PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN

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PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Menschen, Häuser, Orte, Daten

ProgrammZeitung
                                                                                                             CHF 8.00 | EUR 6.50

                                                                                             September 2013 | Nr. 287
                                                          Kultur   im Raum Basel
Cover: ‹Urban Sounds›, System Introspection, 2002–2012,
©Nicolas Maigret u S. 21
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Die ganz vorzügliche
unD höchst beklagenswerte
geschichte von
romeo unD Julia
im schalanDersaal
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tel 078 676 53 15

verpasst?       nochmals!
11. bis 27. september 2013
Jeweils Dienstag bis Freitag
19.30 uhr
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Inhalt
                                                                                                                Redaktion
                                                                                                                Kulturszene                                            24
                                                                                                                Agenda                                                 48
                                                                                                                Kurse                                                  75
                                                                                                                Impressum                                              75
                                                                                                                Ausstellungen & Museen                                 76
                                                                                                                Bars & Cafés                                           78
                                                                                                                Essen & Trinken                                        78
                                                                                                                Kultursplitter                                         79

                                                                                             ‹Brückenpoesie›
                                                                                             im Gundeli,

Engagement allüberall
                                                                                             Margarethen-
                                                                                             brücke, Foto: db
                                                                                             Mehr Lyrik in
                                                                                                                            Hauskultur
dagm a r bru n n e r                                                                         Basel u S. 15      db. Im Mediensektor wimmelt es derzeit von
                                                                                                                Jubiläen. Unser Kulturpoolpartner ‹041›, das
   Editorial. Fulminant ist die Kaserne Basel vor fünf Jahren in die neue                                       Kulturmagazin Luzern, hat das erste Vierteljahr-
Saison gestartet, die zugleich der Auftakt in eine neue Ära war: Carena                                         hundert hinter sich. Auch mehrere Basler Insti-
Schlewitt hatte das Zepter übernommen, und abgesehen von einer zu-                                              tutionen können auf vermutlich wechselhafte
nächst unbefriedigenden Lösung betr. Spartenleitung Musik, entwickelte                                          Zeiten anstossen: Radio X, das soeben den Preis
sich das Haus in diesen Jahren prächtig und vermochte, wie damals ange-                                         für Integration entgegennehmen durfte, ist seit
kündigt, «mit Entdeckungen zu überzeugen». Solche kann man auch in der                                          15 Jahren präsent, ebenso Online-Reports, das
aktuellen Spielzeit machen (S. 13/14). Der Kaserne-Direktorin und ihrem                                         «unabhängige News-Portal der Nordwestschweiz»
Team gratulieren wir herzlich zum ‹kleinen Jubiläum›!                                                           von Peter Knechtli, wo wir seit 2006 wöchentlich
Einen enthusiastischen Mitstreiter hatte die Kaserne seit je in Christoph                                       Kulturtipps beisteuern. Telebasel sendet seit 20,
Meury. Kein Wunder, hat er die ‹Kulturwerkstatt› doch mitbegründet und                                          Radio Basilisk seit 30 Jahren.
die Entwicklung des gesamten Kasernenareals stets engagiert und kritisch                                        Unsere langjährige Druckerei Schwabe hat sich
begleitet. Als Leiter des Theater Roxy in Birsfelden war er zudem ein wich-                                     ebenfalls für ein Fest gerüstet, um ihrer ‹Geburt›
tiger Kooperationspartner des Basler Hauses und vehementer Kämpfer für                                          vor sage und schreibe 525 Jahren zu gedenken.
die Wiedergeburt eines Theaterfestivals. Seinen Rücktritt als Roxy-Leiter                                       Sie ist vermutlich weltweit das älteste Unter­
kündigte er zwar frühzeitig an, doch seine Zukunftspläne entwickelten                                           nehmen dieser Art und geht auf den deutschen
sich nicht wie erhofft. Über die Gründe gibt es verschiedene Ansichten,                                         Drucker-Verleger Johannes Petri zurück, der das
seine Verdienste indessen sind unumstritten (S. 12). Wir wünschen diesem                                        Basler Bürger- und Zunftrecht 1488 erhielt, was
Pionier eine tolle neue Herausforderung und alles Gute!                                                         als Gründungsjahr der Firma gilt. Deren turbu-
Zu einem Neustart hat sich auch das Theater Palazzo entschlossen, das mit                                       lente Geschichte und Entwicklung von der ‹Offi-
einem weiblichen Leitungsduo sein Profil schärfen will, mit mehr Theater                                        zin› bis zum heutigen komplexen Betrieb mit
(-kooperationen), Kabarett und Angeboten für ein junges Publikum (S. 10).                                       Druckerei, Informatik, Verlagen und Buchhand-
Erfreulich, dass sich Kontinuität mit Innovation verbindet und ehemalige                                        lung lässt sich angeblich lückenlos belegen und
Mitarbeiterinnen von Kaserne, Roxy und ProgrammZeitung sich erfolg-                                             wird in einem Jubiläumsband dokumentiert, der
reich behaupten.                                                                                                Ende Jahr erscheinen soll. Die Festlichkeiten
Weitere Erfolgsgeschichten schrieben einige Einrichtungen, die heuer run-                                       finden zuvor u.a. im Ackermannshof statt, wo
de Geburtstage feiern können und sich dazu etliches einfallen lassen: Das                                       schon der Stammvater wirkte.
Theaterhaus La Filature (S. 8), die Bachletten-Buchhandlung (S. 15), die                                        Die ProgrammZeitung wird dieses stolze Jubi­
Sophie und Karl Binding Stiftung (S. 5), der Badische Bahnhof (S. 22) und                                       läum nicht mehr als Kundin, aber als ‹Freundin
das soziale Kulturprojekt ‹3Klang›, dessen Einnahmen grösstenteils der                                          des Hauses› begleiten. Aus finanziellen und
Gassenarbeit zugute kommen – ein Engagement, das ebenso sinn- und reiz-                                         drucktechnischen Gründen haben wir uns für
voll wie notwendig ist (S. 18).                                                                                 einen Druckereiwechsel entschieden; die erste
Notwendig war auch, was Niklaus Meienberg trieb, der vor 20 Jahren aus                                          Kostprobe halten Sie hier in Händen. Sie stammt
dem Leben schied. Mit seiner wilden Mähne, vor allem aber mit seiner spit-                                      von AVD Goldach AG, einer auf Zeitschriften-
zen Zunge und Feder war er vielen ein Dorn im Auge, doch seine Reporta-                                         druck spezialisierten Firma, die selbst unsere
gen zu helvetischer Geschichte und Politik trugen zur breiten Auseinander-                                      Kleinauflage in Rollenoffset herstellen kann,
setzung über tabuisierte Themen bei. Das wortgewaltige und streitbare                                           was eine erhebliche Kostenreduktion bedeutet.
Raubein hatte indes auch eine poetische Ader und eine zarte Seele, die u.a.                                     Wir danken Schwabe für die fast 15-jährige,
in seiner Lyrik zutage treten. In einer Ausstellung sowie in z.T. neu aufge-                                    ausgesprochen kompetente, zuverlässige und
legten Büchern und Filmen ist das Werk dieses engagierten Historikers,                                          faire Zusammenarbeit und freuen uns auf die
Journalisten und Schriftstellers (wieder) zu entdecken.                                                         neue, hoffentlich ebenso erfreuliche Koopera-
Ausstellung ‹Warum Meienberg?›: bis So 29.9., Kulturraum am Klosterplatz, St. Gallen                            tion mit dem Ostschweizer Partner.
Neu: Film von Tobias Wyss, ‹Der Meienberg›, DVD. Weitere Filme und Bücher im Limmatverlag.

                                                                                                                                     September 2013 |   ProgrammZeitung | 3
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
«Stiftungen sind Dienstleister.»
h e i nz s ta h l h u t

   Die Sophie und Karl Binding Stiftung wird 50.
Im beschaulichen Gellert-Quartier hat eine gewichtige Ex-
ponentin der Schweizer Kulturszene ihren Sitz: die Sophie
und Karl Binding Stiftung, die 2013 ihr fünfzigjähriges Be-
stehen feiert. Dass vornehme Zurückhaltung durchaus zu
ihrem Programm gehört, wird einem schon klar, wenn man
von Direktor Benno Schubiger im Sitzungszimmer mit ge-
diegenem Mobiliar aus dunklem Holz empfangen wird.
Der Zweck der 1963 gegründeten Stiftung, «den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt und Ausgleich in der Schweiz
sowie die Integration und Verständigung der verschie-
densprachigen Landesteile zu fördern und zu stärken und
damit zur Erhaltung und Entwicklung der für die Identität
der Schweiz wesentlichen natürlichen, kulturellen und
geistigen Werte und Güter beizutragen», gibt einen Hin-
weis auf das Stiftungsduo. Karl Binding, ein Frankfurter
mit Zürcher Bürgerrecht, kam im Zweiten Weltkrieg in die
Schweiz. Hier lernte er seine spätere Ehefrau Sophie ken-
nen, die ihrerseits aus erster Ehe mit dem Enkel des Grün-                                                                                           ‹Künstlerworte,
ders der 1929 an General Motors veräusserten Opelwerke          umfassende, jedoch begrenzte – Fördervolumen eine Kon-                               Künstlerpor-
über beträchtliches Vermögen verfügte. Schon zu seinen          zentration erforderlich macht. Zwar sieht sich die Stiftung                          träts›, Adrian
                                                                                                                                                     Schiess im
Lebzeiten setzte das Paar einen grossen Teil seines Vermö-      nicht unbedingt als potenter Motor von gesellschaftlichen                            Kunstmuseum
gens für soziale, kulturelle und gemeinnützige Projekte in      oder kulturellen Entwicklungen. Dennoch gibt sie wichtige                            Chur, Foto:
der Schweiz als Dank an seine Wahlheimat ein.                   gesellschaftliche Anstösse. So förderte sie etwa mit der                             Richard Dindo

   Langzeit- und Altersförderung. Ganz im Sinne dieses          Initiierung des Studiengangs Kulturmanagement die Pro-
bürgerschaftlichen Engagements fördert die Stiftung noch        fessionalisierung im Kulturbereich und mit dem Stipen­
heute in den vier Bereichen Umwelt, Soziales, Bildung und       dienprogramm Universuisse den landesweiten Kontakt
Kultur. So vergibt sie seit 1987 jährlich den Binding Wald-     über Sprach -und Fachgrenzen hinweg. Darüber hinaus
preis an Forstbetriebe, die ihren Wald nachhaltig bewirt-       ist sie mit grossem Einsatz im Bereich Stiftungswesen ver-
schaften, indem sie ökologische, gesellschaftliche und öko-     bandspolitisch aktiv.
nomische Belange zu vereinen verstehen.                         Die eher konservative Finanzpolitik der Institution, die vor
Vorbildlich in allen vier Bereichen ist die Langzeitförderung   allem auf Liegenschaften beruht, hat ihr in der Finanzkrise
von Projekten, etwa des Basler Barockorchesters La Cetra,       im Gegensatz zu verschiedenen anderen Stiftungen denn
wodurch die Geförderten eine sichere Grundlage für ihre         auch keinen dramatischen Einbruch beschert, so dass sie
Arbeit erhalten. Nachahmenswert ist auch das in enger           ihre wichtige Funktion hoffentlich noch viele weitere Jahr-
Zusammenarbeit mit Museen entwickelte Programm Sélec-           zehnte erfüllen kann.
tion d’Artistes, das vor 10 Jahren lanciert wurde. Damit        Sophie und Karl Binding Stiftung, Rennweg 50, Basel,
werden vor allem über 40-jährige, international renom-          www.binding-stiftung.ch
mierte Schweizer Kunstschaffende, die bei zahlreichen           Film ‹Künstlerworte/Künstlerporträts – Portraits d’artistes/Paroles
anderen Kunstpreisen aufgrund ihres Alters ausschieden,         d’artistes› von Catherine Gfeller (Regie) und Richard Dindo (Produzent),
                                                                über zeitgenössische Schweizer Kunst in 12 Porträts. Premiere:
mit Museumsausstellungen und Publikationen gefördert.
                                                                Di 10.9., 19.30, Kino im Kunstmuseum Bern, Hodlerstr. 8–12. DVD CHF 30
Ab September wird ein Film von Catherine Gfeller zwölf
der KünstlerInnen, darunter Adrian Schiess und Valerie
Favre, vorstellen. Benno Schubiger betont, dass es bei die-
                                                                                                               Wohnprojektetag
ser Förderung u.a. darum gehe, die Museen bei ihren zen­
                                                                                    db. Die Stiftung Edith Maryon, die sich für soziale Wohn- und
tralen Aufgaben Erhalten, Erforschen und Vermitteln zu
                                                                                    Arbeitsstätten engagiert, unterstützt ebenso wie die Christoph
unterstützen; daher werde auch verlangt, dass ein solches
                                                                                    Merian Stiftung und weitere Partner den ‹Wohnprojekte-Tag›, der
Projekt mit einer wissenschaftlich profunden Publikation
                                                                                    diesmal durch die trinationale Region tourt. Zum Auftakt werden
verbunden sei. Dies erscheine dem Gedanken der Stif-
                                                                                    neue Wohnformen und kostengünstiges Bauen in Berlin, Halle
tung angemessener als die allseits angesagte Förderung
                                                                                    und Leipzig vorgestellt und diskutiert. Sodann bringen Shuttle-
junger Talente.
                                                                                    Busse das interessierte Publikum zu beispielhaften Wohnpro­
   Verbandspolitisch aktiv. Angenehm unaufgeregt gibt sich
                                                                                    jekten in Basel, Riehen, Lörrach, Weil und Saint-Louis. Ferner
die Stiftung auch in ihrer Selbsteinschätzung; zwar sei dem
                                                                                    können Genossenschaften in Basel-West und Grenzach besichtigt
Gremium angesichts der Fokussierung auf die Schweiz klar,
                                                                                    werden und bieten Einblicke in ihre Entwicklung.
dass kulturelle und Umweltphänomene heute global seien.
                                                                                    Wohnprojektetag: Sa 14.9., www.wohnportal-basel.net,
Der Fokus ist gemäss Schubiger denn auch eher praktisch                             www.wohnportal-dreiland.net
bedingt, da das – wenn auch rund drei Millionen pro Jahr
                                                                                                                               September 2013 |   ProgrammZeitung | 5
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Ein Tanz auf den Unebenheiten des Lebens
a l f r e d s c h l i e nge r

    Der chilenische Spielfilm und Bären-Gewinner                 det, ist sie auch dem Sex keineswegs abgeneigt. Rodolfo
    ‹Gloria› ist ein besinnlicher Mut- und Muntermacher.         (Sergio Hernandez), der Vergnügungsparkdirektor, den wir
Nein, einfach ein Feel-Good-Movie ist das beileibe nicht.        im Film als ihren Teilzeitliebhaber erleben, erweist sich
Auch wenn er mit poppigen Tanzszenen startet und endet.          allerdings als zwiespältige Fluchtfigur, zu dessen Nach­
Die 57-jährige Gloria, geschiedene Mutter zweier erwachse-       erziehung Gloria keine grenzenlose Lust hat.
ner Kinder, tanzt nun einmal fürs Leben gern, und wenn sie           Wehmut und Übermut. ‹Gloria› ist ein Film über Ver-
im Auto zum Yoga-Kurs fährt, dann singt sie voller Hingabe       änderungen. Und darüber, dass Veränderungen nicht das
die Songs aus dem Radio mit, die auf so stupide wie be-          Ende bedeuten, sondern neue Blicke, neue Begegnungen
kömmliche Weise von Lieb und Leid, von Herz und Schmerz          ermöglichen. Es schmerzt Gloria, dass sie an ihre erwach-
zu berichten wissen. Da liegt eine luftig-leichte Ironie drin,   senen Kinder fast nur noch über den Telefonbeantwor-
denn natürlich weiss diese Gloria aus ihrem nicht immer          ter rankommt. Und als ihre schwangere Tochter mit dem
glorreichen Leben etwas mehr und Tieferes zum Thema              Kindsvater nach Schweden auswandert, zerreisst es ihr
beizutragen, als ihr lieb sein kann. Vor 13 Jahren ist ihre      das Herz. Aber sie geht nicht unter. Auch Verluste gehören
Ehe zerbrochen, und seither hat sie ihren Ex-Mann nie            zum Leben. Und während Rodolfo seine neue Freundin vor
mehr gesehen. Nicht zerbrochen aber ist Gloria (Paulina          seinen Kindern versteckt, nimmt Gloria ihn mit zum Ge-
Garcia), diese sinnlich-sensible, zurückhaltend-souveräne        burtstagsfest ihres Sohnes, wo sie auch ihrem Ex-Mann mit
und erfrischend lebenslustige Person in jenem Alter, das         Partnerin zum ersten Mal wieder begegnet. Die Szene wird
wohl wenige Frauen als ihr bestes bezeichnen würden. Mit         zum berührenden Bündelungspunkt für das vielfältige
ihr in diesem Film durch die Unebenheiten des Lebens zu          Geflecht von Beziehungen, die das Leben prägen, auch
streifen, ist ein besinnliches Vergnügen.                        wenn sie sich verändert haben. Ohne künstliche Drama-
    Lust und Skepsis. Der chilenische Regisseur Sebastian        tisierung gelingt es Lelio, Altes und Neues, Privates und
Lelio verfügt über die glückliche Gabe, Situationen und          Politisches aus Chiles jüngster Geschichte ganz beiläufig
Menschen schnell und konkret zu etablieren, ohne dass es         buchstäblich in Beziehung zu setzen. Und auch hier braucht
platt wird. Wir fühlen uns seinen Figuren sehr bald nahe,        er kein einziges Wort, um etwa die gestörte Tochter-Vater-
gerade weil sie nicht alles aussprechen, was sie bewegt,         Beziehung erlebbar zu machen.
sondern im Spiel und in Bildern den Raum schaffen, es zu         An der diesjährigen Berlinale wurde Paulina Garcia für ihre
enträtseln, zu erahnen.                                          Darstellung der Hauptrolle mit dem Silbernen Bären aus­
Zum Auftakt also ab in die Ü50-Single-Tanzparty, wo Gloria       gezeichnet. Die Leistung liegt in der – gefüllten – Zurück-
Stammgast zu sein scheint. Hier schweift ihr Blick in einer      haltung, in der unglaublich guten Dosierung der Gefühls­
unnachahmlichen Mischung aus Unternehmungslust und               regungen, des Mienenspiels. Es ist die Unaufdringlichkeit,
Skepsis über die Tanzfläche, ihre eulenhaft grosse Brille        die uns die Protagonistin nahebringt. Das passt zur ganzen
wirkt wie ein Schutzschild, und schliesslich mischt sie sich     Geschichte, die alles andere als reiner Jubel ist, sondern
durchaus zögerlich unter die angejahrten Tanzenden, weil         eben ein gut gemischter Cocktail aus Wehmut und Über-
sie ihren Körper wieder mal bewegen und spüren will. Eine        mut, Gelassenheit und Verzweiflung, Absacken und wieder
wortlose Eingangsszene, die bereits viel erzählt. Gloria         Aufstehen.
tanzt allein. Aber wenn sich ein passabler Tanzpartner fin-      Der Film läuft ab Do 12.9. in einem der Kultkinos u S. 45

                                                                                      Filmstill aus
                                                                                      ‹Gloria›

                                                                                                                     Film & Frau
                                                                                      db. Das Neue Kino Basel untersucht mit Unterstützung des Insti-
                                                                                      tuts für Medienwissenschaften und der FG Gender Studies Basel
                                                                                      unter dem Titel ‹The Girl – The Gun› mit vier Filmen, Diskussio-
                                                                                      nen und einer Publikation Frauen(gewalt)fantasien bzw. das Ver-
                                                                                      hältnis von Feminismus und filmischer Bildstruktur. Ausserdem
                                                                                      huldigt das 6. Queer Cinema ‹Luststreifen› «mit einer gehörigen
                                                                                      Portion postfeministischer Popkultur» in Kurz- und Langfilmen
                                                                                      dem Thema ‹Kunst und Künstlichkeit›.
                                                                                      ‹The Girl – The Gun›: ab Do 5.9., www.neueskinobasel.ch
                                                                                      6. Queer Cinema: Do 19. bis So 22.9., Neues Kino, www.luststreifen.ch
                                                                                      Ausserdem: 11. Fantoche, Intern. Festival für Animationsfilm:
                                                                                      Di 3. bis So 8.9., Baden, www.fantoche.ch
                                                                                      9. Zurich Film Festival: Do 26.9. bis So 6.10., www.zff.com
                                                                                      70. Int. Filmfestspiele, Venedig: bis Sa 7.9., www.labiennale.org

6 | ProgrammZeitung | September 2013
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Ein Wunder der Authentizität
a l f r e d s c h l i e nge r

Filmstill aus
‹An Episode in         ‹An Episode in the Life of an Iron Picker› geht             Es ist das reale, gewöhnliche Leben dieser Familie. Einstel-
the Life of an         ganz unpathetisch unter die Haut.                           lungen dauern so lange, wie es eben dauert. Keinerlei musi-
Iron Picker›
                   Ist es denn möglich, dass ein Übermass an Unglaublich­          kalische Untermalung, keine Zuspitzungen bei den Zurück-
                   keiten die Glaubwürdigkeit und Dringlichkeit eines Filmes       weisungen im Spital, die Emotionen, das Erschrecken, die
                   noch steigert? Beim jüngsten Werk des Bosniers Danis            Empörung über die Inhumanität liegen in Aug’, Herz und
                   Tanovic ist dies zweifellos der Fall. Schon die Produktions-    Hirn der Betrachtenden. Das ist grosse Kunst, gerade weil
                   geschichte ist kaum zu glauben. Tanovic liest eine Notiz in     es uns ganz konsequent nicht mit den üblichen drama­
                   der Zeitung, die ihn empört. Er merkt, dass er die Geschich-    turgisch-manipulativen Mitteln in eine exemplarische
                   te sofort verfilmen muss. Er recherchiert den Fall, reist zu    Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung von
                   den Menschen, die ihn erlebt haben, und entschliesst sich,      Minderheiten hineinzieht. Dieses nüchterne Hinsehen gilt
                   die Betroffenen, die noch nie vor einer Kamera gestanden        es auch auszuhalten.
                   sind, ihre Geschichte selber nachspielen zu lassen. Er hat         Schwindende Solidarität. Regisseur Danis Tanovic ist kein
                   ein Budget von 17’000 Euro und neun Tage Drehzeit. Und          Unbekannter. Über seinem Spielfilmerstling, der Kriegs­
                   dann gewinnt der Spielfilm an der diesjährigen Berlinale        farce ‹No Man’s Land›, ging 2001 ein wahrer Preisregen
                   den Jurypreis sowie den Silbernen Bären für den besten          nieder; er wurde mit dem Oscar und dem Golden Globe
                   Hauptdarsteller (Nazif Mujic).                                  für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet sowie
                       Zunehmende Inhumanität. ‹An Episode in the Life of          in Cannes und beim Europäischen Filmpreis für das beste
                   an Iron Picker› erzählt die wahre Geschichte einer Roma-        Drehbuch. Damals lag die Kraft in der Groteske, welche die
                   Familie in einem Dorf in Bosnien-Herzegowina, zwei Auto-        perverse Kriegswirklichkeit auf dem Balkan zur absurden
                   stunden hinter Sarajevo gelegen. Die Frau ist mit dem drit-     Kenntlichkeit entstellt. Diesmal ist es, ganz im Gegensatz
                   ten Kind schwanger und hat starke Schmerzen. Der Mann           dazu, die pure Authentizität von Figuren und Geschichte,
                   fährt sie mit den beiden kleinen Töchtern ins weit entfernte    die unter die Haut geht. Verschiedene Handschriften, die
                   Spital. Dort stellt man fest, dass der Embryo tot ist und die   gleiche Frage: Wo bleibt die Menschlichkeit?
                   Frau dringend operiert werden müsste, denn eine Schwan-         Im ‹Iron Picker› ist sie, im Kontrast zu den abweisenden
                   gerschaftsvergiftung gefährdet ihr Leben. Da sie keine Ver-     Ärzten und Behörden (die als einzige nicht sich selber spie-
                   sicherungskarte und auch nicht die 600 Franken besitzt,         len) mit Händen zu greifen: In der Solidarität von Familie,
                   die der Eingriff kosten würde, wird sie harsch abgewiesen       Freunden und Nachbarn in der Roma-Gemeinschaft. «Ist es
                   und nach Hause geschickt. Erst bange Tage später, im drit-      möglich», fragt Danis Tanovic, «dass 15 Jahre nach dem
                   ten Anlauf und mit einem Trick, gelingt es, der Frau die        Krieg, in dem ich Zeuge von unglaublichem Mut und tägli-
                   lebensnotwendige Hilfe zukommen zu lassen.                      cher Hingabe wurde, in dem Menschen ihr Leben riskier-
                   Tanovic erzählt das dramatische Geschehen unter Verzicht        ten, um einem Fremden in Not zu helfen, wir heute in einer
                   auf jede Dramatisierung. Die Kamera registriert ganz unpa-      Gesellschaft leben, die den Blick von den sozial Unterprivi-
                   thetisch den ärmlichen Alltag der Familie in harter, winter-    legierten abwendet und sich verhält, als sähe sie den Horror
                   licher Umgebung. Die Frau führt den Haushalt, der arbeits-      nicht, der uns umgibt? Kein System ist unmenschlich, so-
                   lose Mann hackt Holz, sammelt Wiederverwertbares von            lange die Menschen gut sind.»
                   der Müllhalde und weidet alte Autos nach Metallteilen aus.      Der Film läuft ab Do 5.9. in einem der Kultkinos.

                                                                                                                               September 2013 |   ProgrammZeitung | 7
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Vielfältiger Sound
m ic h a e l b a a s

                                                                                                                    Binational besiegelt
                                                                                                                                   pe t e r bu r r i
                                                                                                                        20 Jahre La Filature in Mulhouse.
                                                                                                                 1993 war der Bau fertig, 1994 wurde er von Fran-
                                                                                                                 çois Mitterrand und Helmut Kohl eingeweiht.
                                                                                                                 Denn Jean-Marie Bockel, damals Bürgermeister
                                                                                                                 von Mulhouse, hatte es verstanden, die beiden
                                                                                                                 Staatsoberhäupter zum deutsch-französischen
                                                                                                                 Gipfeltreffen in seine Stadt zu locken. Unter
                                                                                                                 Bockels Ägide hatte der urbane Umbau der ser-
                                                                                                                 belnden Industriestadt Mulhouse begonnen, die
                                                                                                                 im 19. Jahrhundert als elsässisches Manchester
                                                                                                                 galt. Ein erstes Symbol dafür war der elegante
                                                                                                                 Theaterbau La Filature, der so heisst, weil er auf
                                                                                                                 dem Gelände einer ehemaligen Baumwollspin-
                                                                                                                 nerei entstand.
                                                                                                                 Seit 20 Jahren ist dieses Haus mit 1200 Plätzen
                                                                                                                 und zusätzlicher Studiobühne eine ‹Scène natio-
Masha Bijlsma,                                                                                                   nale›, also ein auch von Paris geförderter Um-
Foto: zVg                In Freiburg dominiert eine Woche der Jazz.                                              schlagplatz für die darstellenden Künste, der im
                      Das Jazzfestival Freiburg startet durch und soll wieder – wie zwischen 2001                Unterschied zu den Nationaltheatern (wie etwa in
                      und 2006 – jährlich stattfinden. Möglich machen das erhöhte Zuschüsse der                  Strassburg) nicht über ein eigenes Ensemble ver-
                      Stadt und des Landes Baden-Württemberg. Die Veranstalter, E-Werk und                       fügt. Seine Aufgabe ist die Präsentation von zeit-
                      Jazzhaus, haben damit elf Konzerte programmiert; dazu gibt’s Anlässe um-                   genössischem Theater und Tanz, die Koproduk­
                      sonst und im Freien: Jazz an der Dreisam, der die Ufermeile im Zentrum in                  tion mit verwandten Häusern und freien Gruppen.
                      eine Bühne für SolistInnen und Marchingbands verwandelt.                                   Gleichzeitig ist die Filature aber auch Konzertsaal
                      Populärster Name im Line-Up ist fraglos Till Brönner. Der 42-jährige Trom-                 des Orchestre symphonique de Mulhouse, Gast-
                      peter hat sich mit seinem letzten, 11. Album, etwas von den weichgespülten,                spielort der Strassburger Opéra national du Rhin
                      massenkompatiblen Arrangements emanzipiert und schafft einen Spagat                        (deren Balletttruppe in Mulhouse angesiedelt ist),
                      zwischen komplexen, offenen Strukturen und lässig harmonischen. Der                        Mediathek und Ausstellungsraum.
                      Bassist Hellmut Hattler lässt ebenfalls aufhorchen – vor allem mit Cross-                  Seit einem Jahr leitet Monica Guillouet-Gélys
                      over-Projekten; eine Linie, die das neue Projekt, das der 61-Jährige mit der               dieses komplexe Unternehmen mit einem Bud-
                      Sängerin Fola Dada im Jazzhaus vorstellt, mit der Mischung aus Fusion                      get von 5,5 Millionen Euro und 80’000 Eintritten
                      Jazz, Elektro, ‹Weltmusik›, Soulpop fortsetzt. Positiv aufgefallen ist ferner              pro Saison. Die frühere Tänzerin und Jazzmusi-
                      der in Düsseldorf geborene Gitarrist Torsten Goods, für das Fachmagazin                    kerin, die ihre Sporen vorher als Directrice der
                      Jazz Podium ein «Shooting Star» der deutschen Szene – wobei sich der                       etwas kleineren ‹Scène nationale› im multikultu-
                      32-Jährige nicht mehr auf klassischen Jazz festlegen lassen will und auf der               rell geprägten Evry bei Paris abverdiente, sucht
                      CD ‹Love Comes To Town› auch Crusaders- oder Viktoria-Tolstoy-Songs                        im nicht minder bunten Mulhouse die Zusam-
                      covert; er kommt mit einem Quartett.                                                       menarbeit mit allen Institutionen der Region,
                         Internationale Gäste. Für ‹Worldjazz› stehen Vieux Farka Touré, ein                     auch über die Landesgrenzen hinaus – so etwa
                      Sohn des legendären malischen Gitarristen Ali Farka Touré, das deutsch-                    mit der Kaserne Basel, mit der es bereits zu
                      libanesische Ensemble Masaa um Sänger Rabih Lahoud und der israelische,                    einem gemeinsamen Gastspiel der Tanztruppe
                      inzwischen in Berlin lebende Pianist Omer Klein, den das Jazz Podium zur                   von Anne Teresa De Keerksmaker kam. Gleich-
                      «Creme zeitgenössischer Jazzpianisten» zählt; er gestaltet den Festivalauf-                zeitig streckt Guillouet-Gélys die Fühler nach
                      takt mit einem klassischen Klaviertrio.                                                    der Mittelmeerkultur aus, der sie von Marokko
                      Auch Schweizer Stimmen sind zu hören: Erika Stucky, die mit Sina                           bis Beirut schon nachspürte.
                      Geschichten und Sagen aus dem Wallis vorführt, sowie der junge Florian                     Gefeiert wird in Mulhouse mit einem intensiven
                      Favre, der ein weiteres Klaviertrio präsentiert. Vervollständigt wird das                  Wochenende, an dem auch Heinz Spoerlis ‹Gold-
                      Programm durch die holländische Sängerin Masha Bijlsma, die zwischen                       berg Variationen› wieder gezeigt werden. Die Sai-
                      Jazzstandards, Popsongs und Chansons pendelt, sowie mit dem Projekt                        son 2013/14 verspricht viel Interessantes, darun-
                      ‹Beyond Horizons›, einer Begegnung des Freiburger Akkordeon-Orchesters                     ter fünf Kurzstücke zum Thema ‹J’ai 20 ans
                      mit einem Jazztrio um Drummer Matthias Daneck. Vorgeschaltet gibt’s                        qu’est-ce qui m’attend› (‹Ich bin zwanzig, was
                      zum Start zudem den Minigipfel, eine Clubnacht mit Konzerten in Lokalen                    erwartet mich›), wovon eines aus der Feder der
                      der Quartiere Stühlinger und Im Grün – eine Gelegenheit, die traditionel-                  Schriftstellerin und derzeitigen französischen
                      len Freiburger Ausgehviertel zu erkunden.                                                  Kulturministerin Aurélie Filippetti stammt.
                      Jazzfestival Freiburg: Sa 14. bis So 22.9., diverse Lokale, www.jazzfestival-freiburg.de   Jubiläum: Fr 13. bis So 15.9., www.lafilature.org

8 | ProgrammZeitung | September 2013
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Avantgarde trifft auf Stadttheater
a l f r e d z i lt e n e r

   Mit zwei Frauenfiguren startet das Theater Basel                   Richard Maxwell ist einer der interessantesten Theaterleute
   musikalisch in die Spielzeit.                                      der New Yorker Avantgarde und hat mit seinen New York
Floria Tosca ist eine gefeierte Sängerin; Isolde ist Schau-           City Players auch bei vielen europäischen Festivals gastiert.
spielerin in einer existenziellen Krise: Sie verliert die emo-        So hat ihn die Dramaturgin Stephanie Gräve kennen ge-
tionale Erinnerung, auf der sie ja in ihrer Kunst aufbaut.            lernt und nun – nach zwei gemeinsamen Projekten in Bonn
Floria Tosca ist die Hauptfigur in Giacomo Puccinis Opern-            – nach Basel geholt. Maxwells bisherige Arbeiten seien, er-
reisser ‹Tosca›; Isolde steht im Zentrum eines Auftragswerks          zählt Gräve, vorwiegend monologisch; nun habe es ihn ge-
des New Yorker Autors, Regisseurs und Musikers Richard                reizt ein ‹richtiges› Stück zu schreiben. Der Text ist knapp;
Maxwell, für das der Basler Komponist Daniel Ott die Parti-           die Musik soll genügend Raum bekommen.
tur schreibt.                                                         Der Regisseur sei fasziniert von der Möglichkeit, sparten-
‹Tosca› wird dirigiert von Enrico Delamboye. Die Inszenie-            übergreifend zu arbeiten, die das Modell Stadttheater bie-
rung besorgt die junge Schauspiel-Regisseurin Jette Steckel,          tet, erklärt Gräve. In ‹Isolde› lässt er Darstellende aus Basel
die zu den grossen Begabungen ihrer Generation gehört.                und New York, eine Sängerin und drei MusikerInnen auf-
Sie geht mit viel Respekt an ihre Aufgabe, ist aber auch              treten. Isolde ist gleich mit drei Frauen besetzt. Der Text ist
fasziniert von dem Stück, in dem unterschiedliche, leiden-            nur das Gerüst des Theaterabends, für die szenische Arbeit
schaftliche Affekte «in Szenen gebündelt» seien. Sie ist              Maxwells sind die Energien entscheidend, die bei den Pro-
überzeugt, dass alles, was in diesem Stück geschieht –                ben zwischen den Mitwirkenden entstehen.
Machtmissbrauch, versuchte Vergewaltigung, Mord aus                   ‹Tosca›: ab Mi 11.9., 19.30, Theater Basel, Grosse Bühne u S. 33
Notwehr, Selbstmord – auch heute passiert. Sie wird die               ‹Isolde› (UA): ab Do 12.9., 20 h, Kleine Bühne u S. 33
Handlung also aus dem historischen Kontext der Napoleo-
nischen Kriege lösen, unterstützt von den – so die Regisseu-
rin – «bildgewaltigen Bühnenelementen» ihres ständigen
künstlerischen Partners Florian Lösche.
   Dreieck – spartenübergreifend. ‹Isolde› ist eine moderne,
sehr freie Variante der Geschichte von Tristan und Isolde.
Wie die mittelalterliche Isolde steht auch jene von heute
zwischen ihrem Ehemann, einem Bauunternehmer, und
ihrem Geliebten, einem Architekten, der ihr ein perfek-
tes Haus bauen soll. Der Kontrast zwischen den Männern
könnte nicht grösser sein: dem pragmatischen Geschäfts-
mann steht ein Künstler gegenüber, der in der Architektur
sein Ideal verwirklichen will, aber nicht handelt. Natürlich
endet ein solches Dreieck unter aufgeklärten Grossbürgern
von heute nicht mehr tödlich.

                                          Richard Maxwell (links),
                                          Foto: Michael Schmelling.
                                          Daniel Ott, Foto: zVg

                Spotlight                          zu sehen sein. ‹Centrepoint›, eine Vereinigung
                                                   von internationalen Expats in Basel, organisiert
                                                                                                               unterstreicht auch der Einsatz der Hammond B3
                                                                                                               Orgel – ursprünglich als preisgünstiger Ersatz
               f r a nz i sk a m a z i             regelmässig Ausstellungen mit Kunstschaffen-                für die Kirchenpfeifenorgeln gedacht – die in
           Modische Kunst und Soul.                den aus der Region. Zu den Centrepoint-Öff-                 den Sechziger- und Siebzigerjahren bei keinem
‹Kleider machen Leute› heisst es im Volksmund.     nungszeiten sind sie allgemein zugänglich. –                Blues-, Soul-, Rock- oder Jazz-Konzert fehlen
Doch in Mirjam Spoolders Kunst hat sich die        Musikalische Internationalität ist im Volkshaus             durfte. Doch bei Wressnig ist ausserdem der Ein-
Mode weitgehend vom Menschen losgelöst, ins-       Basel zu erleben. Im Rahmen der ‹Blues Now!›-               fluss moderner Organisten wie Jimmy Smith,
besondere von dessen räumlichen und körper­        Reihe treten der Österreicher Raphael Wressnig              Jimmy McGriff oder Jack McDuff zu spüren.
lichen Bedingungen. Sie schwebt in der Schwere­    an der Hammond B3 und aus den USA Alex                      Antonio Fian, ‹Was bisher geschah›, Dramolette.
losigkeit, bewegt sich in unmöglichen oder gar     Schultz an der Gitarre, Silvio Berger am Schlag-            Droschl Verlag, Graz, 1994
in mehreren Räumen zur selben Zeit. Die in         zeug, die Sängerin Deitra Farr und der Saxofo-              ‹Fashionable Art›: Di 17.9., 18.30 (Vernissage), bis Ende
Basel wohnhafte gebürtige Niederländerin lässt     nist Gordon Beadle auf. Was bisher nur als CD               Dezember, Centrepoint Artwall, Im Lohnhof 8,
                                                                                                                www.centrepoint.ch
sich auch selbst nicht gerne von Konventionen      unter dem Titel ‹Soul Gift› erhältlich war, kommt
eingrenzen und vereint Modedesign, bildende        nun in einige wenige Konzertsäle Europas. ‹Soul             ‹Soul Gift Revue›: Fr 20.9., 20.15, Volkshaus Basel,
                                                                                                               Rebgasse 12, www.volkshaus-basel.ch
Kunst, Architektur und Theaterperformance in       Gift› ist hauptsächlich ein Retro-Projekt, das sich
                                                                                                               ‹Spotlight› stellt ausgewählte englischsprachige
ihren Arbeiten. Ein Teil ihrer Werke wird bis      in einer Traditionslinie mit Billy Preston, Booker
                                                                                                               Veranstaltungen im Raum Basel vor.
Ende Jahr im Rahmen der ‹Centrepoint Artwall›      T. Jones, Sam Cooke und Jimmy Webb sieht. Dies

                                                                                                                                         September 2013 |   ProgrammZeitung | 9
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Lokal verankert – regional vernetzt
a l f r e d z i lt e n e r

                         Das Theater Palazzo in Liestal erhält eine neue              tens vernetzt. Mit ihrer Kollegin wird sie die künstlerische
                         Co-Leiterin und ein fokussiertes Konzept.                    Leitung und die organisatorischen Aufgaben teilen. Eine
                      Seit dem Jahr 2000 ist Karin Gensetter die künstlerische        solche Partnerschaft hat sich Karin Gensetter ausdrücklich
                      Leiterin des Theater Palazzo in Liestal. Sie hat dem Haus       gewünscht.
                      ein klares Profil gegeben und es fest im kulturellen Ange-      In den Jahren seit ihrem Amtsantritt, erzählt diese, habe
                      bot der Kantonshauptstadt verankert. Nun wagt sie einen         sich die Liestaler Kulturszene stark verändert. Zum Palazzo
                      Neubeginn – mit einer versierten Partnerin und einem teil-      seien andere Veranstalter gestossen: die Kantonsbibliothek
                      weise veränderten Konzept. Den Anstoss dazu gab die Pen-        mit literarischen Abenden, die Kulturscheune und das Kul-
Leitungsduo           sionierung der bisherigen administrativen Leiterin Heidi        turhotel Guggenheim mit Konzerten. Das Palazzo müsse
Karin Genset-         Piombini. Deren Nachfolgerin ist die Kulturmanagerin            also kein breites Spektrum mehr abdecken, sondern könne
ter (links) und
                      Nathalie Buchli, die bisher u.a. in der Kaserne Basel und im    seinen Schwerpunkt auf Theaterproduktionen setzen, für
Nathalie
Buchli, Foto:         Theater Roxy tätig war; zudem betreut sie diverse bekannte      die den anderen die Infrastruktur und die professionelle
Heiner Grieder.       Kunstschaffende und hat eine eigene Produktionsfirma            Erfahrung fehle.
Theater
                      aufgebaut. Sie kennt also die freie Theaterszene und ist bes-      Mehr Kooperationen und Jugendangebote. Die Zusam-
Palazzo, Foto:
Josef Schaub                                                                          menarbeit mit den lokalen Kulturinstitutionen ist den bei-
                                                                                      den Leiterinnen wichtig, und entsprechende Gespräche
                                                                                      haben stattgefunden. So sei es etwa denkbar, erklären
                                                                                      sie, einzelne Ausstellungen der Museen mit thematisch
                                                                                      passenden Theaterproduktionen zu ergänzen. Doch die
                                                                                      Vernetzung soll über Liestal hinausgehen. Die verstärkte
                                                                                      Kooperation mit Veranstaltenden und Kunstschaffenden
                                                                                      der freien Theaterszene vor allem in der Region ist eine
                                                                                      wichtige Schiene im neuen Konzept. Koproduktionen etwa
                                                                                      mit der Kaserne, dem Roxy und dem Vorstadttheater kön-
                                                                                      nen sich die Macherinnen vorstellen (sofern sie auf die
                                                                                      kleine Bühne im Palazzo passen). Zudem sollen Projekte
                                                                                      auch vor Ort erarbeitet und uraufgeführt werden.
                                                                                      Als zweite Schiene wollen sie das Angebot für Familien und
                                                                                      junges Publikum ausbauen. Das Theater wird mehr Pro-
                                                                                      duktionen zeigen und aktiv auf Schulen und Lehrpersonen
                                                                                      zugehen, Einführungen und Diskussionen anbieten. Eine
                                                                                      wichtige Rolle spielt dabei das in Liestal ja besonders
                                                                                      heimische Figurentheater. Für Mai 2014 plant die Päda­
                                                                                      gogische Hochschule Liestal im Palazzo zudem die ersten
                                                                                      Schultheatertage BL.
                                                                                         Mehr Witz und mehr Mittel. Als dritte Schiene nennt
                                                                                      Buchli den Humor: KabarettistInnen, Clowns und Come­
                                                                                      dians möchten sie vermehrt ins Palazzo holen. Diese Gast-
                                                                                      spiele sollen finanziell möglich werden durch Kooperation
                                                                                      mit anderen Schweizer Kulturhäusern, etwa dem Theater
                                                                                      Teufelhof. Das neue Konzept kann allerdings nur mit mehr
                                                                                      Mitteln realisiert werden. Daher haben die Theaterleiterin-
                                                                                      nen eine Erhöhung der kantonalen Subvention beantragt,
                                                                                      die seit zehn Jahren gleich geblieben ist. Zum Zeitpunkt
                                                                                      unseres Gesprächs war der Ausgang noch offen.
                                                                                      Die Saison beginnt mit einem Konzert von Les Reines Pro-
                                                                                      chaines und einem Film über die Basler Performerinnen.
                                                                                      Danach steht die Erstaufführung eines Kinderstücks aus
                                                                                      der freien Szene auf dem Spielplan. Die Regisseurin Dalit
                                                                                      Bloch aus Arlesheim erarbeitet mit zwei Darstellenden
                                                                                      das interaktive Detektivspiel ‹Die kalte Schnauze› mit
                                                                                      einem Text von Lukas Linder. Die Produktion kommt in
                                                                                      Kooperation mit ‹kis.bl› (Kulturelles in Schulen) zustan-
                                                                                      de. Im Oktober sind musikalisch-politisches Kabarett,
                                                                                      Figurentheater und okzitanische Musik programmiert.
                                                                                      Programm Theater Palazzo u S. 32

10 | ProgrammZeitung | September 2013
Kasper, Tod und Teufel und ein Krokodil
v e r e n a s t ö s si nge r

Ausstellung
Anne
Bothuoen,
‹Cousu main›,
Foto: Philippe
Delépine

   Das 7. Figurentheaterfestival zeigt die Vielfalt            Auch im Rahmenprogramm taucht – neben Ausstellungen
   des Genres.                                                 und einem Workshop – der Kasper wieder auf: ‹Herzkasper›
Am 7. September ist es soweit: Christian Schuppli und sein     von und mit Florian Feisel ist eine Geschichte für «alle
Team übergeben die Leitung des ‹FigurenTheaterFestival›        unerschrockenen Menschen ab 6 Jahren, die noch nie von
(FTF) an Marius Kob. Das verspricht eine Fortsetzung der       einem Krokodil gefressen wurden». Und ebenfalls an Kin-
Erfolgsgeschichte: Marius Kob, Absolvent des Studiengangs      der ab Schulalter wenden sich ‹Das Mädchen im Löwen­
Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik         käfig› vom Ensemble Materialtheater Stuttgart & Théâtre
und Darstellende Kunst in Stuttgart, fiel schon bei seinem     Octobre Brüssel, eine fantastische Zirkus-Geschichte «mit
ersten Basler Auftritt auf, der so poetischen wie bedrücken-   Clowns, Artisten, einer Musikkapelle und einer echten Hexe»
den Rauminstallation ‹Ghostcity› (2011), und seit Anfang       sowie ‹Ida hat einen Vogel, sonst nichts› vom Figurenthea-
Jahr spielt er neben Schuppli und Pierre Cleitman im Vagabu-   ter Lupine (Bern): ein wohl eher nachdenkliches Stück. Im
Stück ‹Kreuzzug der Schweine›.                                 Zentrum steht ein Mädchen, das nicht in die Ferien fahren
Christian Schuppli, Mitgründer des Figurentheaters Vagabu      kann, weil ihr Vater arbeitslos ist. Sie zieht sich in den
und diesjähriger PriCülTür-Preisträger, hat das Festival       Schuppen zurück und baut sich eine Fantasiewelt auf, die
1995 lanciert und über die Jahre hin zu einer attraktiven      sie alleine bereisen kann. Die Gruppe Die Nachbarn aus
Plattform für internationales Figurentheaterschaffen ge-       Bern schliesslich zeigt das Familienstück ‹Gurkenkönig›
macht. Klein, fein und überraschend sind die seit 2003         (ab 7 Jahren), das, ausgehend von Christine Nöstlingers
zweijährlichen Festivals immer gewesen, und zunehmend          Roman, davon handelt, was passiert, wenn jede/r nur noch
sind sie auch beim Publikum erfolgreich: mit einem Budget      das macht, was ihm oder ihr passt.
von nur gut 300’000 Franken hat das FTF 2011 über 4’000           Realitäts- und ortsbezogen. Die Tendenz zu Stücken, die
Zuschauende erreicht.                                          sich mit Wirklichkeit befassen, ist deutlich. Und die ent-
   Kritisch, nachdenklich, fantasievoll. Die ‹Stabübergabe›    schiedene Lust, nicht nur in geschlossenen Räumen aufzu-
markiert auch die zeitliche Mitte des diesjährigen, thea-      treten. Die Aufführungen finden zwar in Theaterhäusern
terästhetisch anspruchsvollen Programms. Im Zentrum            statt, doch der öffentliche Raum wird auch bespielt. Das
stehen drei Abend-Aufführungen. ‹Puppen sterben bes-           Colori Strassentheater zieht durch die Stadt, bunte, surreal
ser› von Florian Feisel (Stuttgart) ist eine Lecture Perfor-   wirkende Figuren, deren geometrisch verfremdete Erschei-
mance «zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des            nung an Oskar Schlemmers Bauhaus-Ästhetik denken lässt;
Figurentheaters»; in ‹Jenseits von Gut und Böse› wird, so      ‹Die Dicke›, eine rundgepolsterte Frau (Julia Raab, Stutt-
der Programmtext, «die Wandelbarkeit des menschlichen          gart), geht als Walkact durch die Strassen und will mit
Willens verhandelt» – die gesellschaftspolitisch aktuelle      Flanierenden ins Gespräch kommen, und auch ein wildes
Aufführung von Kopp/Naue/Vittinghoff aus Bern mündet           Tier ist unterwegs: Florian Feisel im Krokodil-Kostüm. Als
in ein Publikumsgespräch mit der Philosophin Annemarie         ‹performativer Begleiter› des Festivals reisst er dabei «auch
Pieper; und in ‹Teuflische Zeiten› von Annette Wurbs und       gewaltig das Maul auf».
Peter Müller (Neubrandenburg) kämpft der alte Kasper           7. Figurentheaterfestival: Fr 6. bis So 8.9., div. Orte u S. 34
vor «ständig wechselnden und bewegten Hintergründen»
gegen Teufel, Tod und böse Mächte.
                                                                                                                                 September 2013 |   ProgrammZeitung | 11
Der Pionier tritt ab
d om i n iqu e spi rgi

   Christoph Meury verabschiedet sich aus dem Theater
   Roxy – ein Engagierter der freien Szene.
Er ist ein überaus freundlicher Mensch. Aber einer, der sich
nicht scheut, seine Meinung kundzutun und dabei kaum
diplomatische Zurückhaltung walten lässt. Das erscheint,
wenn man nur liest, was Christoph Meury als Kolumnist,
als Leserbriefschreiber bzw. Online-Kommentator oder in
E-Mails schreibt, oft etwas schroff. Wer ihm aber gegen-
übersitzt, erlebt ihn als Menschen, der auch zuhört und auf
Fragen eingeht. Und natürlich als jemanden, der durchaus
etwas zu sagen hat.
Viel zu sagen hat Meury über die Kulturpolitik und vor allem   Christoph
über die freie Theater- und Tanzszene der Schweiz, die er,     Meury,
wie nur wenig andere, als einer der grossen Pioniere im        Foto: zVg,
                                                               Bearbeitung
Land mitgeprägt hat. Als Mitbegründer der Kulturwerk-          Lucas Mösch
statt Kaserne (und auch dieser Zeitung hier), als Hauptini­
tiant und Produktionsleiter des Theaters in der ehemaligen     nicht seine Person im Vordergrund stand. «Ich habe mich
Stückfärberei, als Mitglied des ersten Leitungsteams der       für das Roxy engagiert, es aber niemals als mein Privat­
Gessnerallee Zürich und des Fachausschusses beider Basel       theater betrachtet.»
für Theater und Tanz, als Mitbegründer des Förderprojekts          Ohne Nachfolgeprojekt. Noch ist Meury nicht ganz weg.
Treibstoff und der Basler Tanztage sowie als Mitverant-        Die Durchführung der 6. Treibstoff Theatertage (s. neben-
wortlicher für die erfolgreiche Wiedergeburt des Theater-      an) ist ihm eine Herzensangelegenheit. Dazu kommen bis
festivals Basel ...                                            21. September weitere Produktionen im Roxy. Aber dann ist
Und natürlich als Mitinitiant und ab 2000 als erster Leiter    Schluss: «Ich höre einfach auf», sagt er. Ohne Nachfolge-
des Theater Roxy in Birsfelden. Mit Meury entwickelte sich     projekt im Köcher. «Im Moment freue ich mich darauf, nicht
das ehemalige Vorstadtkino rasch zum profilierten Auffüh-      mehr 365 Tage im Jahr ein Theater betreuen zu müssen.»
rungsort, Produktions- und Kompetenzzentrum für die            Und aufs Motorradfahren und ...
freie Theater- und Tanzszene. Die KünstlerInnen, die hier      Ganz so schlagartig wollte sich Meury eigentlich nicht von
auftraten, schätzten den Theaterleiter als engagierten         der Theater- und Tanzszene verabschieden. Er lässt durch-
Macher. Er sorgte dafür, dass auch die Infrastruktur des       blicken, dass er im Sommer 2014 gerne noch bei der zwei-
Hauses ausgebaut wurde. Seit 2009 verfügt das Roxy über        ten Ausgabe des erfolgreich wiederbelebten Theaterfesti-
eine eigene Probebühne – was die grosse Schwester in der       vals Basel mit an Bord gewesen wäre. Doch die Kaserne
Stadt, die Kaserne Basel, ziemlich neidisch nach Birsfelden    Basel hat bereits ohne den abtretenden Roxy-Leiter zu pla-
blicken lässt.                                                 nen begonnen. Für Meurys Empfinden wäre eine zweite
   Dschungelkämpfer. Soweit ein paar Fakten, die sich          Festivalrunde nach dem aufwendigen Aufbau ein schönes
problemlos um weitere Erfolge und heute wohlklingende          und ehrenwertes Abschiedsgeschenk gewesen.
Namen ergänzen liessen, welche der Pionier im Roxy oder        Roxy-Programm u S. 31. Abschiedsapéro: Fr 20.9., 21.30
mit Treibstoff mit aufgebaut hat. Meury bezeichnet sich
selber als «Ermöglicher» – was sicherlich zutrifft, auch
wenn es etwas bescheiden klingt. Er half massgeblich mit,
neue Orte als Kulturplätze zu akquirieren, und er förderte                                                   Grenzerfahrungen
Talente. Das war nicht immer ganz einfach: «Ich entstam-                           db. Ein Kleinbasler Galerieraum wird vorübergehend zu einem
me einer Generation, die um die ganze Infrastruktur für                            ‹Basislager für Grenzgänge›, an denen sich Interessierte kostenlos
die freie Szene kämpfen musste», sagt der bald Sechzigjäh-                         beteiligen können. Das spartenübergreifende Projekt ‹Heimat
rige. «Da waren Fähigkeiten als Dschungelkämpfer mehr                              Kunst› befragt die individuelle Gestaltungsfreiheit und spürt mit
gefragt als diplomatische Zurückhaltung.»                                          künstlerischen Mitteln deren sichtbare und unsichtbare Grenzen
Das war auch beim Roxy so. Nicht nur, als es darum ging,                           auf. Zum Programm gehören Workshops, Aktionen, Exkursionen
zusammen mit Gleichgesinnten das ehemalige Kino als                                etc., die zur Mitwirkung einladen. Das dabei entstehende Mate­
Veranstaltungsraum für Live-Kunst neu zu positionieren.                            rial wird in eine täglich wachsende Ausstellung integriert und
Als Verantwortlicher sah er sich einem Trägerverein gegen-                         abschliessend zu einer Theaterperformance verdichtet. Mit dem
über, der eigentlich ein Gemeindekulturzentrum mit ange-                           Projekt möchten die Kunstschaffenden des Vereins Open Passage
hängtem überregionalem Theater- und Tanzbetrieb etablie-                           eine «Stadterforschung der anderen Art» anregen und plädieren
ren wollte. Meury lenkte das Haus in eine andere Richtung.                         für einen kreativen Umgang mit Grenzfragen. ‹Heimat Kunst›
«Ich liess mich nie vereinnahmen.» Dabei legt er viel Wert                         wird von der Christoph Merian Stiftung gefördert und von etli-
auf die Feststellung, dass für ihn immer der Inhalt und                            chen Institutionen unterstützt.
                                                                                   ‹Heimat Kunst›: bis So 15.9., Klybeckstr. 170,
                                                                                   http://heimat-kunst-basel.blogspot.ch

12 | ProgrammZeitung | September 2013
Mehr als Schall und Rauch
i ng o s ta r z

    An den Treibstoff-Theatertagen experimentiert der Nachwuchs.
Wo chemische Teilchen aufeinandertreffen, kann es Funken schlagen und
                                                                                                        Befreites Spiel?
Rauch aufsteigen. Zu ähnlichen energetischen Ausbrüchen ist das Theater                                            i ng o s ta r z
fähig, je nach Versuchsanordnung. Darauf mögen die Fotos mit farbigem                                ‹Disabled Theater› im Theater Roxy.
Rauch verweisen, welche die Programmbroschüre enthält. Zum sechsten                             Menschen mit (geistiger) Behinderung gehören
Mal bieten die Theatertage Gelegenheit, Produktionen junger Talente zu                          zu den Ausgegrenzten, den Fremden in der Ge-
entdecken. Eine Jury hat aus über 120 Einsendungen sieben Projekte ausge-                       sellschaft. Selten sind sie Teil eines öffentlichen
wählt, die in den vergangenen Monaten realisiert wurden. Die Nachwuchs-                         Diskurses. Im Theater vermochten Produktionen
kräfte aus dem deutschsprachigen Raum erfuhren in Sachen Produktion                             mit Betroffenen in den letzten Jahren aus der
und Network Unterstützung vom Festivalteam. Im August waren alle The-                           unfreiwilligen Nische herauszutreten. Die Pro-
aterkollektive in Basel zu Gange: Man hat geprobt, sich kennengelernt und                       duktion ‹Disabled Theater› von Jérôme Bel und
ausgetauscht. ‹Treibstoff› ist nicht nur ein Schaufenster für angehende Pro-                    Theater Hora, die beim letztjährigen Kunsten-
fis, der Fachleute anlockt, sondern auch ein erfolgreiches Theaterlabor.                        festivaldesarts in Brüssel Premiere feierte, wur-
    Von Krisen und Utopien. Wie es ist, wenn man die Zukunft aus der Per-                       de heuer zum Berliner Theatertreffen eingela-
spektive künftiger Generationen betrachtet, zeigt das Stück ‹Meine Enkel                        den und gastiert nun vielerorts. Die Arbeit des
2072› von Moïra Gilliéron, Ariane Koch und Zino Wey. Science-Fiction und                        französischen Choreografen und Tänzers (geb.
Erinnerungen an die eigenen Grosseltern verschmelzen dabei zu einer bri-                        1964) mit Mitgliedern des Zürcher Theaters ver-
santen Identitätssuche. Das Kollektiv Koikate lässt uns in ‹Box Solution›                       sucht einen Raum zu öffnen, in dem ein unvor-
an einer Katastrophenübung teilnehmen. Mit einem Cocktail aus Wissen-                           eingenommener Blick auf die ästhetische und
schaft, Sound und dramatischen Bildern werden unsere Selbsthilfekräfte                          politische Dimension von Behinderung möglich
gesteigert. Die Gruppe Skart setzt sich mit dem Kapitalismus und seinen                         ist. Die nicht-virtuosen Ausdrucksformen, die
gegenwärtigen negativen Folgen auseinander. In ‹Conan der Zerstörer›                            Jérôme Bell mit seinem Spielteam entwickelt
thematisiert sie das Aufkeimen des Faschismus in Zeiten der Angst. Die                          hat, stellen Mechanismen der Ausgrenzung und
Performer von Yuri 500 treten mit einer ‹Rede an die Menschheit› vor das                        Fragen der Repräsentation auf den Prüfstand.
Publikum. In einem audioinstallativen Raum befragen sie Verhaltenswei-                          Die Produktion stiess auf viel Begeisterung und
sen und Rhetorik einer bedrohten Gemeinschaft.                                                  löste eine angeregte Debatte aus. Wo ein Kritiker
Anna Fries und Markus Schäfer drehen in ‹Fort Yuma› einen Dokumen-                              fand, dass die «Theaterarbeit mit Behinderten
tarfilm auf der Bühne: In dem Western geht es um die Schweiz und die                            eine neue Ebene erreicht» habe, kam ein anderer
Steuern, um Indianer und Soldaten. Die Produktion ‹Du kannst mich                               zum Schluss, dass es sich um einen Abend handle
ruhig Frau Hitler nennen› des Kollektivs How To Make Friends widmet                             «der blöder war, als Theater ist». Der negative
sich den Aufzeichnungen der Hitler-Gefährtin Eva Braun und erörtert so                          Kommentator erblickt in ‹Disabled Theater› eine
die Bedeutung des Privaten in weltgeschichtlichem Kontext. Einen erfri-                         Zurschaustellung von Performern mit Behinde-
schenden Blick auf die Gattung Oper wirft Fux in seinem Projekt ‹Opa übt›.     Treibstoff-      rung, deren spezifische Qualitäten der Choreo-
                                                                               Programmheft,
Ein dreiköpfiges Ensemble erprobt mit Instrumenten, Technik, Körper und                         graf nicht zu nutzen wusste.
                                                                               Gestaltung:
Stimmen ein alternatives Musiktheater. Bei so viel Lust am ästhetischen        Hanna Zürcher    Inwiefern diejenigen auf der Bühne nur Anwei-
Experiment dürften vom Festival mehr als Schall und Rauch bleiben.             & Lorenz Peter   sungen ausführen, beschäftigte das Basler Publi-
                                                                               (2. Foto
Treibstoff: Mi 28.8. bis So 8.9., Kaserne, Junges Theater, Theater Roxy                         kum jüngst, als das Stück ‹Dschingis Khan› von
                                                                               u S. 48)
                                                                                                Monster Truck & Theater Thikwa (Berlin) ähn­
                                                                                                lichen Fragen nachging. Das Theater Hora hat
                                                                                                jedenfalls auf die Debatte reagiert: Auf seiner
                                                                                                Website findet sich eine Anleitung zu Jérôme
                                                                                                Bels Arbeit. Ob es in dem Stück überhaupt um
                                                                                                Behinderung gehe, wird gefragt und wie folgt
                                                                                                beantwortet: «Eine gute Frage. Für Benjamin
                                                                                                Wihstutz ist es mehr, nämlich ein emanzipatori-
                                                                                                scher Akt für die Künstler, durch die ‹Abkehr
                                                                                                vom Leistungsgedanken, von einem Paradigma
                                                                                                des Könnens. […] Wenn man diese Art der Eman-
                                                                                                zipation, das Ignorieren des Leistungsprinzips
                                                                                                erkannt hat, wird ersichtlich, was der Titel
                                                                                                ‹Dis­abled Theater› letztendlich bedeutet.›»
                                                                                                ‹Disabled Theater› mit Theater Hora:
                                                                                                Do 12. und Fr 13.9., 20 h, Theater Roxy u S. 31

                                                                                                                       September 2013 |   ProgrammZeitung | 13
Die Kunst der Performance
                                                                         i ng o s ta r z

           Bühnenpoesie                                                     Bachzetsis, Dimchev, Kaegi und Co.
                                                                         Bunt und liebevoll startet die Kaserne Basel in die neue Saison. Bunt ist das
                dagm a r bru n n e r                                     zehnköpfige Ensemble, das Alexandra Bachzetsis in ihrer Produktion ‹The
        Shakespeare, Hesse, Ringelnatz.                                  Stages of Staging› präsentiert. Die in Paris lebende, auf vielen Festivals zu
«Das Lieben nicht, das Schwärmen nur ist schlecht.»                      sehende Cecilia Bengolea ist ebenso dabei wie Kiriakos Hadjiioannou, der
Dieser Merksatz stammt aus einem unsterb­                                letzten Herbst im Theater Roxy choreografierte. Die internationale Truppe
lichen Klassiker, in dem viel gestorben wird:                            bringt Liebesszenen auf die Bühne und vor die Kamera. In trister Turnhal-
Shakespeares ‹Romeo und Julia›. Und mit dieser,                          len-Atmosphäre werden unterschiedliche Konstellationen des Begehrens
wie es im Untertitel des Stücks heisst, ‹ganz                            dargeboten und gefilmt. Aus dem Geschehen entwickeln sich Geschichten,
vorzüglichen und höchst beklagenswerten Ge-                              der Tanz gerät mehr und mehr zur sportlichen Übung.
schichte› wagte sich die neu gegründete Volks-                           Bachzetsis, die in Basel wohnt und im vergangenen Jahr mit dem Schwei-
bühne Basel im Frühjahr vors Publikum – mit                              zer Performancepreis ausgezeichnet wurde, spürt in ihrer neuen Arbeit
erfreulichem Erfolg. Das Rezept dafür ist keines-                        individuellen und kollektiven Sehnsüchten nach. Mit der Videokamera und
wegs einfach, aber bestechend: Es spielen ganz                           Referenzen an Fassbinder-Filme oder Fotografien von Jeff Wall verortet sie
famos und unverkrampft Jung und Alt, Profis                              diese in der zeitgenössischen Medienkultur mit all ihren Fragen nach
und Laien mit Wurzeln in allen möglichen Län-                            Repräsentation und Bildproduktion.
dern, und vermögen mit grossem Ernst und Witz                                Auftritte und Preise. Hochkarätig geht es mit dem ‹Radikalperformer›
zu überzeugen. Es beginnt als sinnenfrohes Fest                          Ivo Dimchev weiter, der in ‹I-On› mit skulpturalen Objekten Szenen voll
in rustikaler Umgebung, geht deftig zur Sache                            Kraft und Komik entwickelt. Er erkundet eine Reihe von Arbeiten des
und endet ohne Tragödie und dennoch herzzer-                             Österreichers Franz West und kommt dessen Aufforderung nach, die Skulp-
reissend ohne Kitsch. Nun ist das Ensemble mit                           turen durch Gebrauch zu Kunstobjekten werden zu lassen. Xavier Le Roy
dem klug und innovativ in die Gegenwart gehol-                           bringt Stravinskys ‹Le Sacre du Printemps› auf die Bühne. Um genau zu
ten Stück unter dem Titel ‹Selam Habibi› (‹Hallo                         sein, wiederholt er die Gesten des Dirigenten Sir Simon Rattle bei einer
Liebling›), inszeniert von Anina Jendreyko, er-                          Aufführung des Musikstücks. Bewegungen, die vormals Musik hervorrie-
neut zu sehen. –                                                         fen, erscheinen nun als Resultat derselben. Ein interessante Umkehrung,
Ebenfalls eine Wiederaufnahme zeigt das Junge                            die ein anderes Licht auf das Erleben von Musik wirft.
Schauspiel im Neuen Theater am Bahnhof (NTaB)                            Bereits mit diesen beiden Gastspielen wirft der Schweizer Performance-
in seinem Arlesheimer Exil. Auch hier war ein                            preis seine Schatten voraus. Noch mehr ist das der Fall, wenn am Vorabend
‹Klassiker› erfolgreich, dessen Originaltext ein-                        der Verleihung die Schweizer Kunsthochschulen im Rahmen von ‹act on›
drücklich mit Worten und Sprachen der Darstel-                           acht junge KünstlerInnen auftreten lassen. Die Veranstaltung zum Perfor-
lenden verbunden und mit Spielfreude dargebo-                            mancepreis kommt als öffentlicher Wettbewerb mit sieben nominierten
ten wird: Hermann Hesses Erzählung ‹Siddharta›.                          Arbeiten daher. Dabei vergibt neben der Jury auch das Publikum einen
Um Weisheit und Irrtum, um Fülle und Stille und                          Preis. Wer sich nach so vielen Darbietungen selber zum Performern berufen
den eigenen Weg geht es, und die Jugendlichen                            fühlt, kann bei Stefan Kaegis (Rimini Protokoll) ‹Remote Basel› mit Funk-
ziehen dabei alle Register; Regie führt Sandra                           kopfhörern ausgerüstet als einer von 50 Stadtwanderern aktiv werden.
Löwe/Sprachhaus M. Die Finanzierung des Thea­             Ivo Dimchev,   Fremdgesteuert darf man da dem Herdentrieb frönen.
terneubaus in Dornach ist übrigens nahezu gesi-           Foto: Marian   Programm Kaserne Basel u S. 35
                                                          Ivanov
chert, hingegen fehlen noch Mittel für Infra-
struktur und Technik; die Eröffnung ist auf Ende
2014 geplant. –
«Gewitzte Texte und ebensolche Musik» haben
die beiden Theaterbarden Wolfram Berger und
Jürg Kienberger zu bieten. Mit ihrer aktuellen
Produktion gedenken sie der ebenso pfiffigen
wie berüh­renden Poesie des 1934 verstorbenen
Dichters, Malers, Kabarettisten, Seemannes und
Abenteurers Joachim Ringelnatz. Darüber hin-
aus verspricht das Teufelhof-Programm weitere
heiter-bissige Unterhaltung.
‹Selam Habibi›: Mi 11. bis Fr 27.9., 19.30,
Schalandersaal, Restaurant Altes Warteck, Clarastr. 59,
www.volksbuehne-basel.ch
‹Siddharta›: Fr 13. bis Sa 21.9., NTaB, Stollenrain 17,
Arlesheim u S. 35
‹Ringelnatz›: Mi 18. bis Sa 28.9., Theater im Teufelhof
u S. 34

14 | ProgrammZeitung | September 2013
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