PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung CHF 8.00 | EUR 6.50 September 2013 | Nr. 287 Kultur im Raum Basel Cover: ‹Urban Sounds›, System Introspection, 2002–2012, ©Nicolas Maigret u S. 21
Die ganz vorzügliche unD höchst beklagenswerte geschichte von romeo unD Julia im schalanDersaal restaurant altes warteck clarastrasse 59 tickets www.volksbuehne-basel.ch tel 078 676 53 15 verpasst? nochmals! 11. bis 27. september 2013 Jeweils Dienstag bis Freitag 19.30 uhr
Inhalt Redaktion Kulturszene 24 Agenda 48 Kurse 75 Impressum 75 Ausstellungen & Museen 76 Bars & Cafés 78 Essen & Trinken 78 Kultursplitter 79 ‹Brückenpoesie› im Gundeli, Engagement allüberall Margarethen- brücke, Foto: db Mehr Lyrik in Hauskultur dagm a r bru n n e r Basel u S. 15 db. Im Mediensektor wimmelt es derzeit von Jubiläen. Unser Kulturpoolpartner ‹041›, das Editorial. Fulminant ist die Kaserne Basel vor fünf Jahren in die neue Kulturmagazin Luzern, hat das erste Vierteljahr- Saison gestartet, die zugleich der Auftakt in eine neue Ära war: Carena hundert hinter sich. Auch mehrere Basler Insti- Schlewitt hatte das Zepter übernommen, und abgesehen von einer zu- tutionen können auf vermutlich wechselhafte nächst unbefriedigenden Lösung betr. Spartenleitung Musik, entwickelte Zeiten anstossen: Radio X, das soeben den Preis sich das Haus in diesen Jahren prächtig und vermochte, wie damals ange- für Integration entgegennehmen durfte, ist seit kündigt, «mit Entdeckungen zu überzeugen». Solche kann man auch in der 15 Jahren präsent, ebenso Online-Reports, das aktuellen Spielzeit machen (S. 13/14). Der Kaserne-Direktorin und ihrem «unabhängige News-Portal der Nordwestschweiz» Team gratulieren wir herzlich zum ‹kleinen Jubiläum›! von Peter Knechtli, wo wir seit 2006 wöchentlich Einen enthusiastischen Mitstreiter hatte die Kaserne seit je in Christoph Kulturtipps beisteuern. Telebasel sendet seit 20, Meury. Kein Wunder, hat er die ‹Kulturwerkstatt› doch mitbegründet und Radio Basilisk seit 30 Jahren. die Entwicklung des gesamten Kasernenareals stets engagiert und kritisch Unsere langjährige Druckerei Schwabe hat sich begleitet. Als Leiter des Theater Roxy in Birsfelden war er zudem ein wich- ebenfalls für ein Fest gerüstet, um ihrer ‹Geburt› tiger Kooperationspartner des Basler Hauses und vehementer Kämpfer für vor sage und schreibe 525 Jahren zu gedenken. die Wiedergeburt eines Theaterfestivals. Seinen Rücktritt als Roxy-Leiter Sie ist vermutlich weltweit das älteste Unter kündigte er zwar frühzeitig an, doch seine Zukunftspläne entwickelten nehmen dieser Art und geht auf den deutschen sich nicht wie erhofft. Über die Gründe gibt es verschiedene Ansichten, Drucker-Verleger Johannes Petri zurück, der das seine Verdienste indessen sind unumstritten (S. 12). Wir wünschen diesem Basler Bürger- und Zunftrecht 1488 erhielt, was Pionier eine tolle neue Herausforderung und alles Gute! als Gründungsjahr der Firma gilt. Deren turbu- Zu einem Neustart hat sich auch das Theater Palazzo entschlossen, das mit lente Geschichte und Entwicklung von der ‹Offi- einem weiblichen Leitungsduo sein Profil schärfen will, mit mehr Theater zin› bis zum heutigen komplexen Betrieb mit (-kooperationen), Kabarett und Angeboten für ein junges Publikum (S. 10). Druckerei, Informatik, Verlagen und Buchhand- Erfreulich, dass sich Kontinuität mit Innovation verbindet und ehemalige lung lässt sich angeblich lückenlos belegen und Mitarbeiterinnen von Kaserne, Roxy und ProgrammZeitung sich erfolg- wird in einem Jubiläumsband dokumentiert, der reich behaupten. Ende Jahr erscheinen soll. Die Festlichkeiten Weitere Erfolgsgeschichten schrieben einige Einrichtungen, die heuer run- finden zuvor u.a. im Ackermannshof statt, wo de Geburtstage feiern können und sich dazu etliches einfallen lassen: Das schon der Stammvater wirkte. Theaterhaus La Filature (S. 8), die Bachletten-Buchhandlung (S. 15), die Die ProgrammZeitung wird dieses stolze Jubi Sophie und Karl Binding Stiftung (S. 5), der Badische Bahnhof (S. 22) und läum nicht mehr als Kundin, aber als ‹Freundin das soziale Kulturprojekt ‹3Klang›, dessen Einnahmen grösstenteils der des Hauses› begleiten. Aus finanziellen und Gassenarbeit zugute kommen – ein Engagement, das ebenso sinn- und reiz- drucktechnischen Gründen haben wir uns für voll wie notwendig ist (S. 18). einen Druckereiwechsel entschieden; die erste Notwendig war auch, was Niklaus Meienberg trieb, der vor 20 Jahren aus Kostprobe halten Sie hier in Händen. Sie stammt dem Leben schied. Mit seiner wilden Mähne, vor allem aber mit seiner spit- von AVD Goldach AG, einer auf Zeitschriften- zen Zunge und Feder war er vielen ein Dorn im Auge, doch seine Reporta- druck spezialisierten Firma, die selbst unsere gen zu helvetischer Geschichte und Politik trugen zur breiten Auseinander- Kleinauflage in Rollenoffset herstellen kann, setzung über tabuisierte Themen bei. Das wortgewaltige und streitbare was eine erhebliche Kostenreduktion bedeutet. Raubein hatte indes auch eine poetische Ader und eine zarte Seele, die u.a. Wir danken Schwabe für die fast 15-jährige, in seiner Lyrik zutage treten. In einer Ausstellung sowie in z.T. neu aufge- ausgesprochen kompetente, zuverlässige und legten Büchern und Filmen ist das Werk dieses engagierten Historikers, faire Zusammenarbeit und freuen uns auf die Journalisten und Schriftstellers (wieder) zu entdecken. neue, hoffentlich ebenso erfreuliche Koopera- Ausstellung ‹Warum Meienberg?›: bis So 29.9., Kulturraum am Klosterplatz, St. Gallen tion mit dem Ostschweizer Partner. Neu: Film von Tobias Wyss, ‹Der Meienberg›, DVD. Weitere Filme und Bücher im Limmatverlag. September 2013 | ProgrammZeitung | 3
«Stiftungen sind Dienstleister.» h e i nz s ta h l h u t Die Sophie und Karl Binding Stiftung wird 50. Im beschaulichen Gellert-Quartier hat eine gewichtige Ex- ponentin der Schweizer Kulturszene ihren Sitz: die Sophie und Karl Binding Stiftung, die 2013 ihr fünfzigjähriges Be- stehen feiert. Dass vornehme Zurückhaltung durchaus zu ihrem Programm gehört, wird einem schon klar, wenn man von Direktor Benno Schubiger im Sitzungszimmer mit ge- diegenem Mobiliar aus dunklem Holz empfangen wird. Der Zweck der 1963 gegründeten Stiftung, «den gesell- schaftlichen Zusammenhalt und Ausgleich in der Schweiz sowie die Integration und Verständigung der verschie- densprachigen Landesteile zu fördern und zu stärken und damit zur Erhaltung und Entwicklung der für die Identität der Schweiz wesentlichen natürlichen, kulturellen und geistigen Werte und Güter beizutragen», gibt einen Hin- weis auf das Stiftungsduo. Karl Binding, ein Frankfurter mit Zürcher Bürgerrecht, kam im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz. Hier lernte er seine spätere Ehefrau Sophie ken- nen, die ihrerseits aus erster Ehe mit dem Enkel des Grün- ‹Künstlerworte, ders der 1929 an General Motors veräusserten Opelwerke umfassende, jedoch begrenzte – Fördervolumen eine Kon- Künstlerpor- über beträchtliches Vermögen verfügte. Schon zu seinen zentration erforderlich macht. Zwar sieht sich die Stiftung träts›, Adrian Schiess im Lebzeiten setzte das Paar einen grossen Teil seines Vermö- nicht unbedingt als potenter Motor von gesellschaftlichen Kunstmuseum gens für soziale, kulturelle und gemeinnützige Projekte in oder kulturellen Entwicklungen. Dennoch gibt sie wichtige Chur, Foto: der Schweiz als Dank an seine Wahlheimat ein. gesellschaftliche Anstösse. So förderte sie etwa mit der Richard Dindo Langzeit- und Altersförderung. Ganz im Sinne dieses Initiierung des Studiengangs Kulturmanagement die Pro- bürgerschaftlichen Engagements fördert die Stiftung noch fessionalisierung im Kulturbereich und mit dem Stipen heute in den vier Bereichen Umwelt, Soziales, Bildung und dienprogramm Universuisse den landesweiten Kontakt Kultur. So vergibt sie seit 1987 jährlich den Binding Wald- über Sprach -und Fachgrenzen hinweg. Darüber hinaus preis an Forstbetriebe, die ihren Wald nachhaltig bewirt- ist sie mit grossem Einsatz im Bereich Stiftungswesen ver- schaften, indem sie ökologische, gesellschaftliche und öko- bandspolitisch aktiv. nomische Belange zu vereinen verstehen. Die eher konservative Finanzpolitik der Institution, die vor Vorbildlich in allen vier Bereichen ist die Langzeitförderung allem auf Liegenschaften beruht, hat ihr in der Finanzkrise von Projekten, etwa des Basler Barockorchesters La Cetra, im Gegensatz zu verschiedenen anderen Stiftungen denn wodurch die Geförderten eine sichere Grundlage für ihre auch keinen dramatischen Einbruch beschert, so dass sie Arbeit erhalten. Nachahmenswert ist auch das in enger ihre wichtige Funktion hoffentlich noch viele weitere Jahr- Zusammenarbeit mit Museen entwickelte Programm Sélec- zehnte erfüllen kann. tion d’Artistes, das vor 10 Jahren lanciert wurde. Damit Sophie und Karl Binding Stiftung, Rennweg 50, Basel, werden vor allem über 40-jährige, international renom- www.binding-stiftung.ch mierte Schweizer Kunstschaffende, die bei zahlreichen Film ‹Künstlerworte/Künstlerporträts – Portraits d’artistes/Paroles anderen Kunstpreisen aufgrund ihres Alters ausschieden, d’artistes› von Catherine Gfeller (Regie) und Richard Dindo (Produzent), über zeitgenössische Schweizer Kunst in 12 Porträts. Premiere: mit Museumsausstellungen und Publikationen gefördert. Di 10.9., 19.30, Kino im Kunstmuseum Bern, Hodlerstr. 8–12. DVD CHF 30 Ab September wird ein Film von Catherine Gfeller zwölf der KünstlerInnen, darunter Adrian Schiess und Valerie Favre, vorstellen. Benno Schubiger betont, dass es bei die- Wohnprojektetag ser Förderung u.a. darum gehe, die Museen bei ihren zen db. Die Stiftung Edith Maryon, die sich für soziale Wohn- und tralen Aufgaben Erhalten, Erforschen und Vermitteln zu Arbeitsstätten engagiert, unterstützt ebenso wie die Christoph unterstützen; daher werde auch verlangt, dass ein solches Merian Stiftung und weitere Partner den ‹Wohnprojekte-Tag›, der Projekt mit einer wissenschaftlich profunden Publikation diesmal durch die trinationale Region tourt. Zum Auftakt werden verbunden sei. Dies erscheine dem Gedanken der Stif- neue Wohnformen und kostengünstiges Bauen in Berlin, Halle tung angemessener als die allseits angesagte Förderung und Leipzig vorgestellt und diskutiert. Sodann bringen Shuttle- junger Talente. Busse das interessierte Publikum zu beispielhaften Wohnpro Verbandspolitisch aktiv. Angenehm unaufgeregt gibt sich jekten in Basel, Riehen, Lörrach, Weil und Saint-Louis. Ferner die Stiftung auch in ihrer Selbsteinschätzung; zwar sei dem können Genossenschaften in Basel-West und Grenzach besichtigt Gremium angesichts der Fokussierung auf die Schweiz klar, werden und bieten Einblicke in ihre Entwicklung. dass kulturelle und Umweltphänomene heute global seien. Wohnprojektetag: Sa 14.9., www.wohnportal-basel.net, Der Fokus ist gemäss Schubiger denn auch eher praktisch www.wohnportal-dreiland.net bedingt, da das – wenn auch rund drei Millionen pro Jahr September 2013 | ProgrammZeitung | 5
Ein Tanz auf den Unebenheiten des Lebens a l f r e d s c h l i e nge r Der chilenische Spielfilm und Bären-Gewinner det, ist sie auch dem Sex keineswegs abgeneigt. Rodolfo ‹Gloria› ist ein besinnlicher Mut- und Muntermacher. (Sergio Hernandez), der Vergnügungsparkdirektor, den wir Nein, einfach ein Feel-Good-Movie ist das beileibe nicht. im Film als ihren Teilzeitliebhaber erleben, erweist sich Auch wenn er mit poppigen Tanzszenen startet und endet. allerdings als zwiespältige Fluchtfigur, zu dessen Nach Die 57-jährige Gloria, geschiedene Mutter zweier erwachse- erziehung Gloria keine grenzenlose Lust hat. ner Kinder, tanzt nun einmal fürs Leben gern, und wenn sie Wehmut und Übermut. ‹Gloria› ist ein Film über Ver- im Auto zum Yoga-Kurs fährt, dann singt sie voller Hingabe änderungen. Und darüber, dass Veränderungen nicht das die Songs aus dem Radio mit, die auf so stupide wie be- Ende bedeuten, sondern neue Blicke, neue Begegnungen kömmliche Weise von Lieb und Leid, von Herz und Schmerz ermöglichen. Es schmerzt Gloria, dass sie an ihre erwach- zu berichten wissen. Da liegt eine luftig-leichte Ironie drin, senen Kinder fast nur noch über den Telefonbeantwor- denn natürlich weiss diese Gloria aus ihrem nicht immer ter rankommt. Und als ihre schwangere Tochter mit dem glorreichen Leben etwas mehr und Tieferes zum Thema Kindsvater nach Schweden auswandert, zerreisst es ihr beizutragen, als ihr lieb sein kann. Vor 13 Jahren ist ihre das Herz. Aber sie geht nicht unter. Auch Verluste gehören Ehe zerbrochen, und seither hat sie ihren Ex-Mann nie zum Leben. Und während Rodolfo seine neue Freundin vor mehr gesehen. Nicht zerbrochen aber ist Gloria (Paulina seinen Kindern versteckt, nimmt Gloria ihn mit zum Ge- Garcia), diese sinnlich-sensible, zurückhaltend-souveräne burtstagsfest ihres Sohnes, wo sie auch ihrem Ex-Mann mit und erfrischend lebenslustige Person in jenem Alter, das Partnerin zum ersten Mal wieder begegnet. Die Szene wird wohl wenige Frauen als ihr bestes bezeichnen würden. Mit zum berührenden Bündelungspunkt für das vielfältige ihr in diesem Film durch die Unebenheiten des Lebens zu Geflecht von Beziehungen, die das Leben prägen, auch streifen, ist ein besinnliches Vergnügen. wenn sie sich verändert haben. Ohne künstliche Drama- Lust und Skepsis. Der chilenische Regisseur Sebastian tisierung gelingt es Lelio, Altes und Neues, Privates und Lelio verfügt über die glückliche Gabe, Situationen und Politisches aus Chiles jüngster Geschichte ganz beiläufig Menschen schnell und konkret zu etablieren, ohne dass es buchstäblich in Beziehung zu setzen. Und auch hier braucht platt wird. Wir fühlen uns seinen Figuren sehr bald nahe, er kein einziges Wort, um etwa die gestörte Tochter-Vater- gerade weil sie nicht alles aussprechen, was sie bewegt, Beziehung erlebbar zu machen. sondern im Spiel und in Bildern den Raum schaffen, es zu An der diesjährigen Berlinale wurde Paulina Garcia für ihre enträtseln, zu erahnen. Darstellung der Hauptrolle mit dem Silbernen Bären aus Zum Auftakt also ab in die Ü50-Single-Tanzparty, wo Gloria gezeichnet. Die Leistung liegt in der – gefüllten – Zurück- Stammgast zu sein scheint. Hier schweift ihr Blick in einer haltung, in der unglaublich guten Dosierung der Gefühls unnachahmlichen Mischung aus Unternehmungslust und regungen, des Mienenspiels. Es ist die Unaufdringlichkeit, Skepsis über die Tanzfläche, ihre eulenhaft grosse Brille die uns die Protagonistin nahebringt. Das passt zur ganzen wirkt wie ein Schutzschild, und schliesslich mischt sie sich Geschichte, die alles andere als reiner Jubel ist, sondern durchaus zögerlich unter die angejahrten Tanzenden, weil eben ein gut gemischter Cocktail aus Wehmut und Über- sie ihren Körper wieder mal bewegen und spüren will. Eine mut, Gelassenheit und Verzweiflung, Absacken und wieder wortlose Eingangsszene, die bereits viel erzählt. Gloria Aufstehen. tanzt allein. Aber wenn sich ein passabler Tanzpartner fin- Der Film läuft ab Do 12.9. in einem der Kultkinos u S. 45 Filmstill aus ‹Gloria› Film & Frau db. Das Neue Kino Basel untersucht mit Unterstützung des Insti- tuts für Medienwissenschaften und der FG Gender Studies Basel unter dem Titel ‹The Girl – The Gun› mit vier Filmen, Diskussio- nen und einer Publikation Frauen(gewalt)fantasien bzw. das Ver- hältnis von Feminismus und filmischer Bildstruktur. Ausserdem huldigt das 6. Queer Cinema ‹Luststreifen› «mit einer gehörigen Portion postfeministischer Popkultur» in Kurz- und Langfilmen dem Thema ‹Kunst und Künstlichkeit›. ‹The Girl – The Gun›: ab Do 5.9., www.neueskinobasel.ch 6. Queer Cinema: Do 19. bis So 22.9., Neues Kino, www.luststreifen.ch Ausserdem: 11. Fantoche, Intern. Festival für Animationsfilm: Di 3. bis So 8.9., Baden, www.fantoche.ch 9. Zurich Film Festival: Do 26.9. bis So 6.10., www.zff.com 70. Int. Filmfestspiele, Venedig: bis Sa 7.9., www.labiennale.org 6 | ProgrammZeitung | September 2013
Ein Wunder der Authentizität a l f r e d s c h l i e nge r Filmstill aus ‹An Episode in ‹An Episode in the Life of an Iron Picker› geht Es ist das reale, gewöhnliche Leben dieser Familie. Einstel- the Life of an ganz unpathetisch unter die Haut. lungen dauern so lange, wie es eben dauert. Keinerlei musi- Iron Picker› Ist es denn möglich, dass ein Übermass an Unglaublich kalische Untermalung, keine Zuspitzungen bei den Zurück- keiten die Glaubwürdigkeit und Dringlichkeit eines Filmes weisungen im Spital, die Emotionen, das Erschrecken, die noch steigert? Beim jüngsten Werk des Bosniers Danis Empörung über die Inhumanität liegen in Aug’, Herz und Tanovic ist dies zweifellos der Fall. Schon die Produktions- Hirn der Betrachtenden. Das ist grosse Kunst, gerade weil geschichte ist kaum zu glauben. Tanovic liest eine Notiz in es uns ganz konsequent nicht mit den üblichen drama der Zeitung, die ihn empört. Er merkt, dass er die Geschich- turgisch-manipulativen Mitteln in eine exemplarische te sofort verfilmen muss. Er recherchiert den Fall, reist zu Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung von den Menschen, die ihn erlebt haben, und entschliesst sich, Minderheiten hineinzieht. Dieses nüchterne Hinsehen gilt die Betroffenen, die noch nie vor einer Kamera gestanden es auch auszuhalten. sind, ihre Geschichte selber nachspielen zu lassen. Er hat Schwindende Solidarität. Regisseur Danis Tanovic ist kein ein Budget von 17’000 Euro und neun Tage Drehzeit. Und Unbekannter. Über seinem Spielfilmerstling, der Kriegs dann gewinnt der Spielfilm an der diesjährigen Berlinale farce ‹No Man’s Land›, ging 2001 ein wahrer Preisregen den Jurypreis sowie den Silbernen Bären für den besten nieder; er wurde mit dem Oscar und dem Golden Globe Hauptdarsteller (Nazif Mujic). für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet sowie Zunehmende Inhumanität. ‹An Episode in the Life of in Cannes und beim Europäischen Filmpreis für das beste an Iron Picker› erzählt die wahre Geschichte einer Roma- Drehbuch. Damals lag die Kraft in der Groteske, welche die Familie in einem Dorf in Bosnien-Herzegowina, zwei Auto- perverse Kriegswirklichkeit auf dem Balkan zur absurden stunden hinter Sarajevo gelegen. Die Frau ist mit dem drit- Kenntlichkeit entstellt. Diesmal ist es, ganz im Gegensatz ten Kind schwanger und hat starke Schmerzen. Der Mann dazu, die pure Authentizität von Figuren und Geschichte, fährt sie mit den beiden kleinen Töchtern ins weit entfernte die unter die Haut geht. Verschiedene Handschriften, die Spital. Dort stellt man fest, dass der Embryo tot ist und die gleiche Frage: Wo bleibt die Menschlichkeit? Frau dringend operiert werden müsste, denn eine Schwan- Im ‹Iron Picker› ist sie, im Kontrast zu den abweisenden gerschaftsvergiftung gefährdet ihr Leben. Da sie keine Ver- Ärzten und Behörden (die als einzige nicht sich selber spie- sicherungskarte und auch nicht die 600 Franken besitzt, len) mit Händen zu greifen: In der Solidarität von Familie, die der Eingriff kosten würde, wird sie harsch abgewiesen Freunden und Nachbarn in der Roma-Gemeinschaft. «Ist es und nach Hause geschickt. Erst bange Tage später, im drit- möglich», fragt Danis Tanovic, «dass 15 Jahre nach dem ten Anlauf und mit einem Trick, gelingt es, der Frau die Krieg, in dem ich Zeuge von unglaublichem Mut und tägli- lebensnotwendige Hilfe zukommen zu lassen. cher Hingabe wurde, in dem Menschen ihr Leben riskier- Tanovic erzählt das dramatische Geschehen unter Verzicht ten, um einem Fremden in Not zu helfen, wir heute in einer auf jede Dramatisierung. Die Kamera registriert ganz unpa- Gesellschaft leben, die den Blick von den sozial Unterprivi- thetisch den ärmlichen Alltag der Familie in harter, winter- legierten abwendet und sich verhält, als sähe sie den Horror licher Umgebung. Die Frau führt den Haushalt, der arbeits- nicht, der uns umgibt? Kein System ist unmenschlich, so- lose Mann hackt Holz, sammelt Wiederverwertbares von lange die Menschen gut sind.» der Müllhalde und weidet alte Autos nach Metallteilen aus. Der Film läuft ab Do 5.9. in einem der Kultkinos. September 2013 | ProgrammZeitung | 7
Vielfältiger Sound m ic h a e l b a a s Binational besiegelt pe t e r bu r r i 20 Jahre La Filature in Mulhouse. 1993 war der Bau fertig, 1994 wurde er von Fran- çois Mitterrand und Helmut Kohl eingeweiht. Denn Jean-Marie Bockel, damals Bürgermeister von Mulhouse, hatte es verstanden, die beiden Staatsoberhäupter zum deutsch-französischen Gipfeltreffen in seine Stadt zu locken. Unter Bockels Ägide hatte der urbane Umbau der ser- belnden Industriestadt Mulhouse begonnen, die im 19. Jahrhundert als elsässisches Manchester galt. Ein erstes Symbol dafür war der elegante Theaterbau La Filature, der so heisst, weil er auf dem Gelände einer ehemaligen Baumwollspin- nerei entstand. Seit 20 Jahren ist dieses Haus mit 1200 Plätzen und zusätzlicher Studiobühne eine ‹Scène natio- Masha Bijlsma, nale›, also ein auch von Paris geförderter Um- Foto: zVg In Freiburg dominiert eine Woche der Jazz. schlagplatz für die darstellenden Künste, der im Das Jazzfestival Freiburg startet durch und soll wieder – wie zwischen 2001 Unterschied zu den Nationaltheatern (wie etwa in und 2006 – jährlich stattfinden. Möglich machen das erhöhte Zuschüsse der Strassburg) nicht über ein eigenes Ensemble ver- Stadt und des Landes Baden-Württemberg. Die Veranstalter, E-Werk und fügt. Seine Aufgabe ist die Präsentation von zeit- Jazzhaus, haben damit elf Konzerte programmiert; dazu gibt’s Anlässe um- genössischem Theater und Tanz, die Koproduk sonst und im Freien: Jazz an der Dreisam, der die Ufermeile im Zentrum in tion mit verwandten Häusern und freien Gruppen. eine Bühne für SolistInnen und Marchingbands verwandelt. Gleichzeitig ist die Filature aber auch Konzertsaal Populärster Name im Line-Up ist fraglos Till Brönner. Der 42-jährige Trom- des Orchestre symphonique de Mulhouse, Gast- peter hat sich mit seinem letzten, 11. Album, etwas von den weichgespülten, spielort der Strassburger Opéra national du Rhin massenkompatiblen Arrangements emanzipiert und schafft einen Spagat (deren Balletttruppe in Mulhouse angesiedelt ist), zwischen komplexen, offenen Strukturen und lässig harmonischen. Der Mediathek und Ausstellungsraum. Bassist Hellmut Hattler lässt ebenfalls aufhorchen – vor allem mit Cross- Seit einem Jahr leitet Monica Guillouet-Gélys over-Projekten; eine Linie, die das neue Projekt, das der 61-Jährige mit der dieses komplexe Unternehmen mit einem Bud- Sängerin Fola Dada im Jazzhaus vorstellt, mit der Mischung aus Fusion get von 5,5 Millionen Euro und 80’000 Eintritten Jazz, Elektro, ‹Weltmusik›, Soulpop fortsetzt. Positiv aufgefallen ist ferner pro Saison. Die frühere Tänzerin und Jazzmusi- der in Düsseldorf geborene Gitarrist Torsten Goods, für das Fachmagazin kerin, die ihre Sporen vorher als Directrice der Jazz Podium ein «Shooting Star» der deutschen Szene – wobei sich der etwas kleineren ‹Scène nationale› im multikultu- 32-Jährige nicht mehr auf klassischen Jazz festlegen lassen will und auf der rell geprägten Evry bei Paris abverdiente, sucht CD ‹Love Comes To Town› auch Crusaders- oder Viktoria-Tolstoy-Songs im nicht minder bunten Mulhouse die Zusam- covert; er kommt mit einem Quartett. menarbeit mit allen Institutionen der Region, Internationale Gäste. Für ‹Worldjazz› stehen Vieux Farka Touré, ein auch über die Landesgrenzen hinaus – so etwa Sohn des legendären malischen Gitarristen Ali Farka Touré, das deutsch- mit der Kaserne Basel, mit der es bereits zu libanesische Ensemble Masaa um Sänger Rabih Lahoud und der israelische, einem gemeinsamen Gastspiel der Tanztruppe inzwischen in Berlin lebende Pianist Omer Klein, den das Jazz Podium zur von Anne Teresa De Keerksmaker kam. Gleich- «Creme zeitgenössischer Jazzpianisten» zählt; er gestaltet den Festivalauf- zeitig streckt Guillouet-Gélys die Fühler nach takt mit einem klassischen Klaviertrio. der Mittelmeerkultur aus, der sie von Marokko Auch Schweizer Stimmen sind zu hören: Erika Stucky, die mit Sina bis Beirut schon nachspürte. Geschichten und Sagen aus dem Wallis vorführt, sowie der junge Florian Gefeiert wird in Mulhouse mit einem intensiven Favre, der ein weiteres Klaviertrio präsentiert. Vervollständigt wird das Wochenende, an dem auch Heinz Spoerlis ‹Gold- Programm durch die holländische Sängerin Masha Bijlsma, die zwischen berg Variationen› wieder gezeigt werden. Die Sai- Jazzstandards, Popsongs und Chansons pendelt, sowie mit dem Projekt son 2013/14 verspricht viel Interessantes, darun- ‹Beyond Horizons›, einer Begegnung des Freiburger Akkordeon-Orchesters ter fünf Kurzstücke zum Thema ‹J’ai 20 ans mit einem Jazztrio um Drummer Matthias Daneck. Vorgeschaltet gibt’s qu’est-ce qui m’attend› (‹Ich bin zwanzig, was zum Start zudem den Minigipfel, eine Clubnacht mit Konzerten in Lokalen erwartet mich›), wovon eines aus der Feder der der Quartiere Stühlinger und Im Grün – eine Gelegenheit, die traditionel- Schriftstellerin und derzeitigen französischen len Freiburger Ausgehviertel zu erkunden. Kulturministerin Aurélie Filippetti stammt. Jazzfestival Freiburg: Sa 14. bis So 22.9., diverse Lokale, www.jazzfestival-freiburg.de Jubiläum: Fr 13. bis So 15.9., www.lafilature.org 8 | ProgrammZeitung | September 2013
Avantgarde trifft auf Stadttheater a l f r e d z i lt e n e r Mit zwei Frauenfiguren startet das Theater Basel Richard Maxwell ist einer der interessantesten Theaterleute musikalisch in die Spielzeit. der New Yorker Avantgarde und hat mit seinen New York Floria Tosca ist eine gefeierte Sängerin; Isolde ist Schau- City Players auch bei vielen europäischen Festivals gastiert. spielerin in einer existenziellen Krise: Sie verliert die emo- So hat ihn die Dramaturgin Stephanie Gräve kennen ge- tionale Erinnerung, auf der sie ja in ihrer Kunst aufbaut. lernt und nun – nach zwei gemeinsamen Projekten in Bonn Floria Tosca ist die Hauptfigur in Giacomo Puccinis Opern- – nach Basel geholt. Maxwells bisherige Arbeiten seien, er- reisser ‹Tosca›; Isolde steht im Zentrum eines Auftragswerks zählt Gräve, vorwiegend monologisch; nun habe es ihn ge- des New Yorker Autors, Regisseurs und Musikers Richard reizt ein ‹richtiges› Stück zu schreiben. Der Text ist knapp; Maxwell, für das der Basler Komponist Daniel Ott die Parti- die Musik soll genügend Raum bekommen. tur schreibt. Der Regisseur sei fasziniert von der Möglichkeit, sparten- ‹Tosca› wird dirigiert von Enrico Delamboye. Die Inszenie- übergreifend zu arbeiten, die das Modell Stadttheater bie- rung besorgt die junge Schauspiel-Regisseurin Jette Steckel, tet, erklärt Gräve. In ‹Isolde› lässt er Darstellende aus Basel die zu den grossen Begabungen ihrer Generation gehört. und New York, eine Sängerin und drei MusikerInnen auf- Sie geht mit viel Respekt an ihre Aufgabe, ist aber auch treten. Isolde ist gleich mit drei Frauen besetzt. Der Text ist fasziniert von dem Stück, in dem unterschiedliche, leiden- nur das Gerüst des Theaterabends, für die szenische Arbeit schaftliche Affekte «in Szenen gebündelt» seien. Sie ist Maxwells sind die Energien entscheidend, die bei den Pro- überzeugt, dass alles, was in diesem Stück geschieht – ben zwischen den Mitwirkenden entstehen. Machtmissbrauch, versuchte Vergewaltigung, Mord aus ‹Tosca›: ab Mi 11.9., 19.30, Theater Basel, Grosse Bühne u S. 33 Notwehr, Selbstmord – auch heute passiert. Sie wird die ‹Isolde› (UA): ab Do 12.9., 20 h, Kleine Bühne u S. 33 Handlung also aus dem historischen Kontext der Napoleo- nischen Kriege lösen, unterstützt von den – so die Regisseu- rin – «bildgewaltigen Bühnenelementen» ihres ständigen künstlerischen Partners Florian Lösche. Dreieck – spartenübergreifend. ‹Isolde› ist eine moderne, sehr freie Variante der Geschichte von Tristan und Isolde. Wie die mittelalterliche Isolde steht auch jene von heute zwischen ihrem Ehemann, einem Bauunternehmer, und ihrem Geliebten, einem Architekten, der ihr ein perfek- tes Haus bauen soll. Der Kontrast zwischen den Männern könnte nicht grösser sein: dem pragmatischen Geschäfts- mann steht ein Künstler gegenüber, der in der Architektur sein Ideal verwirklichen will, aber nicht handelt. Natürlich endet ein solches Dreieck unter aufgeklärten Grossbürgern von heute nicht mehr tödlich. Richard Maxwell (links), Foto: Michael Schmelling. Daniel Ott, Foto: zVg Spotlight zu sehen sein. ‹Centrepoint›, eine Vereinigung von internationalen Expats in Basel, organisiert unterstreicht auch der Einsatz der Hammond B3 Orgel – ursprünglich als preisgünstiger Ersatz f r a nz i sk a m a z i regelmässig Ausstellungen mit Kunstschaffen- für die Kirchenpfeifenorgeln gedacht – die in Modische Kunst und Soul. den aus der Region. Zu den Centrepoint-Öff- den Sechziger- und Siebzigerjahren bei keinem ‹Kleider machen Leute› heisst es im Volksmund. nungszeiten sind sie allgemein zugänglich. – Blues-, Soul-, Rock- oder Jazz-Konzert fehlen Doch in Mirjam Spoolders Kunst hat sich die Musikalische Internationalität ist im Volkshaus durfte. Doch bei Wressnig ist ausserdem der Ein- Mode weitgehend vom Menschen losgelöst, ins- Basel zu erleben. Im Rahmen der ‹Blues Now!›- fluss moderner Organisten wie Jimmy Smith, besondere von dessen räumlichen und körper Reihe treten der Österreicher Raphael Wressnig Jimmy McGriff oder Jack McDuff zu spüren. lichen Bedingungen. Sie schwebt in der Schwere an der Hammond B3 und aus den USA Alex Antonio Fian, ‹Was bisher geschah›, Dramolette. losigkeit, bewegt sich in unmöglichen oder gar Schultz an der Gitarre, Silvio Berger am Schlag- Droschl Verlag, Graz, 1994 in mehreren Räumen zur selben Zeit. Die in zeug, die Sängerin Deitra Farr und der Saxofo- ‹Fashionable Art›: Di 17.9., 18.30 (Vernissage), bis Ende Basel wohnhafte gebürtige Niederländerin lässt nist Gordon Beadle auf. Was bisher nur als CD Dezember, Centrepoint Artwall, Im Lohnhof 8, www.centrepoint.ch sich auch selbst nicht gerne von Konventionen unter dem Titel ‹Soul Gift› erhältlich war, kommt eingrenzen und vereint Modedesign, bildende nun in einige wenige Konzertsäle Europas. ‹Soul ‹Soul Gift Revue›: Fr 20.9., 20.15, Volkshaus Basel, Rebgasse 12, www.volkshaus-basel.ch Kunst, Architektur und Theaterperformance in Gift› ist hauptsächlich ein Retro-Projekt, das sich ‹Spotlight› stellt ausgewählte englischsprachige ihren Arbeiten. Ein Teil ihrer Werke wird bis in einer Traditionslinie mit Billy Preston, Booker Veranstaltungen im Raum Basel vor. Ende Jahr im Rahmen der ‹Centrepoint Artwall› T. Jones, Sam Cooke und Jimmy Webb sieht. Dies September 2013 | ProgrammZeitung | 9
Lokal verankert – regional vernetzt a l f r e d z i lt e n e r Das Theater Palazzo in Liestal erhält eine neue tens vernetzt. Mit ihrer Kollegin wird sie die künstlerische Co-Leiterin und ein fokussiertes Konzept. Leitung und die organisatorischen Aufgaben teilen. Eine Seit dem Jahr 2000 ist Karin Gensetter die künstlerische solche Partnerschaft hat sich Karin Gensetter ausdrücklich Leiterin des Theater Palazzo in Liestal. Sie hat dem Haus gewünscht. ein klares Profil gegeben und es fest im kulturellen Ange- In den Jahren seit ihrem Amtsantritt, erzählt diese, habe bot der Kantonshauptstadt verankert. Nun wagt sie einen sich die Liestaler Kulturszene stark verändert. Zum Palazzo Neubeginn – mit einer versierten Partnerin und einem teil- seien andere Veranstalter gestossen: die Kantonsbibliothek weise veränderten Konzept. Den Anstoss dazu gab die Pen- mit literarischen Abenden, die Kulturscheune und das Kul- Leitungsduo sionierung der bisherigen administrativen Leiterin Heidi turhotel Guggenheim mit Konzerten. Das Palazzo müsse Karin Genset- Piombini. Deren Nachfolgerin ist die Kulturmanagerin also kein breites Spektrum mehr abdecken, sondern könne ter (links) und Nathalie Buchli, die bisher u.a. in der Kaserne Basel und im seinen Schwerpunkt auf Theaterproduktionen setzen, für Nathalie Buchli, Foto: Theater Roxy tätig war; zudem betreut sie diverse bekannte die den anderen die Infrastruktur und die professionelle Heiner Grieder. Kunstschaffende und hat eine eigene Produktionsfirma Erfahrung fehle. Theater aufgebaut. Sie kennt also die freie Theaterszene und ist bes- Mehr Kooperationen und Jugendangebote. Die Zusam- Palazzo, Foto: Josef Schaub menarbeit mit den lokalen Kulturinstitutionen ist den bei- den Leiterinnen wichtig, und entsprechende Gespräche haben stattgefunden. So sei es etwa denkbar, erklären sie, einzelne Ausstellungen der Museen mit thematisch passenden Theaterproduktionen zu ergänzen. Doch die Vernetzung soll über Liestal hinausgehen. Die verstärkte Kooperation mit Veranstaltenden und Kunstschaffenden der freien Theaterszene vor allem in der Region ist eine wichtige Schiene im neuen Konzept. Koproduktionen etwa mit der Kaserne, dem Roxy und dem Vorstadttheater kön- nen sich die Macherinnen vorstellen (sofern sie auf die kleine Bühne im Palazzo passen). Zudem sollen Projekte auch vor Ort erarbeitet und uraufgeführt werden. Als zweite Schiene wollen sie das Angebot für Familien und junges Publikum ausbauen. Das Theater wird mehr Pro- duktionen zeigen und aktiv auf Schulen und Lehrpersonen zugehen, Einführungen und Diskussionen anbieten. Eine wichtige Rolle spielt dabei das in Liestal ja besonders heimische Figurentheater. Für Mai 2014 plant die Päda gogische Hochschule Liestal im Palazzo zudem die ersten Schultheatertage BL. Mehr Witz und mehr Mittel. Als dritte Schiene nennt Buchli den Humor: KabarettistInnen, Clowns und Come dians möchten sie vermehrt ins Palazzo holen. Diese Gast- spiele sollen finanziell möglich werden durch Kooperation mit anderen Schweizer Kulturhäusern, etwa dem Theater Teufelhof. Das neue Konzept kann allerdings nur mit mehr Mitteln realisiert werden. Daher haben die Theaterleiterin- nen eine Erhöhung der kantonalen Subvention beantragt, die seit zehn Jahren gleich geblieben ist. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war der Ausgang noch offen. Die Saison beginnt mit einem Konzert von Les Reines Pro- chaines und einem Film über die Basler Performerinnen. Danach steht die Erstaufführung eines Kinderstücks aus der freien Szene auf dem Spielplan. Die Regisseurin Dalit Bloch aus Arlesheim erarbeitet mit zwei Darstellenden das interaktive Detektivspiel ‹Die kalte Schnauze› mit einem Text von Lukas Linder. Die Produktion kommt in Kooperation mit ‹kis.bl› (Kulturelles in Schulen) zustan- de. Im Oktober sind musikalisch-politisches Kabarett, Figurentheater und okzitanische Musik programmiert. Programm Theater Palazzo u S. 32 10 | ProgrammZeitung | September 2013
Kasper, Tod und Teufel und ein Krokodil v e r e n a s t ö s si nge r Ausstellung Anne Bothuoen, ‹Cousu main›, Foto: Philippe Delépine Das 7. Figurentheaterfestival zeigt die Vielfalt Auch im Rahmenprogramm taucht – neben Ausstellungen des Genres. und einem Workshop – der Kasper wieder auf: ‹Herzkasper› Am 7. September ist es soweit: Christian Schuppli und sein von und mit Florian Feisel ist eine Geschichte für «alle Team übergeben die Leitung des ‹FigurenTheaterFestival› unerschrockenen Menschen ab 6 Jahren, die noch nie von (FTF) an Marius Kob. Das verspricht eine Fortsetzung der einem Krokodil gefressen wurden». Und ebenfalls an Kin- Erfolgsgeschichte: Marius Kob, Absolvent des Studiengangs der ab Schulalter wenden sich ‹Das Mädchen im Löwen Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik käfig› vom Ensemble Materialtheater Stuttgart & Théâtre und Darstellende Kunst in Stuttgart, fiel schon bei seinem Octobre Brüssel, eine fantastische Zirkus-Geschichte «mit ersten Basler Auftritt auf, der so poetischen wie bedrücken- Clowns, Artisten, einer Musikkapelle und einer echten Hexe» den Rauminstallation ‹Ghostcity› (2011), und seit Anfang sowie ‹Ida hat einen Vogel, sonst nichts› vom Figurenthea- Jahr spielt er neben Schuppli und Pierre Cleitman im Vagabu- ter Lupine (Bern): ein wohl eher nachdenkliches Stück. Im Stück ‹Kreuzzug der Schweine›. Zentrum steht ein Mädchen, das nicht in die Ferien fahren Christian Schuppli, Mitgründer des Figurentheaters Vagabu kann, weil ihr Vater arbeitslos ist. Sie zieht sich in den und diesjähriger PriCülTür-Preisträger, hat das Festival Schuppen zurück und baut sich eine Fantasiewelt auf, die 1995 lanciert und über die Jahre hin zu einer attraktiven sie alleine bereisen kann. Die Gruppe Die Nachbarn aus Plattform für internationales Figurentheaterschaffen ge- Bern schliesslich zeigt das Familienstück ‹Gurkenkönig› macht. Klein, fein und überraschend sind die seit 2003 (ab 7 Jahren), das, ausgehend von Christine Nöstlingers zweijährlichen Festivals immer gewesen, und zunehmend Roman, davon handelt, was passiert, wenn jede/r nur noch sind sie auch beim Publikum erfolgreich: mit einem Budget das macht, was ihm oder ihr passt. von nur gut 300’000 Franken hat das FTF 2011 über 4’000 Realitäts- und ortsbezogen. Die Tendenz zu Stücken, die Zuschauende erreicht. sich mit Wirklichkeit befassen, ist deutlich. Und die ent- Kritisch, nachdenklich, fantasievoll. Die ‹Stabübergabe› schiedene Lust, nicht nur in geschlossenen Räumen aufzu- markiert auch die zeitliche Mitte des diesjährigen, thea- treten. Die Aufführungen finden zwar in Theaterhäusern terästhetisch anspruchsvollen Programms. Im Zentrum statt, doch der öffentliche Raum wird auch bespielt. Das stehen drei Abend-Aufführungen. ‹Puppen sterben bes- Colori Strassentheater zieht durch die Stadt, bunte, surreal ser› von Florian Feisel (Stuttgart) ist eine Lecture Perfor- wirkende Figuren, deren geometrisch verfremdete Erschei- mance «zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des nung an Oskar Schlemmers Bauhaus-Ästhetik denken lässt; Figurentheaters»; in ‹Jenseits von Gut und Böse› wird, so ‹Die Dicke›, eine rundgepolsterte Frau (Julia Raab, Stutt- der Programmtext, «die Wandelbarkeit des menschlichen gart), geht als Walkact durch die Strassen und will mit Willens verhandelt» – die gesellschaftspolitisch aktuelle Flanierenden ins Gespräch kommen, und auch ein wildes Aufführung von Kopp/Naue/Vittinghoff aus Bern mündet Tier ist unterwegs: Florian Feisel im Krokodil-Kostüm. Als in ein Publikumsgespräch mit der Philosophin Annemarie ‹performativer Begleiter› des Festivals reisst er dabei «auch Pieper; und in ‹Teuflische Zeiten› von Annette Wurbs und gewaltig das Maul auf». Peter Müller (Neubrandenburg) kämpft der alte Kasper 7. Figurentheaterfestival: Fr 6. bis So 8.9., div. Orte u S. 34 vor «ständig wechselnden und bewegten Hintergründen» gegen Teufel, Tod und böse Mächte. September 2013 | ProgrammZeitung | 11
Der Pionier tritt ab d om i n iqu e spi rgi Christoph Meury verabschiedet sich aus dem Theater Roxy – ein Engagierter der freien Szene. Er ist ein überaus freundlicher Mensch. Aber einer, der sich nicht scheut, seine Meinung kundzutun und dabei kaum diplomatische Zurückhaltung walten lässt. Das erscheint, wenn man nur liest, was Christoph Meury als Kolumnist, als Leserbriefschreiber bzw. Online-Kommentator oder in E-Mails schreibt, oft etwas schroff. Wer ihm aber gegen- übersitzt, erlebt ihn als Menschen, der auch zuhört und auf Fragen eingeht. Und natürlich als jemanden, der durchaus etwas zu sagen hat. Viel zu sagen hat Meury über die Kulturpolitik und vor allem Christoph über die freie Theater- und Tanzszene der Schweiz, die er, Meury, wie nur wenig andere, als einer der grossen Pioniere im Foto: zVg, Bearbeitung Land mitgeprägt hat. Als Mitbegründer der Kulturwerk- Lucas Mösch statt Kaserne (und auch dieser Zeitung hier), als Hauptini tiant und Produktionsleiter des Theaters in der ehemaligen nicht seine Person im Vordergrund stand. «Ich habe mich Stückfärberei, als Mitglied des ersten Leitungsteams der für das Roxy engagiert, es aber niemals als mein Privat Gessnerallee Zürich und des Fachausschusses beider Basel theater betrachtet.» für Theater und Tanz, als Mitbegründer des Förderprojekts Ohne Nachfolgeprojekt. Noch ist Meury nicht ganz weg. Treibstoff und der Basler Tanztage sowie als Mitverant- Die Durchführung der 6. Treibstoff Theatertage (s. neben- wortlicher für die erfolgreiche Wiedergeburt des Theater- an) ist ihm eine Herzensangelegenheit. Dazu kommen bis festivals Basel ... 21. September weitere Produktionen im Roxy. Aber dann ist Und natürlich als Mitinitiant und ab 2000 als erster Leiter Schluss: «Ich höre einfach auf», sagt er. Ohne Nachfolge- des Theater Roxy in Birsfelden. Mit Meury entwickelte sich projekt im Köcher. «Im Moment freue ich mich darauf, nicht das ehemalige Vorstadtkino rasch zum profilierten Auffüh- mehr 365 Tage im Jahr ein Theater betreuen zu müssen.» rungsort, Produktions- und Kompetenzzentrum für die Und aufs Motorradfahren und ... freie Theater- und Tanzszene. Die KünstlerInnen, die hier Ganz so schlagartig wollte sich Meury eigentlich nicht von auftraten, schätzten den Theaterleiter als engagierten der Theater- und Tanzszene verabschieden. Er lässt durch- Macher. Er sorgte dafür, dass auch die Infrastruktur des blicken, dass er im Sommer 2014 gerne noch bei der zwei- Hauses ausgebaut wurde. Seit 2009 verfügt das Roxy über ten Ausgabe des erfolgreich wiederbelebten Theaterfesti- eine eigene Probebühne – was die grosse Schwester in der vals Basel mit an Bord gewesen wäre. Doch die Kaserne Stadt, die Kaserne Basel, ziemlich neidisch nach Birsfelden Basel hat bereits ohne den abtretenden Roxy-Leiter zu pla- blicken lässt. nen begonnen. Für Meurys Empfinden wäre eine zweite Dschungelkämpfer. Soweit ein paar Fakten, die sich Festivalrunde nach dem aufwendigen Aufbau ein schönes problemlos um weitere Erfolge und heute wohlklingende und ehrenwertes Abschiedsgeschenk gewesen. Namen ergänzen liessen, welche der Pionier im Roxy oder Roxy-Programm u S. 31. Abschiedsapéro: Fr 20.9., 21.30 mit Treibstoff mit aufgebaut hat. Meury bezeichnet sich selber als «Ermöglicher» – was sicherlich zutrifft, auch wenn es etwas bescheiden klingt. Er half massgeblich mit, neue Orte als Kulturplätze zu akquirieren, und er förderte Grenzerfahrungen Talente. Das war nicht immer ganz einfach: «Ich entstam- db. Ein Kleinbasler Galerieraum wird vorübergehend zu einem me einer Generation, die um die ganze Infrastruktur für ‹Basislager für Grenzgänge›, an denen sich Interessierte kostenlos die freie Szene kämpfen musste», sagt der bald Sechzigjäh- beteiligen können. Das spartenübergreifende Projekt ‹Heimat rige. «Da waren Fähigkeiten als Dschungelkämpfer mehr Kunst› befragt die individuelle Gestaltungsfreiheit und spürt mit gefragt als diplomatische Zurückhaltung.» künstlerischen Mitteln deren sichtbare und unsichtbare Grenzen Das war auch beim Roxy so. Nicht nur, als es darum ging, auf. Zum Programm gehören Workshops, Aktionen, Exkursionen zusammen mit Gleichgesinnten das ehemalige Kino als etc., die zur Mitwirkung einladen. Das dabei entstehende Mate Veranstaltungsraum für Live-Kunst neu zu positionieren. rial wird in eine täglich wachsende Ausstellung integriert und Als Verantwortlicher sah er sich einem Trägerverein gegen- abschliessend zu einer Theaterperformance verdichtet. Mit dem über, der eigentlich ein Gemeindekulturzentrum mit ange- Projekt möchten die Kunstschaffenden des Vereins Open Passage hängtem überregionalem Theater- und Tanzbetrieb etablie- eine «Stadterforschung der anderen Art» anregen und plädieren ren wollte. Meury lenkte das Haus in eine andere Richtung. für einen kreativen Umgang mit Grenzfragen. ‹Heimat Kunst› «Ich liess mich nie vereinnahmen.» Dabei legt er viel Wert wird von der Christoph Merian Stiftung gefördert und von etli- auf die Feststellung, dass für ihn immer der Inhalt und chen Institutionen unterstützt. ‹Heimat Kunst›: bis So 15.9., Klybeckstr. 170, http://heimat-kunst-basel.blogspot.ch 12 | ProgrammZeitung | September 2013
Mehr als Schall und Rauch i ng o s ta r z An den Treibstoff-Theatertagen experimentiert der Nachwuchs. Wo chemische Teilchen aufeinandertreffen, kann es Funken schlagen und Befreites Spiel? Rauch aufsteigen. Zu ähnlichen energetischen Ausbrüchen ist das Theater i ng o s ta r z fähig, je nach Versuchsanordnung. Darauf mögen die Fotos mit farbigem ‹Disabled Theater› im Theater Roxy. Rauch verweisen, welche die Programmbroschüre enthält. Zum sechsten Menschen mit (geistiger) Behinderung gehören Mal bieten die Theatertage Gelegenheit, Produktionen junger Talente zu zu den Ausgegrenzten, den Fremden in der Ge- entdecken. Eine Jury hat aus über 120 Einsendungen sieben Projekte ausge- sellschaft. Selten sind sie Teil eines öffentlichen wählt, die in den vergangenen Monaten realisiert wurden. Die Nachwuchs- Diskurses. Im Theater vermochten Produktionen kräfte aus dem deutschsprachigen Raum erfuhren in Sachen Produktion mit Betroffenen in den letzten Jahren aus der und Network Unterstützung vom Festivalteam. Im August waren alle The- unfreiwilligen Nische herauszutreten. Die Pro- aterkollektive in Basel zu Gange: Man hat geprobt, sich kennengelernt und duktion ‹Disabled Theater› von Jérôme Bel und ausgetauscht. ‹Treibstoff› ist nicht nur ein Schaufenster für angehende Pro- Theater Hora, die beim letztjährigen Kunsten- fis, der Fachleute anlockt, sondern auch ein erfolgreiches Theaterlabor. festivaldesarts in Brüssel Premiere feierte, wur- Von Krisen und Utopien. Wie es ist, wenn man die Zukunft aus der Per- de heuer zum Berliner Theatertreffen eingela- spektive künftiger Generationen betrachtet, zeigt das Stück ‹Meine Enkel den und gastiert nun vielerorts. Die Arbeit des 2072› von Moïra Gilliéron, Ariane Koch und Zino Wey. Science-Fiction und französischen Choreografen und Tänzers (geb. Erinnerungen an die eigenen Grosseltern verschmelzen dabei zu einer bri- 1964) mit Mitgliedern des Zürcher Theaters ver- santen Identitätssuche. Das Kollektiv Koikate lässt uns in ‹Box Solution› sucht einen Raum zu öffnen, in dem ein unvor- an einer Katastrophenübung teilnehmen. Mit einem Cocktail aus Wissen- eingenommener Blick auf die ästhetische und schaft, Sound und dramatischen Bildern werden unsere Selbsthilfekräfte politische Dimension von Behinderung möglich gesteigert. Die Gruppe Skart setzt sich mit dem Kapitalismus und seinen ist. Die nicht-virtuosen Ausdrucksformen, die gegenwärtigen negativen Folgen auseinander. In ‹Conan der Zerstörer› Jérôme Bell mit seinem Spielteam entwickelt thematisiert sie das Aufkeimen des Faschismus in Zeiten der Angst. Die hat, stellen Mechanismen der Ausgrenzung und Performer von Yuri 500 treten mit einer ‹Rede an die Menschheit› vor das Fragen der Repräsentation auf den Prüfstand. Publikum. In einem audioinstallativen Raum befragen sie Verhaltenswei- Die Produktion stiess auf viel Begeisterung und sen und Rhetorik einer bedrohten Gemeinschaft. löste eine angeregte Debatte aus. Wo ein Kritiker Anna Fries und Markus Schäfer drehen in ‹Fort Yuma› einen Dokumen- fand, dass die «Theaterarbeit mit Behinderten tarfilm auf der Bühne: In dem Western geht es um die Schweiz und die eine neue Ebene erreicht» habe, kam ein anderer Steuern, um Indianer und Soldaten. Die Produktion ‹Du kannst mich zum Schluss, dass es sich um einen Abend handle ruhig Frau Hitler nennen› des Kollektivs How To Make Friends widmet «der blöder war, als Theater ist». Der negative sich den Aufzeichnungen der Hitler-Gefährtin Eva Braun und erörtert so Kommentator erblickt in ‹Disabled Theater› eine die Bedeutung des Privaten in weltgeschichtlichem Kontext. Einen erfri- Zurschaustellung von Performern mit Behinde- schenden Blick auf die Gattung Oper wirft Fux in seinem Projekt ‹Opa übt›. Treibstoff- rung, deren spezifische Qualitäten der Choreo- Programmheft, Ein dreiköpfiges Ensemble erprobt mit Instrumenten, Technik, Körper und graf nicht zu nutzen wusste. Gestaltung: Stimmen ein alternatives Musiktheater. Bei so viel Lust am ästhetischen Hanna Zürcher Inwiefern diejenigen auf der Bühne nur Anwei- Experiment dürften vom Festival mehr als Schall und Rauch bleiben. & Lorenz Peter sungen ausführen, beschäftigte das Basler Publi- (2. Foto Treibstoff: Mi 28.8. bis So 8.9., Kaserne, Junges Theater, Theater Roxy kum jüngst, als das Stück ‹Dschingis Khan› von u S. 48) Monster Truck & Theater Thikwa (Berlin) ähn lichen Fragen nachging. Das Theater Hora hat jedenfalls auf die Debatte reagiert: Auf seiner Website findet sich eine Anleitung zu Jérôme Bels Arbeit. Ob es in dem Stück überhaupt um Behinderung gehe, wird gefragt und wie folgt beantwortet: «Eine gute Frage. Für Benjamin Wihstutz ist es mehr, nämlich ein emanzipatori- scher Akt für die Künstler, durch die ‹Abkehr vom Leistungsgedanken, von einem Paradigma des Könnens. […] Wenn man diese Art der Eman- zipation, das Ignorieren des Leistungsprinzips erkannt hat, wird ersichtlich, was der Titel ‹Disabled Theater› letztendlich bedeutet.›» ‹Disabled Theater› mit Theater Hora: Do 12. und Fr 13.9., 20 h, Theater Roxy u S. 31 September 2013 | ProgrammZeitung | 13
Die Kunst der Performance i ng o s ta r z Bühnenpoesie Bachzetsis, Dimchev, Kaegi und Co. Bunt und liebevoll startet die Kaserne Basel in die neue Saison. Bunt ist das dagm a r bru n n e r zehnköpfige Ensemble, das Alexandra Bachzetsis in ihrer Produktion ‹The Shakespeare, Hesse, Ringelnatz. Stages of Staging› präsentiert. Die in Paris lebende, auf vielen Festivals zu «Das Lieben nicht, das Schwärmen nur ist schlecht.» sehende Cecilia Bengolea ist ebenso dabei wie Kiriakos Hadjiioannou, der Dieser Merksatz stammt aus einem unsterb letzten Herbst im Theater Roxy choreografierte. Die internationale Truppe lichen Klassiker, in dem viel gestorben wird: bringt Liebesszenen auf die Bühne und vor die Kamera. In trister Turnhal- Shakespeares ‹Romeo und Julia›. Und mit dieser, len-Atmosphäre werden unterschiedliche Konstellationen des Begehrens wie es im Untertitel des Stücks heisst, ‹ganz dargeboten und gefilmt. Aus dem Geschehen entwickeln sich Geschichten, vorzüglichen und höchst beklagenswerten Ge- der Tanz gerät mehr und mehr zur sportlichen Übung. schichte› wagte sich die neu gegründete Volks- Bachzetsis, die in Basel wohnt und im vergangenen Jahr mit dem Schwei- bühne Basel im Frühjahr vors Publikum – mit zer Performancepreis ausgezeichnet wurde, spürt in ihrer neuen Arbeit erfreulichem Erfolg. Das Rezept dafür ist keines- individuellen und kollektiven Sehnsüchten nach. Mit der Videokamera und wegs einfach, aber bestechend: Es spielen ganz Referenzen an Fassbinder-Filme oder Fotografien von Jeff Wall verortet sie famos und unverkrampft Jung und Alt, Profis diese in der zeitgenössischen Medienkultur mit all ihren Fragen nach und Laien mit Wurzeln in allen möglichen Län- Repräsentation und Bildproduktion. dern, und vermögen mit grossem Ernst und Witz Auftritte und Preise. Hochkarätig geht es mit dem ‹Radikalperformer› zu überzeugen. Es beginnt als sinnenfrohes Fest Ivo Dimchev weiter, der in ‹I-On› mit skulpturalen Objekten Szenen voll in rustikaler Umgebung, geht deftig zur Sache Kraft und Komik entwickelt. Er erkundet eine Reihe von Arbeiten des und endet ohne Tragödie und dennoch herzzer- Österreichers Franz West und kommt dessen Aufforderung nach, die Skulp- reissend ohne Kitsch. Nun ist das Ensemble mit turen durch Gebrauch zu Kunstobjekten werden zu lassen. Xavier Le Roy dem klug und innovativ in die Gegenwart gehol- bringt Stravinskys ‹Le Sacre du Printemps› auf die Bühne. Um genau zu ten Stück unter dem Titel ‹Selam Habibi› (‹Hallo sein, wiederholt er die Gesten des Dirigenten Sir Simon Rattle bei einer Liebling›), inszeniert von Anina Jendreyko, er- Aufführung des Musikstücks. Bewegungen, die vormals Musik hervorrie- neut zu sehen. – fen, erscheinen nun als Resultat derselben. Ein interessante Umkehrung, Ebenfalls eine Wiederaufnahme zeigt das Junge die ein anderes Licht auf das Erleben von Musik wirft. Schauspiel im Neuen Theater am Bahnhof (NTaB) Bereits mit diesen beiden Gastspielen wirft der Schweizer Performance- in seinem Arlesheimer Exil. Auch hier war ein preis seine Schatten voraus. Noch mehr ist das der Fall, wenn am Vorabend ‹Klassiker› erfolgreich, dessen Originaltext ein- der Verleihung die Schweizer Kunsthochschulen im Rahmen von ‹act on› drücklich mit Worten und Sprachen der Darstel- acht junge KünstlerInnen auftreten lassen. Die Veranstaltung zum Perfor- lenden verbunden und mit Spielfreude dargebo- mancepreis kommt als öffentlicher Wettbewerb mit sieben nominierten ten wird: Hermann Hesses Erzählung ‹Siddharta›. Arbeiten daher. Dabei vergibt neben der Jury auch das Publikum einen Um Weisheit und Irrtum, um Fülle und Stille und Preis. Wer sich nach so vielen Darbietungen selber zum Performern berufen den eigenen Weg geht es, und die Jugendlichen fühlt, kann bei Stefan Kaegis (Rimini Protokoll) ‹Remote Basel› mit Funk- ziehen dabei alle Register; Regie führt Sandra kopfhörern ausgerüstet als einer von 50 Stadtwanderern aktiv werden. Löwe/Sprachhaus M. Die Finanzierung des Thea Ivo Dimchev, Fremdgesteuert darf man da dem Herdentrieb frönen. terneubaus in Dornach ist übrigens nahezu gesi- Foto: Marian Programm Kaserne Basel u S. 35 Ivanov chert, hingegen fehlen noch Mittel für Infra- struktur und Technik; die Eröffnung ist auf Ende 2014 geplant. – «Gewitzte Texte und ebensolche Musik» haben die beiden Theaterbarden Wolfram Berger und Jürg Kienberger zu bieten. Mit ihrer aktuellen Produktion gedenken sie der ebenso pfiffigen wie berührenden Poesie des 1934 verstorbenen Dichters, Malers, Kabarettisten, Seemannes und Abenteurers Joachim Ringelnatz. Darüber hin- aus verspricht das Teufelhof-Programm weitere heiter-bissige Unterhaltung. ‹Selam Habibi›: Mi 11. bis Fr 27.9., 19.30, Schalandersaal, Restaurant Altes Warteck, Clarastr. 59, www.volksbuehne-basel.ch ‹Siddharta›: Fr 13. bis Sa 21.9., NTaB, Stollenrain 17, Arlesheim u S. 35 ‹Ringelnatz›: Mi 18. bis Sa 28.9., Theater im Teufelhof u S. 34 14 | ProgrammZeitung | September 2013
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