Qualität der Medien Studien - UZH
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Studien 2020 Qualität der Medien Wie das Coronavirus die Schweizer Twitter-Communitys infizierte Adrian Rauchfleisch, Daniel Vogler, Mark Eisenegger Schweiz Suisse Svizzera Herausgegeben vom Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög)/Universität Zürich
2 Zusammenfassung In Krisen sind Social Media wie Twitter wichtige Informationskanäle für die Bevölkerung. Welche Informationen zirkulieren und welche Akteure ihre Meinungen verbreiten können, beeinflusst, wie die Krise von den Nutzerin- nen und Nutzern wahrgenommen wird. Diese Studie untersucht auf Basis von 1,8 Mio. Tweets des Projekts «Twit- ter Listener», wie die Corona-Debatte die Schweizer Twitter-Sphäre von Januar bis April 2020 bewegt hat. Die Befunde zeigen, dass das Coronavirus die Agenda auf Twitter stark dominiert hat und im Zeitverlauf eine Fokus- sierung auf Themen mit Bezug zur Schweiz erfolgte. Über Netzwerkanalysen wurden die Nutzerinnen und Nut- zer zu Communitys gruppiert, was eine differenzierte Betrachtung der Twitter-Kommunikation zu Covid-19 erlaubt. So zeigt sich, dass die Communitys zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfingen zur Corona-Pandemie zu tweeten. Nutzerinnen und Nutzer aus dem Tessin und von international orientierten Communitys waren als Erste aktiv. In den Communitys der drei Sprachregionen gehören etablierte Akteure, allen voran die Behörden und die Informationsmedien, zu den einflussreichsten Nutzern. Sie werden über die Sprachregionen hinweg beachtet. Twitter erlaubt es auch anderen Akteuren, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ihre Meinung zu Covid-19 prominent zu verbreiten. Desinformation ist im Zusammenhang mit Covid-19 in der Schweizer Twit- ter-Sphäre ein marginales Problem. Die wenigen Tweets zu Falschmeldungen finden kaum Beachtung. 1. Einleitung Ob bei Naturkatastrophen, Anschlägen oder weitrei- muniziert werden. Drittens bieten Social Media die chenden Pandemien: Das Internet und insbesondere Möglichkeit zum Dialog zwischen Behörden, Medien- Social Media sind neben den klassischen Medien zu schaffenden, Politikerinnen und Politiker und der wichtigen Informationsquellen in Krisen geworden Bevölkerung. (Schultz et al., 2011). Soziale Medien werden von der Neben diversen Vorteilen werden auch negative Effekte Bevölkerung sowie von Journalistinnen und Journalis- von Social Media in Krisenzeiten diskutiert (Somma- ten genutzt, um sich über die Krisen und Gefahren in riva et al., 2018). Nutzerinnen und Nutzer, darunter Echtzeit zu informieren, da Informationen auf traditio- Politikerinnen und Politiker sowie Behörden können nellen Kanälen oftmals nicht zeitnah zur Verfügung Botschaften verbreiten, ohne dass diese kritisch hinter- stehen (Rauchfleisch et al., 2017). Deshalb ist die Ver- fragt werden. Dabei werden Prinzipien der Fairness, wie breitung von Informationen über Social Media ein sie im Journalismus existieren, regelmässig verletzt, zentraler Bestandteil von Strategien zur Bekämpfung wenn aggressiv und einseitig über die Krise, Massnah- der Corona-Pandemie. men oder Betroffene diskutiert wird. Besonders im Auch in der Schweiz haben die zuständigen Behörden Fokus stand zudem die Verbreitung von Desinforma- umfangreiche Social-Media-Kampagnen auf Twitter, tion, sogenannten Fake News. Auch im Zusammenhang Facebook und Instagram lanciert. Ziel ist, die Men- mit der Corona-Krise wird intensiv diskutiert und schen vor den unmittelbaren Gefahren zu warnen. erforscht, welche Rolle Social Media bei der Verbreitung Andererseits werden Massnahmen zur Eindämmung von Verschwörungstheorien und Falschinformationen des Virus, wie zum Beispiel Hygienemassnahmen, einnehmen (Boberg et al., 2020; Depoux et al., 2020). Social Distancing oder das Tragen einer Maske, an die Twitter hat sich als wichtiger Informationskanal in Kri- Bevölkerung kommuniziert. Über soziale Medien senzeiten etabliert. Die Corona-Pandemie ist deshalb gelangen diese Informationen gezielter und zeitnaher in der Schweizer Twitter-Sphäre ein prägendes Thema. an die Bürgerinnen und Bürger (Eriksson & Olsson, Nutzerinnen und Nutzer diskutieren die Massnahmen 2016). Social Media bieten zudem weitere Vorteile: Ers- der Behörden, den Umgang mit dem Virus, die daraus tens werden Zielgruppen angesprochen, die mit klassi- entstehenden Schäden und vieles mehr. Doch die schen Medien nicht mehr erreichbar sind. Zweitens Schweizer Twitter-Sphäre bildet keine homogene können Informationen zur Krise direkt und ohne Community. Sie vereint unterschiedliche Nutzerinnen Umwege über Medien, sogenannte Gatekeeper, kom- und Nutzer mit unterschiedlichsten Einstellungen,
3 Themenpräferenzen und unterschiedlich grossem Ein- versität Zürich (IKMZ) und der National Taiwan Uni- fluss. Nicht alle Akteure, die auf Twitter kommunizie- versity durchgeführt wird. Der «Twitter Listener» ren, erhalten die gleiche Aufmerksamkeit (Vogler & wurde im Rahmen der Ausschreibung Digital Lives Rauchfleisch, 2017). Besonders Meinungsführende wie durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördert Behörden, Politikerinnen und Politiker, Expertinnen (SNF; Projektnummer: 10DL15_183124). und Experten oder Medienschaffende nutzen das sozia- Mit dem «Twitter Listener» wird seit April 2019 die le Netzwerk, um sich zu informieren und gleichzeitig gesamte Schweizer Twitter-Sphäre kontinuierlich die eigenen Meinungen zu verbreiten. Welche Akteure erfasst. Dazu wurden über ein iteratives Verfahren mit ihren Botschaften auf Twitter die Agenda setzen 296 841 Schweizer Twitter-Nutzerinnen und Nutzer und ein Publikum finden, entscheidet folglich mit dar- anhand ihrer Angaben in Location, Description oder über, wie die Krise auf Twitter wahrgenommen wird. URL zu ihrem Account über automatisierte Verfahren Ob gemässigte Stimmen von Expertinnen und Exper- identifiziert und wo notwendig manuell validiert. ten dominieren oder Akteure mit emotionalen und Über die Twitter-API (Programmierzugriff auf Twit- alarmierenden Botschaften die gesamte Aufmerksam- ter-Daten) werden laufend sämtliche Tweets, die von keit monopolisieren, beeinflusst, wie relevant oder wie diesen eindeutig identifizierten Nutzerinnen und bedrohlich die Nutzerinnen und Nutzer die Pandemie Nutzern verfasst werden, über einen Server herunter- empfinden. geladen. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis Die vorliegende Studie untersucht die Debatten über zum 30. April 2020 erfasste der «Twitter Listener» das Coronavirus in der Schweizer Twitter-Sphäre. Sie total 21 300 641 Tweets von 95 211 Unique Usern. analysiert die Resonanz und die Dynamik der Debatten Für diese Studie wurden alle Tweets in unserer Daten- und zeigt, welche Themen im Zusammenhang mit der bank mit Bezug zum Coronavirus ermittelt. Mit einer Pandemie diskutiert wurden. In einem zweiten Schritt umfassenden Stichwortsuche, mit den wichtigsten werden die Akteure, die Tweets zum Coronavirus ver- Hashtags und Begriffen mit Bezug zum Virus auf fasst oder weiterverbreitet haben, mittels einer Netz- Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch (z.B. werkanalyse unter die Lupe genommen. Die Analyse covid19, covid-19, coronavirus, social distancing, zeigt auf, wie die Pandemie die Communitys beeinflusst pandemie usw.), wurden die Tweets identifiziert. hat und welche Nutzerinnen und Nutzer mit ihren Zusätzlich wurden alle Replies, d.h. Antworten, Tweets viel Beachtung erhielten. Zum Schluss wird erfasst, die sich auf Tweets mit Corona-Bezug im anhand von zwei Beispielen die Bedeutung von Desin- Datensatz bezogen, selbst aber keine explizite Erwäh- formation im Zusammenhang mit dem Coronavirus nung der Suchwörter erhielten. So konnten 3,8% untersucht. Die Studie basiert auf 1,762 Millionen zusätzliche Tweets analysiert werden. Tweets mit Bezug zum Coronavirus, die zwischen dem Daraus resultierte ein Datensatz von 1 762 262 Tweets, 1. Januar 2020 und dem 30. April 2020 von Schweizer der sich aus 412 753 originalen Tweets (23,4%), Accounts verfasst wurden. Die Daten stammen aus dem 1 150 618 Retweets (65,3%), 67 933 Quoted Tweets Projekt Twitter Listener, das die Tweets von sämtlichen, (3,6%) und 135 043 Replies (7,7%) zusammensetzt. aktiven Schweizer Twitter-Accounts (derzeit rund Von den 297 967 Schweizer Twitter-Nutzerinnen und 300 000) kontinuierlich erfasst. Für die vorliegende Stu- Nutzern waren im Untersuchungszeitraum 95 211 die konnte somit auf die gesamte Kommunikation in der aktiv. Davon haben sich 56 051 in Tweets zur Corona- Schweizer Twitter-Sphäre im entsprechenden Zeitraum Thematik geäussert oder Inhalte mit Corona-Bezug zurückgegriffen werden (rund 21 Millionen Tweets). retweeted. Dies entspricht 59% des gesamthaft getrackten Samples an aktiven Nutzerinnen und Nut- 2 Methode zer. Für alle Retweets wurde zusätzlich ermittelt, ob Die vorliegende Studie basiert auf Daten des Projekts sie von einem der getrackten Schweizer Twitter-Nut- «Twitter Listener», das vom Forschungszentrum zer verfasst wurden (interne Retweets – beispielsweise Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich Tweets vom Bundesamt für Gesundheit BAG) oder (fög) in Kooperation mit dem Institut für Kommuni- von ausserhalb stammen (externe Retweets – bei- kationswissenschaft und Medienforschung der Uni- spielsweise Tweets von Donald Trump).
4 Darstellung 1: Tägliches Volumen an Tweets Die Darstellung zeigt das tägliche Volumen an Tweets mit Bezug zu Corona (hellblaue Linie) und das gesamthaft im «Twitter Listener» erfasste tägliche Volumen an Tweets (rote Linie). Die gestrichelte Linie (dunkelblau) zeigt, basierend auf den Daten der ersten zwei Monate, das vorausgesagte Volumen an. Die 297 967 Nutzerinnen und Nutzer des «Twitter Lis- pro Tag verfasst (hellblaue Linie). Der Höchstwert von tener» wurden anschliessend mit einer sozialen Netz- Tweets zu Corona wurde am 16. März 2020 gemessen. werkanalyse zu sogenannten Communitys aggregiert. An diesem Tag erklärte der Bundesrat die ausseror- Über den Infomap-Algorithmus (vgl. Rosvall & Berg- dentliche Lage und kündigte den Lockdown an. Wir strom, 2008) werden die Accounts anhand ihrer Follo- testeten in einem statistischen Modell für Zeitreihen wer-Beziehungen gruppiert. Überall dort, wo viele (Brodersen et al., 2015), ob die erste grössere staatliche Beziehungen zwischen Accounts bestehen, identifiziert Intervention in der Schweiz, die am 11. März 2020 aus- der Algorithmus Communitys. In der Regel gruppieren gerufenen Notlage im Kanton Tessin, einen Einfluss sich Communitys anhand von geografischen, sprachli- auf das gesamte Tweetvolumen hatte. Die Analyse chen und thematischen Merkmalen der Nutzerinnen zeigt, dass sich bereits am 11. März das Gesamtvolu- und Nutzer (vgl. auch Tabelle 1). Diese Gruppierung men an Tweets signifikant verändert hat (rote Linie). lässt sich durch das Prinzip der Homophilie erklären Die Bedrohung durch das Coronavirus war spätestens («gleich und gleich gesellt sich gern»). Über den Algo- ab dann unmittelbar in der Schweiz präsent, was zu rithmus wurden für den «Twitter Listener» 4108 Com- erhöhter Twitter-Aktivität geführt hat. Die Menge der munitys mit jeweils mindestens mehr als 10 Accounts total erfassten Tweets pro Tag steigt in der Folge stark identifiziert. Die grössten 227 Communitys mit mehr an. Vor diesem Tag verfassten die Schweizer Twitter- als 100 Accounts wurden manuell validiert und Nutzerinnen und Nutzer täglich rund 175 000 Tweets. anschliessend benannt. Für diese Studie fokussieren In den darauffolgenden Tagen setzten sie bis zu wir auf die 20 aktivsten Communitys im Covid- 240 000 Tweets pro Tag ab. 19-Diskurs. Vom 11. März bis zum 30. April 2020 wurden im Ver- gleich zum statistisch prognostizierten Tweetvolumen 3 Resultate des «Tweet Listener» 22% zusätzliche Tweets erfasst. Das Coronavirus hat die Schweizer Twitter-Sphäre Die Corona-Pandemie hat die Schweizer Twitter- stark beeinflusst (vgl. Darstellung 1). Zu Spitzenzeiten Sphäre also stark bewegt. Ein grosser Teil der Tweets wurden fast 50 000 Tweets mit Bezug zum Coronavirus hatte aber keinen Bezug zum Coronavirus. Selbst zu
5 Darstellung 2: Überrepräsentation von Hashtags im Zeitverlauf Die Darstellung zeigt die relative Bedeutung von einzelnen Hashtags pro Woche im gesamten Datensatz des «Twitter Listener». Das Verfahren vergleicht für jede neue Woche die Anzahl Nutzerinnen und Nutzer, die einen Hashtag verwendeten, mit der Anzahl Nutzerinnen und Nutzer, die in allen bisheri- gen Wochen spezifische Hashtags verwendeten. Dadurch konnten wir jeweils die acht wichtigsten Hashtags pro Woche eruieren, die in der aktuellen Woche im Vergleich zu allen vorangegangenen Wochen signifikant überrepräsentiert sind. Die Frequenzen der Hashtags sind normalisiert (y-Achse; log- arithmische Skalierung). Das heisst es wurde gezählt, wie viele Nutzerinnen respektive Nutzer einen Hashtag pro Zeitraum verwendeten. Das verhindert Verzerrungen über sehr aktive (z.B. Spam) oder automatisierte Accounts (Bots). Spitzenzeiten machen die Corona-bezogenen Tweets zeigt die Analyse der relativen Bedeutung der acht lediglich 20% des Gesamtvolumens aus. Ein ähnliches wichtigsten Hashtags pro Woche über die Zeit (vgl. Bild zeigt sich auf Ebene der Nutzerinnen und Nutzer. Darstellung 2). Von den 95 211 aktiven Nutzerinnen und Nutzer haben Bis Mitte Februar haben andere Themen, wie zum Bei- 56 051 (59%) zu Corona getweeted. Etwa ein Drittel spiel der Konflikt zwischen den USA und dem Iran, das aller Nutzerinnen und Nutzer verfasste also keine oder World Economic Forum (WEF) oder die Geheim- zumindest keine expliziten Tweets mit Bezug zu dienstaffäre Cryptoleaks, die Schweizer Twitter-Agenda Corona. Dies legt die Vermutung nahe, dass Covid-19 mitbestimmt. Immer wieder stachen auch sportliche und die damit verbundenen Massnahmen (v.a. der Ereignisse wie Tennis mit Roger Federer oder die Lockdown) insgesamt zu einer verstärkten Aktivität auf Champions League heraus. Spätestens ab Anfang März Twitter geführt haben. verdrängt die Debatte über das Coronavirus andere Themen fast vollständig. Erst gegen Ende April erlan- 3.1 Covid-19 im Vergleich zu anderen gen Hashtags, die keinen Bezug zum Coronavirus Themen haben, verhältnismässig wieder mehr Aufmerksamkeit. Von Januar bis April 2020 fand eine klare thematische Es tauchen dabei Themen wie der Ramadan oder der Fokussierung auf das Virus beziehungsweise die Pan- Earth Day auf. demie in der Schweizer Twitter-Sphäre statt. Eine Ana- lyse aller Hashtags im gesamten «Twitter Listener» (rund 21 Mio. Tweets) verdeutlicht, dass das Coronavi- rus eine zunehmend dominante Rolle einnahm. Das
6 Darstellungen 3–5: Überrepräsentation von Hashtags im Zeitverlauf nach Sprache Die Darstellung zeigt jeweils für Tweets auf Deutsch, Französisch und Italienisch die relative Bedeutung von einzelnen Hashtags in den Tweets mit Bezug zum Coronavirus pro Woche. Das Verfahren vergleicht für jede neue Woche die Anzahl Nutzerinnen und Nutzer, die einen Hashtag verwendeten, mit der Nutzerinnen und Nutzer, die in allen bisherigen Wochen spezifische Hashtags verwendeten. Dadurch konnten wir jeweils die acht wichtigsten Hashtags pro Woche eruieren, die in der aktuellen Woche im Vergleich zu allen vorangegangenen Wochen signifikant überrepräsentiert sind. Die Frequenzen der Hashtags sind normalisiert (y-Achse; logarithmische Skalierung). Das heisst es wurde gezählt, wie viele Nutzerinnen respektive Nutzer einen Hashtag pro Zeitraum verwendeten. Das verhindert Verzerrungen über sehr aktive (z.B. Spam) oder automatisierte Accounts (Bots).
7 3.2 Welche Themen prägen den Twitter- Beziehungen, zu Communitys gruppiert werden. Das Diskurs in den drei Sprachregionen? Verfahren ermöglicht auch bei grossen Datensätzen Innerhalb der Schweizer Twitter-Sphäre wurden differenzierte Aussagen zu verschiedenen Nutzergrup- unterschiedliche Schwerpunkte im Diskurs zu Corona pen. Die Communitys des «Twitter Listener» wurden gelegt. Ein differenziertes Bild ergibt sich aus der sepa- anhand ihrer Follower-Beziehungen unabhängig vom raten Analyse der Hashtags in Tweets auf Deutsch, Diskurs zu Corona gebildet (vgl. Kapitel Methodik). Französisch und Italienisch. Da der «Twitter Listener» Für diese Studie wurden die 20 wichtigsten Communi- nur Schweizer Nutzerinnen und Nutzer erfasst, kann tys im Covid-19-Diskurs genauer untersucht (vgl. die Twitter-Aktivität in den Sprachregionen valide Tabelle 1). Nutzerinnen und Nutzer der anderen Com- abgebildet werden. munitys wurden mittels eines eigens entwickelten Die Bedeutung der Hashtags entwickelt sich über die Algorithmus den grösseren Communitys zugeordnet. Zeit in den drei Regionen ähnlich. Sie weist jedoch Der Algorithmus weist die Nutzerinnen und Nutzer auch einige Eigenheiten auf (vgl. Darstellungen 3–5). derjenigen Community zu, zu der sie am meisten Fol- Anfangs dominieren in allen drei Sprachregionen eher lower-Beziehungen aufweisen. So konnten für die Ana- unspezifische Hashtags wie #coronavirus, und Bezüge lyse der Communitys ein Grossteil der Accounts zu China sind prominent (z.B. #wuhan). Danach kann berücksichtigt werden (n = 43 670; das entspricht 78% übergeordnet eine stärkere Fokussierung auf die der erfassten Userinnen und User). Schweiz festgestellt werden. Zudem wird die Themen- Die Communitys zeigen ein sehr vielfältiges und agenda innerhalb des Covid-19-Diskurses viel- umfassendes Bild der Schweizer Twitter-Sphäre. Pro fältiger. Während zuerst Hashtags zu Massnahmen Sprachregion wurde eine zentrale Mainstream- gegen die Covid-19-Pandemie, wie #flattenthecurve, Community identifiziert. Diese beinhaltet zentrale #wirbleibenzuhause oder #maskenpflicht, wichtiger Leitmedien, Medienschaffende, gemässigte Politikerin- werden, dominieren im Anschluss Diskussionen zu nen und Politiker, aber auch viele Nutzerinnen und den wirtschaftlichen Massnahmen und deren Folgen. Nutzer mit einem breiten oder wenig spezifischen Beispiele sind die Debatte zur finanziellen Unterstüt- Netzwerk auf Twitter. Die Mainstream-Communitys zung der Swiss durch den Bund (#savepeoplenotpla- der Deutschschweiz und der Suisse romande haben die nes) oder zum Dividendenverbot. meisten Tweets verfasst. Von geringerer Bedeutung ist Als grösster Unterschied zwischen den Sprachregionen die Mainstream-Community des Tessins. Die Nutze- fällt der Bezug zum jeweiligen Nachbarland auf. Dieser rinnen und Nutzer der französisch- und der italie- kommt dadurch zustande, dass Tweets von ausländi- nischsprachigen Schweiz waren aber überdurchschnitt- schen Userinnen und Usern in der gleichen Sprache lich aktiv. Ihr Anteil am Tweetvolumen ist deutlich innerhalb der Schweiz retweeted werden (externe Ret- höher als ihr Anteil an den Unique Usern. weets). Im Tessin dominiert der Bezug zu Italien Von hoher Bedeutung sind auch international orien- (#coronavirusitalia), in der Suisse romande zu Frank- tierte Communitys, die meist einen professionellen reich (#coronavirusfrance) und in der Deutschschweiz oder institutionellen Bezug zur Schweiz haben. Zen- zu Deutschland (#covid19de). Spezifisch für die tral ist mit Bezug zu Covid-19 die NGO-Geneva- Suisse romande war das Zählen der Lockdown-Tage Community, mit der WHO als prominenten Account (#confinementjour1 usw.). Dieser Hashtag wurde in (Sitz in Genf), sowie die WEF-Community. Eine zen- Frankreich lanciert und zeigt exemplarisch die starke trale Rolle spielt zudem die Wissenschaft mit promi- Vernetzung der sprachregionalen Schweizer Twitter- nenten Forscherinnen und Forschern, die sich über Sphären mit denjenigen der Nachbarländer. Twitter zu Wort melden. Wirtschaftszweige wie der Finanzsektor, der Tourismus, die Kommunikations- 3.3 Covid-19 in den User-Communitys branche oder die zu Digital Switzerland zusammenge- Auf sozialen Medien wie Twitter bewegen sich Nutze- fasste Industrie 4.0 sind weitere bedeutende Nutzer- rinnen und Nutzer mit ganz unterschiedlichen Ansich- gruppen. Im Weiteren sind die Accounts der Behörden ten, Motiven und Präferenzen. Über Netzwerkanalysen und von zentralen Infrastrukturorganisationen können die Accounts auf Twitter anhand ihrer (Schutz und Rettung, öffentlicher Verkehr, Healthcare) Beziehungen untereinander, sogenannten Follower- präsent. Die Sport-Community, mit Roger Federer als
8 Community Anteil Tweets in % Anteil Unique User in Typische User % Mainstream Deutschschweiz 30,76 27,81 @NZZ, @srfnews, @viktorgiacobbo Mainstream Suisse romande 22,65 16,38 @RTSinfo, @DariusRochebin, @ChristianLevrat NGO Geneva 15,10 8,75 @WHO, @UNHumanRights, @ICRC Mainstream Ticino 5,17 2,93 @RSIonline, @CdT_Online, @MarcoRomanoPPD Wissenschaft 4,83 7,70 @EPFL, @ETH, @UNIGEnews Digital Switzerland 4,73 10,68 @Swisscom_de, @digitec_de, @dgt_switzerland Finanzsektor 3,.23 3,93 @UBSschweiz, @FintechCH, @finews_ch Tourismus 2,83 3,01 @Switzerland Tourism, @zermatt_tourism, @regionduleman Geneva Youth 2,37 4,30 1) Sport 1,61 3,47 @Rogerfederer, @SteffiBuchli, @YannSommer1 Kommunikationsbranche 1,12 2,33 @swissmarketing Behörden 0,94 0,83 @BR_Sprecher, @ignaziocassis, @vbs_ddps WEF 0,89 0,61 @wef, @DavosCongress, @openforumwef Healthcare 0,85 1,02 @BAG_OFSP_UFSP, @UniSpitalBasel, @santesuisse Schutz und Rettung 0,56 0,79 @StadtpolizeiZH, @Bern_Stadt, @Alertswiss Kunst 0,53 0,59 @ArtBasel, @Fond_Beyeler, @KunsthalleZH Öffentlicher Verkehr 0,52 0,72 @Sbbnews, @PostAuto, @vbz_zueri_linie Musik 0,45 1,41 @Ticketcorner, @gurtenfestival, @Mx3music E-Sports 0,43 2,26 @eSportsCH, @esportsleaguech @switzerlanCH Kirche 0,42 0,48 @Kathch, @AbtUrban, @refpunktch Tabelle 1: Übersicht zu den Communitys Die Tabelle zeigt die 20 analysierten Communitys im Diskurs zu Corona. Ausgewiesen sind die jeweiligen Anteile der Communitys am Tweetvolumen und an den Unique Usern sowie drei typische, einflussreiche Twitter-Accounts. 1) Typische User sind überwiegend junge Erwachsene. Daher werden keine Accounts ausgewiesen prominentesten User, hat überraschend viele Tweets bar auch zu einer frühzeitigen Aktivität auf Twitter verfasst. Die E-Sports-Community, die Kunst- und geführt. Die meist international orientierten Nutzerin- Musikszene sowie die Kirchen waren im Covid-19- nen und Nutzern der NGO-Community und der Diskurs auf Twitter vergleichsweise wenig aktiv. WEF-Community gehören ebenfalls zu den Ersten, die über Corona auf Twitter diskutierten. Früh präsent im 3.4 Zeitliche Aktivierung der Communitys Diskurs waren die Healthcare-Community, zu der das Covid-19 war nicht in allen Communitys gleich früh Bundesamt für Gesundheit (BAG) gehört, und die ein Thema. Die Communitys wurden deshalb gemäss Wissenschafts-Community. Ähnlich verhielten sich die der Aktivität der Nutzerinnen und Nutzer geordnet Mainstream-Communitys der beiden grossen Sprach- (vgl. Darstellung 6). Den Schwellenwert haben wir für regionen, die sich bereits früh mit dem Coronavirus unsere Analyse bei 2,5% der Population definiert, um beschäftigten, wobei die Suisse romande vor der den Diffusionsprozess der Corona-Debatte in den ein- Deutschschweiz eine erhöhte Aktivität verzeichnete. zelnen Communitys aufzuzeigen. Damit können wir Die Behörden, darunter viele Accounts von Bundesrä- eine Aussage dazu treffen, in welchen Communitys das ten und ihren Departementen, rangieren im Mittelfeld. Virus früh ein Thema war und wo es schnell populär Eher spät aktiv wurden die Wirtschafts-Communitys. wurde. Als Letzte nahmen Nutzerinnen und Nutzer aus Nut- Als Erstes wurde die Mainstream-Community des zergruppen am Corona-Diskurs teil, die vor allem vom Tessins aktiviert. Die im Vergleich zum Rest der Verbot von Grossanlässen betroffen waren. Dazu gehö- Schweiz frühe Betroffenheit durch Covid-19 hat offen- ren die Sport-, Musik- oder die Kirchen-Community.
9 Darstellung 6: Aktivierung der Communitys Die Darstellung zeigt für die einzelnen Communitys die Aktivierung der User in der Debatte zum Coronavirus. Die Höhe der Kurven gibt den täglichen Zuwachs an User, die zum ersten Mal zum Coronavirus getweeted haben, an (normalisiert pro Community). Je weiter oben eine Community, desto eher wurden die ersten 2,5% der User/innen aktiv. Der Farbverlauf gibt die Diffusion der Debatte in der Community an. Sport etwa über die Einstellung der Fussball- und Eis- nimmt also im Laufe der Zeit zu. Am höchsten ist die hockeyligen, Tourismus über die Einschränkungen in Innenorientierung bei den Communitys von Behör- Hotellerie und Gastronomie. den, insbesondere bei Schutz und Rettung sowie Healthcare. In den Mainstream-Communitys des Tes- 3.5 Interne vs. externe Orientierung sins und der Suisse romande sind interne Inhalte weni- Die verschiedenen Communitys wurden nicht nur zu ger bedeutend als in der Deutschschweiz. In allen drei unterschiedlichen Zeitpunkten aktiv, sondern auch Mainstream-Communitys ist zudem eine Tendenz zu unterschiedlich stark durch externe Inhalte beeinflusst. mehr internen Retweets über die Zeit erkennbar. Nur Über die Auswertung der Retweets können wir bestim- die NGO-Geneva-Community, zu der die WHO men, wie wichtig Inhalte von Schweizer im Vergleich gehört, weist über den gesamten Zeitraum eine leicht zu ausländischen Nutzerinnen und Nutzer sind. Dazu sinkende interne Orientierung auf. bestimmten wir das Verhältnis von internen zu exter- nen Retweets pro Community und Tag. Die Commu- 3.6 Wer bestimmt den Diskurs in den drei nitys wurden nach ihrem durchschnittlichen Anteil Mainstream-Communitys? interner Tweets aufgeführt (vgl. Darstellung 7). Auch auf Social Media gibt es Meinungsführende, die Generell zeigt sich ein Trend zu einer höheren internen den Diskurs stärker prägen können als andere Nutzerin- Orientierung in den Communitys. Die Bedeutung der nen und Nutzer. Für die drei Mainstream-Communitys Tweets von Schweizer Nutzerinnen und Nutzern der Deutschschweiz, der Suisse romande und des Tes-
10 Darstellung 7: Interne Orientierung in den Communitys Die Darstellung zeigt die interne Orientierung der Communitys über die Zeit auf Tagesbasis. Dazu wurde pro Community das Verhältnis von internen und externen Retweets ermittelt. sins haben wir deshalb untersucht, welche Akteure den desto öfter wurden sie von den gleichen Akteuren ret- Diskurs zu Corona am stärksten bestimmten. Dazu weeted. Die Netzwerkstruktur gibt somit auch Aus- haben wir pro Sprachregion ein sogenanntes Retweet- kunft darüber, welche Cluster von Akteuren innerhalb Repertoire ermittelt und über Netzwerke visualisiert des Netzwerks von den gleichen Nutzern beachtet wer- (vgl. Abbildungen 8-10). Pro Community wurden den. Die Accounts im Netzwerk gruppieren sich nach dafür jeweils die 90 Accounts dargestellt (254 spezifi- politischen, thematischen und geografischen Eigen- sche Accounts), die am meisten Retweets verzeichne- schaften. ten. Je grösser ein Account abgebildet ist, desto öfter Es gibt Akteure, die für alle drei Sprachregionen eine wurde er von den Nutzerinnen und Nutzer der Com- ähnlich hohe Bedeutung haben. So nimmt das Bundes- munity retweeted. Je näher sich die Accounts sind, amt für Gesundheit (BAG) in allen drei Sprachregio-
11 Darstellungen 8–10: Retweet-Repertoires pro Sprachregion Die Darstellungen zeigen die Retweet-Repertoires für die Mainstream Communitys einzelnen Sprachregionen. Dazu wurden für jede der drei Gruppen die 90 Accounts, die am meisten retweeted wurden, über ein Netzwerk visualisiert. Je grösser die Labels, desto öfter wurde ein Account retweeted. Je näher die Accounts sind, desto öfter werden sie von den gleichen Nutzerinnen und Nutzern retweeted.
12 Darstellung 11: Bedeutung von Desinformation im Diskurs zum Coronavirus Die Darstellung zeigt das Follower-Netzwerk für alle Nutzerinnen und Nutzer, die zu Covid-19 getweeted haben (n = 56 051). Blau markiert sind Nutzerinnen respektive Nutzer, die mindestens einmal einen Tweet mit einer Referenz zur Entwicklung einer biologischen Waffe in einem Labor in Wuhan (links; 0,3%), zur 5G-Technologie (Mitte;1,9%) oder zum Tragen einer Maske (rechts; 12,1%) verfasst haben. nen eine zentrale Rolle ein. Auch die Accounts der et al., 2020; Depoux et al., 2020). Bislang deuten Stu- Bundesräte (Alain Berset, Simonetta Sommaruga, dien darauf hin, dass Desinformation in der Schweiz Ignazio Cassis) und des Bundesratssprechers werden kein grösseres Problem darstellt (fög, 2019). Corona über die Sprachgrenzen hinweg stark beachtet. Diese hat aber das Thema Desinformation stärker auf die Accounts tweeten oft in mehreren Landessprachen und Agenda gebracht, da auch in der Schweiz Falschnach- fungieren somit auf Twitter als Brückenbauer zwischen richten und Verschwörungstheorien zirkulieren und den Sprachregionen. Dies gilt insbesondere auch für Leitmedien teilweise darüber berichteten. die drei News-Accounts der SRG SSR. Wir haben die Bedeutung von Desinformation anhand Tweets von Journalistinnen und Journalisten sowie von zwei prominenten Beispielen untersucht. Das erste Nachrichtenmedien, allen voran die Qualitätsmedien Beispiel besagt, dass 5G-Antennen zur Verbreitung von NZZ und Le Temps, werden oft weiterverbreitet. Sie Covid-19 beitragen. Dies ist nachweislich falsch. Das finden ihr Publikum auf Twitter jedoch vorwiegend im zweite Beispiel behauptet, dass Covid-19 als biologi- jeweiligen Sprachraum. In ihrer Sprachregion stark sche Waffe in einem Labor in Wuhan entwickelt wurde. beachtet sind zudem die Accounts von kantonalen Es handelt sich dabei um eine in den Medien disku- Behörden (Zürich, Genf oder Waadt) und Wissen- tierte Verschwörungstheorie, für die es bisher keine schaftlern wie Marcel Salathé oder Didier Pittet. In der stichhaltigen Beweise gibt. Mit Stichwortsuchen haben Deutschschweiz werden vergleichsweise oft Inhalte von wir die Tweets mit Referenz zu den beiden Beispielen einzelnen Politikern (Cédric Wermuth oder Roger im Datensatz ermittelt. Damit das Ausmass der Ver- Köppel) retweeted, diese werden jedoch aus politi- breitung dieser zwei Themen besser eingeordnet wer- schen Gründen nicht von den gleichen Nutzerinnen den kann, haben wir zusätzlich als Referenzgrösse die und Nutzern innerhalb der Community retweeted. Die Tweets erfasst, die das Tragen einer Maske zum Schutz Analyse berücksichtigt auch Retweets von ausländi- gegen das Coronavirus thematisierten. Dabei handelt schen Accounts (externe Retweets). In allen drei es sich nicht um eine Falschnachricht, aber um ein Sprachregionen werden Accounts aus den Nachbarlän- kontrovers diskutiertes Thema. Damit erhalten wir dern oft retweeted. Dabei werden Tweets von Informa- einen Vergleich zu einem allgemeineren Thema und tionsmedien wie Der Spiegel, Le Monde oder La können eine Aussage darüber machen, ob die erfassten Repubblica besonders stark weiterverbreitet. Werte zu den beiden Verschwörungstheorien als hoch oder tief einzustufen sind. 3.7 Die Rolle von Desinformation Abbildung 11 zeigt das Follower-Netzwerk für alle Im Kontext der Corona-Pandemie wurde die Rolle von Accounts, die mindestens einen Tweet zum Coronavirus Falschnachrichten und Verschwörungstheorien auf verfasst haben. Blau markiert sind diejenigen Nutze- Social Media intensiv diskutiert und erforscht (Boberg rinnen und Nutzer, die in mindestens einem Tweet eine
13 Referenz zu den drei Themen gemacht haben. Das lyse der Twitter-Sphäre über die soziale Netzwerkana- Tweeten zu Verschwörungstheorien und Falschnach- lyse bietet dabei einen grossen Mehrwert. Das richten heisst nicht, dass die Nutzerinnen und Nutzer Coronavirus hat die Communitys unterschiedlich früh daran glauben. Im Gegenteil: Oftmals sind es Tweets, und intensiv beschäftigt. Die Diskussion auf Twitter hat die die Behauptungen relativieren oder entkräften dabei einen deutlichen Bezug zur Realität: Die Com- (sogenanntes Debunking). Die Analyse zeigt aber, wie munity aus dem Tessin, das in der Schweiz zuerst und präsent diese Themen in der Schweizer Twitter-Sphäre am stärksten vom Virus betroffen war, hat intensiver sind. Zu 5G haben lediglich 1,9% der Nutzerinnen und und früher zum Thema getwittert. Trotz der globalen Nutzer getweeted, zum Wuhan-Labor sogar nur 0,3%. Auswirkung der Pandemie findet im Zeitverlauf zudem Zur Maske haben sich hingegen 12,1% aller Twitterin- eine Fokussierung auf nationale Akteure statt. Inhalte nen und Twitterer geäussert. Gemäss dieser Auswer- der Schweizer Nutzerinnen und Nutzer finden beson- tung ist Desinformation in der Schweizer Twitter- dere Beachtung und Themen mit Bezug zur Schweiz Sphäre ein nachrangiges Problem. Es sind zwar Signale werden stärker verhandelt. Dieser Trend konnte bei fast für Falschinformationen vorhanden, die jedoch von allen Communitys aufgezeigt werden. peripherer Natur sind. Eine manuelle Validierung der Im Diskurs zu Corona auf Twitter gehören Journalis- meistbeachteten Tweets zu 5G und der Verschwörungs- tinnen und Journalisten sowie Informationsmedien, theorie des Wuhan-Waffenlabors hat zudem ergeben, darunter insbesondere der öffentliche Rundfunk, zu dass die meisten Tweets sich kritisch oder scherzhaft den wichtigsten Meinungsführern. Auch etablierte dazu äussern. Akteure wie Behörden sowie Bundesrätinnen und Bun- desräte, die schon immer Zugang zu Publizität hatten, 4 Fazit sind wichtig. In unserer Analyse der wichtigsten geteil- Wahrscheinlich hat selten zuvor ein Ereignis die ten Informationsquellen wird deutlich, dass die Behör- Schweizer Medienlandschaft so geprägt wie das Coro- den und die Regierung online zu den wichtigsten Infor- navirus. Es handelt sich um das erste globale Krisen- mationsquellen der Schweizer Twitter-Sphäre gehören. ereignis, das in einem digitalisierten Medienumfeld Doch Twitter ermöglicht auch anderen Akteuren, Reso- stattfindet und von dem die Schweiz unmittelbar nanz zu finden. Wissenschaftlerinnen und Wissen- betroffen ist. Dementsprechend wissen wir noch wenig schaftler wie Marcel Salathé gehören zu den wichtigen darüber, wie solche Krisen auf sozialen Medien wie Meinungsführern und haben Twitter dazu genutzt, um Twitter diskutiert werden, welche Dynamiken dabei ihre Meinung zu verbreiten. Social Media wie Twitter entstehen und welche Akteure mit welchen Themen die verändern so die Agenda-Setting-Prozesse grundlegend Debatte prägen können. Diese Studie leistet einen Bei- (Vogler et al., 2019). trag dazu, um solche Krisen auf sozialen Medien besser Gemäss unserer Studie ist Desinformation – in unserer zu verstehen. Sie zeichnet dabei ein umfassendes Bild Studie über offensichtliche Falschnachrichten erfasst – der Twitter-Kommunikation im Kontext von Corona. ein nachgelagertes Problem in der Schweizer Twitter- Unsere Resultate zeigen, dass auf Twitter viel über das Sphäre (vgl. auch fög 2019). Die Verbreitung von Des- Virus diskutiert wurde. Mit dem verwendeten Ansatz information dürfte eher über private Kanäle und können wir die Twitter-Aktivität zu Corona mit der in geschlossenen Gruppen stattfinden, etwa über Aktivität zu anderen Themen vergleichen. Das ist ein WhatsApp oder auf Facebook. Unsicherheiten in der grosser Vorteil. Unsere Studie zeigt, dass nicht nur eine Bevölkerung müssen jedoch nicht nur durch gezielte Fokussierung auf das Thema stattfand, sondern die Desinformation entstehen. Das Gegenbeispiel zum Tra- Krise einen signifikanten Einfluss auf das Gesamtvolu- gen einer Maske ist keine Falschnachricht. Trotzdem men der Tweets hatte. Das Thema hat die Debatte zwar wurde kontrovers über den Nutzen der Maske disku- geprägt, die Mehrheit der Tweets weist jedoch keinen tiert, auch auf Twitter. Es kursierten verschiedene, oft expliziten Bezug zum Virus auf. Das heisst, es gab auch widersprüchliche Meinungen dazu. Gerade solche Bei- in der heissen Phase mehr Tweets zu Corona-Fremden spiele zeigen, wie wichtig fundierte, journalistische Ein- Themen. ordnung in Krisenzeiten ist. Sie verdeutlichen zudem, Die Analyse verdeutlicht weiter, dass Twitter-Nutzerin- dass in manchen Situationen Behörden und politische nen und Nutzer keine homogene Masse sind. Die Ana- Akteure offener mit Unsicherheit umgehen sollten, da
14 eine falsch vermittelte Sicherheit ohne validierte empi- Schultz, F., Utz, S., & Göritz, A. (2011). Is the medium the message? Perceptions of and reactions to crisis communica- rische Evidenz zu einem Vertrauensverlust führen kann. tion via twitter, blogs and traditional media. Public Relations Unser Ansatz ermöglicht eine umfassende und trotz- Review, 37, 20–27. dem zielgenaue Analyse der Schweizer Twitter-Sphäre. https://doi.org/10.1016/j.pubrev.2010.12.001 Die Studie hat dennoch ihre Grenzen. Nutzerinnen und Sommariva, S., Vamos, C., Mantzarlis, A., Đào, L. U.-L., & Nutzer, die sich auf Twitter anonym bewegen oder Martinez Tyson, D. (2018). Spreading the (Fake) News: keinen direkten Bezug zur Schweiz in den Account- Exploring Health Messages on Social Media and the Implications for Health Professionals Using a Case Study. Informationen ausweisen, fehlen in unseren Daten. Nur American Journal of Health Education, 49, 246-255. sehr populäre Accounts, die oft retweeted wurden, doi:10.1080/19325037.2018.1473178 konnten wir manuell überprüfen und wenn nötig Strekalova, Y. A. (2017). Health Risk Information Engagement ergänzen. Twitter wird zudem in der Schweiz von ver- and Amplification on Social Media. Health Education & gleichsweise wenigen Personen genutzt. Von Twitter Behavior, 44, 332–339. https://doi. kann und soll deshalb nicht auf die Gesamtpopulation org/10.1177/1090198116660310 geschlossen werden. Trotzdem ist Twitter wichtig, da Vogler, D, Rauchfleisch, A. (2017). Twitter-Netzwerkanalyse #ES2050. Meinungsführende das soziale Netzwerk nutzen. Sie Vogler, D., Rauchfleisch, A., Eisenegger, M.; Schwaiger, L. informieren sich über Twitter und nutzen es zur Ver- (2019). Agenda-Setting auf Twitter – welche Rolle spielen breitung ihrer Ansichten und Meinungen. Twitter Informationsmedien in der Schweizer Twitter-Sphäre? In: nimmt somit im Meinungsbildungsprozess eine wich- fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft / tige Rolle ein. Universität Zürich (Ed.): Qualität der Medien. Schweiz - Suisse - Svizzera. Jahrbuch 2019. Basel: Schwabe, 47–57. https://doi.org/10.5167/uzh-177417 Literatur Vogler, D.; Eisenegger, M.; Schneider, J.; Hauser, L.; Udris, L. Boberg, S., Quandt, T., Schatto-Eckrodt, T., & Frischlich, L. (2019). Qualität von Schweizer Informationsmedien im (2020). Pandemic Populism: Facebook Pages of Alternative Zeitverlauf. In: fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und News Media and the Corona Crisis-A Computational Gesellschaft / Universität Zürich (Ed.): Qualität der Medien. Content Analysis. arXiv:2004.02566 Schweiz – Suisse – Svizzera. Jahrbuch 2019. Basel: Schwabe, Brodersen, K. H., Gallusser, F., Koehler, J., Remy, N., & Scott, S. 85–96. DOI: 10.5167/uzh-172860 L. (2015). Inferring causal impact using Bayesian structural time-series models. The Annals of Applied Statistics, 9, 247-274. DOI:10.1214/14-AOAS788 Depoux, A., Martin, S., Karafillakis, E., Preet, R., Wilder-Smith, A., & Larson, H. (2020). The pandemic of social media panic travels faster than the COVID-19 outbreak. Journal of Travel Medicine, 27, https://doi.org/10.1093/jtm/taaa031 Eriksson, M., & Olsson, E. K. (2016). Facebook and Twitter in crisis communication: A comparative study of crisis communication professionals and citizens. Journal of Contingencies and Crisis Management, 24, 198-208. https://doi.org/10.1111/1468-5973.12116 fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich (2019). Basel: Schwabe. Rauchfleisch, A., Artho, X., Metag, J., Post, S., & Schäfer, M. S. (2017). How journalists verify user-generated content during terrorist crises. Analyzing Twitter communication during the Brussels attacks. Social Media+ Society, 3, https://doi.org/10.1177/2056305117717888. Rosvall, M., & Bergstrom, C. T. (2008). Maps of random walks on complex networks reveal community structure. Proceedings of the National Academy of Sciences, 105, 1118-1123. https://doi.org/10.1073/pnas.0706851105
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