Abbau struktureller       aber auch in viel stärkerem Maße als bis-
Barrieren im Zugang zu Stellen (z.B. An-     her die Mehrheitsgesellschaft und ihre
stellung von RichterInnen und Staats-        Diskurskonventionen im Hinblick auf die
anwältInnen nicht allein auf Grundlage der   kulturelle und ethnische Vielfalt der Ge-
Examensnoten). Hier gibt es bisher nur       sellschaft.
vereinzelte Ansätze.                                Auch hier können Behörden, Minis-
      Einführung eines verpflichtenden       terien und die politische Leitungsebene
Monitorings zu Antidiskriminierungsmaß-      mit gutem Beispiel vorangehen. Einen be-
nahmen auf allen behördlichen Ebenen in      sonderen Symbolgehalt hätten dabei vor
Zusammenarbeit mit den Antidiskriminie-      allem die folgenden Themenbereiche:
rungsstellen des Bundes und der Länder        – Anerkennung der uneingeschränkten
sowie mit unabhängigen Beratungsstellen.          Zugehörigkeit der zweiten Generation
      Maßnahmen zur symbolischen Stär-        – Zur Sprache bringen und Ächten von
kung der innerbetrieblichen Akzeptanz             Diskriminierungen struktureller und
von Vielfalt als Normalfall. Dazu können          verbaler Art. In vielen Ländern haben
Instrumente zur Förderung der interkultu-         sich Bußgeldkataloge für z.B. rassisti-
rellen Öffnung der Organisationen und der         sche Bemerkungen bewährt.
„Verwaltungskultur“ ebenso beitragen wie
                                              – Anerkennung der Lebensleistung der
die Begleitung von kleinen und mittleren
                                                  Generation der so genannten „Gast-
Unternehmen. Auch dazu gibt es viel ver-
                                                  arbeiter“ und ihres Beitrags zum
sprechende Ansätze, die aber bisher we-
                                                  Wohlstand in Deutschland.
der flächendeckend noch langfristig konzi-
piert sind.

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Ein Konsortium von Forschungsinstituten
PROJEKTERGEBNISSE                                in acht europäischen Ländern hat 2012
                                                 eine Untersuchung von knapp 10.000 Be-
Ausgangslage                                     fragten vorgelegt, die TIES-Studie, die sich
                                                 erstmals in Europa auf die so genannte
Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass        „zweite Generation“ konzentriert hat –
Kinder aus eingewanderten Familien in            also die in Europa geborenen Kinder von
allen zentralen Indikatoren der strukturel-      größtenteils ArbeitsmigrantInnen („Gast-
len Teilhabe schlechter abschneiden als          arbeitern“) aus der Türkei, aus dem ehe-
der Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung:          maligen Jugoslawien und aus Marokko.
Sie verfügen über niedrigere Bildungsab-         Ergebnis: Insbesondere die erreichten Bil-
schlüsse und schlechtere Berufsqualifika-        dungsabschlüsse unterscheiden sich er-
tionen, sie sind häufiger von Arbeitslosig-      heblich von Land zu Land.
keit betroffen und verdienen weniger
Geld. Da dies nicht in gleichem Maße für         Tabelle 1 zeigt dies für die Nachkommen
alle Einwanderergruppen gilt, suchen Poli-       von Eingewanderten aus der Türkei, deren
tik, Verwaltung und Medien ebenso wie            Eltern dort nur wenige Jahre zur Schule
die Wissenschaft in der Regel nach Ursa-         gegangen sind. Die Tabelle weist in der
chen, die mit Unterschieden zwischen den         mittleren Spalte diejenigen aus, die in der
Einwanderergruppen zu tun haben (z.B.            EU als „Early School Leavers“ gelten, weil
„Bildungsorientierung“).                         sie das Bildungssystem maximal mit einem
                                                 Abschluss verlassen haben, der für einen
Länderübergreifende      Vergleichsstudien       qualifizierten Zugang zum Arbeitsmarkt
(z.B. PISA) weisen dagegen auf, dass es          nicht ausreichend ist. Die rechte Spalte
auch große Unterschiede zwischen den             zeigt dagegen das „Top-Segment“ derjeni-
Ländern gibt, was etwa die Chancen-              gen, die überdurchschnittlich gebildet sind
gleichheit im Bereich Bildung angeht. Die        und viel versprechende Aussichten auf gut
gleichen Einwanderergruppen schneiden            bezahlte Jobs haben. In beiden Spalten
in den verschiedenen Ländern unter-              finden wir große Unterschiede: die Nieder-
schiedlich ab – damit verschiebt sich der        lande weisen die stärkste Polarisierung auf
Fokus der Erklärung von sozialen Un-             mit vielen zu kurzen Schulkarrieren, aber
gleichheiten auf die Unterschiede zwi-           auch vielen Hochschulabgängern; in der
schen den Ländern, z.B. in Bezug auf die         Schweiz dagegen ist die Zahl der Niedrig-
Chancengerechtigkeit in den jeweiligen           qualifizierten vergleichsweise niedrig, aber
Bildungssystemen.                                es finden auch nicht viele den Weg auf die

               Tabelle 11                 max. mittlerer
                                          Schulabschluss             Hochschule
              Österreich                      32%                       15%
              Belgien                         34%                       18%
              Frankreich                      16%                       36%
              Deutschland                     33%                        5%
              Niederlande                     26%                       27%
              Schweden                         9%                       29%
              Schweiz                         13%                       15%
                                                                       TIES 2008

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Hochschule. Schweden weist hier beinahe        Stiftung Mercator in Deutschland und der
ideale Zahlenverhältnisse auf: Nirgendwo       Schweiz sowie dem Europäischen For-
verlassen so wenige Jugendliche aus ge-        schungsrat (ERC) wurden in den Nieder-
ring gebildeten Elternhäusern vorzeitig das    landen, der Schweiz, Spanien, Belgien,
Schulsystem, zugleich ist die Zahl der         Italien und Deutschland etwa 450 Angehö-
HochschulabsolventInnen sehr hoch.             rige der zweiten Generation befragt, die
Deutschland bildet den negativen Kon-          über einen Hochschulabschluss, eine Füh-
trastfall: In keinem anderen Land finden       rungsposition oder ein überdurchschnitt-
wir so hohe Zahlen für die „Early School       lich hohes Einkommen verfügen.
Leavers“ und so extrem niedrige Zahlen         In Deutschland legt das an der Universität
für die Hochschulzugänge bei Kindern aus       Osnabrück angesiedelte Projekt „Pathways
türkischen Arbeiterfamilien.                   to Success“ hiermit erste Ergebnisse vor.
Das hat langfristige Folgen für die Teilhabe   Für das Projekt wurden in Berlin, Frank-
und insbesondere für die soziale Mobilität     furt/Main und dem Ruhrgebiet insgesamt
im Generationenverlauf. In Schweden, den       über neunzig Persönlichkeiten im Alter
Niederlanden und Frankreich finden wir         zwischen Ende 20 und Ende 40 aus den
bereits in der Generation der Kinder der       Bereichen Wirtschaft, Jura, Schule und
„Gastarbeiter“ eine nennenswerte neue          Öffentliche Verwaltung ausführlich zu ih-
Mittelschicht, die gut verdient und ihren      ren Werdegängen im Bildungssystem und
Kindern wiederum noch bessere Perspek-         im Beruf befragt. Alle Interviewten haben
tiven bieten kann. In Deutschland und          einen sozialen Aufstieg vollzogen, gut drei
Österreich ist dagegen der soziale Aufstieg    Viertel davon sind türkeistämmig und
in den Familien eher die Ausnahme als die      zwanzig Personen ohne familiäre Zuwan-
Regel. Es ist allein der hohen Gesamtzahl      derungsgeschichte.
von Eingewanderten aus der Türkei zu           Ziel des Projekts war festzustellen, welche
verdanken, dass es auch in Deutschland         Faktoren dazu beigetragen haben und
heute viele hoch gebildete und gut qualifi-    beitragen können, dass Kinder aus Arbei-
zierte Fachkräfte mit türkeistämmigem          ter- und Einwandererfamilien erfolgreich
Hintergrund gibt.                              werden:
                                                   Welche Wege und Strategien haben
Das Forschungsprojekt „Wege zum                    sich bewährt?
Erfolg“                                            Welche Hindernisse sind zu überwin-
                                                   den (gewesen)?
Warum ist das so? Was haben z.B. die Bil-          Gibt es Institutionen und Berufsfelder,
dungssysteme in Schweden und den Nie-              die Zugänge für „soziale AufsteigerIn-
derlanden anders gemacht in den siebzi-            nen“ eher ermöglichen – oder eher
ger bis neunziger Jahren des letzten Jahr-         behindern?
hunderts, als die heute Erfolgreichen zur          Was lernen wir aus den Erfolgskarrie-
Schule gegangen sind? Und was bedeutet             ren auch über diejenigen, die weniger
das für die Kinder der zweiten Generation,         erfolgreich sind?
die zurzeit das Schulsystem durchlaufen?
                                                   Und schließlich: Was muss sich än-
Diesen Fragen widmet sich seit 2011 eine           dern, damit junge Menschen in
Gruppe von Forschungsinstituten aus                Deutschland ihre Talente und Persön-
sechs europäischen Ländern, die zum gro-           lichkeiten entsprechend ihren tatsäch-
ßen Teil auch an der TIES-Studie beteiligt         lichen Möglichkeiten entfalten kön-
waren. Gefördert unter anderem von der             nen?

                                                                                        7
Bildungswege                                      gen“ Verläufen wider. Gleichzeitig gelingt
                                                  es aber vielen nicht, den guten Bildungs-
Erfolgskarrieren folgen nicht nur einem           abschluss auf dem Arbeitsmarkt entspre-
bestimmten Muster. Grundsätzlich ist al-          chend zu verwerten – u.a. weil die Konkur-
lerdings in allen europäischen Ländern der        renz mit denjenigen ohne familiäre Zu-
erreichte formale Bildungsgrad eine der           wanderungsgeschichte auf diesem Bil-
wichtigsten Voraussetzungen für berufli-          dungsniveau größer ist. Deshalb ist in die-
chen Erfolg. Trotz der Bedeutung der dua-         sen beiden Ländern die Zahl der „Abstie-
len Ausbildung in Deutschland und der             ge“ viel höher als in Deutschland und den
Schweiz: für viele Berufsfelder und Füh-          Niederlanden, wo dies schon wegen der
rungspositionen sind Hochschulabschlüsse          vielen niedrigen Schulabschlüsse kaum
erforderlich. Zudem werden in akademi-            möglich ist. In der Summe ist dennoch der
schen Berufen durchschnittlich höhere             Anteil der Erfolgreichen in Frankreich und
Einkommen erzielt.                                Schweden anderthalb mal bzw. mehr als
Philipp Schnell und Yaël Brinbaum, die            doppelt so hoch wie in Deutschland.
unter Leitung des Schweizer „Pathways to          Interessant sind auch die Unterschiede in
Success“-Teams quantitative Analysen              der Zusammensetzung der „AufsteigerIn-
durchgeführt haben, gehen von vier                nen“: In den Niederlanden war es für fast
Grundformen von Karriereverläufen aus:            die Hälfte der zweite Bildungsweg über
1. konstant niedrig: niedrige Bildungsab-         Ausbildung, (Fach-) Abitur und Studium,
   schlüsse – niedrige berufliche Position        der zum Erfolg führte; dort stellt die „lan-
2. „Abstieg“: hohe Bildungsabschlüsse,            ge Route“ eine der wichtigsten „Repara-
   aber keine hohe Position im Beruf              turmaßnahmen“ für die frühe Selektion
3. konstant hoch: hohe Bildungsabschlüs-          und überproportionale Zuordnung von
   se – hohe berufliche Position                  Kindern aus eingewanderten Familien in
4. Aufstieg: niedrige Bildungsabschlüsse,         die Schulformen mit dem niedrigsten Bil-
   aber Aufstieg im Beruf oder über den           dungsniveau und Prestige dar. In Deutsch-
   zweiten Bildungsweg und dann Auf-              land ist dieser Weg zwar durchaus mög-
   stieg zur Führungsposition im Laufe            lich, das Problem der extrem niedrigen
   der beruflichen Karriere.                      Bildungsabschlüsse in der türkeistämmi-
                                                  gen zweiten Generation wird damit aber
Die Karriereverläufe von Nachkommen               in viel geringerem Maße ausgeglichen als
aus türkeistämmigen Einwandererfamilien           in den Niederlanden.
weisen im Ländervergleich interessante
Unterschiede auf – siehe Tabelle 2. Die           Das „Pathways to Success“-Projekt hat
oben beschriebenen markant höheren                sich der Frage des Bildungs- und berufli-
Bildungsabschlüsse in Frankreich und              chen Erfolgs von der anderen Seite genä-
Schweden spiegelt sich hier in einem deut-        hert, indem es die Erfolgreichen zu ihren
lich geringeren Anteil an „konstant niedri-       Biographien und Karriereverläufen befragt

    Tabelle 2
                            Deutschland       Niederlande     Frankreich      Schweden
    konstant niedrig            71%              65%              53%            36%
    „Abstieg“                   17%              18%              29%            37%
    konstant hoch               2%               6%               8%             11%
    Aufstieg                    10%              11%              11%            17%
                                                                                TIES 2008

                                                                                            8
hat. Bei ihnen ist vor allem die hohe Zahl      und der geringen eigenen Bildung kaum
an „konstant hohen“ Verläufen auffällig:        direkt schulisch helfen konnten, haben sie
Über die Hälfte der türkeistämmigen Be-         bei den allermeisten Befragten die Schul-
fragten in Berlin, Frankfurt und dem Ruhr-      karrieren auf vielfältige Weise unterstützt:
gebiet ist auf direktem Weg durch das           z.B. finanziell, durch das Freistellen von
Gymnasium zum Abitur und dann zur Uni-          Hausarbeit, durch Stärkung von Motivati-
versität gelangt, einige auch auf dem           on und Selbstvertrauen sowie durch emo-
gymnasialen Zweig einer Gesamtschule.           tionale Sicherheit.
Sie gehören also zu der kleinen Minderheit
in Deutschland von zwei Prozent, denen          Hindernisse
im obigen Ländervergleich der direkte
Weg zum Erfolg gelungen ist. Das bedeu-         Es ist bekannt, dass der Übergang von der
tet im Umkehrschluss, dass es in Deutsch-       Grundschule zur weiterführenden Schule
land sehr schwierig ist, in hochqualifizierte   eine der zentralen Weichenstellungen für
berufliche Positionen zu kommen, wenn           die weitere Bildungskarriere in Deutsch-
man diesen Weg nicht gegangen ist.              land darstellt. Zwar sind auch später noch
Etwa ein Viertel der Befragten hat sich im      Wechsel zwischen den Schulformen mög-
Schulsystem „hochgearbeitet“, von der           lich, de facto vollziehen aber nur wenige
Haupt- und/oder Realschule über eine            Prozent eines Jahrgangs noch innerhalb
spezialisierte Oberstufe (z.B. an einem         der Sekundarstufe I den Wechsel etwa von
Wirtschaftsgymnasium) oder innerhalb            der Realschule auf das Gymnasium.
der Gesamtschule vom Haupt- oder Real-          Eine wichtige Rolle spielen die Schulemp-
schulzweig in die gymnasiale Oberstufe          fehlungen, die die Grundschulen ins Ab-
zum (Fach-)Abitur. Nur eine kleine Gruppe       schlusszeugnis schreiben. Ein gravierendes
ist den Weg über den zweiten Bildungs-          Problem ist dabei, dass sie viel zu häufig
weg nach Abschluss oder begleitend zu           aufgrund von Kriterien vergeben werden,
einer beruflichen Ausbildung gegangen.          die nicht im Verhältnis stehen zu der fakti-
Diese grundsätzliche Offenheit des Bil-         schen Bedeutung, die diese Empfehlungen
dungssystems ist de facto also kaum ge-         für den weiteren Bildungsverlauf haben
nutzt worden.                                   können. Zum Beispiel: Es stehen mögli-
Im Vergleich zwischen Berlin, Frankfurt         cherweise beste Absichten dahinter, ei-
und dem Ruhrgebiet ist erkennbar, dass          nem Kind mit noch fehlerhaften Deutsch-
die Erfolgreichen stark davon profitieren,      kenntnissen den Besuch einer Förderschu-
wenn es eine ausgebaute Infrastruktur           le zu empfehlen. Es bleibt dabei aber un-
von Schulformen gibt, die Chancen für           berücksichtigt, dass es meist sehr schwer
„Spätblühende“ bereithalten – also eine         ist, von dieser wieder in die Regelschule zu
spätere Entscheidung für das (Fach-)Abitur      wechseln, auch wenn das Kind etwa eine
und auch indirekte Wege zu höheren Bil-         gute Begabung für Mathematik zeigt. Das
dungsabschlüssen ermöglichen. Dazu ge-          gilt analog für die Empfehlungen für die
hören grundsätzlich die Gesamtschulen,          Haupt- oder Realschule: Sehr viele Befrag-
aber auch z.B. die Oberstufenzentren in         te haben trotz guter Noten nur deshalb
Berlin und die beruflichen Gymnasien in         keine Gymnasialempfehlung bekommen,
Hessen und NRW.                                 weil ihre Eltern sie nur begrenzt unterstüt-
                                                zen könnten. Bei fast einem Drittel derje-
Ein weiterer relevanter Aspekt ist die häu-     nigen, die nach der Grundschule direkt auf
fig stark unterschätzte Rolle der Familien.     das Gymnasium gewechselt sind, ist dies
Auch wenn die Eltern wegen fehlender            gegen die Empfehlung der Grundschule
Sprachkenntnisse, langer Arbeitszeiten          erfolgt. Zwei Beispiele:
                                                                                          9
Die Lehrer haben es sich einfach gemacht, die           miert und selbstbewusst genug, um den
haben dann gesagt: „Der kann das nicht. Der soll in     Zugang zu erkämpfen.
die Sonderschule.“ Und meine Eltern haben dann
gekämpft einfach und meine Schwester, die (…)           Ein weiteres wichtiges, aber in der Regel
war auch ein bisschen älter, die hat gesagt: „Nein,     stark unterschätztes Hindernis ist Diskrimi-
das geht nicht“ und so, und dann haben (…) die das
                                                        nierung. Aus der TIES-Studie wissen wir,
noch hingekriegt, dass ich dann nicht in die Son-
derschule komme, dass ich doch das schaffen             dass Schule in Deutschland einer der ge-
kann. (…) Nach der sechsten bin ich dann in die         sellschaftlichen Bereiche ist, aus dem am
Realschule. Da wollten die Lehrer (…), dass ich in      häufigsten von Diskriminierung berichtet
die Hauptschule gehe, obwohl meine Noten ei-            wird. Das trifft auch für den weit überwie-
gentlich so mittelmäßig waren: nicht fürs Gymna-
                                                        genden Teil der Befragten in diesem Pro-
sium geeignet, aber auch nicht für die Hauptschu-
le. (…) Aber die Lehrer haben dann immer wieder         jekt zu. Die Bandbreite reicht von dem
gesagt, das wär doch nur gut für mich, obwohl das       häufig eher subtilen Gefühl, für die glei-
eigentlich nicht gut für mich war. (…) Das wollten      chen Noten härter arbeiten zu müssen,
die nicht so einsehen, aber wir haben’s also dann       über ethnisierende oder abfällige Bemer-
doch geschafft, dass ich in die Realschule komme.
                                                        kungen bis zu Momenten der aktiven
(Lehrer in Frankfurt)
                                                        Laufbahnbehinderung. Auch hierzu einige
Und dann hab ich jedes Jahr meine Lehrer ange-          Beispiele:
fleht. Sechste, siebte, achte, neunte Klasse, jedes     Ich war immer die Ausländerin in der Klasse. Man
Jahr bin ich zu meinem Klassenlehrer gegangen           hat mir weniger zugetraut als den anderen Kin-
und hab ihm gesagt: „Herr Soundso, ich möchte           dern, ja? Und ich meine, auch da bei der einen
auf die Realschule!“ - „Nein nein!“ Der Grundtenor      oder anderen Notengebung nicht hinreichend
war immer gleich, aber es gab jedes Jahr so ver-        beachtet worden zu sein. Also man hat mich jetzt
schiedene Versionen. Mal hieß es: „Ach, probier’s       nicht systematisch schlechter behandelt, aber 'ne
nächstes Jahr! Mach erstmal deinen qualifizierten       gewisse Benachteiligung – ohne jetzt da jemanden
Hauptschulabschluss!“ Das war gegen Ende. Am            angreifen zu wollen – habe ich schon beobachtet.
Anfang hieß es: „Du wirst es nicht packen! Das ist      (Juristin im Staatsdienst in Nordrhein-Westfalen)
viel zu schwierig für dich!“ Dabei war ich eine der
Klassenbesten. Und so ging es weiter: nach der          Zunächst denkt man immer, wenn der Lehrer der
neunten Klasse (...) stellte mir der Klassenlehrer ‘n   Ansicht ist, dann dürfte das so richtig sein. Und
Übertrittszeugnis, worin ich aus seiner Perspektive     dann machten sich so Sachen bemerkbar, wenn
nur für die Hauptschule geeignet war, und wenn          man zu zweit mal Hausaufgaben gemacht hat, die
ich auf die Realschule gehen wollen würde, hätte        eigentlich inhaltsähnlich waren, und wenn dann
ich dann zwei Jahre wiederholen müssen oder so.         der eine 'ne 2+ (…) bekommt und der andere be-
Und das war mir dann einfach zu viel, das war die       kommt 'ne 6, dann find ich das schon aussagekräf-
größte Enttäuschung meines Lebens. Und da hab           tig. Also 'ne 6 ist auch schon harter Tobak für 'ne
ich meinen Eltern gesagt: „Leute, ich will einfach      Leistung, die man abgibt. (Richter im Ruhrgebiet)
nicht mehr. Ich liebe dieses Land, aber ich will ‘ne
bessere Bildung!” Und: „Schickt mich in die Tür-        Ich habe zum Beispiel gesagt bekommen, dass ich
kei!“ Das ist so’n Irrwitz, dass ich dann als jemand,   sowieso Ausbildung beim Aldi mache. Oder: ich
der in Deutschland geboren ist, für ’n Jahr in die      hab bei ’ner Musterschülerin ein Protokoll abge-
Türkei geh! [Die Interviewpartnerin, heute eine         schrieben, haargenau dasselbe, und sie hat ’ne 1
Rechtsanwältin in Berlin, macht dann die 10. Klasse     bekommen und ich ’ne 4. Und das prägt einen
in der Türkei und kommt mit einer Empfehlung für        dann natürlich schon, wenn man irgendwie sieht,
das Gymnasium zurück, auf dem sie nach drei Jah-        dass man wirklich ungerecht behandelt wird und
ren ein gutes Abitur macht.]                            eigentlich dagegen gar nichts machen kann, weil:
Sehr oft waren es in diesen Fällen die El-              Wie will man das nachweisen? (…) Und man hat
                                                        auch zuhause nicht so wirklich den Rückhalt, weil
tern oder andere Schlüsselpersonen, die
                                                        die Eltern einem da auch nicht wirklich helfen kön-
auf den Wechsel zum Gymnasium ge-                       nen und sich dann irgendwie beschweren gehen
drängt haben, z.B. einzelne Lehrkräfte,                 oder so. Ne? Also da bleibt man schon auf der
ältere Geschwister oder deutsche Bekann-                Strecke. (stellv. Projektleiterin in der Berliner Ver-
te. Bei anderen gab es weder diese Schlüs-              waltung)
selpersonen noch waren die Eltern infor-

                                                                                                          10
Manchmal fielen halt schon so Bemerkungen: "Wie        sozialer Ungleichheit als für gesellschaftli-
kann es sein, dass die Ausländerin in Deutsch die      che Integration zuständig fühl(t)en.
Note eins schreibt hier an 'nem bayrischen Gymna-
sium und ihr schafft das nicht?" Das wurde offen in    Auf der anderen Seite berichten ebenfalls
der Klasse gesagt. Also da wurde man, auch wenn's      sehr viele Interviewte von einzelnen Lehr-
positiv gemeint war, man wurde dann schon in 'ne
                                                       kräften, die sie nachhaltig positiv beein-
Ecke gestellt. (Risikomanagerin in einer Frankfurter
Bank)                                                  flusst und damit möglicherweise entschei-
                                                       dend dazu beigetragen haben, dass sie auf
Und es kam dann leider auch in der 10. Klasse mal      dem Bildungsweg nicht „verloren gegan-
die Aussage von unserer Klassenlehrerin: "Naja, (…)    gen“ sind. Das Problem „im System“ ist an
die kleinen Türkinnen, die werden ihr Abitur eh
                                                       dieser Stelle, dass es praktisch dem Zufall
nicht schaffen, (…) da weiß ich ja, wo ihr enden
werdet." Das war ihr Satz und bei uns in der Klasse    überlassen ist, ob ein Kind aus einer nicht-
haben alle ihr Abitur erfolgreich gemeistert und       akademischen und/oder eingewanderten
haben jetzt alle 'n Hochschulabschluss. (Lehrerin in   Familie auf eine solche Lehrkraft trifft.
Berlin)
                                                       Diskriminierungserlebnisse in der Schulzeit
Bei einigen Lehrern hatte ich wirklich einen sehr      haben bei einigen unserer erfolgreichen
schweren Stand, was auch immer die Gründe wa-          Befragten zu einer Art Trotzhaltung ge-
ren. Da hat beispielsweise ein Schüler 'ne Tür ka-     führt, die sie teilweise sogar beflügelt hat.
putt geschlagen. Der Lehrer ist zum Ort des Ge-
schehens gekommen, wusste überhaupt nicht, was
                                                       Aus anderen Untersuchungen wissen wir
passiert ist, und hat ganz laut meinen Namen ge-       allerdings, dass das Gefühl, diskriminiert
brüllt. Das hab ich eigentlich niemals vergessen       zu werden (berechtigt oder nicht), einen
und so vergleichbare Sachen mit kaputten Fens-         signifikant negativen Einfluss auf Bil-
tern und Türklinken hab' ich eigentlich regelmäßig     dungserfolge haben kann. Unabhängig
erlebt. (Rechtsanwalt in Dortmund)
                                                       davon hat es auch bei unseren erfolgrei-
Dann hab ich in der zehnten Klasse die Schule ge-      chen Interviewten das bis heute andau-
wechselt, weil mich meine Deutschlehrerin damals       ernde Gefühl genährt, immer wieder als
quasi rausgeekelt hat aus der Schule. Die meinte       „anders“ und als nicht zugehörig betrach-
dann: "Du wärst der erste Türke, der hier Abitur       tet zu werden.
macht, das würde ich nie zulassen. Du hast keine
Chance, ich lass dich jetzt durchfallen", und dann
hat sie mich sitzenbleiben lassen. Dann haben wir
hinter verschlossener Tür 'n Deal ausgemacht, weil
                                                       Der Übergang in die Arbeitswelt
ich die Nachprüfung bei ihr gemacht habe. Ich hab
gesagt, wenn ich die bestehe, verlass ich die Schu-
le. Dann hat sie gesagt „okay“ und hat mir dann 'ne    Bei den untersuchten Berufsbereichen –
einfache Prüfung gemacht. (Informatiker in einem       Jura, Lehramt, Öffentliche Verwaltung und
internationalen Konzern in Berlin)                     Unternehmen bzw. Selbstständige – gibt
Berichte dieser Art beziehen sich beson-               es deutliche Unterschiede im Hinblick auf
ders häufig auf Gymnasien. Zum einen                   die Strukturierung der Wege in den Beruf.
sind die Befragten dort oft die einzigen               In Jura und im Lehramt besteht mit dem
„Ausländer“ gewesen oder Teil einer klei-              Referendariat eine Phase der praktischen
nen Minderheit – die Schulzeit liegt bei               Berufsausübung, die staatlich organisiert
vielen ja bereits über 20 Jahre zurück. Zum            und unabhängig von Leistungsunterschie-
anderen scheint dort grundsätzlich das                 den garantiert ist. Neben den Noten in
Verständnis für die Vielfalt sozialer und              den beiden Examina erhalten Absolven-
kultureller Hintergründe geringer zu sein              tInnen in beiden Berufen die Möglichkeit,
als etwa an den Gesamtschulen. Aus den                 berufliche Erfahrung und Netzwerke auf-
berichteten Erlebnissen lässt sich ableiten,           zubauen sowie sich in der Praxis zu „be-
dass sich viele Gymnasien in ihrem Selbst-             weisen“. Für unsere Befragten eröffnete
verständnis eher für die Reproduktion                  das Chancen, war aber auch mit besonde-

                                                                                                 11
ren Hürden verbunden. Interessant ist hier    Befragten haben auf dem Weg ins Lehr-
vor allem die Gleichzeitigkeit von „meri-     amt zudem als Vertretungskraft auf Hono-
tokratischen“ Elementen, also der Orien-      rarbasis gearbeitet, um die Wartezeit auf
tierung an Leistungsparametern wie z.B.       eine freie Stelle zu überbrücken. Auch
Noten, und eben doch vorhandenen Spiel-       dabei lernen sich Schulen und angehende
räumen, die sich positiv oder negativ auf     Lehrkräfte kennen und es entstehen nütz-
Karriereverläufe auswirken können.            liche Verbindungen, die den Zugang zu
                                              einer regulären Stelle begünstigen kön-
Beispiel Jura: Voraussetzung für den Zu-
                                              nen. Bei der Einstellung gibt es gewisse
gang zu einer Tätigkeit im Staatsdienst (im
                                              Spielräume: Zwar muss ein offizieller Be-
Richterberuf oder in der Staatsanwalt-
                                              darf für die entsprechende Fächerkombi-
schaft) oder in einer größeren Wirt-
                                              nation an der Schule bestehen, doch liegt
schaftskanzlei ist ein so genanntes Prädi-
                                              es meist auch im Ermessen der Schullei-
katsexamen. Dies zu erreichen bedeutete
                                              tung, mit der Berufung (oder der Ableh-
für unsere türkeistämmigen Befragten die
                                              nung) einer Lehrkraft mit z.B. türkischer
Überwindung verschiedener (struktureller)
                                              Muttersprache Akzente zu setzen. Es ist
Barrieren. Allein ein langes Studium in
                                              daher wenig überraschend, dass die meis-
einem Massenstudiengang erfolgreich und
                                              ten interviewten Lehrkräfte an Schulen
noch dazu mit einer überdurchschnittlich
                                              mit vielfältiger Schülerschaft eingestellt
guten Note abzuschließen, ist für Studie-
                                              worden sind.
rende aus nicht-akademischen Elternhäu-
sern eine besondere Herausforderung.          Im Bereich der freien Wirtschaft gibt es
Dazu kann Benachteiligung bei der Noten-      deutlich weniger formale Voraussetzun-
gebung kommen: Während die schriftli-         gen für den Zugang zu attraktiven Stellen.
chen Staatsexamina anonymisiert sind,         Berufliche Erfahrungen und Kontakte
besteht bei den mündlichen Prüfungen          scheinen dagegen eine große Rolle zu
Spielraum in der Bewertung. Mehrere Be-       spielen.
fragte äußern die Vermutung, dass sich ihr    Unsere Befragten profitierten beim Über-
familiärer Hintergrund negativ ausgewirkt     gang in den Arbeitsmarkt von der dualen
haben könnte. Ein Interviewpartner in         Ausbildung und/oder von Studiengängen
Berlin wurde sogar im Vorfeld vor einem       mit einer engen Verzahnung zwischen
Prüfer gewarnt, der es sich zur Aufgabe       Hochschule und Wirtschaft. Der Großteil
gemacht habe, „Migranten“ im juristi-         absolvierte das Studium an einer Fach-
schen Staatsdienst zu verhindern, und ihn     hochschule und konnte über Praktika,
dann bei der Prüfung tatsächlich kaum zu      Werkstudententätigkeiten oder Abschluss-
Wort kommen ließ. Der Interviewpartner        arbeiten, die in Unternehmen selbst ge-
arbeitet heute trotz des fehlenden Prädi-     schrieben wurden, berufliche Erfahrungen
kats bei einer großen Wirtschaftskanzlei,     sammeln und Kontakte zu zukünftigen
weil er aus dem Referendariat die sehr        Arbeitgebern knüpfen. In diesen Fällen
positive Beurteilung einer anderen Wirt-      verlief der Übergang in die Arbeitswelt
schaftskanzlei vorlegen konnte und diese      weitgehend problemlos.
dann bei der Einstellungsentscheidung
den Ausschlag gab.                            Einige wenige Befragte begannen ihre Be-
                                              rufskarriere mit einer Ausbildung im Un-
Auch im Lehramt kommt dem Referenda-          ternehmen. Doch auch in der freien Wirt-
riat eine wichtige Vermittlungsfunktion zu,   schaft kommt man mit einem Hochschul-
denn wer sich als fähig und zum Kollegium     studium weiter und höher. Entsprechend
passend erweist, wird von der jeweiligen      haben fast alle der Befragten, die (nach
Schule gerne übernommen. Viele unserer        dem Abitur) zunächst eine Ausbildung

                                                                                     12
absolviert haben, im Anschluss oder be-       Im Beruf
rufsbegleitend ein Studium aufgenom-
men.                                          Im Berufsleben selbst scheinen einschnei-
                                              dende Diskriminierungserlebnisse weit
In der Öffentlichen Verwaltung erwies es
                                              weniger präsent zu sein als in der Schul-
sich zunächst generell als sehr schwierig,
                                              zeit. Dennoch spielt die Tatsache, aus ei-
überhaupt türkeistämmige Beschäftigte
                                              ner eingewanderten Familie zu stammen,
als InterviewpartnerInnen zu finden. Ins-
                                              eine andere Muttersprache und Religion
besondere in höheren oder gar leitenden
                                              zu haben und möglicherweise „fremdlän-
Positionen sind Beschäftigte mit familiärer
                                              disch“ auszusehen, fast immer und überall
Einwanderungsgeschichte noch die abso-
                                              eine Rolle. Das kann sich auf unterschied-
lute Ausnahme. Teilweise hängt dies si-
                                              lichen Ebenen äußern:
cherlich mit den begrenzten Einstellungs-
korridoren in vielen Verwaltungen auf-        1. Nachfragen, „Witze“ und Bemerkun-
grund von Vorgaben zum Personalabbau          gen aus dem Kollegenkreis: Im besten Fall
zusammen. Doch auch fehlende Informa-         stehen dahinter echte Neugier und
tionen über Beschäftigungsmöglichkeiten       Freundschaftlichkeit, in weniger ange-
im Öffentlichen Dienst sowie ein wenig        nehmen Fällen geht es vorrangig um Ste-
attraktives Bild von Behörden stellen eine    reotype oder gar „ethnisierte“ Ablehnung.
Zugangshürde dar: So haben die wenigs-        Auch in Lob versteckte Stereotypisierun-
ten unserer Befragten nach einer Stelle im    gen werden in der Regel als ausgrenzend
Öffentlichen Dienst gesucht; häufiger wa-     empfunden.
ren es Zufälle oder Hinweise von Dritten,     2. Das Gefühl, mehr leisten zu müssen
die zur Bewerbung führten. Den Einstieg in    als andere, um dieselbe Anerkennung und
den Öffentlichen Dienst erschwert zudem       dieselben Aufstiegschancen zu erhalten.
eine symbolische Barriere, in der der lange
bestehende rechtliche Ausschluss von Ein-     3. Die Zuständigkeit für Arbeitsbereiche,
gewanderten (als „Ausländern“) aus die-       in denen entweder die türkische Sprache
sem nationalstaatlich organisierten Be-       und Vertrautheit mit „der türkischen Kul-
reich nachwirkt.                              tur“ oder Netzwerke und Landeskenntnis-
                                              se in der Türkei eine Rolle spielen.
Auch Diskriminierung kann beim Übergang
in den Beruf eine Rolle spielen und scheint   Die Fälle 1 und 2 treten in allen Arbeitsbe-
vor allem männliche Bewerber zu treffen.      reichen auf. Es hängt letztlich vom konkre-
Mehrere Befragte, die sich nach dem Stu-      ten Kollegenkreis, der Organisationskultur
dium „frei“ auf Stellen beworben haben,       und der Grundhaltung der Führungsebene
berichten von der Erfahrung, dass ihre        ab, in welcher Weise und Intensität der
Bewerbungen aus nicht nachvollziehbaren       türkische Hintergrund eine Rolle spielt. In
Gründen abgelehnt wurden, was sie mit         internationalen Unternehmen mit multi-
ihrem türkischen Namen in Verbindung          nationaler und -kultureller Mitarbeiter-
brachten. Oder sie bekommen Diskrimi-         schaft gilt er oft eher als „weitere Farbe“
nierung beim Zugang zu Stellen in der Fa-     und damit Bereicherung, auch wenn es gar
milie und im Bekanntenkreis mit – auch        keinen konkreten Bedarf etwa an türki-
Diskriminierungen offener Art, wenn etwa      schen Sprachkenntnissen gibt. Insbeson-
Frauen ausdrücklich eine Stelle nur des-      dere in Bereichen mit sehr hohen Arbeits-
halb nicht bekommen, weil sie Kopftuch        und Leistungsanforderungen (z.B. Wirt-
tragen.                                       schaftskanzleien, Investment Banking)
                                              besteht ein großer Anpassungsdruck an
                                              eine bestimmte Arbeitsethik, die gleich-
                                              machend wirken und Hautfarbe, Name
                                                                                       13
oder ethnische Zugehörigkeiten in den           digen RechtsanwältInnen. Türkischkennt-
Hintergrund treten lassen kann.                 nisse und der türkische Name erleichtern
                                                den Zugang zu MandantInnen, die für Kol-
In „traditionell deutsch“ geprägten Berei-
                                                legInnen ohne entsprechende Sprach-
chen wie der Öffentlichen Verwaltung
                                                kenntnisse schwerer zu erreichen sind. Die
dagegen trifft man häufiger auf die Erfah-
                                                Ansprache dieser Klientel stellt eine Res-
rung, dass der „Hintergrund“ einen Unter-
                                                source, aber auch eine Notwendigkeit dar,
schied macht: Hier steht das betonte Stre-
                                                wie der folgende Ausschnitt aus einem der
ben nach Öffnung für Beschäftigte „mit
                                                Interviews zeigt:
Migrationshintergrund“ im Kontrast zu
alltäglichen stereotypen Fragen und Zu-         Ich war kein besonders guter Jurist, deswegen
schreibungen – und in manchen Fällen            kamen per se eigentlich auch nicht so viele Mög-
                                                lichkeiten in Frage. Ich konnte mich jetzt nicht bei
auch dem Vorwurf, dass die Position nur         großen Kanzleien bewerben oder für'n Staats-
aufgrund eines „Migrantenbonus“ erreicht        dienst. (...) Wer nichts wird, wird Rechtsanwalt,
wurde. Auch sind es vor allem Befragte          und dann bin ich (halt) Rechtsanwalt geworden, (...)
aus dem Öffentlichen Dienst, die mit ras-       und ich dachte mir: „naja, Du musst halt Dein Al-
sistischen Kommentaren über türkei-             leinstellungsmerkmal irgendwie wirtschaftlich
                                                sinnvoll nutzen und dann suchst Du Dir halt Deine
stämmige Kundinnen und Kunden aus               Leute (lachend) (...), die wahrscheinlich dann zu Dir
dem Kollegenkreis konfrontiert sind.            kommen werden“, ne? So ganz realistisch gesehen.
                                                Und so war's dann auch. (...) Erst nachdem ich
Fall 3 gilt in erster Linie für Lehrkräfte –
                                                Anwalt geworden bin, hab ich mich überhaupt
und sei es nur, weil sie an Schulen mit viel-   gegenüber der türkischen Community geöffnet
fältiger Schülerschaft von Eltern und Schü-     hier, vorher hatte ich ja damit überhaupt nichts am
lerInnen selbst anders angesprochen wer-        Hut hier. Erst seit acht Jahren verkehre ich in der
den als ihre KollegInnen mit „deutschem“        türkischen Community hier. (...) Man darf da gar
                                                keinen Hehl draus machen, als türkischer Anwalt
Hintergrund. Die große Mehrheit der be-
                                                bekommen Sie türkische Mandanten. Da kommt
fragten türkeistämmigen Lehrkräfte hat          kein Hans Müller hierhin und klingelt, weil er zu mir
Fächer wie Englisch, Deutsch, Mathematik        will oder so. (...) Zu 'nem türkischen Anwalt geht
oder Sozialkunde studiert und nicht etwa        kein Nicht-Türke.
Türkisch oder islamischen Religionsunter-       Dieser Rechtsanwalt in Berlin hat von sei-
richt. Sie stehen daher vor der ständigen       ner Sozialisation, seinen sozialen Bezie-
Herausforderung, die richtige Balance zu        hungen und seinen kulturellen Vorlieben
finden zwischen der quasi „automati-            her eigentlich wenig Bezug zum „Türkisch
schen“ Zuständigkeit für die Familien „mit      sein“ in Deutschland. Er wohnt in einem
Migrationshintergrund“, der Betonung            Szeneviertel und seine Partnerin ist eben-
ihrer fachlichen Kompetenz und dem Blick        so „ethnisch deutsch“ wie der größte Teil
für die Bedürfnisse aller SchülerInnen.         seines Freundeskreises. Auch die anderen
Auch etliche derjenigen, die in Unterneh-       Kollegen in der Kanzlei sind alle ohne fami-
men oder Wirtschaftskanzleien tätig sind,       liäre oder eigene Zuwanderungsgeschich-
bearbeiten den „Turkish Desk“. Im Ideal-        te. Und trotzdem scheint ihm nicht viel
fall geschieht dies, weil sie über gute Tür-    anderes übrig zu bleiben, als ein „türki-
kischkenntnisse und relevante Netzwerke         scher Anwalt“ zu sein.
in die Türkei verfügen bzw. diese leichter      Das Phänomen hat zwei Seiten: Zum einen
aufbauen können. Diese Spezialisierung          gibt es ein gewisses Maß an Selbstethni-
kann auch ein Alleinstellungsmerkmal ge-        sierung in der „türkischen Community“,
genüber den KollegInnen und daher eine          das sich z.B. darin äußert, dass viele gerne
Chance für berufliches Fortkommen dar-          die vorhandene „türkische Infrastruktur“
stellen. Besonders gut zeigt sich das darin     von Reisebüros bis Arztpraxen nutzen,
enthaltene „Dilemma“ bei den selbststän-        obwohl sie in Deutschland geboren und
                                                                                                 14
aufgewachsen sind und möglicherweise           Unter dem Schlagwort „demographische
besser Deutsch als Türkisch sprechen. Die      Entwicklung“ wird in Deutschland primär
Ansprache und Nutzung der „türkischen          das Phänomen der Überalterung disku-
Community“ ist also durchaus eine ratio-       tiert, während die schnell zunehmende
nale Geschäftsstrategie.                       ethnisch-kulturelle Diversifizierung vor
                                               allem der städtischen Bevölkerung bis
Zum anderen ist aber auch die Einschät-
                                               heute kaum eine Rolle spielt. In nur weni-
zung realistisch, dass „ethnisch deutsche“
                                               gen Jahren wird es jedoch – wie schon
MandantInnen nicht zu „türkischen“ An-
                                               heute in Amsterdam oder London – keine
wältInnen (ähnliches dürfte für ÄrztInnen
                                               Mehrheitsgesellschaft im bisherigen Sinne
gelten) gehen. Die von der so genannten
                                               mehr geben.
„Mehrheitsgesellschaft“ immer noch als
identitätsstiftend betrachtete Grund-          Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung,
unterscheidung zwischen „Deutschen“            aber auch angesichts der Tatsache, dass
und „Ausländern“ bzw. „Migranten“ be-          ein wachsender Anteil der Kinder und En-
steht fort. Die Tatsache, dass es in beinahe   keln von Eingewanderten hier geboren
allen Lebenslagen und -aspekten relevant       und aufgewachsen ist, geht die noch im-
zu sein scheint, ob und welchen „Migrati-      mer unter der Überschrift „Integration“
onshintergrund“ eine Person hat, kann als      geführte politisch-gesellschaftliche Debat-
Indiz dafür gewertet werden, dass              te an der Lebenswirklichkeit der zweiten
Deutschland „mental“, in Bezug auf soziale     Generation weitgehend vorbei. Im Falle
Beziehungen, in der Sprache seiner Sym-        der hoch gebildeten und beruflich erfolg-
bole und im politischen wie medialen Dis-      reichen Teilnehmenden der Studie wird
kurs eben doch noch kein „erwachsenes“         dies besonders deutlich, aber es gilt im
Einwanderungsland ist.                         Grundsatz auch für diejenigen, deren Kar-
                                               rieren weniger herausragen und die den-
Auch der Öffentliche Dienst spiegelt in
                                               noch ein „normales deutsches Leben“ füh-
keiner Weise die über ein halbes Jahrhun-
                                               ren.
dert aufgebaute einwanderungsbedingte
Vielfalt der Gesellschaft wider. Die demo-
graphischen Veränderungen sind lange           Dr. Jens Schneider
übersehen oder gar geleugnet worden            Christine Lang, M.A.
und manche wollen sie bis heute nicht in       Prof. Dr. Andreas Pott
allen ihren Konsequenzen zur Kenntnis
nehmen. Ausgehend von der Polizei haben
zwar in den letzten Jahren immer mehr
Bereiche des Öffentlichen Dienstes das
Problem erkannt und begonnen gegenzu-
steuern. Allerdings geschieht dies fast aus-
schließlich „von unten nach oben“ und im
mittleren Dienst (und eher in der kommu-        1
                                                  Quelle: Crul, Maurice / Schneider, Jens / Lelie, Frans
nalen als in der Landes- und Bundesver-         (Hg.)(2012): The European Second Generation Com-
waltung). Explizite und gelenkte Prozesse       pared : Does the Integration Context Matter? Am-
                                                sterdam University Press, S. 378;
der „interkulturellen Öffnung“ in den Füh-      siehe auch: dies. (2015): Generation Mix. Die super-
rungsetagen sind dagegen kaum zu erken-         diverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus
nen.                                            machen. Münster: Waxmann.

                                                                                                      15
Das Projekt wird gefördert von:

               Kontakt
  Institut für Migrationsforschung und
      Interkulturelle Studien (IMIS)
          Universität Osnabrück
           Neuer Graben 19/21
             49069 Osnabrück

Fon: 0541/969-4159 oder 040/436 802
           Fax: 0541/969-4380
Mail: jens.schneider@uni-osnabrueck.de
       Web: www.ELITESproject.eu

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