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RATGEBER SPONTANHALT Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Publikation der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende auf der Grundlage der Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR zum Spontanhalt
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Einleitung Seite 2 1. EINLEITUNG Die traditionelle Lebensweise der fahrenden In unserer durchregulierten Welt berührt der Bevölkerung basiert seit Jahrhunderten auf dem Spontanhalt auf Stufe Gemeinde, Kanton und temporären spontanen Halt auf privatem oder Bund ausgesprochen viele Rechtsbereiche. Den öffentlichem Grund. Die fahrenden Jenischen, Behörden kommt oft ein erheblicher Ermessens Sinti und Roma hatten jederzeit die Freiheit, ihren spielraum zu. Viele Vorgaben und Einschränk Standort zu wechseln, am neuen Ort ihrem ungen erschweren oder verunmöglichen ihnen Erwerb nachzugehen und zum nächsten Spontan den Spontanhalt trotz Einverständnis des Grund halt weiterzufahren. eigentümers. Aufgrund von Vorurteilen gegenüber den fahren Um Klarheit für alle Beteiligten zu schaffen, hat den Minderheiten und negativen Erfahrungen die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende mit illegalen Halten grösserer Gruppen geriet der dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für spontane Halt unter Druck. Die Möglichkeiten Menschenrechte (SKMR) den Auftrag erteilt, eine für Spontanhalte wurden mehr und mehr einge Studie zum spontanen Halt zu verfassen. Die schränkt – sei es durch Restriktionen auf lokaler Studie untersucht die Rechtslage auf Kantons- Ebene, wegen Rückgang von Landwirtschafts und Gemeindeebene. Weiter legt sie die überge betrieben oder wegen Überbauung geeigneter ordneten verfassungs- und völkerrechtlichen Flächen. Deshalb stand in den letzten Jahren sowie bundesgesetzlichen Vorgaben dar und zeigt die Schaffung von offiziellen Durchgangsplätzen den polizeirechtlichen Handlungsspielraum politisch im Vordergrund. sowie die Handlungsoptionen der Kantone und Gemeinden auf. Das Angebot an offiziellen Durchgangsplätzen ist aktuell bei weitem nicht genügend. Aber selbst Auf Grundlage der Studie sowie den Schlussfolge wenn in Zukunft genügend Plätze zur Verfügung rungen der Autorenschaft hat die Stiftung Zukunft stehen sollten, bleibt der Spontanhalt zentral für Schweizer Fahrende die Eckpunkte für den für die traditionelle Lebensweise und Kultur der Spontanhalt abgesteckt und Empfehlungen fahrenden Jenischen, Sinti und Roma. Es geht erarbeitet. darum, dort zu halten, wo es Arbeit gibt und sie Die Publikation richtet sich an alle beteiligten mit der Region verbunden sind. Akteure, namentlich an die • fahrenden Jenischen, Sinti und Roma selbst • Grundeigentümer und Grundstücks- berechtigte Weiterführende rechtliche Informationen für alle Akteurs gruppen finden sich in der Studie des Kompetenzzentrums für • Gemeinden und Kantone: Politik, Behörden Menschenrechte SKMR der Universität Bern: Fahrende Lebens- und Polizei weise: Der spontane Halt. Rechtslage, Praxis und Handlungs- empfehlungen, verfasst von Tschannen Pierre, Wyttenbach Judith, Mattmann Jascha, Studie im Auftrag der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, Bern 2020.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Einleitung Seite 3 1.1. WAS IST DER SPONTANHALT? • Die fahrenden Jenischen, Sinti und Roma woh Die folgenden Aspekte definieren den spontanen nen in den Wagen und gehen von dort aus ihrer Halt, auch «Spontanhalt» genannt: Erwerbstätigkeit nach. Familien reisen oftmals • Der Spontanhalt ist vorübergehend, d.h. er mit separaten Kinderwohnwagen. erfolgt in der Regel ein- bis zweimal pro Jahr Die vorliegende Publikation geht vor allem auf den für maximal vier Wochen auf demselben nach diesen Aspekten charakterisierten Spontan Grundstück. Beim Spontanhalt halten kleinere halt ein. Halte von grösseren Gruppen, beispiels Gruppen von Fahrenden mit rund 12 oder auch weise von ausländischen Roma mit 30 oder mehr weniger Wohnwagen, wobei die Personen in- Wohnwagen, führen zu anderen Anforderungen oder ausländischer Nationalität sein können; an Infrastruktur und Organisation. Auch die • Der Spontanhalt erfolgt auf einem Grundstück, Rechtslage ist unterschiedlich. Zum Umgang mit grösseren Gruppen machen wir deshalb lediglich das kein offizieller Durchgangs-, Stand- oder generelle Hinweise. Transitplatz ist; • Der Spontanhalt findet auf privatem oder 1.2. W ELCHE INTERESSEN HABEN öffentlichem Grund statt, der normalerweise DIE FAHRENDEN JENISCHEN, SINTI anders genutzt wird, insbesondere durch UND ROMA? die Landwirtschaft, aber auch auf gemein Für die fahrenden Jenischen, Sinti und Roma ist schaftlich genutzten Flächen der öffentlichen es wichtig, dass sie unbürokratischen, unkom Hand wie Allmenden; plizierten und erschwinglichen Zugang zu Land • Voraussetzung für den Spontanhalt ist die Ein haben. Aus ihrer Perspektive sollte die Rechtslage transparent und übersichtlich sein und möglichst willigung der Grundeigentümer oder Pächter; wenig Restriktionen enthalten. Das Problem • Der Spontanhalt wird zum Teil «spontan» und besteht manchmal weniger darin, Grundstücks flexibel vereinbart, zum Teil kennen sich Mieter berechtigte zu finden, die mit einem Spontanhalt und Vermieter seit Jahrzehnten; einverstanden wären, als darin, dass diese auf • Eigentümer/Pächter und fahrende Jenische, grund der Rechtslage oder des äusseren Drucks von Seiten der Gemeindebehörden – und seltener Sinti und Roma schliessen eine mündliche oder der lokalen Bevölkerung – davon abgehalten schriftliche Vereinbarung über das Entgelt für werden. die Nutzung von Grund und Infrastruktur wie Strom, Toiletten oder Wasser ab; 1.3. VERPFLICHTUNG DER POLITIK UND BEHÖRDEN Die Schweiz ist verpflichtet, den fahrenden Minder- heiten der Jenischen, Sinti und Roma Halte möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Neben Zentrale rechtliche Punkte der Bereitstellung der dauerhaften und offiziellen Stand- und Durchgangsplätze gehört auch die Das eidgenössische Raumplanungsrecht schränkt den Möglichkeit des Spontanhaltes dazu. Die Publika Spontanhalt nur wenig ein: Der Spontanhalt braucht tion will einen Beitrag dazu leisten, Anfragen keine Baubewilligung. Der Aufenthalt ist während von Jenischen, Sinti und Roma fundiert zu prüfen zweimal 4 Wochen im Jahr auch auf Landwirtschafts und Spontanhalte geregelt und mit klaren Ab land zulässig. In Schutzzonen ist der Spontanhalt machungen für alle Beteiligten zu ermöglichen. nicht möglich. In Bau- und Spezialzonen sind mehrwöchige Aufent halte grundsätzlich ebenfalls erlaubt. Zwischen kleineren Gruppen mit rund 12 oder weniger Wohnwagen und grösseren Gruppen ist zu unter scheiden. Bewilligungs- und Meldepflichten sind bei kleineren Gruppen aus rechtlicher Sicht kaum ange bracht, bei grösseren hingegen schon, da ihr Aufent halt eine andere Nutzungsintensität und andere damit verbundene Herausforderungen mit sich bringt.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Fahrende Seite 4 2. INFORMATIONEN UND EMPFEHLUNGEN FÜR FAHRENDE JENISCHE, SINTI UND ROMA Die Einwilligung der Grundeigentümer ist selbst • Schliessen Sie möglichst einen schriftlichen verständlich die Grundvoraussetzung für einen Vertrag mit den Landvermietern ab. So ist für geordneten und einvernehmlichen Spontanhalt. beide Seiten klar, welche Abmachungen Einigt man sich, haben alle Beteiligten Rechte einzuhalten sind. Klare Regelungen, beispiels und Pflichten. weise bei der Abfallentsorgung, sind sowohl • Gemeinden und Kantone haben teilweise im Interesse der Jenischen, Sinti und Roma als auch der Grundeigentümer und der Gemeinde. unterschiedliche Regelungen zum Spontanhalt Die Vorlage eines Mustermietvertrags finden eingeführt, beispielsweise Bewilligungs- Sie hier und Meldepflichten. Je kleiner die Gruppe ist, in welcher Sie unterwegs sind, desto weniger • Verbote oder deutliche Einschränkungen des rechtliche Hindernisse für den Spontanhalt Spontanhalts sind immer wieder in lokalen gibt es. Informieren Sie sich im jeweiligen Polizeireglementen oder anderen kommunalen Kanton und bei den Gemeinden über allfällige Weisungen anzutreffen. Die Stiftung Zukunft Einschränkungen. für Schweizer Fahrende setzt sich für die • Oft sind Allmenden oder Plätze, auf welchen Aufhebung solcher einschränkender Formulier ungen ein. Melden Sie sich bei der Stiftung, Zirkusbetreiber und Schausteller Halt machen, wenn Sie glauben, auf solche Regelungen auch für den Spontanhalt geeignet. Fragen gestossen zu sein. Sie auf der Gemeinde nach, ob diese Plätze zur Verfügung stehen. • Die Einhaltung der Umwelt-, Gewässerschutz- und Naturschutzgesetzgebung ist wichtig. Achten Sie im Zusammenhang mit Abwasser (Waschmaschinen, Toiletten), Abfällen und Arbeiten darauf. Mit der Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur – beispielsweise Abdeckungen bei Malerarbeiten – kann dem Rechnung getragen werden. Nutzen Sie Ihre eigenen Vorrichtungen oder fragen Sie den Ver mieter um Unterstützung.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Fahrende Seite 5 INFORMATIONEN SPONTANHALT FÜR FAHRENDE JENISCHE, SINTI UND ROMA Wollen Sie als fahrende Jenische, Sinti und Roma einen Spontanhalt machen? Ja Wem gehört das Grundstück auf dem Grundeigentümer ist der Staat, Sie halten wollen? z.B. die Gemeinde. Grundeigentümer oder Pächter ist eine Fragen Sie auf der Gemeinde nach, Privatperson, z.B. ein Landwirt. ob Sie das Grundstück nutzen dürfen. Geben Sie an, wie viele Gespanne Ihre Gruppe umfasst und wie lange Sie bleiben wollen. Fragen Sie, ob Sie das Grundstück nutzen dürfen. Geben Sie an, wie viele Gespanne Ihre Gruppe umfasst und wie lange Sie bleiben wollen und dürfen. Grundeigentümer oder Pächter willigen ein. Lassen Sie sich vom Klären Sie mit dem Grundeigentümer Schliessen Sie Grundeigentümer oder Pächter: einen schriftlichen oder Pächter Mietvertrag ab. über allfällige Versorgung mit Frischwasser und Strom Einschränkungen informieren Abwasserentsorgung (u.a. Waschmaschinen) (Reglemente, Abfallentsorgung Verbote, Weisungen, Schutzzonen). Nutzung von Toiletten oder die Notwendigkeit von zusätzlichen mobilen Toiletten Ist eine besondere Rücksichtnahme auf Nachbarn (Nachtruhe) erforderlich? Halten Sie die Welche Zufahrt darf genutzt werden? Abmachungen ein, so können Bei Arbeiten darauf achten, Sie nächstes Jahr keine Umweltschäden zu verursachen wieder kommen!
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Grundeigentümer Seite 6 3. INFORMATIONEN UND EMPFEHLUNGEN FÜR PRIVATE GRUNDEIGENTÜMER UND PÄCHTER Vielleicht haben Sie bereits in früheren Jahren als • Als Vermieter können Sie wichtige Vorausset Privatperson Land an fahrende Jenische, Sinti zungen schaffen, damit die Umwelt-, Gewässer und Roma vermietet und damit gute Erfahrungen schutz- und Naturschutzgesetzgebung ein gemacht. Es kann aber auch sein, dass Sie negative gehalten wird: Stellen Sie den Mietern wenn Reaktionen aus der Nachbarschaft oder von der möglich nicht nur Strom und Frischwasser zur Gemeinde erhalten haben oder es zu Konflikten Verfügung, sondern ermöglichen Sie auch zwischen Ihnen und Ihren temporären Mietern die Entsorgung von Abwasser, beispielsweise gekommen ist. das Abwasser von Waschmaschinen. Ebenso • Zwar dürfen raumplanungsrechtlich Spontan sind Abmachungen über die Aufstellung von Toiletten oder deren Leerung sinnvoll. halte bis zu vier Wochen zweimal jährlich auch auf Landwirtschaftsland stattfinden und • Zu bedenken ist, dass die Gruppengrösse die kleinere Gruppen müssen sich nicht vorgängig Anforderungen an die Infrastruktur wesentlich bei der Gemeinde anmelden. Fragen Sie aber beeinflusst. So ist die Abfallentsorgung bei trotzdem auf Ihrer Gemeinde nach, ob mög grösseren Gruppen anders zu organisieren als licherweise zusätzliche Regelungen in Ihrer bei kleinen. Beispielsweise kann die Bereit Gemeinde oder Ihrem Kanton gelten. stellung eines Abfallcontainers empfehlens • Schliessen Sie möglichst einen schriftlichen wert sein. Vertrag mit den fahrenden Jenischen, Sinti und Roma ab. So ist für beide Seiten klar, welche Abmachungen gelten. Einen Mustermietvertrag finden Sie hier • Landwirte können Ansprüche auf Direkt- zahlungen verlieren, wenn der Ertrag aus dem Mietverhältnis den Gesamtertrag aus der landwirtschaftlichen Nutzung übersteigt. Dies dürfte jedoch kaum je der Fall sein. Unzulässig ist die Vermietung von Flächen, für welche Bio diversitätsbeiträge bezogen werden.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Grundeigentümer Seite 7 SPONTANHALT AUF PRIVATLAND – INFORMATIONEN FÜR PRIVATE GRUNDEIGENTÜMER ODER PÄCHTER Wollen Sie fahrenden Jenischen, Sinti und Roma zeitlich befristet eine Haltemöglichkeit bieten? Ja Nein Gibt es Einschränkungen von Seiten Schade. Aber es ist Ihr gutes der Behörden (Reglemente, Verbote, Recht, nein zu sagen. Weisungen, Schutzzonen)? Erkundigen Sie sich bei der Gemeinde oder beim Kanton. Nein Ja Halten sie die Regeln ein, z.B. Meldepflicht bei der Gemeinde. Bei Unklarheiten kontaktieren Sie die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende. Vermietung ist möglich: Landwirtschaftsland bis zu zweimal jährlich während vier Wochen (ohne Baubewilligung möglich) Mehrwöchige Aufenthalte in Bau- oder Spezialzonen Halten Sie die Abmachungen wie Mietpreis, Anzahl Gespanne, Aufenthaltsdauer in einem schriftlichen Vertrag fest. Siehe Mustermietvertrag hier Minimale Infrastruktur zur Verfügung stellen: Strom, Frischwasser, Abwasserentsorgung Abfallentsorgung klären, Nutzung von Toiletten oder Notwendigkeit von zusätzlichen mobilen Toiletten Zufahrt zum vermieteten Grundstück festlegen Mit den Mietern im Kontakt bleiben
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Gemeinde/Kantone Seite 8 4. INFORMATIONEN UND EMPFEHLUNGEN FÜR GEMEINDEN UND KANTONE Im Bundesrecht bestehen keine grundsätzlichen • Bei grösseren Gruppen sind namentlich Infra Einschränkungen für Spontanhalte kleiner strukturfragen zu klären. Es geht darum, die Gruppen. Diese übergeordnete Offenheit gilt es notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um auf kantonaler und kommunaler Ebene in die Umwelt-, Gewässerschutz- und Naturschutz Praxis umzusetzen. Dies ist ein wichtiger Beitrag, gesetzgebung einzuhalten. Auf dem temporär um die fahrende Lebensweise zu ermöglichen. genutzten Grundstück sollten nicht nur Strom und Frischwasser zur Verfügung stehen. Auch Gemeinden können den Spontanhalt aufgrund des die Entsorgung von Abwasser, beispielsweise übergeordneten Rechts pragmatisch handhaben von Waschmaschinen, sollte geregelt werden. und eine grundrechtskonforme Verwaltungs Ebenso sind Abmachungen über das Aufstellen praxis pflegen. Dies bedeutet, dass sie einerseits von Toiletten und deren Leerung zu treffen. Spontanhalte bei Privaten zulassen, anderer- Klare Abmachungen und unter Umständen seits auf eigenen Grundstücken diese Nutzung auch die Bereitstellung eines Abfallcontainers ermöglichen. sind empfehlenswert. • Merkblätter zum Umgang mit Spontanhalten Den Kantonen fällt die Aufgabe zu, die Gemeinden dabei zu unterstützen. Ebenso beantwortet die sowie Mustermietverträge sind ausserord Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende Fragen entlich hilfreich und tragen wesentlich zum als das von den Bundesbehörden beauftragte problemlosen Zusammenleben der fahrenden Kompetenzzentrum. und sesshaften Bevölkerung bei. Für beides bestehen neben der vorliegenden Publikation 4.1. PRAKTISCHE HINWEISE FÜR GEMEINDEN kantonale Beispiele. Einen Mustermietvertrag Gibt es in Ihrer Gemeinde Grundeigentümer oder finden Sie hier Pächter, die fahrenden Jenischen, Sinti und Roma sporadisch Land zur Verfügung stellen? Möglicher 4.2. REGLEMENTE UND WEISUNGEN weise sind die Erfahrungen damit gut. Aber es Reglemente und Weisungen sind so zu gestalten, kann auch zu Spannungen kommen, beispiels dass sie den Spontanhalt angemessen ermög weise wenn Nachbarn Emissionen fürchten oder lichen. wenn sich konkrete Fragen zum «Management» eines Spontanhalts stellen. • Halte von Jenischen, Sinti und Roma sind Be • Falls in Ihrer Gemeinde immer wieder fahrende standteil der rechtlich geschützten fahrenden Lebensweise und folglich nicht dasselbe Jenische, Sinti und Roma halten, ist es hilfreich, wie touristische Halte. Der Spontanhalt ist in klare Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltung Reglementen deshalb vom touristischen festzulegen. Die Bevölkerung und die Grund Campieren abzugrenzen. eigentümer haben damit Klarheit, an wen sie sich bei Fragen wenden können.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Gemeinde/Kantone Seite 9 • Campingverbote und Bewilligungsvorbehalte • Für den Spontanhalt auf öffentlichem Grund in kommunalen oder regionalen Reglementen kommen Allmenden und Grundstücke in Frage, sind wenig zielführend. Vorzuziehen ist eine auf welchen der Zirkus oder Jahrmärkte gas generelle Erlaubnis – allenfalls im gesetzlich tieren. Teilweise eignen sich auch Militärareale definierten Umfang – mit Verbotsvorbehalt im und Flächen, die zu Freizeitanlagen gehören. Einzelfall. Gemeinden, die generelle Camping Ebenso ist die Nutzung von lediglich saiso verbote auf Privatparzellen kennen, sollten nal oder temporär genutzten Parkplätzen zu zwingend Ausnahmen für den Halt kleinerer prüfen, beispielsweise bei (Frei-)Bädern und Gruppen von Jenischen, Sinti und Roma vor Golfanlagen. • Aufgrund der Grundrechte zum Schutz der sehen. Dies kann analog zu den oft definierten Ausnahmen für Jugendlager erfolgen. Privatsphäre und der Wirtschaftsfreiheit haben • Meldepflichten unmittelbar bei Quartierbezug die Jenischen, Sinti und Roma grundsätzlich sind bei einvernehmlichen Spontanhalten von Anspruch auf eine Gebrauchsbewilligung zur Einzelgespannen auf Privatparzellen nicht ver- zeitlich beschränkten Nutzung des geeigneten hältnismässig und deshalb nicht vorzuschrei öffentlichen Grunds. Der Staat darf bei Erteilung ben. Anders ist dies bei grösseren Gruppen und einer solchen Bewilligung zwar eine Interessen Halten auf öffentlichem Grund: Meldepflichten abwägung machen, aber diese muss verfas verfolgen in diesen Fällen legitime Interessen sungskonform sein. Rechtlich unzulässig wäre und sind deshalb verhältnismässig. es etwa, aufgrund von Vorurteilen zu ent scheiden oder die Interessen der sesshaften Bevölkerung von vornherein vorzuziehen. Die 4.3. H ALTEN AUF ÖFFENTLICHEM GRUND – Allgemeinplätze «Sicherheit und Ordnung» ANSPRÜCHE UND INTERESSENABWÄGUNG halten einer vertieften rechtlichen Überprü Für Spontanhalte auf öffentlichem Grund ist die fung oft nicht Stand. rechtliche Ausgangslage anders als für Halte auf privatem Grund. So ist die öffentliche Hand • Die bewilligte Aufenthaltsdauer auf öffent grundsätzlich in der Pflicht, Grundstücke für den lichem Grund kann unterschiedlich sein: Es ist Spontanhalt zur Verfügung zu stellen.1 legitim, diese auf Strassen und Plätze kürzer ausfallen zu lassen als auf nur sporadisch ge nutzten oder weitläufigen Grundstücken, wo verschiedene Nutzungsformen nebeneinander Spontanhalte ermöglichen ist eine rechtliche Pflicht möglich sind. Für letztere ist ein mehrwöchiger Aufenthalt zu ermöglichen. Der Schutz der Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma basiert auf einer breiten rechtlichen Grundlage 4.4. VERWALTUNGSERMESSEN ZUGUNSTEN DER und beinhaltet auch die Ermöglichung des Spontan FAHRENDEN LEBENSWEISE NUTZEN haltes. Der Bund, Kantone und Gemeinden haben grund- Machen fahrende Jenische, Sinti und Roma Halt, und menschenrechtliche Verpflichtungen, namentlich stellen sich für den Staat regelmässig Ermessens aufgrund der Bundesverfassung, der Europäischen fragen, wie die bestehenden Regelungen an Menschenrechtskonvention EMRK und dem UNO Pakt II. zuwenden und gleichzeitig grundrechtliche Ver pflichtungen zu erfüllen sind. Unsere Gesetzgebung orientiert sich nicht an der fah renden, sondern der sesshaften Lebensweise. Dies kann zu indirekter, vor allem aber zu struktureller Dis • Das Verwaltungsermessen ist so zu handhaben, dass die fahrende Lebensweise im Sinne der kriminierung führen. Die Behörden aller Ebenen haben übergeordneten völker- und verfassungsrechtli insbesondere aufgrund des Rahmenübereinkommens chen Vorgaben ermöglicht wird. So lässt es sich zum Schutz nationaler Minderheiten die Pflicht, die beispielsweise rechtfertigen, Ausnahmen von besonderen Bedürfnisse der Fahrenden in der Gesetz Fahrverboten auf landwirtschaftlichen gebung und durch weitere Massnahmen zu berück Wegen zu gewähren und die Befahrung vorüber sichtigen. gehend zu tolerieren, wenn kein anderer Zugang zur vermieteten Parzelle möglich ist. Kantonale oder kommunale bau- und polizeirechtliche Regulierungen, die den Spontanhalt einschränken, sind gerichtlich überprüfbar und haben sich an den ver fassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben zu messen. 1. Studie SKMR, S. 24-32; 48f.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Gemeinde/Kantone Seite 10 4.5. HINWEISE UND EMPFEHLUNGEN FÜR Jenischen, Sinti und Roma im kommunalen Recht POLIZEIORGANE und in der Praxis zu sichern. • Eine kantonale Koordinations- und Anlauf- Treffen fahrende Jenische, Sinti und Roma ein, rufen oftmals Nachbarn, Gemeindevertreter oder stelle – eine «Fachstelle Fahrende» – bringt auch Grundeigentümer die Polizei. In verschie einen Mehrwert für alle beteiligten Akteure. Die denen Kantonen sind Polizeiorgane die ersten Erfahrungen zeigen, dass insbesondere die Ansprechpartner. Kommt es zu Konflikten, ge Gemeinden für den konfliktfreien Umgang mit hören sie folglich zu den ersten Akteuren vor Ort. fahrenden Jenischen, Sinti und Roma von Die Erwartungen an die Polizei sind oft äusserst solchen Fachstellen profitieren. Solche Stellen gegensätzlich. In diesem Spannungsfeld und auf nehmen innerhalb der kantonalen Verwaltung Grundlage der rechtlichen Vorgaben kommen die Funktion eines Kompetenzzentrums für Fra Polizeiorgane ihrer herausfordernden Arbeit nach. gen rund um die fahrende Lebensweise ein. • Die Polizei verfügt zur Abwehr von Gefahren für Aber auch für Grundeigentümer und die Jeni die öffentliche Sicherheit und Ordnung über ein schen, Sinti und Roma selbst ist es vorteilhaft Ermessen in Bezug auf das «Ob» der polizei zu wissen, wo sie auf kantonaler Ebene Infor lichen Intervention und hinsichtlich des «Wie» mationen und Unterstützung erhalten. • Gemeinden, Landwirte sowie Jenischen, Sinti (Opportunitätsprinzip). Dieses Ermessen sollte bei Fahrenden in gleicher Weise ausgeübt und Roma in die Erarbeitung relevanter Doku werden wie bei der sesshaften Bevölkerung, mente wie Konzepte oder Merkblätter ein beispielsweise bei Identitätskontrollen oder zubeziehen, ist sinnvoll. Der Einbezug der Kontrollen der Umweltschutzgesetzgebung. Anspruchsgruppen kann etwa durch Anhörun • Kontrollen aus blosser Neugier oder zur Vergrä gen in Vernehmlassungsverfahren, an runden mung unerwünschter Personengruppen sind Tischen oder ähnlichen Formaten erfolgen. unzulässig, weil offensichtlich unhaltbar und Dies trägt nicht nur zu guten Ergebnissen bei, willkürlich. Dies gilt insbesondere für wieder sondern sensibilisiert die Akteure und fördert holte Kontrollen in kurzer Folge. Ausserdem die Akzeptanz der Regelungen. • Das Bundesrecht regelt die Erteilung der besteht – von spezialgesetzlichen Vorbehalten abgesehen – keine allgemeine Pflicht, einen Reisendengewerbebewilligung abschliessend Identitätsausweis auf sich zu tragen. 2 (Reisendengewerbegesetz). Ergänzende Auf • Empfehlenswert und von grosser Bedeutung für lagen oder Einschränkungen durch Kanton oder die Lösungsfindung bei Konflikten sind in einem Gemeinde sind unzulässig. • Explizite Regelungen in der kantonalen Bau- Polizeikorps «Spezialisten», welche sich mit der Thematik auskennen und einen guten Zugang und Planungsgesetzgebung, die den Spontan zu den Jenischen, Sinti und Roma haben. halt für das ganze Kantonsgebiet einheitlich • Für Ausbildungslehrgänge und Austauschgremien als grundsätzlich baubewilligungsfrei erlauben, wird angeregt, ein Modul «Fahrende» aufzu schaffen Klarheit für alle Betroffenen und nehmen, resp. das Thema regelmässig unter beugen Verdrängungseffekten aufgrund unter Einbezug von Fachleuten und Betroffenen zu schiedlicher kommunaler Handhabungen vor. • Ergänzend oder an Stelle einer gesetzlichen thematisieren. Diese Bildungs- und Informations offensive soll einen Beitrag zum konfliktfreien Regelung ist eine Aussage im kantonalen Richt Umgang mit der fahrenden Lebensweise leisten. plan erwünscht. Mit einer entsprechenden Formulierung können die Gemeinden 4.6. INFORMATIONEN UND EMPFEHLUNGEN FÜR angehalten werden, den Spontanhalt zu ermög POLITISCHE GREMIEN DER KANTONE lichen und zu unterstützen. • Sofern die kantonale Gesetzgebung den Spon Den Kantonen kommt eine wichtige Scharnier funktion zwischen den übergeordneten recht tanhalt nicht explizit bewilligungsfrei erlaubt, lichen Vorgaben und der Praxis in den Gemeinden ist es wichtig, keine übermässigen direkten und zu. Die Kantone haben es in der Hand, die Ge indirekten Restriktionen zu formulieren. Den meinden «an Bord» zu holen und die Rechte der Gemeinden sollte in bau- und planungsrecht licher Hinsicht genügend Spielraum bleiben, um spontane Halte kleinerer Gruppen baubewilli 2. V gl. Studie SKMR 2020, S. 18; resp. BGE 136 I 87 E. 5.2 S. 101 f.; 109 Ia 146 E. 4b S. 149 ff. BORBÉLY, in Kommentar PolG ZH, § 21 Rz. 2 ff.; TROCHSLER-HUGENTOBLER/ gungsfrei auch in Landwirtschaftszonen und LOBSIGER, in SBVR III/1, S. 310 ff. auf weiteren Flächen zu ermöglichen.
Informationen und Empfehlungen zum spontanen Halt fahrender Jenischer, Sinti und Roma Gemeinde/Kantone Seite 11 SPONTANHALT AUF ÖFFENTLICHEM GRUND – ÜBERSICHT FÜR GEMEINDEN UND KANTONE Wollen Sie fahrenden Jenischen, Sinti und Roma zeitlich befristet eine Haltemöglichkeit in Ihrer Gemeinde oder Kanton bieten? Ja Nein Welche Grundstücke kommen in Frage? Jenische, Sinti und Roma haben unter Umständen Es könnte sein, dass Sie Sind Allmenden, Brachen, Anspruch auf eine Gebrauchs verpflichtet sind, Parkplätze, Zirkusgelände bewilligung. Dies aufgrund dennoch Hand zu bieten, falls verfügbar? der Grundrechte. Sie angefragt werden. Gibt es Einschränkungen durch Reglemente, Verbote, Weisungen, Schutzzonen? Machen Sie eine Interessenabwägung: Könnte es zu Nutzungskonflikten kommen? Interessen der sesshaften Bevölkerung sind rechtlich Eigenen sich die Grundstücke nicht per se vorzuziehen. Der fahrenden Lebensweise dennoch nicht? ist angemessen Rechnung zu tragen. Ja, wir stellen ein Grundstück zur Verfügung. Informieren Sie die anderen Anspruchs gruppen, In der Landwirtschaftszone ist ein Aufenthalt bis zu vier Wochen zweimal z.B. Nachbarn. jährlich ohne Baubewilligung in der Regel zulässig In Bau- oder Spezialzonen sind mehrwöchige Aufenthalte ebenfalls möglich Stellen Sie minimale Infrastruktur zur Verfügung: Strom, Frischwasser, Abwasserentsorgung Klären Sie mit Ihren Mietern die Abfallentsorgung Halten Sie die Abmachungen wie Mietpreis, Anzahl Gespanne in einem schriftlichen Vertrag fest. Siehe Mustervertrag hier Sind in der Nachbars Bestimmen Sie eine Ansprechperson der Gemeinde für Ihre gemeinde Grundstücke Mieter und bleiben Sie mit diesen in Kontakt verfügbar?
Impressum 2021 | Publikation der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende (Simon Röthlisberger und Jörg Hartmann) auf der Grundlage der Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR, Fahrende Lebensweise: Der spontane Halt (Pierre Tschannen, Judith Wyttenbach, Jascha Mattmann). Redaktion und Layout: typisch.ch Französische Übersetzung: weiss traduction genossenschaft Fotos: Eric Roset (Seite 1, 2, 4, 12) | Christine De Gasparo (Seite 6, 8)
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