Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen - NLWKN
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Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen 2/2020 Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz Thorsten Krüger, Jürgen Ludwig, Gregor Scheiffarth & Thomas Brandt Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogel lebensräumen in Niedersachsen – 4. Fassung, Stand 2020 –
Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 39. Jg. Nr. 2 49-72 Hannover 2020 Quantitative Kriterien zur Bewertung von Gastvogellebensräumen in Niedersachsen 4. Fassung, Stand 2020 von Thorsten Krüger, Jürgen Ludwig, Gregor Scheiffarth & Thomas Brandt Inhalt 1 Einleitung 50 5 Zusammenfassung 62 2 Methode und Datengrundlage 53 6 Summary 62 2.1 Begriffserklärungen und Definitionen 53 2.2 Datengrundlage 56 7 Literatur 63 3 Herleitung und Anwendung der Kriterien 58 Anhang 67 Tabelle „Quantitative Kriterien für die einzelnen Arten“ 4 Dank 61 1 Einleitung Für Niedersachsen erfolgte 1997 eine umfangreiche tiven Kriterien. Damit liefert es eine wesentliche Grund- Aktualisierung der quantitativen Kriterien zur Bewer- lage für die Identifizierung von naturschutzfachlich tung von Gastvogellebensräumen (BURDORF et al. 1997). bedeutsamen Gebieten, die dann u. a. in den Regionalen Mit dieser Aktualisierung war auch eine methodische Raumordnungsprogrammen, den Landschaftsrahmenplä- Weiterentwicklung des ursprünglich von BERNDT et al. nen sowie in der Bauleitplanung und bei der Beurteilung (1985) entwickelten Verfahrens verbunden. Seither hat von Eingriffsvorhaben Berücksichtigung finden. Einige sich diese Bewertungsmethode zu einem erfolgreichen Beispiele können dies verdeutlichen: und unverzichtbaren Instrument in der Naturschutzpra- Für die Aufstellung der Landschaftsrahmenpläne wer- xis des Landes Niedersachsen entwickelt (KRÜGER et al. den standardmäßig die Bewertungen der im Pla- 2010, 2013). Es zählt gemeinsam mit seinem Pendant zur nungsraum befindlichen Brut- und Gastvogellebens- Bewertung von Vogelbrutgebieten*) (BEHM & KRÜGER räume bei der Staatlichen Vogelschutzwarte abge- 2013) zu den wohl am häufigsten angewandten natur- fragt. Diese Kenntnisse über avifaunistisch wertvolle schutzfachlichen Bewertungsverfahren. Gebiete fließen in die Planwerke ein (vgl. HECKEN- Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Kriterien regel- ROTH 1994, DAHL et al. 2000) und sind damit Grund- mäßig fortgeschrieben und an Bestandsveränderungen lage für gebietsbezogene Schutz-, Pflege- und Ent- der Gastvogelpopulationen angepasst werden m üssen. wicklungsmaßnahmen sowie für die Berücksichti- Seit Veröffentlichung der 3. Fassung der Kriterien (KRÜ- gung der Naturschutzziele in anderen Fachplanungen GER et al. 2010, 2013), welche sich auf Gastvogelbe- und Flächennutzungen. Es gibt einen steten, großen stände im Zeitraum von 2003 bis 2007 beziehen, sind Bedarf an diesen planungsrelevanten Informationen, z. T. deutliche Veränderungen der Bestandsgrößen eini- so dass eine Übersicht über die wertvollen Gastvogel- ger Gastvogelpopulationen in den verschiedenen, dem lebensräume des Landes auf der Webseite des Nieder- Bewertungsverfahren zugrunde liegenden Bezugsräu- sächsischen Umweltministeriums abgerufen werden men zu verzeichnen. In Niedersachsen sind seither z. B. kann (MINISTERIUM FÜR UMWELT, ENERGIE, BAUEN die Bestände von Schnatterente (Mareca strepera), Hau- UND KLIMASCHUTZ 2020). bentaucher (Podiceps cristatus) und Silberreiher (Ardea Bei der Standortplanung und Genehmigung von alba) deutlich angestiegen bzw. die von Pfeifente (M. Windenergieanlagen entfaltet das Bewertungsver- penelope), Sichelstrandläufer (Calidris ferruginea) und fahren z. B. insofern Bedeutung, als die Empfehlun- Silbermöwe (Larus argentatus) moderat bis stark zurück- gen des Niedersächsischen Landkreistages zu wei- gegangen. chen Tabuzonen zur Steuerung der Windenergienut- Das Bewertungsverfahren ermöglicht eine objektive zung mit Ausschlusswirkung in Regionalen Raum- und differenzierte Bewertung von Gastvogellebensräu- ordnungsprogrammen seit vielen Jahren unmittelbar men auf der Grundlage von nachvollziehbaren quantita- an die Bedeutungsstufen von Gastvogellebensräu- *) Das Bewertungsverfahren für Vogelbrutgebiete (BEHM & KRÜGER 2013) hat weiterhin Gültigkeit, bis eine aktualisierte Fassung veröffentlicht wird. Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 50
men anknüpfen (NIEDERSÄCHSISCHER LANDKREIS- chenden Gebieten weitere Gastvogelarten in Bestän- TAG 2014). Dies ist von entscheidender Bedeutung, da den von nationaler Bedeutung vor, so wurden diese gerade Gastvögel gegenüber solchen technischen Bau- ebenfalls als für das Gebiet wertbestimmende Arten werken als besonders störempfindlich gelten und – benannt und bei der Abgrenzung des Vogelschutzge- mit artspezifischen Unterschieden – Räume meiden, in biets berücksichtigt. denen Windenergieanlagen errichtet wurden (Über- sicht: HÖTKER et al. 2004, HÖTKER 2006). Seit 2016 Für den Schutz wandernder Vogelarten reicht es nicht wird dieser Ansatz indirekt auch im sog. Windenergie- aus, Brutgebiete und Überwinterungsquartiere einzeln erlass des MINISTERIUMS FÜR UMWELT, ENERGIE UND oder nur regional zu sichern, sondern es bedarf eines KLIMASCHUTZ (2016) zugrunde gelegt. Netzes von Gebieten entlang ihrer Zugwege, in denen In die gleiche Richtung zielen bundesweit einheitliche sie ohne Störung rasten, Nahrung aufnehmen, mausern Empfehlungen der LÄNDERARBEITSGEMEINSCHAFT und Energiereserven für den Weiterzug, die Rückkehr DER VOGELSCHUTZWARTEN (2014), die neben artspe- in die Brutgebiete und die anschließende Brut ansam- zifischen Mindestabständen zu Gastvogelvorkommen meln können. Daraus ergibt sich das Erfordernis, nicht entsprechende Abstände für Gastvogellebensräume nur an den Schwerpunkten des Zug- und Rastgeschehens von landesweiter bis internationaler Bedeutung emp- für einen wirkungsvollen Schutz zu sorgen, wie z. B. im fehlen und damit ebenfalls unmittelbar auf das nie- Wattenmeer oder an den großen Binnenseen, wo auch dersächsische Bewertungsverfahren zurückgehen. jedem Laien angesichts der viele tausend Individuen Auch für andere raumbedeutsame Planungen ist das umfassenden Vogelschwärme die Bedeutung der Gebiete Bewertungsverfahren von hoher Relevanz. Besondere unmittelbar einsichtig wird. Es gilt, auch solche Gebiete Bedeutung kommt Gastvogellebensräumen dabei z. B. als bedeutsam für Gastvögel zu erkennen, die geringere bei der Planung und Genehmigung von Energielei- Anzahlen aufweisen. Vor allem im Binnenland sollen auf tungstrassen, Verkehrswegen, Bauten im Außenbe- diese Weise Gebiete mit lebensnotwendiger Trittstein- reich – v. a. Stall- und sonstige landwirtschaftliche funktion ermittelt werden, z. B. für Arten, die generell Anlagen – oder Bodenabbau-Projekten zu. keine großen Ansammlungen bilden. Zur Umsetzung der Europäischen Vogelschutzrichtlinie Durch die Aufstellung von quantitativen Kriterien zur (RL 2009/147/EG) in Niedersachsen sind die quantitati- Bewertung auf unterschiedlichen Ebenen, von interna ven Kriterien zur Bewertung von Gastvogellebensräu- tional, national, landesweit, regional bis lokal, und men ein Kriterium bei der fachlichen Identifizierung zusätzlich unter Berücksichtigung des unterschiedlichen von Europäischen Vogelschutzgebieten. Es wurden all Verbreitungsmusters der Gastvogelarten in Niedersach- jene Gebiete vorgeschlagen, in denen mindestens eine sen wird diese Differenzierung möglich. Inzwischen wur- Gastvogelart des Anhanges I oder eine Zugvogelart den auch in anderen Bundesländern entsprechende Kri- gem. Art. 4 Abs. 2 der Europäischen Vogelschutzricht- terien und Schwellenwerte definiert und zur Bewertung linie den Kriterienwert für internationale Bedeutung der dortigen Gastvogellebensräume zugrunde gelegt erreicht (KRÜGER et al. 2003). Kamen in den entspre- (SUDMANN et al. 2017, HENNICKE 2018). Bei den Zahlen Abb. 1: Der Rastbestand der Pfeifente ist in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Hooksiel, Januar 2017 (Foto: Thorsten Krüger) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 51
für Niedersachsen wird darüber hinaus die besondere zend für Fische und 2005 für weitere ökologisch von niedersächsische Verantwortung im nationalen Kontext Feuchtgebieten abhängige Tierarten). Grundlage der für jene Arten berücksichtigt, die in Niedersachsen einen Bewertung blieb dabei das „1 %-Kriterium“. Es besagt, Vorkommensschwerpunkt haben. dass ein Gebiet von internationaler Bedeutung für eine Ausgangspunkt der Ermittlung und Anwendung feuchtgebietsgebundene Vogelart ist, wenn sich dort quantitativer Kriterien für Gastvogellebensräume ist das regelmäßig mindestens 1 % der entsprechenden biogeo- „Übereinkommen über Feuchtgebiete, insbesondere als graphischen Population aufhält (RAMSAR CONVENTION Lebensraum für Wasser- und Watvögel, von internatio- SECRETARIAT 2006). naler Bedeutung“ (Ramsar-Konvention) vom 2. Februar Nach der Ramsar-Konvention können nicht nur quan- 1971, das 1976 in der Bundesrepublik Deutschland mit titative Kriterien bei der Bewertung von Feuchtgebieten der Meldung der ersten Feuchtgebiete internationaler zugrunde gelegt werden, sondern auch halbquantita- Bedeutung in Kraft trat. Die Konvention führt aus, dass tive und qualitative ökologische Kriterien. Diese Arbeit „in erster Linie Feuchtgebiete, die während der Jahres- befasst sich jedoch ausschließlich mit der A ktualisierung zeiten im Hinblick auf Wat- und Wasservögel von inter- der quantitativen Kriterien. Sie stellen somit nur eine nationaler Bedeutung sind, in die Liste aufgenommen Möglichkeit der Identifizierung von F euchtgebieten werden“ sollen (Art. 2 Abs. 2). internationaler Bedeutung dar (vgl. DAVIS 1996, Erste quantitative Kriterien wurden bereits anlässlich RAMSAR CONVENTION SECRETARIAT 2006). der Konferenz 1971 in Ramsar für Entenvögel vorge- Hauptziel dieser Arbeit ist die Aktualisierung der Kri- schlagen (ATKINSON-WILLES 1972), verabschiedet wur- terienwerte. Daneben wird an dieser Stelle ihre Herlei- den diese Kriterien als Empfehlung jedoch erst 1974 auf tung differenziert erläutert und um einige Definitionen der Folgekonferenz in Heiligenhafen (AKTINSON-WILLES und Begriffserklärungen ergänzt, damit Nachvollzieh- 1976, PRATER 1976). Sie wurden 1980 auf der Vertrags- barkeit, Transparenz und Akzeptanz des Verfahrens auch staatenkonferenz von Cagliari überarbeitet und offiziell weiterhin gewährleistet sind und auf diese Weise sachli- gebilligt. Weitere überarbeitete Fassungen des Kriterien che Argumente für den Schutz der Vögel zur Verfügung katalogs folgten auf den Vertragsstaatenkonferenzen stehen. 1987 in Regina und 1990 in Montreux (sowie 1996 ergän- Abb. 2: Austernfischer, Alpenstrandläufer und Silbermöwen rasten bei Hochwasser dicht gedrängt auf einer Mole. Fedderwardersiel, Oktober 2017 (Foto: Thorsten Krüger) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 52
2 Methode und Datengrundlage 2.1 Begriffserklärungen und Definitionen können sie mit einbezogen werden. Entscheidend ist, dass durch die Abgrenzung der Feuchtgebiete interna- Für das weitere Verständnis der in dieser Arbeit gemach- tionaler Bedeutung alle Anforderungen der r elevanten ten Angaben sind einige Erläuterungen und Definitio- Wasservogelarten sowohl in ökologischer Hinsicht als nen erforderlich, die sich in erster Linie auf die Identi- auch unter Schutzaspekten erfüllt werden und den fizierung von Feuchtgebieten internationaler Bedeu- Erhalt der Rastbestände der jeweiligen Wasservogelarten tung beziehen und damit die höchste Ebene der von gewährleisten. BURDORF et al. (1997) eingeführten fünfstufigen Bewer- Feuchtgebiete internationaler Bedeutung können tungsskala betreffen. Sie sind jedoch auch für die nied- somit auch Bereiche einschließen oder sein, die keine rigeren Bewertungsstufen bzw. für bedeutsame Gast- Feuchtgebiete im rein hydrologischen Sinne darstellen. vogellebensräume, die keine Feuchtgebiete im engeren Als Beispiel für eine solche Situation sei hier das nie- Sinne sind, von grundsätzlicher Bedeutung und Gültig- dersächsische Wattenmeer mit den dort vorkommen- keit. den Wasservogelarten (s. Abb. 4) angeführt, von denen verschiedene Arten bei Hochwasser regelmäßig in die Das 1 %-Kriterium binnendeichs gelegenen Marschgebiete fliegen und Nach der Ramsar-Konvention ist ein Gebiet für auf dort rasten oder nach Nahrung suchen. Letztere sind als Feuchtgebiete ökologisch angewiesene Vogelarten u. a agrarisch geprägter Raum mit Grünland- und Ackernut- dann von internationaler Bedeutung, wenn es regelmä- zung in der Regel in weiten Teilen kein Feuchtgebiet im ßig 1 % einer biogeographischen Population einer Was- engeren Sinne, gleichwohl jedoch von herausgehobener ser- oder Watvogelart beherbergt. Das „1 %-Kriterium“ ökologischer Bedeutung und Funktion als Gastvogel wurde in zahlreiche internationale Richtlinien, Überein- lebensraum (s. Abb. 5). kommen und Konzepte übernommen (z. B. in die Euro- Dieser Sachverhalt ist für das Verständnis des in Nie- päische Vogelschutzrichtlinie Art. 4 Abs. 2 oder in das dersachsen angewandten Verfahrens von entscheidender Abkommen zur Erhaltung der afrikanisch-eurasischen Bedeutung, da hier der Schwerpunkt nicht ausschließlich wandernden Wasservögel / Agreement on the Conserva- auf der Identifizierung von Feuchtgebieten von (interna- tion of African-Eurasian Migratory Waterbirds, AEWA). tionaler) Bedeutung liegt, sondern die vorgelegten Kri- terien ganz generell zur Identifizierung und Bewertung Die biogeographische Population von bedeutsamen Gastvogellebensräumen herangezo- Bezugsgrundlage der Identifizierung von Feuchtgebieten gen werden. internationaler Bedeutung auf Basis des 1 %-Kriteriums bzw. allgemein der Bewertung von Gastvogellebens- Zur Gebietsgröße räumen sind die biogeographischen Populationen der In den Empfehlungen für die Anwendung der Kriterien Wasser- und Watvogelarten (nachfolgend kurz „Wasser- der Ramsar-Konvention wird darauf verwiesen, dass es vogelarten“, analog zu den „waterbirds“ im Sinne der nicht möglich ist, für die Größe eines Gebietes genaue Ramsar-Konvention), die entweder durch geographisch Richtwerte anzugeben, jedoch sollen Feuchtgebiete, getrennte Brutgebiete, geographisch getrennte Zug- denen internationale Bedeutung zuerkannt wird, eine wege oder geographisch getrennte Winterquartiere von- ökologische Einheit bilden, also z. B. Nahrungshabitate, einander abgegrenzt werden (vgl. ROSE & SCOTT 1994, Schlaf- und Trinkgewässer für Schwäne, Gänse oder Kra- 1997, DELANY et al. 2009). Das Verbreitungsgebiet einer niche und deren Verbindungsgebiete gleichermaßen Wasservogelart kann dabei in mehrere biogeographische berücksichtigen. Um ökologische Einheiten als solche zu Populationen unterteilt sein und entsprechend können erkennen, ist es notwendig, für alle Wasservogelarten in Deutschland und Niedersachsen von ein und derselben eines Feuchtgebiets die entsprechenden Erkenntnisse Wasservogelart Angehörige verschiedener biogeographi- über Raum-Zeit-Nutzungsmuster und lokale Gegebenhei- scher Populationen regelmäßig vorkommen (WETLANDS ten zusammenzutragen. Verfügbare Daten aus Besen- INTERNATIONAL 2012, NAGY & LANGENDOEN 2018). derung, Telemetrie oder Farbmarkierung sollten dabei WAHL et al. (2007) haben für unklare Fälle festgelegt, unbedingt einbezogen werden (s. a. KRUCKENBERG welche biogeographischen Populationen für Deutschland 2004). Somit können Feuchtgebiete aus einem einzigen oder Teile von Deutschland relevant sind und zu welcher großen Gebiet oder einer Gruppe kleinerer Feuchtge- Jahreszeit sie zu berücksichtigen sind. biete bestehen, die abhängig von Wasserstand, Nah- rungsangebot, Windverhältnissen und Störungen in ihrer Was ist ein „Feuchtgebiet“? Gesamtheit genutzt werden (RAMSAR CONVENTION Im Hinblick auf die Identifizierung von Feuchtgebieten SECRETARIAT 2006). internationaler Bedeutung ist die Definition eines Dennoch ist es in der Naturschutzpraxis, bspw. in Feuchtgebietes weit gefasst (RAMSAR CONVENTION Zusammenhang mit Planungsvorhaben oder zur Beur- BUREAU 2018): alle Feuchtlebensräume, inklusive der teilung von Eingriffen, häufig erforderlich, auch Bewer- künstlichen oder nur temporär vorhandenen, sowie Mee- tungen für Teile einer ökologischen Einheit vorzuneh- resgewässer bis zu einer Wassertiefe von sechs Metern men. Der Betrachtungsraum orientiert sich dabei in der bei Niedrigwasser (s. Abb. 3) gelten als „Feuchtgebiete“. Regel am Planungsgebiet oder dem Wirkraum möglicher Wenn die an die Feuchtgebiete anschließenden Ufer- Eingriffe. Die Abgrenzung der Bewertungsgebiete sollte oder Küstenbereiche, Inseln etc. als Lebensraum für sich dabei an naturräumlichen Gegebenheiten orien- Wasservögel ebenfalls von Bedeutung sind oder in einer tieren, d. h. Kulturlandschaftskomplexe sollten anhand ökologischen Beziehung zu den Feuchtgebieten stehen, im Gelände erkennbarer ökologischer Strukturen abge- Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 53
Abb. 3: Zu „Feuchtgebieten“ im Sinne der RAMSAR-Konvention zählen Meeresgewässer bis zu einer Wassertiefe von sechs Metern unterhalb der Niedrigwasserlinie. Eiderenten vor Memmert, Mai 2020 (Foto: Josephin Erber) Abb. 4: Auch das Wattenmeer ist ein „Feuchtgebiet“ im Sinne der RAMSAR-Konvention. Rotschenkel im Watt des Jadebusens bei Dangast, September 2019 (Foto: Thorsten Krüger) Abb. 5: Binnendeichs angrenzende, „trockene“ Bereiche, die bei Hochwasser regelmäßig als Rastplatz genutzt werden, gelten ebenfalls als „Feuchtgebiete“. Brachvögel im EU-Vogelschutzgebiet „Butjadingen“ bei Waddens, März 2008 (Foto: Thorsten Krüger) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 54
grenzt werden, wie z. B. Baumreihen, Hecken oder Sied- Der Artenkorb lungsräume. In Einzelfällen können auch größere Stra- Die Ramsar Konvention definiert Wasservögel funkti- ßen oder andere anthropogene Strukturen zur Begren- onell als „Vögel, die ökologisch von Feuchtgebieten zung herangezogen werden. abhängig sind“ (Artikel 1.2). Diese Definition schließt Die bewerteten Teilgebiete können dann jedoch in somit jede Feuchtgebietsvogelart ein (RAMSAR CONVEN- ihrer jeweiligen Bedeutung die Wertigkeit des Gesamt- TION BUREAU 2018). Auf der breiten Ebene taxonomi- gebiets zumeist nicht erreichen. Dies ist bei der Bewer- scher Ordnungen umfasst sie insbesondere (ohne für Nie- tung für Gastvögel vorsorgend zu berücksichtigen. Ein dersachsen nicht relevante Gruppen): Entenvögel (Anse- planerischer Ansatz zur Gebietsabgrenzung darf nicht riformes), Kranichvögel (Gruiformes), Lappentaucher dazu führen, die ökologischen Zusammenhänge in einem (Podicipedidae), Regenpfeifervögel (Charadriiformes), Gebiet zu missachten. Genau das ist jedoch, wie die ver- Seetaucher (Gaviiformes), Störche (Ciconiiformes), Ruder- gangenen Jahre gezeigt haben, im Rahmen von räum- füßer (Suliformes) und Pelikanvögel (Pelicaniformes). Für lich eng begrenzten Einzelvorhaben oft der Fall und einzelne feuchtgebietsgebundene Vogelarten weiterer dabei ist z. B. die Betrachtung von in Radien von 500 m Ordnungen, wie z. B. Kuckucke (Cuculiformes), Greifvö- um bestimmte Bauvorhaben kreisförmig abgegrenzten gel (Accipitriformes) oder Eulen (Strigiformes), existieren Kleinsträumen fachlich unzulässig. Grundsätzlich müssen keine validen Bestandsschätzungen ihrer biogeographi- in jede Gebietsbewertung naturschutzfachliche Gesichts- schen Populationen und entsprechend auch keine inter- punkte gerade auch aus Vorsorgegründen mit einfließen nationalen 1 %-Werte. (BURDORF et al. 1997, WAHL et al. 2007). Für Wasservogelarten, die nicht zur heimischen Über den internationalen Bezug im Hinblick auf die Avifauna zählen, das heißt aus ihrem ursprünglichen Ausdehnung von wertvollen Gastvogellebensräumen Verbreitungsgebiet nicht selbstständig eingewandert oder Aspekte in Zusammenhang mit Planungen hinaus, sind, werden von NAGY & LANGENDOEN (2018) eben- ist es grundsätzlich Ziel des niedersächsischen Bewer- falls keine 1 %-Werte angegeben (z. B. bei Kanadagans tungsverfahrens, auch Gebiete von lokaler Bedeutung Branta canadensis, Nilgans Alopochen aegyptiaca und zu identifizieren, die mitunter ganz spezifische Funktio- Mandarinente Aix galericulata in Europa). Wir folgen nen erfüllen und dabei oft lediglich von geringer Größe hier der Empfehlung von WAHL et al. (2007), bei Wasser- sind. Angesichts des historischen Feuchtgebietsverlustes vogelarten, deren Bestände vermutlich anthropogenen in vielen Teilen Niedersachsens sind gerade diese häu- Ursprungs sind und keiner Wildpopulation entstammen, fig die letzten Trittsteine für durchziehende Wasser- und keine Bewertung vorzunehmen. Watvögel. Ergänzend, und den ökologischen Ansatz der Ramsar- Einen Sonderfall im Hinblick auf die Gebietsgröße Konvention untermauernd, werden wegen ihrer hohen stellen die Vögel des Offshore-Bereichs der Nordsee dar. naturschutzfachlichen Bedeutung (AUMÜLLER et al. Hierunter fallen jene Arten, die ökologisch zu den See- 2016) in dieser Arbeit auch bestimmte an Küstenlebens- vögeln zählen (z. B. Basstölpel Morus bassanus, Tordalk räume gebundene Singvogelarten (Ohrenlerche Eremo Alca torda) bzw. Küstenvögel, die wie der Sterntaucher phila alpestris, Berghänfling Linaria flavirostris, Schnee- (Gavia stellata) Bereiche innerhalb der 12-Seemeilen- ammer Plectrophenax nivalis) behandelt. Zone aufsuchen, die aber weit(er) entfernt von der Der Artenkorb zur Bewertung von Gastvogellebens- Festlandsküste liegen. Sie treten im niedersächsischen räumen in Niedersachsen umfasst insgesamt 104 Arten. Küstenmeer nur selten in Ansammlungen auf, sondern Dabei werden auch Unterarten (sechsmal) bzw. Popula- verteilen sich stattdessen über – im Vergleich zu Rastge- tionen (einmal) einer Art gesondert betrachtet. Für die bieten an Land – geradezu riesige Gebiete. Um bei ihnen praktische Anwendung der Kriterien bei feldornitholo- eine Individuensumme ermitteln zu können, die sich gisch nicht oder nur sehr schwer zu trennenden Unter- z. B. im Bereich des Kriterienwertes für internationale arten bzw. Populationen einer Art werden die Vorkom- Bedeutung befindet, müsste u. U. ein Gebiet von mehre- men Hauptdurchzugsmonaten zugeordnet (WAHL et ren Tausend Hektar Fläche betrachtet werden, welches al. 2007). Das betrifft hier Sandregenpfeifer (Charadrius sich darüber hinaus noch nicht einmal anhand stabiler hiaticula), Pfuhlschnepfe (Limosa lapponica), Rotschen- und ohne größeren Aufwand ermittelbarer Strukturen kel (Tringa totanus), Steinwälzer (Arenaria interpres) und abgrenzen ließe. Knutt (C. canutus). Die Kriterienwerte finden entspre- Aus diesem Grund ist das in die- ser Arbeit beschriebene Verfahren zur Bewertung von Gastvogelle- bensräumen für „Offshore-Arten“ (die als solche gekennzeichnet sind, s. Anhang) ungeeignet. In Niedersachsen wird alternativ ein dichtebasiertes, geostatisti- sches Interpolationsverfahren zur Identifizierung und Abgrenzung wertvoller mariner Gastvogelle- bensräume angewandt (KRÜGER et al. 2003; s. a. SKOV et al. 1995, 2000). Die nachfolgenden Häufig- keitsangaben und Kriterienwerte bei den Vogelarten des Offshore- Bereichs haben insofern rein nach- Abb. 6: Der Weißstorch zählt als feuchtgebietsgebundene Vogelart zu den „Wasservögeln“ im Sinne der richtlichen Charakter. RAMSAR-Konvention. Hunteniederung bei Moordorf, April 2020 (Foto: Thorsten Krüger) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 55
chend in diesen, in der Anhangstabelle angegebenen Auch auf See ist bezüglich der Verbreitung und Bestands- Monaten Anwendung. Ansonsten gilt grundsätzlich, dass größe von See- und Küstenvögeln ein Quantensprung der 1 %-Wert der größeren in Niedersachsen auftreten- in Bezug auf Datendichte und -qualität zu erkennen, so den Population einer Art verwendet wird, sofern bei dass heute nicht nur für die deutschen Hoheitsgewäs- der Datenerhebung keine Differenzierung der Unterar- ser in Nord- und Ostsee (MARKONES et al. 2014, 2015), ten bzw. Populationen erfolgte (MEININGER et al. 1995, sondern auch für Teilbereiche wie das niedersächsische WAHL et al. 2007). Küstenmeer entsprechende Angaben vorliegen (GUSE et al. 2018). Gültigkeit der Kriterienwerte Die in dieser Arbeit zur Ermittlung von Kriterienwer- Die 1 %-Werte der biogeographischen Populationen ten verwandten Bestandsgrößen basieren auf folgenden gelten für den Zeitraum von der Veröffentlichung des Quellen: entsprechenden Conservation Status Report (CSR) des Standing Committee des AEWA-Abkommens bis zum International Erscheinen der nachfolgenden Fassung. Dies kann unter Die internationalen Bestandsgrößen entstammen der Umständen alle drei Jahre der Fall sein, da in diesem Zusammenstellung von NAGY & LANGENDOEN (2018), Turnus der Vertragsstaatenkonferenz neue Schätzun- in der für 445 im Geltungsbereich des AEWA-Abkom- gen vorgelegt werden sollen bzw. die Bestandsgrößen mens vorkommende Populationen Angaben enthalten zu überprüfen sind (ROSE & STROUD 1994, WAHL et al. sind und zugleich die maßgeblichen 1 %-Werte festge- 2007, NAGY & LANGENDOEN 2018). legt wurden. Die Werte sind dabei identisch mit den von Da innerhalb dieses dreijährigen Turnus jedoch keine VAN ROOMEN et al. (2018) für Wasservogelpopulationen entsprechend aktualisierten, zugleich belastbaren nati- des East Atlantic Flyways vorgelegten Bestandsgrößen. onalen und landesweiten Bestandsgrößen vorliegen Beim Zwergschwan (Cygnus columbianus) folgen wir dürften und ein so kurzer Zeitraum für die beiden letzt- abweichend davon den aktuellen Bestandsschätzungen genannten Bezugsräume mit Blick auf Veränderungen von BEEKMAN et al. (2019). Echte Seevogelarten sind von Gastvogelpopulationen wenig sinnvoll erscheint, aufgrund der Tatsache, dass die Ramsar-Konvention nur sollen die in dieser Arbeit zusammengestellten Zahlen – Meeresbereiche mit einer Tiefe bis zu sechs Metern bei auch die 1 %-Werte für internationale Bedeutung – als Niedrigwasser einschließt, nicht Bestandteil der Zusam- Konvention so lange angewandt werden, bis die nächste menstellungen von Wetlands International. Es liegen Fassung der „Quantitativen Kriterien zur Bewertung von jedoch Angaben über die Bestände von MITCHELL et al. Gastvogellebensräumen in Niedersachsen“ vorgelegt (2004) vor, die noch Gültigkeit besitzen. Die Werte für wird. Singvogelarten der Küstenlebensräume basieren auf Aus- wertungen von AUMÜLLER et al. (2016). 2.2 Datengrundlage National Wie schon bei der 2. und 3. Fassung konnte auch für Die nationalen Bestandsgrößen gehen – soweit nicht diese 4. Fassung wieder auf erheblich verbessertes anders angegeben – auf eine aktuelle vom Dachverband Datenmaterial zurückgegriffen werden. Die ermittelten Deutscher Avifaunisten (DDA) durchgeführte Auswer- Bestandsgrößen sind dadurch deutlich besser abgesi- tung der Ergebnisse der bundesweiten Wasser- und Wat- chert. So liegt auf internationaler Ebene eine Fortschrei- vogelzählungen sowie vieler weiterer Daten aus allen bung der fünften Auflage der „Waterbird Population Bundesländern zurück (BUNDESAMT FÜR NATURSCHUTZ Estimates“ von WETLANDS INTERNATIONAL (2012) vor. 2019, GERLACH et al. 2019). Diese Auswertung berück- Die Fortschreibung wird weiterhin von Wetlands Inter- sichtigt den Zeitraum 2011/12 bis 2015/16. Sie wurde national erstellt, jedoch mittlerweile unter dem Dach des überdies mit den Erkenntnissen und Ergebnissen ein- AEWA-Abkommens als Anhang des Conservation Status zelner Art-/Artengruppenspezialisten abgeglichen, bei Report veröffentlicht (NAGY & LANGENDOEN 2018). den See- und Küstenvögeln z. B. mit den Experten der Zusätzlich liegt eine aktuelle Gesamtschau über die deutschen Seabirds-at-Sea-Arbeitsgruppe (FTZ-West- Bestände von Arten, die den East Atlantic Flyway fre- küste der Universität Kiel). Bei etlichen Arten wurde die quentieren (VAN ROOMEN et al. 2018), vor. Auf natio- Auswertung des DDA mit Erkenntnissen aus aktuellen naler Ebene sind die bundesweiten Aktivitäten um die Studien abgeglichen. Hier sind beispielsweise zu nennen: Wasser- und Watvogelzählungen in den vergangenen See- und Küstenvögel (GUSE et al. 2018, Forschungs- und zehn Jahren noch einmal deutlich intensiviert und das Technologiezentrums Westküste [FTZ] in BUNDESAMT Monitoring rastender Wasservögel auf ein noch breiteres FÜR NATURSCHUTZ 2019) oder Wattenmeervögel (BLEW Fundament gestellt worden (WAHL et al. 2017). et al. 2016, 2017, KLEEFSTRA et al. 2019). Das 1992 aufgelegte Trilaterale Wattenmeer-Moni- Für einige Arten konnten vom DDA lediglich Häufig- toring (TMAP) bzw. das Joint Monitoring of Migratory keitsklassen mit einer bestimmten Spannbreite als nati- Birds in the Wadden Sea (JMMB) läuft weiterhin auf onale Bestandsgröße angegeben werden (GERLACH et hohem Niveau und liefert mit Hilfe verbesserter Aus- al. 2019). Zu diesen i. d. R. schwierig zu erfassenden oder wertungsroutinen genauere Informationen über die hinsichtlich ihrer Rastökologie nicht oder nur unvollstän- Bestände und Bestandsveränderungen der typischen dig durch die Wasser- und Watvogelzählungen abzude- Wattenmeervögel. Überdies gibt es seit 1997 eine Reihe ckenden Arten zählen z. B. Bekassine (Gallinago galli von auf einzelne Arten oder Artengruppen ausgerich- nago), Zwergschnepfe (Lymnocryptes minimus) oder tete, bundesweite Spezialerfassungen bzw. Monitoring- Waldwasserläufer (Tringa ochropus). Die Häufigkeitsklas- vorhaben (Goldregenpfeifer-Synchronzählungen, Kormo- sen werden in dieser Arbeit entsprechend wiedergege- ran- und Möwen-Schlafplatzzählungen, Monitoring von ben, für die Berechnung des Kriterienwertes für natio- Gänsen und Schwänen usw.). nale Bedeutung (und des niedersächsischen Bestands- anteils am nationalen Bestand) wird das geometrische Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 56
Mittel zwischen der Ober- und Untergrenze der Häufig- i. Vorber.), Moorente (Aythya nyroca) (MELLES & BRANDT keitsklassen zugrunde gelegt. 2016), Eiderente (Somateria mollissima) (Zählflüge der Beim Kranich (Grus grus) wurde die nationale Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer), Bestandsgröße eigens ermittelt, da die Bestandsent- Kranich (OBRACAY 2016, 2017, K. OBRACAY briefl.), wicklung bei der Art auch innerhalb der letzten Jahre Gastvögeln des Wattenmeeres auf den Außensänden noch sehr dynamisch verlief. Die hier gewählten Werte (FRANK 2014, 2016), Regenbrachvogel (Numenius pha gehen auf gesonderte, speziell auf den Kranich gerich- eopus) (KRUCKENBERG et al. 2012), Kormoran (Phalac tete Betrachtungen zurück (DONAT 2015, 2016, 2017, rocorax carbo) (BIOS 2019), See- und Küstenvögeln im PRANGE 2016) und sind für denselben Zeitraum reprä- Offshore-Bereich (GUSE et al. 2018) und überwinternden sentativ wie für die landesweiten Bestände. Bei Fluss- Singvögeln im Nationalpark Niedersächsisches Watten- regenpfeifer (C. dubius), Brand- (Thalasseus sandvicen meer (AUMÜLLER et al. 2016). Überdies fanden Berichte sis), Zwerg- (Sternula albifrons), Fluss- (Sterna hirundo) über bemerkenswerte Feststellungen von Gastvogelan- und Küstenseeschwalbe (S. paradisaea) sowie Schwarz- sammlungen Berücksichtigung, wie z. B. bei der „Isländi- (Ciconia nigra) und Weißstorch (C. ciconia) liegen keine schen Uferschnepfe“ (Limosa l. islandica) (KRUCKENBERG belastbaren aktuellen Daten zu nationalen Rastbestän- 2014). den vor. Aus pragmatischen Gründen wurden für diese Bei Rothalstaucher (Podiceps grisegena), Schwarzkopf- Arten die nationalen Brutbestände (Stand: 2011-2016; möwe (L. melanocephalus), Brand-, Fluss- und Küsten- GERLACH et al. 2019) verdreifacht als Rechenwert für seeschwalbe, Schwarz- und Weißstorch, Rohrdommel den Bundesbestand verwendet (zum Verfahren vgl. (Botaurus stellaris) sowie Graureiher (Ardea cinerea) MEININGER et al. 1995, WETLANDS INTERNATIONAL liegen keine belastbaren Daten zu landesweiten Rast- 2006). beständen vor. Aus pragmatischen Gründen wurden für diese Arten die niedersächsischen Brutbestände (Stand Landesweit 2016; STAATLICHE VOGELSCHUTZWARTE) verdreifacht als Die landesweiten Bestandsgrößen sind gerundete Mit- Rechenwert für den Landesbestand verwendet (s. o.). telwerte der Tageshöchstzahlen aus den Jahren 2011 bis Dennoch sind die landesweiten Bestandsdaten bei 2016. Damit weicht der Betrachtungszeitraum geringfü- einigen Arten, die besonders schwierig zu erfassen sind, gig von dem des vom DDA gewählten ab, was jedoch mit wie auch auf Bundesebene nur als grobe Annäherungs- Ausnahme der o. a. Arten als vernachlässigbar eingestuft werte zu verstehen und bedürfen dringend einer fach- werden kann. Das Vorgehen trägt zudem dem Erforder- lichen Bestätigung durch verbesserte Erfassungs- und nis Rechnung, mit möglichst aktuellen niedersächsischen Monitoringansätze (z. B. Flussregenpfeifer oder Zwerg- Beständen Lebensraumbewertungen durchzuführen. Zur schnepfe). In Verbindung mit den nationalen Bestands- Ermittlung der landesweiten Bestandsgrößen wurden die schätzungen können dadurch in einigen Fällen auch von der Staatlichen Vogelschutzwarte niedersachsenweit echte Verzerrungen der Bestandsverhältnisse auftreten. koordinierten Wasser- und Watvogelzählungen ausge- wertet. Die Zählungen finden an der Küste, den großen Bin- nenseen und in einigen anderen Gebieten ganzjährig alle 14 Tage, in den übrigen Bereichen einmal monatlich, zumeist von August bis Mai, in abgegrenzten Zählgebie- ten und synchron an festgelegten Zählterminen statt. Das Gebietsnetz deckt die wichtigsten Bereiche ab, den- noch bestehen Lücken. Vor diesem Hintergrund wurde in Kenntnis der Verbreitungs- und Häufigkeits- muster der betrachteten Gastvö- gel im Berichtsgebiet artspezifisch geprüft, wie hoch der Erfassungs- grad jeweils ist und es wurden dann ggf. die ermittelten maxima- len Tageshöchstzahlen um Schätz- werte für die nicht abgedeckten Bereiche ergänzt. Darüber hinaus wurden für einige Arten landesweite Syn- chronzählungen, systematische Bestandserfassungen in bestimm- ten Landesteilen oder spezielle Artenhilfsmaßnahmen durchge- führt und bei der Herleitung von landesweiten Bestandszahlen berücksichtigt, so bei nordischen Gänsen und Schwänen (Anser, Branta und Cygnus) (DEGEN Abb. 7: Der Landesbestand rastender Kraniche hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, so 2015, BLÜML & KRUCKENBERG dass der Kriterienwert für „landesweite Bedeutung“ in der Region „Watten und Marschen“ gegen- 2019), Zwerggans (Anser erythro über der dritten Fassung der quantitativen Kriterien zur Bewertung von Gastvogellebensräumen in Niedersachsen von 540 auf 1.700 Ind. angehoben wurde. Diepholzer Moorniederung, Oktober 2011 pus) (KRUCKENBERG & KRÜGER (Foto: Willi Rolfes) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 57
3 Herleitung und Anwendung der Kriterien In Niedersachsen wird der Gastvogelbestand eines Gebie- einzelnen Arten (Tab. 1). Sie basiert dabei auf den Natur- tes in fünf Stufen bewertet (international, national, lan- räumlichen Regionen Niedersachsens (HECKENROTH & desweit, regional, lokal). Dazu werden Kriterienwerte LASKE 1997, DRACHENFELS 2010) und den aus ihnen verwendet, die sich aus den Bestandsgrößen der Arten gebildeten Rote-Liste-Regionen: „Watten und Mar- in den jeweiligen Bezugsräumen ableiten. Dies schafft schen“, „Tiefland“ (zusammengefasst West und Ost) die Voraussetzung für eine differenzierte Einstufung sowie „Bergland mit Börden“ (zur Abgrenzung s. KRÜ- der Vogelbestände und verbessert die Möglichkeiten GER & NIPKOW 2015). Hierbei wird ersichtlich, wie sich der Umsetzung des Lebensraumschutzes bis zur lokalen die regionalen und lokalen Kriterienwerte durch die Ebene. Kategorisierung der Arten (1-4) in den einzelnen Regio- Im Einzelnen gilt: nen („Watten und Marschen“, „Tiefland“, „Bergland mit Bezugsgröße für die Ermittlung der internationalen Börden“) und Bewertungsstufen prozentual ändern (vgl. Bedeutung ist die gesamte biogeographische Popu- Tab. 2). Als Ausgangswert ist das landesweite Kriterium lation einer Art, die in den meisten Fällen zwischen der Region „Watten und Marschen“ anzusetzen, weil 2000 und 2016 ermittelt wurde (NAGY & LANGEN- dort von jeder Art die größten Bestände in Niedersach- DOEN 2018), sen vorkommen. Bezugsgröße für die Ermittlung der nationalen Bedeu- Auch bei diesen Einstufungen wurde einer möglichst tung ist der durchschnittliche maximale Gastvogelbe- einfachen Skalierung der Vorzug gegeben, die die unter- stand einer Art in Deutschland im Zeitraum 2011/12 bis schiedlichen Verbreitungsmuster dennoch ausreichend 2015/16 (GERLACH et al. 2019), widerspiegelt. Bezugsgröße für die Ermittlung der landesweiten, Da nicht in allen Regionen bzw. Naturräumen der regionalen und lokalen Bedeutungen ist jeweils der Gastvogelbestand mit vergleichbarer Intensität und Voll- durchschnittliche maximale Gastvogelbestand einer ständigkeit erfasst wird, erscheint dieses pragmatische Art in Niedersachsen im Zeitraum 2011 bis 2016. Verfahren für die Ermittlung der regionalen und lokalen Kriterien geeignet. Es hat sich in den vergangenen Jah- Da die einzelnen Gastvogelarten in Niedersachsen ein ren in der naturschutzfachlichen Praxis bewährt. sehr unterschiedliches Verbreitungs- und Häufigkeits- Grundsätzlich gilt für alle Bewertungsstufen, dass ein muster haben, muss dieses je nach Lage des Gebietes bei Gebiet nur dann eine bestimmte Bedeutung erreicht, der Bewertung berücksichtigt werden. Dazu wurden die wenn mindestens für eine Art das entsprechende Kri- Arten in vier Kategorien eingeteilt (s. Tab. 1). terium in der Mehrzahl der untersuchten Jahre (hier: Die Regionalisierung der Kriterien erfolgt gemäß je nach Datenlage Kalenderjahre oder „Vogeljahre“/ Tab. 2 auf Grundlage der Verbreitungskategorien der „Lebensjahre“), z. B. in mindestens drei von fünf J ahren, Tab. 1: Verbreitungskategorien von Gastvogelarten in Niedersachsen Vorkommen Kategorie 1 Art, die regelmäßig nur im Wattenmeer und/oder im Küstenmeer vorkommt Kategorie 2 Art der Region Watten und Marschen (mit geringen Beständen auch im Tiefland und im Bergland mit Börden) Kategorie 3 Art der Regionen Watten und Marschen sowie Tiefland (mit geringen Beständen im Bergland mit Börden) Kategorie 4 Art mit relativ gleichmäßiger Verteilung in Niedersachsen Region = Rote-Liste-Region: Watten und Marschen, Tiefland (zusammengefasst West und Ost), Bergland mit Börden (Abgrenzung s. KRÜGER & NIPKOW 2015) Tab. 2: Prozentwerte zur Ermittlung artspezifischer Kriterienwerte für die einzelnen Regionen in Niedersachsen (Bezugsgröße: landesweites Kriterium „ Watten und Marschen“) Watten und Marschen Tiefland Bergland mit Börden Verbreitungskategorie (s. Tab. 1) landes landes landes regional lokal regional lokal regional lokal weit weit weit 1 100 % 50 % 25 % 2 100 % 50 % 25 % 25 % 12,5 % 6,25 % 25 % 12,5 % 6,25 % 3 100 % 50 % 25 % 100 % 50 % 25 % 25 % 12,5 % 6,25 % 4 100 % 50 % 25 % 100 % 50 % 25 % 100 % 50 % 25 % Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 58
erreicht wird. Um eine verlässliche Bewertung eines Gebietes vorneh- men zu können, sind daher mehr- jährige Erfassungen des Gastvogel- bestandes zwingend erforderlich, d. h. die Arten wurden „komplett“ in Spektrum und zeitlichem Vor- kommen erfasst. Als Bezugszeitraum für die Bewertung sind die fünf aktuel- len Jahresmaxima heranzuzie- hen, wobei die Daten möglichst nicht älter als zehn Jahre sein sollten (vgl. ATKINSON-WILLES et al. 1982). Bei nur kurzzeitiger Untersuchungsdauer und gerin- ger Untersuchungsdichte, wie es z. B. bei Eingriffsplanungen die Regel ist, muss im Sinne des Vor- sorgeprinzips davon ausgegangen werden, dass eine Bedeutung des Abb. 8: Durchzugs- und Überwinterungsgebiete, in denen Sing- und Zwergschwäne ungestört Nahrung Gebietes bereits bei nur einmali- suchen und rasten können und die zudem Sicherheit bietende Schlafgewässer aufweisen, sind von gro- ßer Bedeutung für die Art und entscheiden über den Fortpflanzungserfolg in der nächsten Brutsaison. gem Überschreiten des Kriterien- Gebiete in den Regionen „Watten und Marschen“ sowie „Tiefland“, in denen stetig mindestens 200 wertes gegeben ist. Die Bewertung Sing- bzw. 75 Zwergschwäne vorkommen, sind Gastvogellebensräume von landesweiter Bedeutung. ist allerdings als vorläufig zu kenn- Aheschen Bruche bei Neuenkirchen-Vörden, Januar 2014 (Foto: Volker Blüml) zeichnen (s. hierzu auch WAHL et al. 2007). Gastvogellebensräume von internationaler Bedeutung Für Arten der Verbreitungskategorie 2 (s. Tab. 1) wird als landesweites Kriterium für die Regionen „Tiefland“ und Ein Gebiet ist von internationaler Bedeutung, wenn es „Bergland mit Börden“ 25 % vom Wert der Kategorie 2 regelmäßig festgesetzt (s. Tab. 2), für Arten der Verbreitungskate- mind. 20.000 Wasservögel oder gorie 3 wird als landesweites Kriterium für die Region mind. 1 % der Individuen einer biogeographischen „Bergland mit Börden“ 25 % vom Wert der Kategorie 2 Population einer Wasservogelart beherbergt. festgesetzt. Für Arten der Verbreitungskategorie 1 gibt es hingegen kein landesweites Kriterium für die Regio- Hierbei kann – sofern entsprechende Daten verfügbar nen „Tiefland“ und „Bergland mit Börden“. sind – auch der Austausch bzw. die Austauschrate von Das von BURDORF et al. (1997) eingeführte 2 %-Krite- Individuen einer Wasservogelart (Turnover) während der rium beruht wie seine Pendants für internationale bzw. Zugzeit berücksichtigt (z. B. mittels Fang-Wiederfang- nationale Bedeutung auf einer Konvention. Der Krite- Methode individuell gekennzeichneter Vögel im Gebiet) rienwert für die landesweite Ebene muss dabei höher und so eine kumulative Gesamtzahl ermittelt werden angesetzt werden, weil Niedersachsen ein Land der (RAMSAR CONVENTION BUREAU 2018). Küste, der Feuchtgebiete, der großen Flussniederungen, Gebiete dieser Kategorie erfüllen die Kriterien als Moore und Seen ist und ein Kriterienwert von 1 % zu Feuchtgebiete internationaler Bedeutung gemäß Ram- einer „Gebietsinflation“ führen würde. Der Blick auf die sar-Konvention und gleichzeitig auch die Kriterien des artspezifischen Schwellenwerte offenbart, dass bei Wahl Landes Niedersachsen, um als Europäische Vogelschutz- eines 1 %-Kriteriums bei vielen Arten Gebiete bereits mit gebiete gemäß Europäischer Vogelschutzrichtlinie iden- fünf oder mehr Individuen regelmäßig zu landesweit tifiziert und nach Prüfung weiterer Aspekte, wie z. B. der bedeutsamen Gebieten zählen würden. Im Interesse der flächenmäßigen Eignung des Gebietes, zu einem solchen Kraft des ursprünglichen und etablierten Bewertungs- erklärt zu werden (KRÜGER et al. 2003). ansatzes von BURDORF et al. (1997) und um die landes- weite Bedeutung zu betonen, wird daher weiter das Gastvogellebensräume von nationaler Bedeutung 2 %-Kriterium verwendet. Ein Gebiet ist von nationaler Bedeutung für Wasservögel, Niedersachsen hat dabei als Bundesland mit erheb- wenn dort regelmäßig mindestens lichem Anteil sowohl an der deutschen Nordseeküste 1 % des durchschnittlichen maximalen nationalen (ca. 40 %) als auch an der Gesamtfläche der Bundes- Rastbestandes einer Wasservogelart vorkommt. republik Deutschland (ca. 13 %) im Gastvogelschutz eine besondere Verantwortung zu erfüllen. Für Arten Gastvogellebensräume von landesweiter Bedeutung mit besonders hohem Anteil am nationalen Bestand Ein Gebiet ist von landesweiter Bedeutung für Wasser wurde ein Verantwortungsfaktor definiert (s. Tab. 3). vögel, wenn dort regelmäßig mindestens Eine besondere Verantwortung ist gegeben, wenn der 2 % des durchschnittlichen maximalen landesweiten Bestand größer als 20 % des nationalen Bestandes ist. Rastbestandes einer Wasservogelart vorkommen, ggf. abzüglich eines „Bonus“ für die landesweite Verant- wortung (s. u.). Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 59
Tab. 3: Berechnung des Verantwortungsfaktors (VF) sowie des Gastvogellebensräume von lokaler Bedeutung landesweiten Schwellenwertes unter Berücksichtigung des Verantwortungsfaktors Die lokale Bedeutung bezieht sich auf die jeweilige naturräumliche Einheit (Naturraum; zur Abgrenzung Verantwortungsfaktor s. Karte in KRÜGER et al. 2014). Gebiete sind von lokaler Bedeutung, wenn eine Was- landesweite Bestandsgröße servogelart regelmäßig mindestens ein Viertel des lan- VF = 1 – desweiten Kriterienwertes der entsprechenden Region 2 x nationale Bestandsgröße („Watten und Marschen“, „Tiefland“, „Bergland mit Bör- Landesweiter Schwellenwert den“) erreicht. Es ist aber zu beachten, dass der landes- weite Kriterienwert je nach Verbreitungskategorie und 2 % der landesweiten Bestandsgröße x VF damit Region unterschiedlich ist. Rundung und Minima der Kriterienwerte Im Ergebnis führt die Verwendung des Verantwortungs- Allgemein werden die Kriterienwerte gerundet bei: faktors dazu, dass bei den betreffenden Arten die Höhe mehr als 10 Individuen: auf nächste 5, des Kriterienwertes für die landesweite Bedeutung her- mehr als 100 Individuen: auf nächste 10, abgesetzt wird, d. h. mehr Gebiete werden als landes- mehr als 1.000 Individuen: auf nächste 50. weit bedeutsam für diese Arten erkannt. Grundsätzlich muss der Kriterienwert einer höheren Gastvogellebensräume von regionaler Bedeutung Raumebene (international, national, …) größer sein als Die regionale Bedeutung bezieht sich auf die Rote-Liste- der der niedrigeren oder mindestens gleich groß. Für das Regionen (zur Abgrenzung s. KRÜGER & NIPKOW 2015): nationale Kriterium gilt allgemein ein Minimumwert von „Watten und Marschen“, „Tiefland“ (zusammengefasst 50 Individuen (vgl. BURDORF et al. 1997). Lediglich bei West und Ost) und „Bergland mit Börden“. Rothalsgans (Branta ruficollis) und Moorente, die auf der Gebiete sind von regionaler Bedeutung, wenn eine Roten Liste der weltweit gefährdeten Vogelarten geführt Wasservogelart regelmäßig mindestens die Hälfte des werden (IUCN 2020) und zugleich nur in sehr kleinen landesweiten Kriterienwertes der entsprechenden Beständen in Niedersachsen vorkommen, gilt beim nati- Region (Watten und Marschen, Tiefland, Bergland mit onalen Kriterienwert ein Minimum von fünf Individuen. Börden) erreicht. Es ist aber zu beachten, dass der landes- Für die ebenfalls als weltweit gefährdet eingestufte weite Kriterienwert je nach Verbreitungskategorie und Zwerggans (IUCN 2020) wurde bei der fennoskandischen damit Region unterschiedlich ist. Population der Kriterienwert für internationale Bedeu- tung sogar auf ein Individuum herabgesetzt (NAGY & LANGENDOEN 2018). Für landesweite Kriterienwerte gilt allgemein ein Minimum von zehn, für regionale und lokale Kriterienwerte hingegen von fünf Individuen. Abb. 9: In Relation zur nationalen Bestandsgröße ziehen besonders viele Regenbrachvögel (etwa 50 %) durch Niedersachsen. Innerhalb Deutschlands kommt dem Land damit eine besondere Verantwortung für den Schutz der Art und ihrer Rastgebiete zu. (Foto: Fred Visscher / agami.nl) Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 60
Tab. 4: Beispiele zur Herleitung einzelner Kriterienwerte (s. a. Tab. 2 und 3) Berechnung des landesweiten Kriterienwertes für den Austernfischer Nationale Bestandsgröße: 210.000 Individuen Landesweite Bestandsgröße: 120.000 Individuen (davon 2 % = 2.400) 120.000 Verantwortungsfaktor: 1– = 0,714 2 x 210.000 Landesweites Kriterium: 2.400 x 0,714 = 1.714; gerundet = 1.700 Berechnung des regionalen Kriteriums in der Region „Bergland mit Börden“ für den Brachvogel Nationale Bestandsgröße: 145.000 Individuen Landesweite Bestandsgröße: 90.000 Individuen (davon 2 % = 1.800) 90.000 Verantwortungsfaktor: 1– = 0,690 2 x 145.000 Landesweites Kriterium: 1.800 x 0,690 = 1.241, gerundet = 1.250 Landesweites Kriterium „Bergland mit Börden“: Art der Verbreitungskategorie 2; entsprechend 25 % des landesweiten (nicht gerundeten) Kriterienwertes „Watten und Marschen“ = 310. Für das regionale Kriterium gilt 12,5 % des landesweiten Kriterienwertes = 155; gerundet 160. Berechnung des lokalen Kriteriums in der Region „Tiefland“ für die Blässgans Nationale Bestandsgröße: 420.000 Individuen Landesweite Bestandsgröße: 150.000 Individuen (davon 2 % = 3.000) 150.000 Verantwortungsfaktor: 1– = 0,821 2 x 420.000 Landesweites Kriterium: 3.000 x 0,821 = 2.463; gerundet = 2.450 Landesweites Kriterium „Tiefland“: Art der Verbreitungskategorie 3; entsprechend 100 % des landesweiten (nicht gerundeten) Kriterienwertes „Watten und Marschen“ = 2.450. Für das lokale Kriterium gilt 25 % des landesweiten Kriterienwertes = 612; gerundet 610. 4 Dank Wir danken allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der möglich gewesen. Für wertvolle Hinweise und Ergänzun- Wasser- und Watvogelzählung, die mit ihren kontinu- gen zu Manuskript und/oder Bestandsdaten danken wir ierlich erhobenen Daten die Grundlage für diese Aus- Volker Blüml, Wilhelm Breuer, Josephin Erber, Helmut arbeitung gelegt haben. Ohne dieses außerordentliche Kruckenberg und Kerrin Obracay. ehrenamtliche Engagement wäre die Auswertung nicht Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 61
5 Zusammenfassung Zur Bewertung von Gastvogellebensräumen (hier: in ers- tungsstufen, dass ein Gebiet nur dann eine bestimmte ter Linie von Wasservogellebensräumen) in Niedersach- Bedeutung erreicht, wenn wenigstens für eine Art das sen werden mit dieser Arbeit aktualisierte quantitative entsprechende Kriterium in der Mehrzahl der unter- Kriterien in regionaler Differenzierung und unter Berück- suchten Jahre, z. B. in mindestens drei von fünf Jahren, sichtigung der Verbreitungs- und Häufigkeitsmuster der registriert wurde. Bei nur kurzzeitiger Untersuchungs- Arten vorgestellt. Die Bedeutung des Gastvogelbestan- dauer und geringer Untersuchungsdichte, wie es z. B. des eines Gebietes wird dabei in fünf Stufen bewertet bei Eingriffsplanungen die Regel ist, muss im Sinne des (international, national, landesweit, regional, lokal). Vorsorgeprinzips davon ausgegangen werden, dass eine Dazu werden Kriterienwerte verwendet, die sich aus den Bedeutung des Gebietes auch bei nur einmaligem Über- Bestandsgrößen der Arten in den jeweiligen Bezugsräu- schreiten des Kriterienwertes gegeben ist. men ableiten. Dies schafft die Voraussetzungen für eine Das Bewertungsverfahren hat sich inzwischen vielfach differenzierte Einstufung der Vogelbestände. bewährt und ist allgemein anerkannt. Es ermöglicht, So ist ein Gebiet von internationaler Bedeutung, wenn bedeutsame Lebensräume für Gastvögel objektiv zu es mindestens 20.000 Wasservögel oder mindestens 1 % identifizieren und differenziert zu bewerten. Erst wenn der Individuen einer biogeographischen Population einer diese Gebiete bekannt sind, können sie auch etwa in der Wasservogelart beherbergt. Gastvogellebensräume sind Landes-, Regional- und Bauleitplanung, bei Eingriffsvor- von landesweiter Bedeutung für Wasservögel, wenn dort haben und jeder Art der Flächennutzung berücksichtigt regelmäßig mindestens 2 % des landesweiten Rastbe- und mit den Instrumenten des Naturschutzes und der standes einer Wasservogelart (durchschnittliche Höchst- Landschaftspflege geschützt werden. zahlen) vorkommen. Grundsätzlich gilt für alle Bewer- 6 Summary – Quantitative criteria for the assessment of habitats for migratory waterbirds in Lower Saxony This article presents updated quantitative criteria to mean maximum number of the entire state or an even assess the importance of specific sites as habitats for lower value depending on the responsibility factor. A site migratory waterbirds in Lower Saxony. The criteria refer achieves importance if the respective criterion is reached to different regional levels and factor in the distribution in the majority of surveyed years, e. g. three of five years. patterns of the different species in Lower Saxony. The If data are only available from a one-year survey or if the assessment of a particular site is based on the number of surveying frequency has been quite low – as it is often occurring waterbirds and classified into five levels (inter- the case in spatial planning and infrastructure projects – national, national, state-wide, regional and local impor- the importance of a site is assumed even if the respective tance). Thus, threshold values are used, which depend criterion is reached only once. This complies with the pre- on the population size of the respective reference area, cautionary principle. leading to region- and site-specific assessments. The assessment of sites for migratory waterbirds is an For instance, a stopover, staging or wintering site is accepted and established method to objectively iden- of international importance, if it holds at least 20,000 tify important bird sites or areas, since it provides an waterbirds or at least 1 % of the individuals of the bio- essential basis for the identification of important sites geographic population of a waterbird species; this com- for waterbirds. Only if sites have been objectively iden- plies with the current application of the so-called 1 %-cri- tified as important they can be appropriately taken into terion. In order to apply this method to the federal state account in the frame of state-wide and regional devel- Lower Saxony, nation-wide and state-wide population opment planning, land use planning and the assessment numbers have been calculated, including a responsibil- of plans in the course of impact mitigation regulation, ity factor for the state-wide criteria, based on the rela- but also for the designation and allocation of protected tion between the national and state-wide numbers. areas, management and development plans, species Thus, sites for migratory waterbirds are of state-wide action plans, and, last but not least, for the implementa- importance, if they regularly host at least 2 % of the tion of the EC Birds Directive (Directive 2009/147/EC). Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 2/2020 62
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