Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 - Die Seite des INGRES | La page de l'INGRES
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BERICHTE | RAPPORTS Louisa A. Galbraith Die Seite des INGRES | La page de l’INGRES Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 Bericht über die INGRES-Tagung vom 1. Februar 2021 Aufgrund der COVID-19 Pandemie konnte die alljähr- Schnee ausfallen. Trotz der virtuellen Durchführung über liche, von M ICHAEL R ITSCHER konzipierte und geleitete «Zoom» nahmen zahlreiche Vertreter von Gerichten und Tagung zum europäischen Immaterialgüterrecht in die- Behörden, der Industrie sowie der Anwaltschaft aus sem Jahr nicht im Jugendstil-Hotel «Zürichberg», son- mehreren Staaten teil, um sich über die neuesten Ent- dern nur virtuell stattfinden. Leider musste aus diesem wicklungen des Immaterialgüterrechts in Europa aus- Grund auch der traditionelle Wochenendausflug in den zutauschen. I. Patentrecht und Know-how Schutz bewegung von der äusseren in die innere Endposition des Stützrads schaffe, aber an der Verschwenkbewegung selbst 1. Aktuelle Rechtsprechung des BGH zum Patentrecht nicht teilnehme. Fordere der Patentanspruch die Eignung D R . K L AUS G R ABINSKI (Richter am Deutschen Bundesge- der geschützten Vorrichtung, einen bestimmten Vorgang richtshof) wies zunächst darauf hin, dass am BGH Übertra- ausführen zu können, und benenne er ein Mittel, über das gungen von Verhandlungen per Video mittlerweile zur Ta- diese Eignung erreicht werden solle, sei der Patentanspruch gesordnung gehörten. Daraufhin stellte er einen Entscheid im Zweifel dahin auszulegen, dass das Mittel dazu vor- des BGH (X ZR 62/17, GRUR 2020, 159, «Lenkergetriebe») gesehen sei und dementsprechend geeignet sein müsse, an vor, welcher sich mit der Auslegung von Patentansprüchen dem Vorgang, wenn er ausgeführt wird, in erheblicher Weise beschäftigte. Konkret hatte das Klagepatent eine Kaltfräse mitzuwirken. zum Fahrbahndeckenausbau zum Gegenstand. Im Stand Der zweite von G R ABINSKI vorgestellte Entscheid des der Technik bekannte Kaltfräsen verfügten auf der Nullseite BGH betraf den FRAND-Einwand bei Verletzung eines über einen Schwenkarm für das hintere Stützrad. Am Stand standard-essentiellen Patents (BGH, NZKart 2020, 441, der Technik bemängelte das Patent, dass das nullseitige hin- «FRAND-Einwand»). Die Klägerin in diesem Fall war In- tere Stützrad und seine einseitige vertikale Lagerung den haberin eines Europäischen Patents betreffend ein Verfahren freien Blick auf den Arbeitsraum vor der Fräswalze sowohl zum Aufbau eines Datenanrufs in einem Mobilkommunika- im aus- als auch im eingeschwenkten Zustand behinderten tionssystem. Die Beklagten gehörten demselben Konzern an und zudem (vertikal) viel Platz benötigten. Die Aufgabe und vertrieben in Deutschland Mobiltelefone und Tablets. des Klagepatents bestand daher darin, eine Konstruktion Da das Patent während des Berufungsverfahrens ablief, hat- für die Verschwenkung zu bilden, welche die Sicht nicht ten sich die Parteien über den Unterlassungsanspruch bereits beeinträchtigte. Bei der Beurteilung der Patentverletzung geeinigt. Das Berufungsgericht und der BGH nahmen über- durch die angegriffene Ausführungsform war insbesondere einstimmend eine Patentverletzung an, der BGH verneinte Merkmal 1.8 des Klagepatents von Relevanz, wonach das allerdings, dass der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand Stützrad über ein Lenkergetriebe von der äusseren Endposi- greift. Im Gegensatz zum Berufungsgericht verneinte der tion in die innere Endposition verschwenkbar ist. Dieses BGH die Bereitschaft der Beklagten zum Abschluss eines Li- Merkmal wurde vom vorinstanzlichen Berufungsgericht so zenzvertrags zu FRAND-Bedingungen, da die Erklärung der ausgelegt, dass das Lenkergetriebe nur einen erfindungswe- Beklagten mehr als ein Jahr nach dem ersten Verletzungshin- sentlichen Beitrag dazu leisten müsse, dass das hintere weis der Klägerin und insbesondere nicht unbedingt er- Stützrad mittels eines Verschwenkmechanismus in die in- folgte. Es lag somit kein Missbrauch einer marktbeherrschen- nere Endposition gelange. Der BGH widersprach dieser Aus- den Stellung vor. Der BGH führte schliesslich in einem «obi- legung und hielt fest, es reiche nicht aus, wenn ein Lenker- ter dictum» aus, dass selbst wenn in der Erhebung der getriebe lediglich die Voraussetzungen für die Verschwenk- Unterlassungsklage ein Missbrauch der marktbeherrschen- den Stellung der Klägerin gelegen hätte, die Geltendma- chung des Schadensersatzanspruchs kein Missbrauch der L OUISA A. G ALBR AITH , Rechtsanwältin, Zürich. marktbeherrschenden Stellung und damit durchaus begrün- © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 9 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
Louisa A. Galbraith Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 det gewesen wäre. Weiter hielt der BGH fest, dass in diesem doch noch einmal dessen Einzelfallcharakter. R ITSCHER be- Fall auch dem Verletzer ein Anspruch auf Ersatz des Schadens grüsste die Entscheidung insoweit, als sie die Richter zwinge, zugestanden hätte, der ihm wegen Nichterfüllung seines An- sich mit dem Patentgegenstand und den konkreten Umstän- spruchs auf Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Be- den auseinanderzusetzen. dingungen entstanden ist. Schliesslich stellte G R ABINSKI noch einen Entscheid zur 2. Wichtigste rechtspolitische Entwicklungen im offenkundigen Vorbenutzung vor (BGH vom 21. April 2020, Europäischen Patentsystem X ZR 75/18, «Konditionierverfahren»). Das Streitpatent in diesem Fall betraf ein Verfahren und eine Vorrichtung zur D R . S TEFAN L UGINBÜHL (Direktion Internationale Rechtsan- Konditionierung von Halbleiterwafern. Wichtig für die Be- gelegenheiten des Europäischen Patentamts) gab zunächst urteilung der offenkundigen Vorbenutzung war die Tat- einen Überblick zum aktuellen Stand des einheitlichen Pa- sache, dass ein normaler Anwender keinen Einblick in die tentgerichts (UPC): Im Juli 2020 erklärte Grossbritannien patentgemässe Vorrichtung hatte, da diese nur unter be- den Rückzug seiner Ratifizierung, womit noch 15 Staaten stimmten Bedingungen überhaupt geöffnet werden konnte. verbleiben, die bereits ratifiziert haben (darunter auch Frank- Die Vorinstanz stellte fest, dass die Anlage ohne Geheimhal- reich und anstatt Grossbritannien Italien). Ausstehend ist tungserklärung und Geheimhaltungsinteresse an die Ab- weiterhin die Ratifizierung durch Deutschland. Im Frühling nehmerin geliefert worden sei, weshalb die Möglichkeit be- 2020 fiel der Entscheid des deutschen Bundesverfassungsge- standen habe, dass Dritte Kenntnis davon erlangt hätten. richts, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben. Kurz darauf Der BGH widersprach dieser Auffassung und hielt fest, dass wurde in Deutschland ein dritter Ratifizierungsversuch lan- eine theoretische Möglichkeit, dass Dritte Kenntnis von der ciert, und das Zustimmungsgesetz wurde erneut dem Par- Erfindung erlangt haben, nicht genüge. Im vorliegenden Fall lament vorgelegt. Die Kleine Kammer nahm das Gesetz am seien die Anlagen nicht durch Mitarbeiter der Abnehmerin, 18. Dezember 2020 einstimmig an, nachdem der Bundestag sondern durch solche der Patentinhaberin gewartet worden. es bereits deutlich angenommen hatte. Ebenfalls am 18. De- Es sei daher nicht möglich gewesen, ohne Zustimmung der zember wurden zwei neue Verfassungsbeschwerden ein- Patentinhaberin in die Maschine hineinzuschauen, und es gereicht, und es wurde beantragt, dass der Bundespräsident gebe auch keine Anhaltspunkte, dass Mitarbeiter der Abneh- den Vollzug des Gesetzes aussetzt. Der Inhalt der Beschwer- merin versucht hätten, nähere Erkenntnisse über die Anlage den ist dem EPA noch nicht bekannt. Es kann nicht aus- zu erhalten. Der BGH verneinte aus diesem Grund eine of- geschlossen werden, dass diese Beschwerden erneut eine fenkundige Vorbenutzung. massgebliche Verzögerung bewirken. Das EPA geht jedoch S IMON H OLZER stellte zum zweiten vorgestellten Fall die davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht die Beschwer- Frage, ob daraus geschlossen werden könne, dass auch ein den nicht annimmt. Patentinhaber, der ein diskriminierendes Angebot macht, Weiter berichtete L UGINBÜHL über den Abschluss der Anspruch auf Unterlassung hat, wenn der Implementierer ersten Runde im Konvergenzprogramm, welches darauf ab- seinerseits seinen Pflichten nicht nachgekommen ist. G R A- zielt, Unterschiede in der Verwaltungspraxis der nationa- BINSKI verwies hierzu auf den EuGH-Entscheid i.S. «Huawei» len Patentämter auszuräumen. Bis zum Abschluss des Pro- und führte aus, es handle sich in solchen Fällen um ein gramms im Jahr 2023 werden in diesem Rahmen jedes Jahr «Pflichten-Ping-Pong» zwischen Patentinhaber und Imple- zwei neue Themen diskutiert. Letztes Jahr wurden Standards mentierendem. Im vorliegenden Fall sei es aber gar nicht zu zur Mindestbegründung im Bereich der fehlenden Einheit- einem konkreten FRAND-Angebot gekommen, da der Im- lichkeit festgelegt. Die zweite Arbeitsgruppe beschäftigte plementierende keine unbedingte Bereitschaft zum Vertrags- sich mit der Erfindernennung. Dieses Jahr werden die The- abschluss gezeigt habe. T OBIAS B REMI wies hinsichtlich des men «Prioritätsdatum» und «Wiedereinsetzung» behandelt. dritten vorgestellten Falls darauf hin, dass ein Schweizer Ge- Schliesslich wies L UGINBÜHL darauf hin, dass die richt möglicherweise anders entschieden hätte, und stellte Schweiz an dritter Stelle bei der Anzahl eingegangener Pa- die Frage, wo denn die Grenze gezogen würde. Es müsse wo- tentanmeldungen stehe, sich jedoch die Anzahl der beim möglich auch berücksichtigt werden, wo sich beispielsweise EPA angestellten Schweizer weiter verringert habe. Es handle die Betriebsanleitung der Vorrichtung befunden habe. G R AB- sich hierbei aus seiner Sicht um eine bedenkliche Entwick- INSKI führte aus, der Entscheid sei soweit klar, als dass eine lung für ein aus wirtschaftlicher Sicht wichtiges Land. offenkundige Vorbenutzung nicht nur dann ausgeschlossen sei, wenn eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen 3. Aus der Praxis der Beschwerdekammern des EPA wurde. Die offenkundige Vorbenutzung müsse im Einzelfall beurteilt werden, und es handle sich beim vorgestellten Fall Im Anschluss referierte F RITZ B LUMER (Mitglied der Juristi- wohl eher um einen Ausnahmefall. B REMI gab zu bedenken, schen Beschwerdekammer, Europäisches Patentamt) über dass mit einer solchen Entscheidung Pandoras Büchse geöff- die Entwicklungen in den Beschwerdekammern des EPA im net und möglicherweise eine Neuheitsschonfrist eingeführt Jahr 2020. B LUMER wies zunächst auf eine Revision der Be- werde. G R ABINSKI hielt die Entscheidung in einem Fall, wo stimmungen zum «verspäteten Vorbringen» in der Verfah- aus faktischen Begebenheiten ausgeschlossen werden kann, rensordnung hin. Neu werden dabei drei Phasen unterschie- dass jemand die Technik analysiert, für richtig, betonte je- den: 1) Zu Beginn des Beschwerdeverfahrens können nur © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 9 | 2021 Tous droits réservés. 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BERICHTE | RAPPORTS Beweise und Tatsachen vorgebracht werden, die der Ent- Training des neuronalen Netzes nicht im Detail offenbart scheidung der Vorinstanz zu Grunde lagen. Alles Weitere und daher nicht ausführbar sei. Die blosse Verwendung muss als Änderung gekennzeichnet werden, 2) bis zur La- eines künstlichen neuronalen Netzes führe nicht zu einem dung zur mündlichen Verhandlung dürfen Änderungen nur speziellen technischen Effekt, der die erfinderische Tätigkeit vorgebracht werden, wenn sie begründet bzw. gerechtfertigt begründen könnte. Diese Entscheidung ist gemäss B LUMER werden können, 3) nach der Ladung zur mündlichen Ver- eine Erinnerung daran, dass auch im Bereich der künst- handlung sind Änderungen nur noch möglich, wenn aus- lichen Intelligenz «normales» Patentrecht zu Anwendung sergewöhnliche Umstände geltend gemacht werden. kommt. B LUMER führte weiter aus, Videokonferenzen seien beim In T 2037/18 hielt die zuständige Beschwerdekammer EPA früher immer abgelehnt worden, mittlerweile jedoch in einem Fall zur offenkundigen Vorbenutzung fest, dass bei zum Standard geworden. Mittlerweile würden die Verhand- einer Übergabe eines vorbenutzten Gegenstands durch den lungen für die Öffentlichkeit zugänglich im Internet übertra- Einsprechenden eine etwaige Geheimhaltungsvereinbarung gen. Nun werde eine Ergänzung der VerfO per 1. April 2021 durch den Patentinhaber zu beweisen sei. Dabei bestehe vorgeschlagen, wonach die zuständige Kammer über die keine Vermutung, dass in einem Liefervertrag Vertraulichkeit Durchführung einer Videokonferenz auf Antrag oder von vereinbart worden sei. In T 1085/13 – ebenfalls betreffend Amtes wegen entscheiden könne. Eine Zustimmung der Par- Neuheit – änderte die zuständige Beschwerdekammer die teien wäre demnach nicht mehr notwendig. bisherige Rechtsprechung aus T 990/96 und schloss, dass ein B LUMER leitete im Anschluss über zur Rechtsprechung: Anspruch auf eine chemische Verbindung von bestimmter In der Entscheidung T 844/18 ging es um die Übertragung Reinheit nur als neuheitsschädlich vorweggenommen gelte, von Prioritätsrechten. Die Prioritäts-Anmeldung wurde von wenn der entgegengehaltene Stand der Technik die bean- einer Gruppe von Erfindern in den USA eingereicht. Dazwi- spruchte Reinheit wenigstens implizit offenbare. schen wurde neuer Stand der Technik publiziert. Einer der Schliesslich wandte sich B LUMER der viel beachteten Erfinder reichte danach beim EPA eine Patentanmeldung Entscheidung der Grossen Beschwerdekammer G 3/19 zur unter Beanspruchung der Priorität an. Die Einspruchsabtei- Patentierbarkeit von Pflanzen zu. Der Entscheidung ging lung widerrief das Patent aufgrund des «all applicants/same eine heftig geführte Diskussion zur Auslegung von Art. 53 applicants approach». Demnach kann ein Erfinder die Prio- EPÜ voraus. Die Grosse Beschwerdekammer hatte sich in rität nicht alleine beanspruchen. Gemäss dem Wortlaut von ihren früheren Entscheiden G 2/12 und G 2/13 für eine Pa- Art. 87(1) EPÜ geniesst «jedermann» der eine entspre- tentierung von Pflanzen ausgesprochen. Die Ausführungs- chende Anmeldung eingereicht hat, das Prioritätsrecht. Die ordnung zum EPÜ wiederum sieht vor, dass Patente für Beschwerdekammer hielt fest, die Auslegung von Art. 87 Pflanzen nicht erteilt werden. Es stellten sich schliesslich in- EPÜ dürfe Art. 19 PVÜ nicht widersprechen. Der «all appli- stitutionelle Fragen, insbesondere, ob der Verwaltungsrat cants approach» sei ständige Rechtsprechung und solle des EPA eine Auslegung klarstellen kann, obwohl die Be- nicht umgestossen werden. Daher hielt die Beschwerdekam- schwerdekammern bzw. die Grosse Beschwerdekammer an- mer die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufrecht. derer Meinung sind. Am Ende lenkte die Grosse Beschwer- In T 1604/16 musste eine offenkundige Vorbenutzung dekammer ein und folgte in G 3/19 bei der Auslegung von betreffend eine faltbare Rampe für das Verladen eines Roll- Art. 53 EPÜ der Bestimmung in der AO EPÜ. Es kann zu- stuhls in ein Auto beurteilt werden. Die Einspruchsabtei- sammenfassend festgehalten werden, dass die Entscheidung lung bejahte eine solche Vorbenutzung basierend unter an- viele Diskussionen auslöste, die schliesslich mit der Paten- derem auf einer Zeugenaussage. Die Beschwerdekammer tierbarkeit von Pflanzen nichts mehr zu tun hatten. B LUMER stellte fest, dass sie die vor der Vorinstanz vorgebrachten Be- wies ergänzend noch auf die beiden derzeit hängigen Ver- weise und damit auch die Zeugenaussage frei würdigen fahren vor der Grossen Beschwerdekammer hin (G 1/19 könne. Sie führte insbesondere aus, dass das Prinzip der zur Patentierbarkeit von Simulationen und G 4/19 zum freien Beweiswürdigung sich auf alle Arten von Beweisen er- Doppelpatentierungsverbot). strecke und dass eine Anwendung der in der Entscheidung B EAT W EIBEL merkte an, dass die Durchführung von T 1418/17 festgelegten Kriterien die Zuständigkeit der Be- Verhandlungen via Videokonferenz grundsätzlich sinnvoll schwerdekammern massiv einschränken würde. Während erscheine, es sei jedoch störend, dass dies einfach amtsseitig eine solche Einschränkung bei nationalen Gerichten mög- beschlossen werden könne. Er warf die Frage auf, ob da- licherweise gerechtfertigt sei, bestehe hierfür im EPÜ keiner- durch nicht das rechtliche Gehör der Parteien verletzt werde. lei Grundlage. Weiter hielt er fest, dass Prioritätsrechte unbestrittenermas- Die Entscheidung T 161/18 wurde in zahlreichen Blogs sen übertragbar seien, und fragte, wie dies mit der Entschei- diskutiert. Die patentgemässe Erfindung betraf die Bestim- dung T 844/18 vereinbar sei. B LUMER antwortete, der vorge- mung des Herzzeitvolumens aus einer Blutdruckkurve, die stellte Entscheid äussere sich zum Thema der Rechtsnach- in der Peripherie gemessen wird. Dieser Druck wird mit folge nicht. Obwohl Rechtsnachfolger sich explizit auf die Hilfe eines künstlichen neuronalen Netzes in einen äquiva- Priorität berufen könnten, seien in dieser Hinsicht noch lenten Aortendruck transformiert. Die Gewichtungswerte viele Fragen offen, beispielsweise nach welchem Recht die des neuronalen Netzes werden durch Lernen bestimmt. Die Rechtsnachfolge bestimmt werden sollte oder ob die Be- Beschwerdekammer stellte fest, dass das erfindungsgemässe schwerdekammern diese überhaupt überprüfen dürften. © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 9 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. 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Louisa A. Galbraith Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 G R ABINSKI bemerkte zur Frage der Videokonferenzen, dass die Übertragung von Prioritätsrechten ging. Während im in Art. 28a der deutschen ZPO eine Regelung hierzu bestehe. vorliegenden Fall in der Prioritätsanmeldung in den USA Das Gericht könne demnach den Parteien gestatten, sich nur die Erfinder als Anmelder genannt waren, wurde die von einem anderen Ort zu äussern. Dies sollte pragmatisch PCT-Anmeldung von den Erfindern und ihren Arbeitgebern angesehen werden, und es sollte den Parteien freigestellt (juristische Personen) gemacht. In der nationalen Phase vor bleiben, ob sie lieber vor Ort sein oder per Video teilneh- dem EPA waren sodann nur noch die juristischen Personen men möchten. Vor dem Hintergrund der geltenden Be- als Anmelder genannt. Die vertragliche Regelung war vorlie- schränkungen muss jedoch immer eine Waffengleichheit gend klar; alle Erfinderrechte wurden rechtzeitig an die Ar- hergestellt werden. Allgemein wäre es unglücklich, wenn beitgeber übertragen. Es stellte sich allerdings noch die das Gericht allein bestimmt, dass die Parteien nur per Video Frage, welches Recht auf die Übertragung anwendbar ist. teilnehmen können. R ITSCHER stellte fest, B REMI habe gerade Das Gericht stellte zunächst fest, das Prioritätsrecht sei kein die Frage nach der grenzüberschreitenden Zeugenbefragung Recht, welches vom Land der Prioritätsanmeldung gewährt aufgeworfen. G R ABINSKI antwortete, es gebe eine EU-Verord- werde, sondern vom Bestimmungsland. Weiter erwog das nung, welche die Vernehmung von Zeugen regle und eine Gericht, dass die Frage des Anspruchs auf das Prioritätsrecht gewisse Flexibilität ermögliche. B LUMER ergänzt, dass diese entweder nach dem Patenrecht beurteilt werden könne, wo- Frage nun neu auch in der AO EPÜ geregelt sei. mit die lex loci protectionis und somit das EPÜ anwendbar wäre. Oder es sei denkbar, dass das Eigentumsrecht diese Frage beantworte, was für die Anwendung der lex rei sitae, 4. Praxis der nationalen Gerichte zum EPÜ also des Kollisionsrechts, sprechen würde, womit man je- D R . M ARTIN W ILMING (Europäischer Patentanwalt) stellte zu- doch trotzdem wieder zum EPÜ gelange. Das EPÜ kenne nächst einen Entscheid des Deutschen BGH vor (BGH vom keine Formvorschriften in Bezug auf die Übertragung des 13. Februar 2020, X ZR 6/18, «Bausatz»). Konkret ging es um Prioritätsrechts. W ILMING wies im Folgenden auf die deut- Befestigungsvorrichtungen für wandhängende Objekte (frei- sche Rechtsprechung des BGH zu dieser Thematik hin, wo- hängende Toiletten). Hierfür wird ein Gewinderohr in der nach die Übertragung des Rechts zur Inanspruchnahme Wand eingelassen und darauf eine Hülse aufgeschraubt. der Priorität dem Recht des Staates der ersten Anmeldung Diese Hülse hat ein Vormontagegehäuse mit drei abstehen- unterstehen soll (BGH vom 16. April 2013, X ZR 49/12, den Flügeln und Widerhaken am Ende der Flügel. Das Streit- «Fahrzeugscheibe»). Schliesslich leitete W ILMING über auf patent offenbarte zudem noch eine zweite Ausführungsform, Artikel 122 des Schweizer IPRG, wonach auf den Übertra- wo Hülse und Vormontagegehäuse nicht mehr separat, son- gungsvertrag das Recht anwendbar ist, in dem der Überträ- dern einstückig ausgebildet waren. Das Patent beanspruchte ger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und wonach eine schliesslich einen Bausatz mit einem Vormontagegehäuse Rechtswahl zulässig ist. In diesem Zusammenhang bestehen zur Herstellung des Kontakts zwischen Gehäuse und Objekt. in der Schweiz zwei Theorien: Gemäss der Einheitstheorie Das Bundespatentgericht stellte eine unzulässige Zwischen- sind Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft als Einheit an- verallgemeinerung fest, zumal das Merkmal der «Flügel» zusehen, und beide unterstehen dem Vertragsstatut. Die nicht in den Anspruch ausgenommen worden sei. Der BGH Spaltungstheorie hingegen besagt, dass auf das Verpflich- folgte dieser Auffassung nicht und führte aus, bei der Aus- tungsgeschäft das Vertragsstatut, auf das Verfügungsgeschäft schöpfung des Offenbarungsgehalts seien auch Verallgemei- allerdings das Recht des Schutzlandes anzuwenden ist. nerungen ursprünglich offenbarter Ausführungsbeispiele zu- Schliesslich erwähnte W ILMING einen weiteren Ent- lässig. Dies gelte insbesondere dann, wenn von mehreren scheid aus den Niederlanden, in welchem es um die Formu- Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammenge- lierung der objektiven Aufgabe des Streitpatents ging. Das nommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsge- Gericht lehnte die vom Patentinhaber gewünschte Formu- mässen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in lierung einer komplexeren Aufgabe ab, da sich diese nicht den Anspruch aufgenommen worden seien. Es liessen sich aus der Patentbeschreibung ergebe. W ILMING wies auf die im vorliegenden Fall den Anmeldeunterlagen keine Anhalts- Rechtsprechung des EPA zur Umformulierung der im Patent punkte dafür entnehmen, dass es für die Lösung des Prob- genannten Aufgabe hin. Während T 606/99 feststellte, man lems, mit dem sich die Anmeldung befasst, darauf ankommt, müsse zunächst von der im Patent genannten Aufgabe aus- dass der Kontakt zwischen Hülse und aufzuhängendem Ob- gehen und könne diese erst umformulieren, wenn sie nicht jekt mit Vormontagemitteln hergestellt wird, die die bei bei- gelöst werde, wurde in T 1861/17 erwogen, dass die Aufgabe den Ausführungsbeispielen übereinstimmend vorgesehenen «logischerweise» erst korrekt formuliert werden könne, elastisch verformbaren Flügel mit hakenförmigen Enden auf- wenn der nächstliegende Stand der Technik ermittelt wor- weisen. Eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung lag so- den sei. mit nicht vor. W ILMING wies darauf hin, dass der Entscheid in B LUMER bestätigte im Anschluss an den Vortrag, dass der Schweiz oder vor dem EPA wohl anders ausgefallen wäre, die Rechtsprechung des EPA zu Zwischenverallgemeinerun- da eine untrennbare Verknüpfung von Merkmalen vorliegt. gen sicherlich strenger sei. Wenn jedoch eine Lehre aus W ILMING stellte weiter einen Entscheid aus den Nieder- einem Beispiel als allgemeine Lehre dargestellt werden landen des Hague Court of Appeal vor (C/09/519083/HA könne, sei ein Erfolg allerdings trotzdem möglich. G R ABIN- ZA 16–1117), in welchem es um das anwendbare Recht auf SKI hielt die Entscheidung zur Übertragung von Prioritäts- © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 9 | 2021 Tous droits réservés. 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BERICHTE | RAPPORTS rechten aus den Niederlanden aus deutscher Sicht für über- bar gesenkt. Im Jahr 2020 erfolgten 141 Entscheidungen der raschend. Die Lehre spreche sich für die Anwendung von Löschungsabteilung des EUIPO zur Bösgläubigkeit. In 67 Art. 14 der Rom-I-Verordnung aus. Das Prioritätsrecht werde davon wurde die Bösgläubigkeit bejaht. Vor der zweiten In- als forderungsähnliches Recht angesehen. Es gelte, dass das stanz (Beschwerdekammern) wurde die Bösgläubigkeit im- Recht der Voranmeldung zur Anwendung komme, was die merhin in 23 von 43 Fällen bejaht. Vom EuG kamen drei, Frage der Übertragbarkeit anbelange. Auch auf Formanfor- vom EuGH zwei Entscheidungen zu diesem Thema. V ON derungen sei das EPÜ gemäss BGH nicht anwendbar. Betref- B OMHARD identifizierte in der Folge verschiedene Fallgrup- fend die Übertragungsvereinbarung würde auf das Vertrags- pen der Bösgläubigkeit. Auf Seiten des Markeninhabers statut abgestellt. Bei Arbeitnehmererfindungen mit gesetz- sind dies beispielsweise: «Trademark grabbing», Marktab- lich vorgesehenem Übergang stelle sich dann auch noch schottung und Blockierungsabsicht, fehlende Benutzungs- einmal die Frage, was mit dem Prioritätsrecht geschehe. absicht, «re-filing» (Kettenanmeldungen), gewollte Irrefüh- rung sowie Fälle des «untreuen Agenten». Auf der Seite des Nichtigkeitsklägers ist eine Missbräuchlichkeit des Verfalls- II. Markenrecht antrags denkbar. 1. EU-Praxis Markenrecht 2020 Im Entscheid «Target Ventures» (T-273/19) bejahte das EuG eine Blockierungsabsicht. Demnach war die Marke D R . V ERENA VON B OMHARD (Rechtsanwältin) führte zunächst «Target Ventures» nur eingetragen worden, um den Schutz- aus, das Jahr 2020 sei für die Beschwerdekammern des umfang der eigentlich benutzten Marke «Target Partners» zu EUIPO ein produktiveres Jahr als 2019 gewesen. Die Er- stärken. Gemäss EuG ist dies kein Zweck des Markenrechts, folgsrate beim EuG halte sich relativ stetig zwischen 17% sondern Ausdruck einer Blockierungsabsicht. und 20%, wobei die Kläger bei der Geltendmachung von Der bereits erwähnte Entscheid «Skykick» des EuGH be- relativen Ausschlussgründen in der Regel viel erfolgreicher schäftigte sich mit Bösgläubigkeit aufgrund eines breiten Wa- seien. Seit der Einführung des Zulassungsverfahrens im Mai renverzeichnisses (fehlende Benutzungsabsicht). Der EuGH 2019 habe der EuGH keine einzige Beschwerde mehr an- führte dazu aus, es sei nicht allein ein Indiz für Bösgläubig- genommen. Alle Entscheide aus dem Jahr 2020 waren Be- keit, wenn der Markeninhaber zum Zeitpunkt der Anmel- schwerden bzw. Rechtsmittel, die vor diesem Zeitpunkt ein- dung kein entsprechendes Geschäft betrieben habe. Auch gereicht wurden. vage Warenangaben und breite Verzeichnisse sind demnach In der Folge stellte VON B OMHARD einige Entscheide zum für sich gesehen noch kein alleiniges Indiz für Bösgläubigkeit. Waren- und Dienstleistungsverzeichnis vor. In der Entschei- Es bleibt gemäss VON B OMHARD somit weiterhin schwierig, dung «Skykick» (C-371/18) hielt der EuGH fest, dass kein bei einem breiten WDL Bösgläubigkeit zu zeigen. Nichtigkeitsgrund vorliege, wenn eine Marke mit einem va- Zum Thema «re-filing» erging eine interessante gen Begriff wie «Software» bereits eingetragen sei. Eine Nich- Entscheidung der Beschwerdekammern des EUIPO (BK R tigkeit könne in einem solchen Fall allenfalls mit Bösgläubig- 1849/2017). Es ging um vier Markeneintragungen für «Mo- keit und nach 5 Jahren mit fehlender Benutzung begründet nopoly», wobei die Jüngste alle Waren und Dienstleistun- werden. Die Entscheidung «Burlington» (C-155/18 P bis gen erfasste. Speziell war, dass es nicht um die Umgehung C-158/18 P) beschäftigte sich mit einem Widerspruch basie- des Benutzungszwangs ging, sondern dass die Markeninha- rend auf der Marke «Burlington» für Einkaufspassagen. Das berin den verfahrensrechtlichen Aufwand der Beibringung EuG hielt hierzu unter Verweis auf die Praktiker-Rechtspre- von Benutzungsbelegen umgehen wollte. Aus diesem chung fest, bei Dienstleistungen von Einkaufspassagen sei es Grund wurde die Marke auch für «Spiele» gelöscht, für wel- erforderlich, die betreffenden Waren genau anzugeben. Der che sie unbestreitbar benutzt wurde. Der Fall ist zurzeit EuGH hob diesen Entscheid auf und hielt fest, der Marke beim EuG hängig. Zwei weitere Fälle zum «re-filing» sind könne die Unterscheidungskraft nicht völlig aberkannt wer- BK R-758/2019 sowie BK R 0351–2020/4. In beiden Fällen den. Die Beschwerdekammer des EUIPO gab daraufhin dem wurde die Bösgläubigkeit verneint. Widerspruch aus der Marke «Burlington» für Einkaufspassa- In einem Entscheid der Grossen Beschwerdekammer gen gegen die Marke «Burlington» für Strümpfe statt. In den (R 2445/2017-G) ging es um die Marke «Sandra Pabst» der zwei «Juvederm» Entscheidungen (T-664/196 und T-104/19) Peek & Cloppenburg Gruppe. Gegen diese Marke wurde ein ging es um die Klassifizierung von Hautfüllern. Bei Hautfül- Verfallsantrag von einem bekannten «Trademark Troll» ge- lern handelt es sich demnach um nicht zusammengesetzte stellt, welcher auch gegen andere Marken von Peek & Clop- Produkte, weshalb sie ausschliesslich in die Nizza-Klasse 5 penburg weitere 36 Verfallsanträge gestellt hat. Im Jahr 2014 fallen, selbst wenn sie in eine vorgefüllte Spritze abgefüllt hatte die Markeninhaberin den Verkauf ihrer Marke «fas- sind. Zusammengesetzte Produkte wie ein EpiPen könnten hionnow» als Gegenleistung für den Rückzug der insgesamt jedoch ausnahmsweise in zwei Nizza-Klassen fallen. 37 Verfallsanträge abgelehnt. Vor diesem Hintergrund quali- V ON B OMHARD leitete danach über zum Thema der fizierte die Grosse Beschwerdekammer den Verfallsantrag als Bösgläubigkeit, welches in den Entscheidungen aus dem rechtsmissbräuchlich. Jahr 2020 allgegenwärtig war. Dies ist insofern erstaunlich, Schliesslich präsentierte V ON B OMHARD noch ein als es für lange Zeit geradezu verschrien war, eine Marke aus «deutsch-schweizerisches Schmankerl»: Der Entscheid «Fer- Bösgläubigkeit zu löschen. Diese Schwelle wurde nun spür- rari (testarossa)» des EuGH (C-720/18, C-721/18) äusserte © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 9 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. 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Louisa A. Galbraith Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 sich einerseits in relevanter Weise zum Benutzungszwang, rücksichtigen sind, wie dies im Zusammenhang mit 3D- beschäftigte sich aber andererseits auch mit dem deutsch- Marken ohnehin bereits vorgesehen ist (EuGH vom 10. No- schweizerischen Abkommen aus dem Jahr 1892. Anders als vember 2016, C-30/15 P zum Rubik’s Cube). noch in seiner Entscheidung «BASKAYA» hielt der EuGH In «Brompton» hatte der EuGH die Vorlagefragen zu fest, dieses Abkommen sei für deutsche Gerichte – auch im beantworten, ob Werke, deren Form zur Erreichung eines innerdeutschen Widerspruchsverfahren – verbindlich. Die technischen Ergebnisses erforderlich ist, vom Urheber- Benutzung einer Marke in der Schweiz reicht demnach für rechtsschutz ausgeschlossen und, falls ja, welche Kriterien den Schutzerhalt in Deutschland aus, und umgekehrt. Die bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind. Der EuGH hielt Regelung gilt allerdings nicht für Unionsmarken oder wenn zunächst fest, die Schutzfähigkeit eines urheberrechtlichen der Widerspruch in Deutschland auf eine Unionsmarke ge- Werkes erfordere eine «geistige Schöpfung» und «Originali- stützt wird. tät». Der Schutzausschlussgrund der technischen Bedingt- R ITSCHER stellte die Frage, wie die Rechtsmissbräuch- heit ergebe sich dabei implizit aus dem Kriterium der Ori- lichkeit einer Markeneintragung beurteilt würde, wenn es ginalität. Wo aufgrund technischer Gegebenheiten keine dem Markeninhaber gerichtlich verboten worden ist, die Entscheidungsfreiheit in kreativer Hinsicht bestehe, könne Marke zu benutzen. V ON B OMBHARD führte hierzu aus, dass keine Originalität vorliegen. Damit ein Werk originell sei, die Bösgläubigkeit im Zeitpunkt der Anmeldung vorliegen bedürfe es einer freien und kreativen Entscheidung seitens müsse, weshalb ein nachträgliches gerichtliches Verbot seines Schöpfers. Wenn ein Gegenstand einzig durch die wohl nicht als absoluter Nichtigkeitsgrund gelten könne. technische Funktion gekennzeichnet sei, fehle es an einer Sie weist zusätzlich noch auf den Entscheid des EuGH i.S. originellen geistigen Schöpfung. Massgebend seien ins- «la irlandessa» hin. Die Anmeldung wurde als bösgläubig besondere die Motive des Schöpfers, welche anhand aller angesehen, da der Markeninhaber nicht die Absicht hatte, objektiven Umstände des Einzelfalls zu ermitteln seien. Ein die Produkte je für irische Produkte zu verwenden. abgelaufenes Patent und die Verfügbarkeit alternativer Ge- staltungen könnten, aber müssten nicht Rückschlüsse auf Motive des Schöpfers erlauben. Der Wille des Rechtsverlet- III. Design- und Urheberrecht zers hingegen ist gemäss EuGH irrelevant. 1. EuGH «Brompton» H UBACHER wandte sich danach der Frage der Technizität gemäss Schweizer Recht zu. In der Schweiz zeigt sich auf- S TEFAN H UBACHER (Rechtsanwalt) befasste sich in seinem grund der Ausschlussgründe in Art. 2 lit. b MSchG und in Vortrag mit dem Begriff der Technizität am Beispiel des Art. 4 lit. c DesG grundsätzlich dieselbe Ausgangslage wie in EuGH in einem Urheberrechtsstreit ergangenen Urteils i.S. der EU. Auch gemäss URG wird in der Schweiz implizit ein «Brompton» (C-833/18). Konkret ging es dabei um ein falt- Ausschlussgrund angenommen. Gemäss bundesgerichtlicher bares Fahrrad, welches zwei «Faltpositionen» einnehmen Rechtsprechung zum Markenrecht (BGE 129 III 514 ff., kann. Neben der komplett gefalteten Position steht eine sta- «LEGO»; BGE 131 III 121 ff., «Smarties-Hülsen»), liegt eine bile Zwischenposition zur Verfügung, welche es dem Benut- technisch notwendige Form vor, wenn dem Konkurrenten zer ermöglicht, das Fahrrad vor sich hin zu schieben, hinter für ein Produkt der betreffenden Art keine alternative Form sich her zu ziehen und es sogar als Gepäckträger zu nutzen. zur Verfügung steht oder im Interesse eines funktionieren- Diese Faltfunktion war Gegenstand eines mittlerweile abge- den Wettbewerbs zugemutet werden kann. Betreffend De- laufenen Patents. Das Handelsgericht Lüttich in Belgien er- signrecht hielt das BGer (BGE 133 III 189 ff, «Schmuckscha- wog bei der Beurteilung einer Unterlassungsklage von tulle») fest, der Ausschlussgrund der technischen Notwen- Brompton Bicycles gegen ein Konkurrenzprodukt, ein Ge- digkeit sei nur gegeben, wenn keine andere Form zur brauchsgegenstand (wie ein Fahrrad) könne Gegenstand Verfügung stehe oder vernünftigerweise verwendet werden des urheberrechtlichen Schutzes sein. Erforderlich sei je- könne oder wenn zwar eine andere Möglichkeit bestehe, de- doch, dass das gleiche Gesamtergebnis auch mithilfe ande- ren Ausführung aber wenig praktisch oder mit grösseren rer Gestaltungsformen erzielbar ist. Das Gericht verwies in Herstellungskosten verbunden wäre. Gemäss dem Entscheid dieser Hinsicht auf die Rechtsprechung des EuGH i.S. «DO- des BGer i.S. «Max Bill Barhocker» (BGE 143 III 373 ff.) CERAM» (C-395/16). Gegenstand von «DOCERAM» war hängt das Mass an Individualität vom Gestaltungsspielraum Art. 8 Abs. 1 GGV, wonach ausschliesslich technisch be- ab. Wenn aber der Gebrauchszweck die Gestaltung durch dingte Geschmacksmuster vom Schutz ausgeschlossen sind. vorbekannte Formen derart diktiert, dass für individuelle Der EuGH hielt dazu fest, dass für die technische Bedingt- und originelle Merkmale praktisch kein Raum mehr bleibt, heit vorhandene Alternativen nicht alleine ausschlaggebend liegt ein rein handwerkliches Erzeugnis vor, das vom Schutz seien. Viel eher sei massgebend, ob sich die Erscheinung des Urheberrechts auszunehmen ist. H UBACHER zog daraus ausschliesslich aus der Funktion ergebe, wobei objektive den Schluss, dass in der Schweiz konstant das Kriterium der Umstände, wie insbesondere die Motivation für die Wahl gleichwertigen Alternativen zur Anwendung kommt, wobei der Erscheinungsmerkmale, der Verwendungszweck oder allerdings eine gesamthafte Betrachtungsweise angewandt das Bestehen alternativer Geschmacksmuster zu berücksich- wird. Der EuGH hingegen bekenne sich zu einer Betrachtung tigen seien. Der EuGH stellte hiermit klar, dass auch im De- aller Umstände, inklusive der Motivation/Aufgabenstellung. signrecht ausserhalb des Registers liegende Tatsachen zu be- H UBACHER beendete seinen Vortrag mit der These, dass der © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 9 | 2021 Tous droits réservés. 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BERICHTE | RAPPORTS Miteinbezug von Motiven/Aufgabenstellung legitim und da- lung der öffentlichen Wiedergabe vornähmen, wenn ein mit der Ansatz des EuGH zu präferieren sei. Weiter führte er Nutzer ihrer Plattformen dort ein geschütztes Werk online aus, die Schwelle zur Schutzfähigkeit eines Werkes dürfe stelle. Der Entscheid über das Hochladen eines Inhalts liege nicht zu tief sein. Insbesondere dürfe das Vorhandensein ausschliesslich beim Nutzer, und eine automatische Kon- eines Gestaltungsspielraums nicht genügen, sondern dessen trolle (Upload-Filter) oder automatische Empfehlungen Ausübung sollte in einem originellen Ergebnis münden. H U- des Plattform-Betreibers stellten keine Auswahl bzw. Ent- BACHER schloss mit der These, der eigentliche Leistungsschutz scheidung dieses Betreibers über die öffentliche Wiedergabe solle dem UWG überlassen werden. dar. Weiter sprach sich der Generalanwalt wohl auch gegen J ÜRG S IMON gab zu Bedenken, dass die vorhandenen eine unselbständige, sekundäre Haftung – also eine Mit- Probleme nicht zielführend mit der Einführung eines neuen haftung für das Hochladen – des Plattform-Betreibers aus. Begriffs der Originalität gelöst werden könnten. H UBACHER Er betont jedoch, dies beurteile sich grundsätzlich ohnehin entgegnete, es ginge auch mehr um eine bewusstere Verwen- nach dem Recht der Mitgliedsländer. Hierzu merkt O ERTLI dung der Adjektive technisch «bedingt» bzw. technisch «not- an, dass in der Lehre durchaus Meinungen bestünden, wel- wendig». Vor dem Hintergrund der Frage, ob im Designrecht che diese Aussage in Frage stellten. Der Generalanwalt und im Urheberrecht nun unterschiedliche Massstäbe be- stellte schliesslich fest, der «Safe Harbour» gemäss der stünden, wäre eine einheitliche Begrifflichkeit hilfreich. R IT- Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RL SCHER hielt fest, dass sich aus «Brompton» immerhin ergebe, 2001/31/EG) gelte sowohl in Bezug auf die primäre als dass einmal bestehender Patentschutz nicht per se heisse, auch die sekundäre Haftung. O ERTLI weist darauf hin, dass dass kein Design- oder Urheberrecht bestehen könne, und sich der Generalanwalt allerdings nicht mit der Frage be- interessierte sich dafür, wie VON B OMHARD die Interpretation schäftigte, ob Plattformbetreiber «in keiner Weise mit den der Urteile des EuGH insbesondere zu «Brompton» sieht. übermittelten Inhalten in Verbindung» stehen, wie dies in V ON B OMHARD wies darauf hin, dass sich der EuGH ohnehin Erwägungsgrund 43 zu Art. 12 der Richtlinie verlangt wird. nicht so sehr mit Begrifflichkeiten beschäftige. Sie begrüsste, Bei Youtube wäre dies wohl eher nicht der Fall. dass bestehender Patentschutz den uhreberrechtlichen Im nächsten vorgestellten Fall (C-637/19) ging es um Schutz wohl überall nicht ausschliesst. Allerdings gab sie zu die Frage, ob eine Einreichung von Beweismitteln beim Ge- bedenken, dass die Bemerkungen des EuGH in Bezug auf richt als öffentliche Wiedergabe zu qualifizieren ist. Konkret Parallelitäten in den verschiedenen Rechtsgebieten relativ hatte eine Partei eine urheberrechtlich geschützte Zeich- heikel seien, da auf diese Weise feine Unterschiede gerade nung mittels elektronischer Eingabe (Hochladen auf Ge- in Begrifflichkeiten übergangen werden. richtsplattform) als Beweismittel eingereicht. Das Urheber- recht an dieser Zeichnung stand der Gegenpartei zu, welche argumentierte, das Hochladen auf die Gerichtsplattform sei 2. Praxis des EuGH eine öffentliche Wiedergabe. Der EuGH ist dieser Auffas- Im Anschluss referierte Rechtsanwalt D R . R EINHARD O ERTLI sung allerdings nicht gefolgt. Demnach bilden Gerichtsan- zur Praxis des EuGH im Urheberrecht. Im Urteil i.S. Con- gestellte und Parteien eine geschlossene Gruppe von Perso- stantin Film gegen Youtube (C-264/19) ging es um die De- nen und keine Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass Dritte finition des Begriffs der «Adresse» gemäss Art. 8(2)(a) der möglicherweise beim Gericht Akteneinsicht nehmen kön- Durchsetzungsrichtlinie. Das OLG Düsseldorf hatte eine nen, liegt nicht in der Verantwortung der hochladenden Par- Pflicht von Youtube und Google zur Übermittlung der tei, sondern wird vom Gericht in einem separaten Verfahren E-Mail-Adressen der betreffenden Nutzer bejaht. Der EuGH entschieden. hingegen konsultierte die Materialien zur Durchsetzungs- Im Entscheid Stim, SAMI/Fleetwagen Sweden, Nordisk richtlinie und stellte fest, mit «Adresse» sei nur die Strassen- Biluthyming (C-753/18) befasste sich der EuGH ebenfalls adresse bzw. Postanschrift des Wohnsitzes oder Aufenthalts- mit der öffentlichen Wiedergabe. Es stellte sich konkret die orts gemeint. Es verneinte in der Folge eine Pflicht von You- Frage, ob ein Autovermieter, welcher standardmässig mit tube zur Herausgabe von E-Mail-Adressen von Nutzern. einem Radioempfangsgerät ausgestattete Fahrzeuge vermie- Zumal Youtube die Postanschrift seiner Nutzer beim Hoch- tet, den Tatbestand einer öffentlichen Wiedergabe erfüllt laden eines Videos nicht verlangt, und dies auch nicht muss, Der EuGH verneinte diese Frage. Es handle sich dabei bloss konnte Youtube im vorliegenden Fall überhaupt keine Ad- um die Bereitstellung von Einrichtungen, die eine Wieder- resse herausgeben. gabe ermöglichen. O ERTLI wies darauf hin, dass dies mit der O ERTLI wies als nächstes auf die beiden Fälle Frank Pe- Rechtsprechung des BGH (ZR 21/14) übereinstimme, wo- terson/Google, Youtube (C-682/18) und Elsevier/Cyando nach bei der Bereitstellung von Fernsehempfängern mit (C-683/18) hin, in denen es jeweils um die Frage ging, ob Zimmerantenne in Hotelzimmern keine Urheberrechtsver- eine primäre Haftung von Youtube, Google bzw. Cyando letzung vorliege. Er stellte zudem die Frage, ob die Beurtei- für das Hochladen von urheberrechtlich geschützten Wer- lung anders auszufallen hätte, wenn der Autovermieter in ken zu bejahen ist. Der Generalanwalt Harald Saugmands- den vermieteten Autos beispielsweise Dienste wie Spotify graad verneinte in seinen Schlussanträgen eine selbständige installieren würde, für welche er bezahlt. primäre Haftung, da die Betreiber einer Video-Sharing- Dem Entscheid Atresmedia/AGEDI, AIE (C-147/19) Plattform und einer Sharehosting-Plattform keine Hand- lag der Sachverhalt zu Grunde, dass Atresmedia – eine Be- © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 9 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
Louisa A. Galbraith Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021 treiberin von Fernsehsendern in Spanien – einen Film aus- schädigung für die Musik in eigenen mit den Schaffern der strahlte, in welchen mit Zustimmung der betroffenen Rech- Musik bestehenden Verträgen geregelt. teinhaber Musik eingefügt wurde. Die Verwertungsgesell- P ETER T HOMSEN stellte fest, die Thematik der Urheber- schaften AGEDI und AIE, welche die Rechte des geistigen rechtsverletzungen durch Beweismittel spiele in internatio- Eigentums von Tonträgerherstellern bzw. von ausübenden nalen Verhandlungen oft eine Rolle hinsichtlich des Zu- Künstlern verwalten, verlangten für die Ausstrahlung des gänglichmachens von Nicht-Patentliteratur. Er stellt die Films die Bezahlung einer Tonträgervergütung. Während Frage, ob der EuGH sich dazu geäussert habe, dass das be- die Vorinstanz die Pflicht zur Bezahlung einer Vergütung be- treffende Gericht sicherstellen müsse, dass die Dokumente jahte, stellte der EuGH fest, die mit der Wiedergabe eines nicht an die Öffentlichkeit gelangten. O ERTLI antwortete, Tonträgers verbundenen Rechte gemäss Vermietrechts- und dies sei der entscheidende Punkt des Urteils, welcher jedoch Verleihrechts-Richtlinie (2006/15/EG) könnten bei der Wie- am Ende vom EuGH gerade nicht thematisiert worden sei. dergabe eines audiovisuellen Werks nicht geltend gemacht Die Lösung müsse darin bestehen, dass das Gericht eine werden. Ein Tonelement auf dem Träger eines audiovisuel- Weitergabe an Dritte verweigern könne. Dies sei dem Ent- len Werks könne nicht als Tonträger qualifiziert werden. scheid jedoch eben gerade nicht zu entnehmen. Die Entschädigung bei der Ausstrahlung von audiovisuellen R ITSCHER schloss in der Folge die Tagung, bedankte sich Werken am TV fliesst demnach an andere Verwertungsge- insbesondere bei allen Referierenden und bedauerte, dass er sellschaften, welche diese Beiträge bei ihren Mitgliedern ver- dieses Jahr nicht zum Aperitif einladen kann. teilen. Diese Mitglieder wiederum haben eine allfällige Ent- © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 9 | 2021 Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
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