Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN

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Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
Informationsdienst
Naturschutz
Niedersachsen      2/2020

Niedersächsischer Landesbetrieb für
Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz

Thorsten Krüger, Jürgen Ludwig, Gregor Scheiffarth &
Thomas Brandt

Quantitative Kriterien zur
­Bewertung von Gastvogel­
 lebensräumen in Niedersachsen
– 4. Fassung, Stand 2020 –
Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
Inform.d. Naturschutz Niedersachs.                       39. Jg.            Nr. 2           49-72                 Hannover                      2020

Quantitative Kriterien zur Bewertung von
­Gastvogellebensräumen in Niedersachsen
4. Fassung, Stand 2020

von Thorsten Krüger, Jürgen Ludwig, Gregor Scheiffarth & Thomas Brandt

Inhalt

1          Einleitung                                              50         5        Zusammenfassung                                       62

2          Methode und Datengrundlage                              53         6        Summary                                               62
2.1        Begriffserklärungen und Definitionen                    53
2.2        Datengrundlage                                          56         7        Literatur                                             63

3          Herleitung und Anwendung der Kriterien 58                          Anhang                                             67
                                                                              Tabelle „Quantitative Kriterien für die einzelnen Arten“
4          Dank                                                    61

1 Einleitung

Für Niedersachsen erfolgte 1997 eine umfangreiche                             tiven Kriterien. Damit liefert es eine wesentliche Grund-
Aktualisierung der quantitativen Kriterien zur Bewer-                         lage für die Identifizierung von naturschutzfachlich
tung von Gastvogellebensräumen (BURDORF et al. 1997).                         bedeutsamen Gebieten, die dann u. a. in den Regionalen
Mit dieser Aktualisierung war auch eine methodische                           Raumordnungsprogrammen, den Landschaftsrahmenplä-
Weiterentwicklung des ursprünglich von BERNDT et al.                          nen sowie in der Bauleitplanung und bei der Beurteilung
(1985) entwickelten Verfahrens verbunden. Seither hat                         von Eingriffsvorhaben Berücksichtigung finden. Einige
sich diese Bewertungsmethode zu einem erfolgreichen                           Beispiele können dies verdeutlichen:
und unverzichtbaren Instrument in der Naturschutzpra-                         „„ Für die Aufstellung der Landschaftsrahmenpläne wer-
xis des Landes Niedersachsen entwickelt (KRÜGER et al.                           den standardmäßig die Bewertungen der im Pla-
2010, 2013). Es zählt gemeinsam mit seinem Pendant zur                           nungsraum befindlichen Brut- und Gastvogellebens-
Bewertung von Vogelbrutgebieten*) (BEHM & KRÜGER                                 räume bei der Staatlichen Vogelschutzwarte abge-
2013) zu den wohl am häufigsten angewandten natur-                               fragt. Diese Kenntnisse über avifaunistisch wertvolle
schutzfachlichen Bewertungsverfahren.                                            Gebiete fließen in die Planwerke ein (vgl. HECKEN-
   Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Kriterien regel-                       ROTH 1994, DAHL et al. 2000) und sind damit Grund-
mäßig fortgeschrieben und an Bestandsveränderungen                               lage für gebietsbezogene Schutz-, Pflege- und Ent-
der Gastvogelpopulationen angepasst werden m     ­ üssen.                        wicklungsmaßnahmen sowie für die Berücksichti-
Seit Veröffentlichung der 3. Fassung der Kriterien (KRÜ-                         gung der Naturschutzziele in anderen Fachplanungen
GER et al. 2010, 2013), welche sich auf Gastvogelbe-                             und Flächennutzungen. Es gibt einen steten, großen
stände im Zeitraum von 2003 bis 2007 beziehen, sind                              Bedarf an diesen planungsrelevanten Informationen,
z. T. deutliche Veränderungen der Bestandsgrößen eini-                           so dass eine Übersicht über die wertvollen Gastvogel-
ger Gastvogelpopulationen in den verschiedenen, dem                              lebensräume des Landes auf der Webseite des Nieder-
Bewertungsverfahren zugrunde liegenden Bezugsräu-                                sächsischen Umweltministeriums abgerufen werden
men zu verzeichnen. In Niedersachsen sind seither z. B.                          kann (MINISTERIUM FÜR UMWELT, ENERGIE, BAUEN
die Bestände von Schnatterente (Mareca strepera), Hau-                           UND KLIMASCHUTZ 2020).
bentaucher (Podiceps cristatus) und Silberreiher (Ardea                       „„ Bei der Standortplanung und Genehmigung von
alba) deutlich angestiegen bzw. die von Pfeifente (M.                            Windenergieanlagen entfaltet das Bewertungsver-
penelope), Sichelstrandläufer (Calidris ferruginea) und                          fahren z. B. insofern Bedeutung, als die Empfehlun-
Silbermöwe (Larus argentatus) moderat bis stark zurück-                          gen des Niedersächsischen Landkreistages zu wei-
gegangen.                                                                        chen Tabuzonen zur Steuerung der Windenergienut-
   Das Bewertungsverfahren ermöglicht eine objektive                             zung mit Ausschlusswirkung in Regionalen Raum-
und differenzierte Bewertung von Gastvogellebensräu-                             ordnungsprogrammen seit vielen Jahren unmittelbar
men auf der Grundlage von nachvollziehbaren quantita-                            an die Bedeutungsstufen von Gastvogellebensräu-

*)   Das Bewertungsverfahren für Vogelbrutgebiete (BEHM & KRÜGER 2013) hat weiterhin Gültigkeit, bis eine aktualisierte Fassung veröffentlicht wird.

                                                                                                             Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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men anknüpfen (NIEDERSÄCHSISCHER LANDKREIS-                                  chenden Gebieten weitere Gastvogelarten in Bestän-
   TAG 2014). Dies ist von entscheidender Bedeutung, da                         den von nationaler Bedeutung vor, so wurden diese
   gerade Gastvögel gegenüber solchen technischen Bau-                          ebenfalls als für das Gebiet wertbestimmende Arten
   werken als besonders störempfindlich gelten und –                            benannt und bei der Abgrenzung des Vogelschutzge-
   mit artspezifischen Unterschieden – Räume meiden, in                         biets berücksichtigt.
   denen Windenergieanlagen errichtet wurden (Über-
   sicht: HÖTKER et al. 2004, HÖTKER 2006). Seit 2016                       Für den Schutz wandernder Vogelarten reicht es nicht
   wird dieser Ansatz indirekt auch im sog. Windenergie-                    aus, Brutgebiete und Überwinterungsquartiere einzeln
   erlass des MINISTERIUMS FÜR UMWELT, ENERGIE UND                          oder nur regional zu sichern, sondern es bedarf eines
   KLIMASCHUTZ (2016) zugrunde gelegt.                                      Netzes von Gebieten entlang ihrer Zugwege, in denen
   In die gleiche Richtung zielen bundesweit einheitliche                   sie ohne Störung rasten, Nahrung aufnehmen, mausern
   Empfehlungen der LÄNDERARBEITSGEMEINSCHAFT                               und Energiereserven für den Weiterzug, die Rückkehr
   DER VOGELSCHUTZWARTEN (2014), die neben artspe-                          in die Brutgebiete und die anschließende Brut ansam-
   zifischen Mindestabständen zu Gastvogelvorkommen                         meln können. Daraus ergibt sich das Erfordernis, nicht
   entsprechende Abstände für Gastvogellebensräume                          nur an den Schwerpunkten des Zug- und Rastgeschehens
   von landesweiter bis internationaler Bedeutung emp-                      für einen wirkungsvollen Schutz zu sorgen, wie z. B. im
   fehlen und damit ebenfalls unmittelbar auf das nie-                      Wattenmeer oder an den großen Binnenseen, wo auch
   dersächsische Bewertungsverfahren zurückgehen.                           jedem Laien angesichts der viele tausend Individuen
„„ Auch für andere raumbedeutsame Planungen ist das                         umfassenden Vogelschwärme die Bedeutung der Gebiete
   Bewertungsverfahren von hoher Relevanz. Besondere                        unmittelbar einsichtig wird. Es gilt, auch solche Gebiete
   Bedeutung kommt Gastvogellebensräumen dabei z. B.                        als bedeutsam für Gastvögel zu erkennen, die geringere
   bei der Planung und Genehmigung von Energielei-                          Anzahlen aufweisen. Vor allem im Binnenland sollen auf
   tungstrassen, Verkehrswegen, Bauten im Außenbe-                          diese Weise Gebiete mit lebensnotwendiger Trittstein-
   reich – v. a. Stall- und sonstige landwirtschaftliche                    funktion ermittelt werden, z. B. für Arten, die generell
   Anlagen – oder Bodenabbau-Projekten zu.                                  keine großen Ansammlungen bilden.
„„ Zur Umsetzung der Europäischen Vogelschutzrichtlinie                        Durch die Aufstellung von quantitativen Kriterien zur
   (RL 2009/147/EG) in Niedersachsen sind die quantitati-                   Bewertung auf unterschiedlichen Ebenen, von interna­
   ven Kriterien zur Bewertung von Gastvogellebensräu-                      tional, national, landesweit, regional bis lokal, und
   men ein Kriterium bei der fachlichen Identifizierung                     zusätzlich unter Berücksichtigung des unterschiedlichen
   von Europäischen Vogelschutzgebieten. Es wurden all                      Verbreitungsmusters der Gastvogelarten in Niedersach-
   jene Gebiete vorgeschlagen, in denen mindestens eine                     sen wird diese Differenzierung möglich. Inzwischen wur-
   Gastvogelart des Anhanges I oder eine Zugvogelart                        den auch in anderen Bundesländern entsprechende Kri-
   gem. Art. 4 Abs. 2 der Europäischen Vogelschutzricht-                    terien und Schwellenwerte definiert und zur Bewertung
   linie den Kriterienwert für internationale Bedeutung                     der dortigen Gastvogellebensräume zugrunde gelegt
   erreicht (KRÜGER et al. 2003). Kamen in den entspre-                     (SUDMANN et al. 2017, HENNICKE 2018). Bei den Zahlen

Abb. 1: Der Rastbestand der Pfeifente ist in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Hooksiel, Januar 2017 (Foto: Thorsten Krüger)

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für Niedersachsen wird darüber hinaus die besondere                        zend für Fische und 2005 für weitere ökologisch von
niedersächsische Verantwortung im nationalen Kontext                       Feuchtgebieten abhängige Tierarten). Grundlage der
für jene Arten berücksichtigt, die in Niedersachsen einen                  Bewertung blieb dabei das „1 %-Kriterium“. Es besagt,
Vorkommensschwerpunkt haben.                                               dass ein Gebiet von internationaler Bedeutung für eine
   Ausgangspunkt der Ermittlung und Anwendung                              feuchtgebietsgebundene Vogelart ist, wenn sich dort
quantitativer Kriterien für Gastvogellebensräume ist das                   regelmäßig mindestens 1 % der entsprechenden biogeo-
„Übereinkommen über Feuchtgebiete, insbesondere als                        graphischen Population aufhält (RAMSAR CONVENTION
Lebensraum für Wasser- und Watvögel, von internatio-                       SECRETARIAT 2006).
naler Bedeutung“ (Ramsar-Konvention) vom 2. Februar                            Nach der Ramsar-Konvention können nicht nur quan-
1971, das 1976 in der Bundesrepublik Deutschland mit                       titative Kriterien bei der Bewertung von Feuchtgebieten
der Meldung der ersten Feuchtgebiete internationaler                       zugrunde gelegt werden, sondern auch halbquantita-
Bedeutung in Kraft trat. Die Konvention führt aus, dass                    tive und qualitative ökologische Kriterien. Diese Arbeit
„in erster Linie Feuchtgebiete, die während der Jahres-                    befasst sich jedoch ausschließlich mit der A­ ktualisierung
zeiten im Hinblick auf Wat- und Wasservögel von inter-                     der quantitativen Kriterien. Sie stellen somit nur eine
nationaler Bedeutung sind, in die Liste aufgenommen                        Möglichkeit der Identifizierung von F­ euchtgebieten
werden“ sollen (Art. 2 Abs. 2).                                            internationaler Bedeutung dar (vgl. DAVIS 1996,
   Erste quantitative Kriterien wurden bereits anlässlich                  ­RAMSAR CONVENTION SECRETARIAT 2006).
der Konferenz 1971 in Ramsar für Entenvögel vorge-                             Hauptziel dieser Arbeit ist die Aktualisierung der Kri-
schlagen (ATKINSON-WILLES 1972), verabschiedet wur-                         terienwerte. Daneben wird an dieser Stelle ihre Herlei-
den diese Kriterien als Empfehlung jedoch erst 1974 auf                     tung differenziert erläutert und um einige Definitionen
der Folgekonferenz in Heiligenhafen (AKTINSON-WILLES                        und Begriffserklärungen ergänzt, damit Nachvollzieh-
1976, PRATER 1976). Sie wurden 1980 auf der Vertrags-                       barkeit, Transparenz und Akzeptanz des Verfahrens auch
staatenkonferenz von Cagliari überarbeitet und offiziell                    weiterhin gewährleistet sind und auf diese Weise sachli-
gebilligt. Weitere überarbeitete Fassungen des Kriterien­                   che Argumente für den Schutz der Vögel zur Verfügung
katalogs folgten auf den ­Vertragsstaatenkonferenzen                        stehen.
1987 in Regina und 1990 in Montreux (sowie 1996 ergän-

Abb. 2: Austernfischer, Alpenstrandläufer und Silbermöwen rasten bei Hochwasser dicht gedrängt auf einer Mole. Fedderwardersiel, Oktober 2017
(Foto: Thorsten Krüger)

                                                                                                         Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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2 Methode und Datengrundlage

2.1 Begriffserklärungen und Definitionen                     können sie mit einbezogen werden. Entscheidend ist,
                                                             dass durch die Abgrenzung der Feuchtgebiete interna-
Für das weitere Verständnis der in dieser Arbeit gemach-     tionaler Bedeutung alle Anforderungen der r­ elevanten
ten Angaben sind einige Erläuterungen und Definitio-         Wasservogelarten sowohl in ökologischer Hinsicht als
nen erforderlich, die sich in erster Linie auf die Identi-   auch unter Schutzaspekten erfüllt werden und den
fizierung von Feuchtgebieten internationaler Bedeu-          Erhalt der Rastbestände der jeweiligen Wasservogelarten
tung beziehen und damit die höchste Ebene der von            gewährleisten.
BURDORF et al. (1997) eingeführten fünfstufigen Bewer-          Feuchtgebiete internationaler Bedeutung können
tungsskala betreffen. Sie sind jedoch auch für die nied-     somit auch Bereiche einschließen oder sein, die keine
rigeren Bewertungsstufen bzw. für bedeutsame Gast-           Feuchtgebiete im rein hydrologischen Sinne darstellen.
vogellebensräume, die keine Feuchtgebiete im engeren         Als Beispiel für eine solche Situation sei hier das nie-
Sinne sind, von grundsätzlicher Bedeutung und Gültig-        dersächsische Wattenmeer mit den dort vorkommen-
keit.                                                        den Wasservogelarten (s. Abb. 4) angeführt, von denen
                                                             verschiedene Arten bei Hochwasser regelmäßig in die
Das 1 %-Kriterium                                            binnendeichs gelegenen Marschgebiete fliegen und
Nach der Ramsar-Konvention ist ein Gebiet für auf            dort rasten oder nach Nahrung suchen. Letztere sind als
Feuchtgebiete ökologisch angewiesene Vogelarten u. a         agrarisch geprägter Raum mit Grünland- und Ackernut-
dann von internationaler Bedeutung, wenn es regelmä-         zung in der Regel in weiten Teilen kein Feuchtgebiet im
ßig 1 % einer biogeographischen Population einer Was-        engeren Sinne, gleichwohl jedoch von herausgehobener
ser- oder Watvogelart beherbergt. Das „1 %-Kriterium“        ökologischer Bedeutung und Funktion als Gastvogel­
wurde in zahlreiche internationale Richtlinien, Überein-     lebensraum (s. Abb. 5).
kommen und Konzepte übernommen (z. B. in die Euro-              Dieser Sachverhalt ist für das Verständnis des in Nie-
päische Vogelschutzrichtlinie Art. 4 Abs. 2 oder in das      dersachsen angewandten Verfahrens von entscheidender
Abkommen zur Erhaltung der afrikanisch-eurasischen           Bedeutung, da hier der Schwerpunkt nicht ausschließlich
wandernden Wasservögel / Agreement on the Conserva-          auf der Identifizierung von Feuchtgebieten von (interna-
tion of African-Eurasian Migratory Waterbirds, AEWA).        tionaler) Bedeutung liegt, sondern die vorgelegten Kri-
                                                             terien ganz generell zur Identifizierung und Bewertung
Die biogeographische Population                              von bedeutsamen Gastvogellebensräumen herangezo-
Bezugsgrundlage der Identifizierung von Feuchtgebieten       gen werden.
internationaler Bedeutung auf Basis des 1 %-Kriteriums
bzw. allgemein der Bewertung von Gastvogellebens-            Zur Gebietsgröße
räumen sind die biogeographischen Populationen der           In den Empfehlungen für die Anwendung der Kriterien
Wasser- und Watvogelarten (nachfolgend kurz „Wasser-         der Ramsar-Konvention wird darauf verwiesen, dass es
vogelarten“, analog zu den „waterbirds“ im Sinne der         nicht möglich ist, für die Größe eines Gebietes genaue
Ramsar-Konvention), die entweder durch geographisch          Richtwerte anzugeben, jedoch sollen Feuchtgebiete,
getrennte Brutgebiete, geographisch getrennte Zug-           denen internationale Bedeutung zuerkannt wird, eine
wege oder geographisch getrennte Winterquartiere von-        ökologische Einheit bilden, also z. B. Nahrungshabitate,
einander abgegrenzt werden (vgl. ROSE & SCOTT 1994,          Schlaf- und Trinkgewässer für Schwäne, Gänse oder Kra-
1997, DELANY et al. 2009). Das Verbreitungsgebiet einer      niche und deren Verbindungsgebiete gleichermaßen
Wasservogelart kann dabei in mehrere biogeographische        berücksichtigen. Um ökologische Einheiten als solche zu
Populationen unterteilt sein und entsprechend können         erkennen, ist es notwendig, für alle Wasservogelarten
in Deutschland und Niedersachsen von ein und derselben       eines Feuchtgebiets die entsprechenden Erkenntnisse
Wasservogelart Angehörige verschiedener biogeographi-        über Raum-Zeit-Nutzungsmuster und lokale Gegebenhei-
scher Populationen regelmäßig vorkommen (WETLANDS            ten zusammenzutragen. Verfügbare Daten aus Besen-
INTERNATIONAL 2012, NAGY & LANGENDOEN 2018).                 derung, Telemetrie oder Farbmarkierung sollten dabei
WAHL et al. (2007) haben für unklare Fälle festgelegt,       unbedingt einbezogen werden (s. a. KRUCKENBERG
welche biogeographischen Populationen für Deutschland        2004). Somit können Feuchtgebiete aus einem einzigen
oder Teile von Deutschland relevant sind und zu welcher      großen Gebiet oder einer Gruppe kleinerer Feuchtge-
Jahreszeit sie zu berücksichtigen sind.                      biete bestehen, die abhängig von Wasserstand, Nah-
                                                             rungsangebot, Windverhältnissen und Störungen in ihrer
Was ist ein „Feuchtgebiet“?                                  Gesamtheit genutzt werden (RAMSAR CONVENTION
Im Hinblick auf die Identifizierung von ­Feuchtgebieten      ­SECRETARIAT 2006).
internationaler Bedeutung ist die Definition eines              Dennoch ist es in der Naturschutzpraxis, bspw. in
Feuchtgebietes weit gefasst (RAMSAR CONVENTION                Zusammenhang mit Planungsvorhaben oder zur Beur-
BUREAU 2018): alle Feuchtlebensräume, inklusive der          teilung von Eingriffen, häufig erforderlich, auch Bewer-
künstlichen oder nur temporär vorhandenen, sowie Mee-        tungen für Teile einer ökologischen Einheit vorzuneh-
resgewässer bis zu einer Wassertiefe von sechs Metern        men. Der Betrachtungsraum orientiert sich dabei in der
bei Niedrigwasser (s. Abb. 3) gelten als „Feuchtgebiete“.    Regel am Planungsgebiet oder dem Wirkraum möglicher
Wenn die an die Feuchtgebiete anschließenden Ufer-           Eingriffe. Die Abgrenzung der Bewertungsgebiete sollte
oder Küstenbereiche, Inseln etc. als Lebensraum für          sich dabei an naturräumlichen Gegebenheiten orien-
Wasservögel ebenfalls von Bedeutung sind oder in einer       tieren, d. h. Kulturlandschaftskomplexe sollten anhand
ökologischen Beziehung zu den Feuchtgebieten stehen,         im Gelände erkennbarer ökologischer Strukturen abge-

Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
Abb. 3: Zu „Feuchtgebieten“ im Sinne der RAMSAR-Konvention zählen Meeresgewässer bis zu einer Wassertiefe von sechs Metern unterhalb der
­Niedrigwasserlinie. Eiderenten vor Memmert, Mai 2020 (Foto: Josephin Erber)

Abb. 4: Auch das Wattenmeer ist ein „Feuchtgebiet“ im Sinne der RAMSAR-Konvention. Rotschenkel im Watt des Jadebusens bei Dangast, September
2019 (Foto: Thorsten Krüger)

Abb. 5: Binnendeichs angrenzende, „trockene“ Bereiche, die bei Hochwasser regelmäßig als Rastplatz genutzt werden, gelten ebenfalls als
­„Feuchtgebiete“. Brachvögel im EU-Vogelschutzgebiet „Butjadingen“ bei Waddens, März 2008 (Foto: Thorsten Krüger)

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54
Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
grenzt werden, wie z. B. Baumreihen, Hecken oder Sied-            Der Artenkorb
lungsräume. In Einzelfällen können auch größere Stra-             Die Ramsar Konvention definiert Wasservögel funkti-
ßen oder andere anthropogene Strukturen zur Begren-               onell als „Vögel, die ökologisch von Feuchtgebieten
zung herangezogen werden.                                         abhängig sind“ (Artikel 1.2). Diese Definition schließt
    Die bewerteten Teilgebiete können dann jedoch in              somit jede Feuchtgebietsvogelart ein (RAMSAR CONVEN-
ihrer jeweiligen Bedeutung die Wertigkeit des Gesamt-             TION BUREAU 2018). Auf der breiten Ebene taxonomi-
gebiets zumeist nicht erreichen. Dies ist bei der Bewer-          scher Ordnungen umfasst sie insbesondere (ohne für Nie-
tung für Gastvögel vorsorgend zu berücksichtigen. Ein             dersachsen nicht relevante Gruppen): Entenvögel (Anse-
planerischer Ansatz zur Gebietsabgrenzung darf nicht              riformes), Kranichvögel (Gruiformes), Lappentaucher
dazu führen, die ökologischen Zusammenhänge in einem              (Podicipedidae), Regenpfeifervögel (Charadriiformes),
Gebiet zu missachten. Genau das ist jedoch, wie die ver-          Seetaucher (Gaviiformes), Störche (Ciconiiformes), Ruder-
gangenen Jahre gezeigt haben, im Rahmen von räum-                 füßer (Suliformes) und Pelikanvögel (Pelicaniformes). Für
lich eng begrenzten Einzelvorhaben oft der Fall und               einzelne feuchtgebietsgebundene Vogelarten weiterer
dabei ist z. B. die Betrachtung von in Radien von 500 m           Ordnungen, wie z. B. Kuckucke (Cuculiformes), Greifvö-
um bestimmte Bauvorhaben kreisförmig abgegrenzten                 gel (Accipitriformes) oder Eulen (Strigiformes), existieren
Kleinsträumen fachlich unzulässig. Grundsätzlich müssen           keine validen Bestandsschätzungen ihrer biogeographi-
in jede Gebietsbewertung naturschutzfachliche Gesichts-           schen Populationen und entsprechend auch keine inter-
punkte gerade auch aus Vorsorgegründen mit einfließen             nationalen 1 %-Werte.
(BURDORF et al. 1997, WAHL et al. 2007).                              Für Wasservogelarten, die nicht zur heimischen
    Über den internationalen Bezug im Hinblick auf die            Avifauna zählen, das heißt aus ihrem ursprünglichen
Ausdehnung von wertvollen Gastvogellebensräumen                   Verbreitungsgebiet nicht selbstständig eingewandert
oder Aspekte in Zusammenhang mit Planungen hinaus,                sind, werden von NAGY & LANGENDOEN (2018) eben-
ist es grundsätzlich Ziel des niedersächsischen Bewer-            falls keine 1 %-Werte angegeben (z. B. bei Kanadagans
tungsverfahrens, auch Gebiete von lokaler Bedeutung               Branta canadensis, Nilgans Alopochen aegyptiaca und
zu identifizieren, die mitunter ganz spezifische Funktio-         Mandarinente Aix galericulata in Europa). Wir folgen
nen erfüllen und dabei oft lediglich von geringer Größe           hier der Empfehlung von WAHL et al. (2007), bei Wasser-
sind. Angesichts des historischen Feuchtgebietsverlustes          vogelarten, deren Bestände vermutlich anthropogenen
in vielen Teilen Niedersachsens sind gerade diese häu-            Ursprungs sind und keiner Wildpopulation entstammen,
fig die letzten Trittsteine für durchziehende Wasser- und         keine Bewertung vorzunehmen.
Watvögel.                                                             Ergänzend, und den ökologischen Ansatz der Ramsar-
    Einen Sonderfall im Hinblick auf die Gebietsgröße             Konvention untermauernd, werden wegen ihrer hohen
stellen die Vögel des Offshore-Bereichs der Nordsee dar.          naturschutzfachlichen Bedeutung (AUMÜLLER et al.
Hierunter fallen jene Arten, die ökologisch zu den See-           2016) in dieser Arbeit auch bestimmte an Küstenlebens-
vögeln zählen (z. B. Basstölpel Morus bassanus, Tordalk           räume gebundene Singvogelarten (Ohrenlerche Eremo­
Alca torda) bzw. Küstenvögel, die wie der Sterntaucher            phila alpestris, Berghänfling Linaria flavirostris, Schnee-
(Gavia stellata) Bereiche innerhalb der 12-Seemeilen-             ammer Plectrophenax nivalis) behandelt.
Zone aufsuchen, die aber weit(er) entfernt von der                    Der Artenkorb zur Bewertung von Gastvogellebens-
Festlandsküste liegen. Sie treten im niedersächsischen            räumen in Niedersachsen umfasst insgesamt 104 Arten.
Küstenmeer nur selten in Ansammlungen auf, sondern                Dabei werden auch Unterarten (sechsmal) bzw. Popula-
verteilen sich stattdessen über – im Vergleich zu Rastge-         tionen (einmal) einer Art gesondert betrachtet. Für die
bieten an Land – geradezu riesige Gebiete. Um bei ihnen           praktische Anwendung der Kriterien bei feldornitholo-
eine Individuensumme ermitteln zu können, die sich                gisch nicht oder nur sehr schwer zu trennenden Unter-
z. B. im Bereich des Kriterienwertes für internationale           arten bzw. Populationen einer Art werden die Vorkom-
Bedeutung befindet, müsste u. U. ein Gebiet von mehre-            men Hauptdurchzugsmonaten zugeordnet (WAHL et
ren Tausend Hektar Fläche betrachtet werden, welches              al. 2007). Das betrifft hier Sandregenpfeifer (Charadrius
sich darüber hinaus noch nicht einmal anhand stabiler             hiaticula), Pfuhlschnepfe (Limosa lapponica), Rotschen-
und ohne größeren Aufwand ermittelbarer Strukturen                kel (Tringa totanus), Steinwälzer (Arenaria interpres) und
abgrenzen ließe.                                                  Knutt (C. canutus). Die Kriterienwerte finden entspre-
    Aus diesem Grund ist das in die-
ser Arbeit beschriebene Verfahren
zur Bewertung von Gastvogelle-
bensräumen für „Offshore-Arten“
(die als solche gekennzeichnet
sind, s. Anhang) ungeeignet. In
Niedersachsen wird alternativ
ein dichtebasiertes, geostatisti-
sches Interpolationsverfahren zur
Identifizierung und Abgrenzung
wertvoller mariner Gastvogelle-
bensräume angewandt (KRÜGER
et al. 2003; s. a. SKOV et al. 1995,
2000). Die nachfolgenden Häufig-
keitsangaben und Kriterienwerte
bei den Vogelarten des Offshore-
Bereichs haben insofern rein nach- Abb. 6: Der Weißstorch zählt als feuchtgebietsgebundene Vogelart zu den „Wasservögeln“ im Sinne der
richtlichen Charakter.                  RAMSAR-Konvention. Hunteniederung bei Moordorf, April 2020 (Foto: Thorsten Krüger)

Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
chend in diesen, in der Anhangstabelle angegebenen           Auch auf See ist bezüglich der Verbreitung und Bestands-
Monaten Anwendung. Ansonsten gilt grundsätzlich, dass        größe von See- und Küstenvögeln ein Quantensprung
der 1 %-Wert der größeren in Niedersachsen auftreten-        in Bezug auf Datendichte und -qualität zu erkennen, so
den Population einer Art verwendet wird, sofern bei          dass heute nicht nur für die deutschen Hoheitsgewäs-
der Datenerhebung keine Differenzierung der Unterar-         ser in Nord- und Ostsee (MARKONES et al. 2014, 2015),
ten bzw. Populationen erfolgte (MEININGER et al. 1995,       sondern auch für Teilbereiche wie das niedersächsische
WAHL et al. 2007).                                           Küstenmeer entsprechende Angaben vorliegen (GUSE et
                                                             al. 2018).
Gültigkeit der Kriterienwerte                                    Die in dieser Arbeit zur Ermittlung von Kriterienwer-
Die 1 %-Werte der biogeographischen Populationen             ten verwandten Bestandsgrößen basieren auf folgenden
gelten für den Zeitraum von der Veröffentlichung des         Quellen:
entsprechenden Conservation Status Report (CSR) des
Standing Committee des AEWA-Abkommens bis zum                International
Erscheinen der nachfolgenden Fassung. Dies kann unter        Die internationalen Bestandsgrößen entstammen der
Umständen alle drei Jahre der Fall sein, da in diesem        Zusammenstellung von NAGY & LANGENDOEN (2018),
Turnus der Vertragsstaatenkonferenz neue Schätzun-           in der für 445 im Geltungsbereich des AEWA-Abkom-
gen vorgelegt werden sollen bzw. die Bestandsgrößen          mens vorkommende Populationen Angaben enthalten
zu überprüfen sind (ROSE & STROUD 1994, WAHL et al.          sind und zugleich die maßgeblichen 1 %-Werte festge-
2007, NAGY & LANGENDOEN 2018).                               legt wurden. Die Werte sind dabei identisch mit den von
   Da innerhalb dieses dreijährigen Turnus jedoch keine      VAN ROOMEN et al. (2018) für Wasservogelpopulationen
entsprechend aktualisierten, zugleich belastbaren nati-      des East Atlantic Flyways vorgelegten Bestandsgrößen.
onalen und landesweiten Bestandsgrößen vorliegen             Beim Zwergschwan (Cygnus columbianus) folgen wir
dürften und ein so kurzer Zeitraum für die beiden letzt-     abweichend davon den aktuellen Bestandsschätzungen
genannten Bezugsräume mit Blick auf Veränderungen            von BEEKMAN et al. (2019). Echte Seevogelarten sind
von Gastvogelpopulationen wenig sinnvoll erscheint,          aufgrund der Tatsache, dass die Ramsar-Konvention nur
sollen die in dieser Arbeit zusammengestellten Zahlen –      Meeresbereiche mit einer Tiefe bis zu sechs Metern bei
auch die 1 %-Werte für internationale Bedeutung – als        Niedrigwasser einschließt, nicht Bestandteil der Zusam-
Konvention so lange angewandt werden, bis die nächste        menstellungen von Wetlands International. Es liegen
Fassung der „Quantitativen Kriterien zur Bewertung von       jedoch Angaben über die Bestände von MITCHELL et al.
Gastvogellebensräumen in Niedersachsen“ vorgelegt            (2004) vor, die noch Gültigkeit besitzen. Die Werte für
wird.                                                        Singvogelarten der Küstenlebensräume basieren auf Aus-
                                                             wertungen von AUMÜLLER et al. (2016).
2.2 Datengrundlage
                                                             National
Wie schon bei der 2. und 3. Fassung konnte auch für          Die nationalen Bestandsgrößen gehen – soweit nicht
diese 4. Fassung wieder auf erheblich verbessertes           anders angegeben – auf eine aktuelle vom Dachverband
Datenmaterial zurückgegriffen werden. Die ermittelten        Deutscher Avifaunisten (DDA) durchgeführte Auswer-
Bestandsgrößen sind dadurch deutlich besser abgesi-          tung der Ergebnisse der bundesweiten Wasser- und Wat-
chert. So liegt auf internationaler Ebene eine Fortschrei-   vogelzählungen sowie vieler weiterer Daten aus allen
bung der fünften Auflage der „Waterbird Population           Bundesländern zurück (BUNDESAMT FÜR NATURSCHUTZ
Estimates“ von WETLANDS INTERNATIONAL (2012) vor.            2019, GERLACH et al. 2019). Diese Auswertung berück-
Die Fortschreibung wird weiterhin von Wetlands Inter-        sichtigt den Zeitraum 2011/12 bis 2015/16. Sie wurde
national erstellt, jedoch mittlerweile unter dem Dach des    überdies mit den Erkenntnissen und Ergebnissen ein-
AEWA-Abkommens als Anhang des Conservation Status            zelner Art-/Artengruppenspezialisten abgeglichen, bei
Report veröffentlicht (NAGY & LANGENDOEN 2018).              den See- und Küstenvögeln z. B. mit den Experten der
   Zusätzlich liegt eine aktuelle Gesamtschau über die       deutschen Seabirds-at-Sea-Arbeitsgruppe (FTZ-West-
Bestände von Arten, die den East Atlantic Flyway fre-        küste der Universität Kiel). Bei etlichen Arten wurde die
quentieren (VAN ROOMEN et al. 2018), vor. Auf natio-         Auswertung des DDA mit Erkenntnissen aus aktuellen
naler Ebene sind die bundesweiten Aktivitäten um die         Studien abgeglichen. Hier sind beispielsweise zu nennen:
Wasser- und Watvogelzählungen in den vergangenen             See- und Küstenvögel (GUSE et al. 2018, Forschungs- und
zehn Jahren noch einmal deutlich intensiviert und das        Technologiezentrums Westküste [FTZ] in BUNDESAMT
Monitoring rastender Wasservögel auf ein noch breiteres      FÜR NATURSCHUTZ 2019) oder Wattenmeervögel (BLEW
Fundament gestellt worden (WAHL et al. 2017).                et al. 2016, 2017, KLEEFSTRA et al. 2019).
   Das 1992 aufgelegte Trilaterale Wattenmeer-Moni-              Für einige Arten konnten vom DDA lediglich Häufig-
toring (TMAP) bzw. das Joint Monitoring of Migratory         keitsklassen mit einer bestimmten Spannbreite als nati-
Birds in the Wadden Sea (JMMB) läuft weiterhin auf           onale Bestandsgröße angegeben werden (GERLACH et
hohem Niveau und liefert mit Hilfe verbesserter Aus-         al. 2019). Zu diesen i. d. R. schwierig zu erfassenden oder
wertungsroutinen genauere Informationen über die             hinsichtlich ihrer Rastökologie nicht oder nur unvollstän-
Bestände und Bestandsveränderungen der typischen             dig durch die Wasser- und Watvogelzählungen abzude-
Wattenmeervögel. Überdies gibt es seit 1997 eine Reihe       ckenden Arten zählen z. B. Bekassine (Gallinago galli­
von auf einzelne Arten oder Artengruppen ausgerich-          nago), Zwergschnepfe (Lymnocryptes minimus) oder
tete, bundesweite Spezialerfassungen bzw. Monitoring-        Waldwasserläufer (Tringa ochropus). Die Häufigkeitsklas-
vorhaben (Goldregenpfeifer-Synchronzählungen, Kormo-         sen werden in dieser Arbeit entsprechend wiedergege-
ran- und Möwen-Schlafplatzzählungen, Monitoring von          ben, für die Berechnung des Kriterienwertes für natio-
Gänsen und Schwänen usw.).                                   nale Bedeutung (und des niedersächsischen Bestands-
                                                             anteils am nationalen Bestand) wird das geometrische

                                                                                      Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
56
Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
Mittel zwischen der Ober- und Untergrenze der Häufig-                i. Vorber.), Moorente (Aythya nyroca) (MELLES & BRANDT
keitsklassen zugrunde gelegt.                                        2016), Eiderente (Somateria mollissima) (Zählflüge der
    Beim Kranich (Grus grus) wurde die nationale                     Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer),
Be­stands­größe eigens ermittelt, da die Bestandsent-                Kranich (OBRACAY 2016, 2017, K. OBRACAY briefl.),
wicklung bei der Art auch innerhalb der letzten Jahre                Gastvögeln des Wattenmeeres auf den Außen­sänden
noch sehr dynamisch verlief. Die hier gewählten Werte                (FRANK 2014, 2016), Regenbrachvogel (Numenius pha­
gehen auf gesonderte, speziell auf den Kranich gerich-               eopus) (KRUCKENBERG et al. 2012), Kormoran (Phalac­
tete Betrachtungen zurück (DONAT 2015, 2016, 2017,                   rocorax carbo) (BIOS 2019), See- und Küstenvögeln im
PRANGE 2016) und sind für denselben Zeitraum reprä-                  Offshore-Bereich (GUSE et al. 2018) und überwinternden
sentativ wie für die landesweiten Bestände. Bei Fluss-               Singvögeln im Nationalpark Niedersächsisches Watten-
regenpfeifer (C. dubius), Brand- (Thalasseus sandvicen­              meer ­(AUMÜLLER et al. 2016). Überdies fanden Berichte
sis), Zwerg- (Sternula albifrons), Fluss- (Sterna hirundo)           über bemerkenswerte Feststellungen von Gastvogelan-
und Küstenseeschwalbe (S. paradisaea) sowie Schwarz-                 sammlungen Berücksichtigung, wie z. B. bei der „Isländi-
(Ciconia nigra) und Weißstorch (C. ciconia) liegen keine             schen Uferschnepfe“ (Limosa l. islandica) (KRUCKENBERG
belastbaren aktuellen Daten zu nationalen Rastbestän-                2014).
den vor. Aus pragmatischen Gründen wurden für diese                      Bei Rothalstaucher (Podiceps grisegena), Schwarzkopf-
Arten die nationalen Brutbestände (Stand: 2011-2016;                 möwe (L. melanocephalus), Brand-, Fluss- und Küsten-
GERLACH et al. 2019) verdreifacht als Rechenwert für                 seeschwalbe, Schwarz- und Weißstorch, Rohrdommel
den Bundesbestand verwendet (zum Verfahren vgl.                      (Botaurus stellaris) sowie Graureiher (Ardea cinerea)
­MEININGER et al. 1995, WETLANDS INTERNATIONAL                       liegen keine belastbaren Daten zu landesweiten Rast-
 2006).                                                              beständen vor. Aus pragmatischen Gründen wurden für
                                                                     diese Arten die niedersächsischen Brutbestände (Stand
Landesweit                                                           2016; STAATLICHE VOGELSCHUTZWARTE) verdreifacht als
Die landesweiten Bestandsgrößen sind gerundete Mit-                  Rechenwert für den Landesbestand verwendet (s. o.).
telwerte der Tageshöchstzahlen aus den Jahren 2011 bis                   Dennoch sind die landesweiten Bestandsdaten bei
2016. Damit weicht der Betrachtungszeitraum geringfü-                einigen Arten, die besonders schwierig zu erfassen sind,
gig von dem des vom DDA gewählten ab, was jedoch mit                 wie auch auf Bundesebene nur als grobe Annäherungs-
Ausnahme der o. a. Arten als vernachlässigbar eingestuft             werte zu verstehen und bedürfen dringend einer fach-
werden kann. Das Vorgehen trägt zudem dem Erforder-                  lichen Bestätigung durch verbesserte Erfassungs- und
nis Rechnung, mit möglichst aktuellen niedersächsischen              Monitoringansätze (z. B. Flussregenpfeifer oder Zwerg-
Beständen Lebensraumbewertungen durchzuführen. Zur                   schnepfe). In Verbindung mit den nationalen Bestands-
Ermittlung der landesweiten Bestandsgrößen wurden die                schätzungen können dadurch in einigen Fällen auch
von der Staatlichen Vogelschutzwarte niedersachsenweit               echte Verzerrungen der Bestandsverhältnisse auftreten.
koordinierten Wasser- und Wat­vogelzählungen ausge-
wertet.
   Die Zählungen finden an der Küste, den großen Bin-
nenseen und in einigen anderen Gebieten ganzjährig
alle 14 Tage, in den übrigen Bereichen einmal monatlich,
zumeist von August bis Mai, in abgegrenzten Zählgebie-
ten und synchron an festgelegten Zählterminen statt.
Das Gebietsnetz deckt die wichtigsten Bereiche ab, den-
noch bestehen Lücken. Vor diesem
Hintergrund wurde in Kenntnis
der Verbreitungs- und Häufigkeits-
muster der betrachteten Gastvö-
gel im Berichtsgebiet artspezifisch
geprüft, wie hoch der Erfassungs-
grad jeweils ist und es wurden
dann ggf. die ermittelten maxima-
len Tageshöchstzahlen um Schätz-
werte für die nicht abgedeckten
Bereiche ergänzt.
   Darüber hinaus wurden für
einige Arten landesweite Syn-
chronzählungen, systematische
Bestandserfassungen in bestimm-
ten Landesteilen oder spezielle
Artenhilfsmaßnahmen durchge-
führt und bei der Herleitung von
landesweiten Bestandszahlen
berücksichtigt, so bei nordischen
Gänsen und Schwänen (Anser,
Branta und Cygnus) (DEGEN            Abb. 7: Der Landesbestand rastender Kraniche hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, so
2015, BLÜML & KRUCKENBERG            dass der Kriterienwert für „landesweite Bedeutung“ in der Region „Watten und Marschen“ gegen-
2019), Zwerggans (Anser erythro­     über der dritten Fassung der quantitativen Kriterien zur Bewertung von Gastvogellebensräumen in
                                     Niedersachsen von 540 auf 1.700 Ind. angehoben wurde. Diepholzer Moorniederung, Oktober 2011
pus) (KRUCKENBERG & KRÜGER           (Foto: Willi Rolfes)

Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
3 Herleitung und Anwendung der Kriterien

In Niedersachsen wird der Gastvogelbestand eines Gebie-                     einzelnen Arten (Tab. 1). Sie basiert dabei auf den Natur-
tes in fünf Stufen bewertet (international, national, lan-                  räumlichen Regionen Niedersachsens (HECKENROTH &
desweit, regional, lokal). Dazu werden Kriterienwerte                       LASKE 1997, DRACHENFELS 2010) und den aus ihnen
verwendet, die sich aus den Bestandsgrößen der Arten                        gebildeten Rote-Liste-Regionen: „Watten und Mar-
in den jeweiligen Bezugsräumen ableiten. Dies schafft                       schen“, „Tiefland“ (zusammengefasst West und Ost)
die Voraussetzung für eine differenzierte Einstufung                        sowie „Bergland mit Börden“ (zur Abgrenzung s. KRÜ-
der Vogelbestände und verbessert die Möglichkeiten                          GER & NIPKOW 2015). Hierbei wird ersichtlich, wie sich
der Umsetzung des Lebensraumschutzes bis zur lokalen                        die regionalen und lokalen Kriterienwerte durch die
Ebene.                                                                      Kategorisierung der Arten (1-4) in den einzelnen Regio-
Im Einzelnen gilt:                                                          nen („Watten und Marschen“, „Tiefland“, „Bergland mit
„„ Bezugsgröße für die Ermittlung der internationalen                       Börden“) und Bewertungsstufen prozentual ändern (vgl.
   Bedeutung ist die gesamte biogeographische Popu-                         Tab. 2). Als Ausgangswert ist das landesweite Kriterium
   lation einer Art, die in den meisten Fällen zwischen                     der Region „Watten und Marschen“ anzusetzen, weil
   2000 und 2016 ermittelt wurde (NAGY & LANGEN-                            dort von jeder Art die größten Bestände in Niedersach-
   DOEN 2018),                                                              sen vorkommen.
„„ Bezugsgröße für die Ermittlung der nationalen Bedeu-                        Auch bei diesen Einstufungen wurde einer möglichst
   tung ist der durchschnittliche maximale Gastvogelbe-                     einfachen Skalierung der Vorzug gegeben, die die unter-
   stand einer Art in Deutschland im Zeitraum 2011/12 bis                   schiedlichen Verbreitungsmuster dennoch ausreichend
   2015/16 (GERLACH et al. 2019),                                           widerspiegelt.
„„ Bezugsgröße für die Ermittlung der landesweiten,                            Da nicht in allen Regionen bzw. Naturräumen der
   regionalen und lokalen Bedeutungen ist jeweils der                       Gastvogelbestand mit vergleichbarer Intensität und Voll-
   durchschnittliche maximale Gastvogelbestand einer                        ständigkeit erfasst wird, erscheint dieses pragmatische
   Art in Niedersachsen im Zeitraum 2011 bis 2016.                          Verfahren für die Ermittlung der regionalen und lokalen
                                                                            Kriterien geeignet. Es hat sich in den vergangenen Jah-
Da die einzelnen Gastvogelarten in Niedersachsen ein                        ren in der naturschutzfachlichen Praxis bewährt.
sehr unterschiedliches Verbreitungs- und Häufigkeits-                          Grundsätzlich gilt für alle Bewertungsstufen, dass ein
muster haben, muss dieses je nach Lage des Gebietes bei                     Gebiet nur dann eine bestimmte Bedeutung erreicht,
der Bewertung berücksichtigt werden. Dazu wurden die                        wenn mindestens für eine Art das entsprechende Kri-
Arten in vier Kategorien eingeteilt (s. Tab. 1).                            terium in der Mehrzahl der untersuchten Jahre (hier:
   Die Regionalisierung der Kriterien erfolgt gemäß                         je nach Datenlage Kalenderjahre oder „Vogeljahre“/
Tab. 2 auf Grundlage der Verbreitungskategorien der                         „Lebensjahre“), z. B. in mindestens drei von fünf J­ ahren,

Tab. 1: Verbreitungskategorien von Gastvogelarten in Niedersachsen

                                Vorkommen

 Kategorie 1                    Art, die regelmäßig nur im Wattenmeer und/oder im Küstenmeer vorkommt

 Kategorie 2                    Art der Region Watten und Marschen (mit geringen Beständen auch im Tiefland und im Bergland mit Börden)

 Kategorie 3                    Art der Regionen Watten und Marschen sowie Tiefland (mit geringen Beständen im Bergland mit Börden)

 Kategorie 4                    Art mit relativ gleichmäßiger Verteilung in Niedersachsen

 Region = Rote-Liste-Region: Watten und Marschen, Tiefland (zusammengefasst West und Ost), Bergland mit Börden
 (Abgrenzung s. KRÜGER & NIPKOW 2015)

Tab. 2: Prozentwerte zur Ermittlung artspezifischer Kriterienwerte für die einzelnen Regionen in Niedersachsen
        (Bezugsgröße: landesweites Kriterium „­ Watten und Marschen“)

                                     Watten und Marschen                            Tiefland                             Bergland mit Börden
 Verbreitungskategorie
 (s. Tab. 1)                   landes­                                 landes­                                   landes­
                                            regional       lokal                    regional       lokal                      regional         lokal
                                 weit                                    weit                                      weit

               1                100 %         50 %         25 %

               2                100 %         50 %         25 %          25 %        12,5 %       6,25 %          25 %         12,5 %          6,25 %

               3                100 %         50 %         25 %         100 %         50 %         25 %           25 %         12,5 %          6,25 %

               4                100 %         50 %         25 %         100 %         50 %         25 %          100 %          50 %           25 %

                                                                                                           Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
58
erreicht wird. Um eine verlässliche
Bewertung eines Gebietes vorneh-
men zu können, sind daher mehr-
jährige Erfassungen des Gastvogel-
bestandes zwingend erforderlich,
d. h. die Arten wurden „komplett“
in Spektrum und zeitlichem Vor-
kommen erfasst.
    Als Bezugszeitraum für die
Bewertung sind die fünf aktuel-
len Jahresmaxima heranzuzie-
hen, wobei die Daten möglichst
nicht älter als zehn Jahre sein
sollten (vgl. ATKINSON-WILLES
et al. 1982). Bei nur kurzzeitiger
Untersuchungsdauer und gerin-
ger Untersuchungsdichte, wie es
z. B. bei Eingriffsplanungen die
Regel ist, muss im Sinne des Vor-
sorgeprinzips davon ausgegangen
werden, dass eine Bedeutung des             Abb. 8: Durchzugs- und Überwinterungsgebiete, in denen Sing- und Zwergschwäne ungestört Nahrung
Gebietes bereits bei nur einmali-           suchen und rasten können und die zudem Sicherheit bietende Schlafgewässer aufweisen, sind von gro-
                                            ßer Bedeutung für die Art und entscheiden über den Fortpflanzungserfolg in der nächsten Brutsaison.
gem Überschreiten des Kriterien-            Gebiete in den Regionen „Watten und Marschen“ sowie „Tiefland“, in denen stetig mindestens 200
wertes gegeben ist. Die Bewertung           Sing- bzw. 75 Zwergschwäne vorkommen, sind Gastvogellebensräume von landesweiter Bedeutung.
ist allerdings als vorläufig zu kenn-       Aheschen Bruche bei Neuenkirchen-Vörden, Januar 2014 (Foto: Volker Blüml)

zeichnen (s. hierzu auch WAHL
et al. 2007).

Gastvogellebensräume von internationaler Bedeutung                       Für Arten der Verbreitungskategorie 2 (s. Tab. 1) wird als
                                                                         landesweites Kriterium für die Regionen „Tiefland“ und
Ein Gebiet ist von internationaler Bedeutung, wenn es                    „Bergland mit Börden“ 25 % vom Wert der Kategorie 2
regelmäßig                                                               festgesetzt (s. Tab. 2), für Arten der Verbreitungskate-
„„ mind. 20.000 Wasservögel oder                                         gorie 3 wird als landesweites Kriterium für die Region
„„ mind. 1 % der Individuen einer biogeographischen                      „Bergland mit Börden“ 25 % vom Wert der Kategorie 2
   Population einer Wasservogelart beherbergt.                           festgesetzt. Für Arten der Verbreitungskategorie 1 gibt
                                                                         es hingegen kein landesweites Kriterium für die Regio-
Hierbei kann – sofern entsprechende Daten verfügbar                      nen „Tiefland“ und „Bergland mit Börden“.
sind – auch der Austausch bzw. die Austauschrate von                        Das von BURDORF et al. (1997) eingeführte 2 %-Krite-
Individuen einer Wasservogelart (Turnover) während der                   rium beruht wie seine Pendants für internationale bzw.
Zugzeit berücksichtigt (z. B. mittels Fang-Wiederfang-                   nationale Bedeutung auf einer Konvention. Der Krite-
Methode individuell gekennzeichneter Vögel im Gebiet)                    rienwert für die landesweite Ebene muss dabei höher
und so eine kumulative Gesamtzahl ermittelt werden                       angesetzt werden, weil Niedersachsen ein Land der
(RAMSAR CONVENTION BUREAU 2018).                                         Küste, der Feuchtgebiete, der großen Flussniederungen,
    Gebiete dieser Kategorie erfüllen die Kriterien als                  Moore und Seen ist und ein Kriterienwert von 1 % zu
Feuchtgebiete internationaler Bedeutung gemäß Ram-                       einer „Gebietsinflation“ führen würde. Der Blick auf die
sar-Konvention und gleichzeitig auch die Kriterien des                   artspezifischen Schwellenwerte offenbart, dass bei Wahl
Landes Niedersachsen, um als Europäische Vogelschutz-                    eines 1 %-Kriteriums bei vielen Arten Gebiete bereits mit
gebiete gemäß Europäischer Vogelschutzrichtlinie iden-                   fünf oder mehr Individuen regelmäßig zu landesweit
tifiziert und nach Prüfung weiterer Aspekte, wie z. B. der               bedeutsamen Gebieten zählen würden. Im Interesse der
flächenmäßigen Eignung des Gebietes, zu einem solchen                    Kraft des ursprünglichen und etablierten Bewertungs-
erklärt zu werden (KRÜGER et al. 2003).                                  ansatzes von BURDORF et al. (1997) und um die landes-
                                                                         weite Bedeutung zu betonen, wird daher weiter das
Gastvogellebensräume von nationaler Bedeutung                            2 %-Kriterium verwendet.
Ein Gebiet ist von nationaler Bedeutung für Wasservögel,                    Niedersachsen hat dabei als Bundesland mit erheb-
wenn dort regelmäßig mindestens                                          lichem Anteil sowohl an der deutschen Nordseeküste
„„ 1 % des durchschnittlichen maximalen nationalen                       (ca. 40 %) als auch an der Gesamtfläche der Bundes-
   Rastbestandes einer Wasservogelart vorkommt.                          republik Deutschland (ca. 13 %) im Gastvogelschutz
                                                                         eine besondere Verantwortung zu erfüllen. Für Arten
Gastvogellebensräume von landesweiter Bedeutung                          mit besonders hohem Anteil am nationalen Bestand
Ein Gebiet ist von landesweiter Bedeutung für Wasser­                    wurde ein Verantwortungsfaktor definiert (s. Tab. 3).
vögel, wenn dort regelmäßig mindestens                                   Eine besondere Verantwortung ist gegeben, wenn der
„„ 2 % des durchschnittlichen maximalen landesweiten                     Bestand größer als 20 % des nationalen Bestandes ist.
   Rastbestandes einer Wasservogelart vorkommen, ggf.
   abzüglich eines „Bonus“ für die landesweite Verant-
   wortung (s. u.).

Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
                                                                                                                                            59
Tab. 3: Berechnung des Verantwortungsfaktors (VF) sowie des                Gastvogellebensräume von lokaler Bedeutung
        ­landesweiten Schwellenwertes unter Berücksichtigung des
         ­Verantwortungsfaktors                                            Die lokale Bedeutung bezieht sich auf die jeweilige
                                                                           naturräumliche Einheit (Naturraum; zur Abgrenzung
 Verantwortungsfaktor
                                                                           s. Karte in KRÜGER et al. 2014).
                                                                              Gebiete sind von lokaler Bedeutung, wenn eine Was-
                       landesweite Bestandsgröße                           servogelart regelmäßig mindestens ein Viertel des lan-
            VF = 1 –                                                       desweiten Kriterienwertes der entsprechenden Region
                       2 x nationale Bestandsgröße
                                                                           („Watten und Marschen“, „Tiefland“, „Bergland mit Bör-
 Landesweiter Schwellenwert                                                den“) erreicht. Es ist aber zu beachten, dass der landes-
                                                                           weite Kriterienwert je nach Verbreitungskategorie und
 2 % der landesweiten Bestandsgröße x VF                                   damit Region unterschiedlich ist.

                                                                           Rundung und Minima der Kriterienwerte
Im Ergebnis führt die Verwendung des Verantwortungs-                       Allgemein werden die Kriterienwerte gerundet bei:
faktors dazu, dass bei den betreffenden Arten die Höhe                     „„ mehr als 10 Individuen: auf nächste 5,
des Kriterienwertes für die landesweite Bedeutung her-                     „„ mehr als 100 Individuen: auf nächste 10,
abgesetzt wird, d. h. mehr Gebiete werden als landes-                      „„ mehr als 1.000 Individuen: auf nächste 50.
weit bedeutsam für diese Arten erkannt.
                                                                           Grundsätzlich muss der Kriterienwert einer höheren
Gastvogellebensräume von regionaler Bedeutung                              Raumebene (international, national, …) größer sein als
Die regionale Bedeutung bezieht sich auf die Rote-Liste-                   der der niedrigeren oder mindestens gleich groß. Für das
Regionen (zur Abgrenzung s. KRÜGER & NIPKOW 2015):                         nationale Kriterium gilt allgemein ein Minimumwert von
„Watten und Marschen“, „Tiefland“ (zusammengefasst                         50 Individuen (vgl. BURDORF et al. 1997). Lediglich bei
West und Ost) und „Bergland mit Börden“.                                   Rothalsgans (Branta ruficollis) und Moorente, die auf der
   Gebiete sind von regionaler Bedeutung, wenn eine                        Roten Liste der weltweit gefährdeten Vogelarten geführt
Wasservogelart regelmäßig mindestens die Hälfte des                        werden (IUCN 2020) und zugleich nur in sehr kleinen
landesweiten Kriterienwertes der entsprechenden                            Beständen in Niedersachsen vorkommen, gilt beim nati-
Region (Watten und Marschen, Tiefland, Bergland mit                        onalen Kriterienwert ein Minimum von fünf Individuen.
Börden) erreicht. Es ist aber zu beachten, dass der landes-                Für die ebenfalls als weltweit gefährdet eingestufte
weite Kriterienwert je nach Verbreitungskategorie und                      Zwerggans (IUCN 2020) wurde bei der fennoskandischen
damit Region unterschiedlich ist.                                          Population der Kriterienwert für internationale Bedeu-
                                                                           tung sogar auf ein Individuum herabgesetzt (NAGY &
                                                                           LANGENDOEN 2018). Für landesweite Kriterienwerte
                                                                           gilt allgemein ein Minimum von zehn, für regionale und
                                                                           lokale Kriterienwerte hingegen von fünf Individuen.

Abb. 9: In Relation zur nationalen Bestandsgröße ziehen besonders viele Regenbrachvögel (etwa 50 %) durch Niedersachsen. Innerhalb Deutschlands
kommt dem Land damit eine besondere Verantwortung für den Schutz der Art und ihrer Rastgebiete zu. (Foto: Fred Visscher / agami.nl)

                                                                                                         Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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Tab. 4: Beispiele zur Herleitung einzelner Kriterienwerte (s. a. Tab. 2 und 3)

 Berechnung des landesweiten Kriterienwertes für den Austernfischer

 Nationale Bestandsgröße:         210.000 Individuen

 Landesweite Bestandsgröße:       120.000 Individuen (davon 2 % = 2.400)

                                        120.000
 Verantwortungsfaktor:            1–                 = 0,714
                                       2 x 210.000

 Landesweites Kriterium: 2.400 x 0,714 = 1.714; gerundet = 1.700

 Berechnung des regionalen Kriteriums in der Region „Bergland mit Börden“ für den Brachvogel

 Nationale Bestandsgröße:         145.000 Individuen

 Landesweite Bestandsgröße:       90.000 Individuen (davon 2 % = 1.800)

                                         90.000
 Verantwortungsfaktor:            1–                 = 0,690
                                       2 x 145.000

 Landesweites Kriterium: 1.800 x 0,690 = 1.241, gerundet = 1.250

 Landesweites Kriterium „Bergland mit Börden“: Art der Verbreitungskategorie 2; entsprechend 25 % des landesweiten (nicht gerundeten)
 ­Kriterienwertes „Watten und Marschen“ = 310.

 Für das regionale Kriterium gilt 12,5 % des landesweiten Kriterienwertes = 155; gerundet 160.

 Berechnung des lokalen Kriteriums in der Region „Tiefland“ für die Blässgans

 Nationale Bestandsgröße:         420.000 Individuen

 Landesweite Bestandsgröße:       150.000 Individuen (davon 2 % = 3.000)

                                        150.000
 Verantwortungsfaktor:            1–                 = 0,821
                                       2 x 420.000

 Landesweites Kriterium: 3.000 x 0,821 = 2.463; gerundet = 2.450
 Landesweites Kriterium „Tiefland“: Art der Verbreitungskategorie 3; entsprechend 100 % des landesweiten (nicht gerundeten) Kriterienwertes
    ­„Watten und Marschen“ = 2.450.
 Für das lokale Kriterium gilt 25 % des landesweiten Kriterienwertes = 612; gerundet 610.

4 Dank
Wir danken allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der                           möglich gewesen. Für wertvolle Hinweise und Ergänzun-
Wasser- und Watvogelzählung, die mit ihren kontinu-                              gen zu Manuskript und/oder Bestandsdaten danken wir
ierlich erhobenen Daten die Grundlage für diese Aus-                             Volker Blüml, Wilhelm Breuer, Josephin Erber, Helmut
arbeitung gelegt haben. Ohne dieses außerordentliche                             Kruckenberg und Kerrin Obracay.
ehrenamtliche Engagement wäre die Auswertung nicht

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5 Zusammenfassung
Zur Bewertung von Gastvogellebensräumen (hier: in ers-         tungsstufen, dass ein Gebiet nur dann eine bestimmte
ter Linie von Wasservogellebensräumen) in Niedersach-          Bedeutung erreicht, wenn wenigstens für eine Art das
sen werden mit dieser Arbeit aktualisierte quantitative        entsprechende Kriterium in der Mehrzahl der unter-
Kriterien in regionaler Differenzierung und unter Berück-      suchten Jahre, z. B. in mindestens drei von fünf Jahren,
sichtigung der Verbreitungs- und Häufigkeitsmuster der         registriert wurde. Bei nur kurzzeitiger Untersuchungs-
Arten vorgestellt. Die Bedeutung des Gastvogelbestan-          dauer und geringer Untersuchungsdichte, wie es z. B.
des eines Gebietes wird dabei in fünf Stufen bewertet          bei Eingriffsplanungen die Regel ist, muss im Sinne des
(international, national, landesweit, regional, lokal).        Vorsorgeprinzips davon ausgegangen werden, dass eine
Dazu werden Kriterienwerte verwendet, die sich aus den         Bedeutung des Gebietes auch bei nur einmaligem Über-
Bestandsgrößen der Arten in den jeweiligen Bezugsräu-          schreiten des Kriterienwertes gegeben ist.
men ableiten. Dies schafft die Voraussetzungen für eine           Das Bewertungsverfahren hat sich inzwischen vielfach
differenzierte Einstufung der Vogelbestände.                   bewährt und ist allgemein anerkannt. Es ermöglicht,
   So ist ein Gebiet von internationaler Bedeutung, wenn       bedeutsame Lebensräume für Gastvögel objektiv zu
es mindestens 20.000 Wasservögel oder mindestens 1 %           identifizieren und differenziert zu bewerten. Erst wenn
der Individuen einer biogeographischen Population einer        diese Gebiete bekannt sind, können sie auch etwa in der
Wasservogelart beherbergt. Gastvogellebensräume sind           Landes-, Regional- und Bauleitplanung, bei Eingriffsvor-
von landesweiter Bedeutung für Wasservögel, wenn dort          haben und jeder Art der Flächennutzung berücksichtigt
regelmäßig mindestens 2 % des landesweiten Rastbe-             und mit den Instrumenten des Naturschutzes und der
standes einer Wasservogelart (durchschnittliche Höchst-        Landschaftspflege geschützt werden.
zahlen) vorkommen. Grundsätzlich gilt für alle Bewer-

6 Summary – Quantitative criteria for the assessment of habitats
for migratory waterbirds in Lower Saxony
This article presents updated quantitative criteria to         mean maximum number of the entire state or an even
assess the importance of specific sites as habitats for        lower value depending on the responsibility factor. A site
migratory waterbirds in Lower Saxony. The criteria refer       achieves importance if the respective criterion is reached
to different regional levels and factor in the distribution    in the majority of surveyed years, e. g. three of five years.
patterns of the different species in Lower Saxony. The         If data are only available from a one-year survey or if the
assessment of a particular site is based on the number of      surveying frequency has been quite low – as it is often
occurring waterbirds and classified into five levels (inter-   the case in spatial planning and infrastructure projects –
national, national, state-wide, regional and local impor-      the importance of a site is assumed even if the respective
tance). Thus, threshold values are used, which depend          criterion is reached only once. This complies with the pre-
on the population size of the respective reference area,       cautionary principle.
leading to region- and site-specific assessments.                  The assessment of sites for migratory waterbirds is an
   For instance, a stopover, staging or wintering site is      accepted and established method to objectively iden-
of international importance, if it holds at least 20,000       tify important bird sites or areas, since it provides an
waterbirds or at least 1 % of the individuals of the bio-      essential basis for the identification of important sites
geographic population of a waterbird species; this com-        for waterbirds. Only if sites have been objectively iden-
plies with the current application of the so-called 1 %-cri-   tified as important they can be appropriately taken into
terion. In order to apply this method to the federal state     account in the frame of state-wide and regional devel-
Lower Saxony, nation-wide and state-wide population            opment planning, land use planning and the assessment
numbers have been calculated, including a responsibil-         of plans in the course of impact mitigation regulation,
ity factor for the state-wide criteria, based on the rela-     but also for the designation and allocation of protected
tion between the national and state-wide numbers.              areas, management and development plans, species
Thus, sites for migratory waterbirds are of state-wide         action plans, and, last but not least, for the implementa-
importance, if they regularly host at least 2 % of the         tion of the EC Birds Directive (Directive 2009/147/EC).

                                                                                         Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020
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