Rechtsprechungsreport Produktrecht - Kopp-Assenmacher ...
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Rechtsprechungsreport Produktrecht Kopp‐Assenmacher & Nusser Büro Berlin Büro Düsseldorf Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB Friedrichstraße 186 Bleichstraße 14 www.kn‐law.de 10117 Berlin 40211 Düsseldorf
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Sehr geehrte Damen und Herren, ein Stillstand in der produktrechtlichen Rechtsprechung ließ sich im letzten Jahr nicht beobachten. Im Gegenteil, die Gerichte waren sehr aktiv. Besonders hervorzuheben sind sicherlich die beiden das Bauproduktenrecht betreffenden Entscheidungen des VGH Mannheim vom 7.10.2020 und des EuGH vom 17.12.2020, die jeweils sehr grundsätzliche Ausführungen enthalten und die weitere Entwicklung des Bauproduktenrechts prägen dürften. Daneben ist zu beobachten, dass in einer Vielzahl von Entscheidungen, die ganz unterschiedliche Produktrechtsbereiche betreffen, die Bedeutung der Herstellerwidmung, bspw. für die Anwendbarkeit der Biozid-VO, des Mess- und Eichrechts oder aber des Arzneimittelrechts, hervorgehoben wird. Der Hersteller sollte sich dabei seiner diesbezüglichen Gestaltungsspielräume und ihrer Grenzen bewusst sein. Wie immer wünschen wir Ihnen viele neue und nützliche Erkenntnisse beim Lesen des Reports. Inhaltsverzeichnis: I. Marktüberwachung 1. OVG Rheinland‐Pfalz, Beschluss vom 4.2.2020 – 8 A 10966/19 Seite 3 Zur Auslegung des Begriffs "Zwischenprodukt" i.S.v. Art. 3 Nr. 15 der VO (EG) Nr. 1907/2006 (REACH‐VO). 2. OVG NRW, Urteil vom 4.3.2020 – 13 A 3209/17 Seite 5 Zur arzneimittelrechtlichen Einordnung eines Nasensprays als Präsentationsarzneimittel in Abgrenzung zum stofflichen Medizinprodukt 3. VG Freiburg, Urteil vom 18.6.2020 ‐ 9 K 4341/19 Seite 6 Zur Einordnung von Steuerungsdisplays als Messgeräte i.S.d. MessEG 4. VGH Bayern, Beschluss vom 10.07.2020 – 20 CS 20.43 Seite 8 Zur Unterlassung des Inverkehrbringens eines Präsentationsarzneimittels 5. VGH Baden‐Württemberg, Urteil vom 29.9.2020 – 1 S 2999/19 Seite 9 Zur gebührenrechtlichen Heranziehung eines Messdienstleistungsunternehmens für im Eigentum Dritter stehende Kaltwassermessgeräte. Seite 1
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 6. VGH Baden‐Württemberg, Urteil vom 7.10.2020 – 8 S 2959/18 Seite 10 Zur Überprüfung der Technischen Baubestimmung im Rahmen eines Normkontrollverfahrens hinsichtlich der Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen aus Holzwerkstoffen 7. OVG Lüneburg, Beschluss vom 7.10.2020 – 13 ME 332/20 Seite 12 Zur Unterlassung des Inverkehrbringens und Rückrufs von Präsentationsarzneimittel 8. VG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2020 ‐ 3 K 8156/19 Seite 13 Zur Konformität eines Produktetiketts mit den Vorgaben der VO (EG) 1272/2008 (CLP‐Verordnung) 9. VG Stade, Beschluss vom 20.10.2020 – 6 B 1479/20 Seite 14 Zu der Untersagung der Bereitstellung von Atemschutzmasken im Rahmen eines Marktüberwachungsverfahrens 10. VG Würzburg, Urt. v. 16.10.2020 – W 10 K 19.451 Seite 16 Zur Einordnung eines Unternehmens als Erstbehandlungsanlage von Elektroaltgeräten 11. EuGH, Urteil vom 17.12.2020 Rs. C‐475/19 P und C‐688/198 Seite 17 Zu Verfahren nach Art. 18 Bauproduktenverordnung II. Produkthaftungsrecht BGH, Urteil vom: 27.2.2020 – VII ZR 151/18 Seite 18 Haftung der vom Hersteller fehlerhafter Silikonbrustimplantate beauftragten Benannten Stelle gegenüber den Patientinnen III. Wettbewerbsrecht 1. OLG Köln, Urteil vom 20.9.2019 ‐ I‐6 U 35/19, 6 U 35/19 Seite 20 Zur wettbewerbsrechtlichen Zulässigkeit der Inanspruchnahme einer Herstellereigenschaft durch einen Eigenmarkenhersteller 2. BGH, Urteil vom 28.11.2019 ‐ I ZR 23/19 Seite 21 Zum wettbewerbsrechtlichen Verfahren wegen eines Verstoßes gegen die batterierechtliche Registrierungs‐ bzw. Anzeigepflicht Seite 2
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 3. LG Ingolstadt, Urteil vom 21.2.2020 ‐ 2 HK 0 1582/18 Seite 23 Zum wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch wegen Verstoß gegen Rücknahmepflichten nach § 17 ElektroG 4. LG Essen, Urteil vom 11.03.2020 ‐ 44 O 40/19 Seite 24 Zum wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsverfahren wegen einer fehlenden Gebrauchsanweisung 5. LG Hamburg, Urteil vom 21.04.2020 – 416 HKO 30/20 Seite 25 Zur Wiederholungsgefahr im wettbewerbsrechtlichen Verfahren 6. LG Dortmund, Urteil vom 27.04.2020 – 10 O 16/19 Seite 26 Und wieder: Die Kennzeichnungspflicht gemäß § 9 Abs. 2 ElektroG (durchgestrichene Mülltonne) als Marktverhaltensregelung 7. LG Hamburg, Urteil vom 12.8.2020 – 416 HKO 114/20 Seite 27 Zur fehlenden medizinischen Zweckbestimmung einer Software im Bereich der Aufbereitung medizinischer Instrumente 8. OLG Frankfurt, Urteil vom 31.08.2020 – 6 W 85/20 Seite 28 Zur Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Reinigungsmitteln bei einem „dual‐use“‐Produkt 9. LG Bochum, Urteil vom 07.10.2020 – 13 O 114/20 Seite 30 Corona‐ Pandemie rechtfertigt nicht die Einstufung von Gesichtsschutzvisieren in höhere Risikokategorie der Verordnung 2016/425 (EU) über persönliche Schutzausrüstungen I. Marktüberwachung 1. OVG Rheinland‐Pfalz, Beschluss vom 4.2.2020 – 8 A 10966/19 Zur Auslegung des Begriffs "Zwischenprodukt" i.S.v. Art. 3 Nr. 15 der VO (EG) Nr. 1907/2006 (REACH‐VO). Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der von der Klägerin hergestellte Stoff Dimethyldisulfid (DMDS) in bestimmten Verwendungen am klägerischen Unternehmensstandort lediglich als "Zwi‐ schenprodukt" i.S.v. Art. 18 i.V.m. Art. 3 Nr. 15 REACH‐VO eingesetzt wird. Das DMDS wird in einem Seite 3
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 Umfang von unter 100 t/Jahr in einem Steamcracker, einer Aromatenanlage sowie in einer Propan‐ dehydrierung verwendet, um in Schwefelwasserstoff umgewandelt zu werden, der sodann in einer weiteren chemischen Reaktion zur Sulfidierung von Metallinnenflächen führt, die eine Metallsulfid‐ schicht bildet. Als Schutz vor Versprödungen ist die Bildung einer Metallsulfidschicht im Innern der eben genannten Anlagen erforderlich. Die Klägerin hat DMDS im Jahre 2010 mit einer jährlichen Menge von weniger als 1.000 t pro Jahr als Zwischenprodukt gemäß Art. 18 i.V.m. Art. 3 Nr. 15 lit. c) REACH‐VO registriert. Die Registrierung betrifft u.a. die drei streitgegenständlichen DMDS‐Verwen‐ dungen zur Bildung einer Metallsulfidschicht. Nach Anhörung der Klägerin stellte die Struktur‐ und Genehmigungsdirektion Süd (SGD) mit Bescheid vom 3.4.2017 fest, dass das DMDS bei den beschrie‐ benen Verwendungen kein Zwischenprodukt i.S.v. Art. 3 Nr. 15 der REACH‐VO sei. Daher sei ab dem 1.6.2018 eine umfangreiche Registrierung nach Art. 6 und Art. 10 REACH‐VO vorzunehmen, sofern die ab diesem Zeitpunkt maßgebliche Mengengrenze von 1 t pro Kalenderjahr erreicht wird. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin erfolgreich Klage vor dem VG Neustadt erhoben. Dabei hat das Ge‐ richt eine Berufung nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich der Beklagte mit einem Antrag auf Zulas‐ sung der Berufung. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Insbesondere bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils. So hat sich das VG Neustadt im Hinblick auf die Einordnung des DMDS als Zwischenprodukt i.S.v. Art. 3 Nr. 15 REACH‐VO letztlich auf das Grundsatz‐ urteil des EuGH vom 25.10.2017 (Az.: C‐650/15 P) gestützt. Hiernach kommt es für die Einordnung eines chemischen Stoffs als Zwischenprodukt nur auf den Wortlaut des Art. 3 Nr. 15 REACH‐VO an. Auch der in Art. 3 Nr. 15 enthaltenen Klammerzusatz „Synthese" habe entgegen der Ansicht des Be‐ klagten keine eigenständige rechtliche Bedeutung, so dass es auf eine vom Beklagten in Anlehnung an einen ECHA‐Leitfaden vertretene fachchemische Auslegung des Synthese‐Begriffs nicht ankommt. Ferner enthält Art. 3 Nr. 15 REACH‐VO kein zusätzliches Kriterium, dass im Hinblick auf den Umwand‐ lungsprozess eines Stoffes eine Differenzierung nach Haupt‐ oder Nebenzwecken ermöglicht. Uner‐ heblich ist daher, welchen Zweck die chemische Umwandlung eines Stoffes hat. Die Einstufung eines Stoffes als Zwischenprodukt richtet sich somit nur nach der Frage, ob der jeweilige Stoff hergestellt wird, um in einer chemischen Weiterverarbeitung in einen anderen Stoff umgewandelt zu werden. Vor diesem Hintergrund wird das DMDS als Zwischenprodukt i.S.v. Art. 3 Nr. 15 REACH‐VO eingesetzt, weil es nach einer chemischen Weiterverarbeitung eine Metallsulfidschicht in der Aromatenanlage, Propandehydrierung und in den Steamcrackern bilden soll. Seite 4
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 2. OVG NRW, Urteil vom 4.3.2020 – 13 A 3209/17 Zur arzneimittelrechtlichen Einordnung eines Nasensprays als Präsentationsarzneimittel in Abgren‐ zung zum stofflichen Medizinprodukt Die Beteiligten streiten über die Einordnung eines Nasensprays als zulassungspflichtiges Präsentati‐ onsarzneimittel i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG) in Abgrenzung zu einem stoff‐ lichen Medizinprodukt mit ausschließlich physikalischer Wirkweise. Die Klägerin ist Herstellerin des Nasensprays und bringt dieses als CE‐gekennzeichnetes Medizinprodukt in den Verkehr. Die Wirk‐ weise des Nasensprays ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand unklar. Nach der deutschsprachigen Verpackung und Gebrauchsanweisung soll das Nasenspray „der Reinigung und Drainage der mit Schleim und Sekreten gefüllten Nasenhöhlen“ und zur „symptomatischen Erleichterung“ dienen und „zur Befreiung und zum Abfluss von angestauten Schleimsekreten in Nasenhöhlen und oberem Atemwegstrakt“ führen, „um eine Symptomerleichterung bei Stauungszustand in der Nase herbeizu‐ führen“. Ferner führt die Klägerin auf ihrer englischsprachigen Website aus, dass das Nasenspray speziell zur Linderung der Symptome einer Entzündung der Nasenschleimhaut (Rhinitis) entwickelt worden ist. Es gewährleiste mit „klinisch erwiesener Wirksamkeit“ eine schnelle Linderung der Symp‐ tome. Mit Bescheid vom 20.6.2013 stellte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) fest, dass es sich bei dem Nasenspray um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handele. Hiergegen wendet sich die Klägerin. Sie ist im Wesentlichen der Ansicht, dass das Nasenspray als ein Medizinprodukt mit rein physikalischer Wirkweise anzusehen sei. Das VG Köln wies die Klage ab. Über die eingelegte Berufung der Klägerin hat das OVG NRW nunmehr entschieden. Die Berufung hat keinen Erfolg. Das VG Köln hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist. So erfüllt das Nasenspray der Klägerin die Voraussetzungen eines zulas‐ sungspflichtigen Präsentationsarzneimittels i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Hiernach sind Präsentations‐ arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierische Krankheiten oder krankhafter Beschwerden be‐ stimmt sind. Im Hinblick auf die Einordnung von Erzeugnissen als Präsentationsarzneimittel ist das Merkmal der „Bestimmung“ i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG weit auszulegen, um Verbraucher vor gefähr‐ lichen oder ungeeigneten Heilmitteln zu schützen. Ausgehend von diesem Schutzzweck ist ein Er‐ zeugnis ein Präsentationsarzneimittel, wenn es entweder ausdrücklich als Arzneimittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bezeichnet wird oder wenn es einem Arzneimittel zumin‐ dest genügend ähnelt, weil bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher schlüssig der Ein‐ druck entsteht, dass das Erzeugnis nach seiner Aufmachung in Bezug auf Krankheiten eine heilende, vorbeugende oder Symptom lindernde Wirkung hat. Dies ist vorliegend gegeben. Auch die CE‐Kenn‐ Seite 5
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 zeichnung der Verpackungen des Nasensprays begründet aus der Sicht eines durchschnittlich infor‐ mierten Verbrauchers nicht die Annahme eines Medizinprodukts, weil diesem der Aussagegehalt und die Bedeutung einer CE‐Kennzeichnung unbekannt sind. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG findet das Arz‐ neimittelrecht keine Anwendung auf Erzeugnisse, die Medizinprodukte darstellen. Dabei ist die An‐ nahme eines stofflichen Medizinprodukts aber nur für Erzeugnisse gerechtfertigt, die ihre therapeu‐ tische Zweckbestimmung durch eine physikalische Wirkweise erreichen. Da vorliegend die Wirkweise des Nasensprays unklar ist, begründet die Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG letztlich die An‐ nahme eines zulassungspflichtigen Präsentationsarzneimittels. Anmerkung: Das OVG NRW hat sich erneut mit der Abgrenzung von Präsentationsarzneimitteln und stofflichen Medizinprodukten beschäftigt und dabei an seiner vorangegangenen Rechtsprechung festgehalten, vgl. Urteil des OVG NRW vom 26.9.2019 – 13 A 3290/17 (Rechtsprechungsreport Pro‐ duktrecht 2020). Aufgrund der weitgehend übereinstimmenden Definition von Präsentationsarznei‐ mitteln und stofflichen Medizinprodukten erfolgt die Abgrenzung letztlich nach der Wirkweise des jeweiligen Erzeugnisses. In Zweifelsfällen ist nach der Ansicht des OVG NRW von dem Vorliegen ei‐ nes Präsentationsarzneimittels auszugehen, um Verbraucher vor gefährlichen und/oder ungeeigne‐ ten Heilmitteln zu schützen. Von dieser Rechtsprechung sind insbesondere Hersteller betroffen, die therapeutische Erzeugnisse mit unklarer Wirkweise in den Verkehr bringen. So ist zu beobachten, dass Marktüberwachungsbehörden und Gerichte in Grenzfällen häufig von dem Vorliegen eines zu‐ lassungspflichtigen Arzneimittels ausgehen. 3. VG Freiburg, Urteil vom 18.6.2020 ‐ 9 K 4341/19 Zur Einordnung von Steuerungsdisplays als Messgeräte i.S.d. MessEG Die Parteien streiten über die Einordnung von Steuerungsdisplays als Messgeräte i.S.d. Mess‐ und Eichgesetzes (MessEG). Die Klägerin stellt Kabelspulmaschinen her. Dies sind technische Vorrichtun‐ gen, mit deren Hilfe ein Kabel mit einem elektronisch gesteuerten Motorantrieb von einer Trommel ganz oder teilweise auf eine andere Trommel gespult werden kann. Im Zeitraum vom 11.3.2015 bis 4.8.2016 verkaufte die Klägerin 13 Kabelspulmaschinen an verschiedene Kunden im Gebiet der Bun‐ desrepublik Deutschland. Alle Kabelspulmaschinen sind sowohl mit einer geeichten Längenmessein‐ richtung (für die aufgespulte Kabellänge) sowie einem nicht eichfähigen Steuerungsdisplay ausge‐ stattet. Die elektronische Anzeige des zusätzlichen Steuerungsdisplays zeigt dem Verwender der Ka‐ belspulmaschine während des Abspulvorgangs den Abspulfortschritt in Metern unter dem Stichwort „Meterzähler“ an. Ausweislich der Bedienungsanleitung erfolgt dies, um Verletzungen durch ein un‐ kontrolliertes Ausdrehen der beschleunigten Kabeltrommel vorzubeugen. Die Beklagte stellte mess‐ und eichrechtliche Mängel in Bezug auf die Steuerungsdisplays fest und forderte die Klägerin mittels Verwaltungsakts zur Beseitigung der festgestellten Mängel auf. So sei zu gewährleisten, dass die Me‐ teranzahl der aufgespulten Kabellänge ausschließlich über die geeichte Längenmesseinrichtung und Seite 6
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 nicht über die ungeeichten Steuerungsdisplays abgelesen wird. Dies könne beispielsweise erreicht werden, sofern der Abspulfortschritt auf den Steuerungsdisplays nicht in Metern, sondern prozentual angegeben wird. Hiergegen wendet sich die Klägerin. Sie ist im Wesentlichen der Ansicht, dass es sich bei den Steuerungsdisplays nicht um Messgeräte i.S.d. MessEG handelt. Zudem seien die Kosten für die Umgestaltung der Steuerungsdisplays unverhältnismäßig. Die Klage hat Erfolg, weil der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist. Rechtsgrundlage des Bescheids ist § 50 Abs. 2 S. 1 MessEG. Hiernach kann die Marktüberwachungsbehörde die erforderlichen Maß‐ nahmen treffen, wenn sie den begründeten Verdacht hat, dass Messgeräte die Anforderungen des MessEG nicht erfüllen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Steuerungsdisplays als Messgeräte i.S.v. § 3 Nr. 13 MessEG anzusehen sind. Messgeräte sind hiernach „alle Geräte oder Systeme von Geräten mit einer Messfunktion einschließlich Maßverkörperungen, die jeweils „zur Verwendung im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder zur Durchführung von Messungen im öffentlichen Inte‐ resse bestimmt sind.“. Die streitgegenständlichen Steuerungsdisplays sind nach der Auffassung des VG Freiburg aber gerade keine Messgeräte, weil deren Messfunktion nicht zur Verwendung im ge‐ schäftlichen Verkehr bestimmt ist. Dabei obliegt es dem Gerätehersteller, den Verwendungszweck seines Produkts zu bestimmen. Auf eine zweckwidrige Verwendung durch den Verbraucher kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht an, solange für den Verbraucher erkennbar ist, dass der Hersteller dem jeweiligen Produkt einen Verwendungszweck zugewiesen hat, der außerhalb der Ge‐ setzeszwecke des MessEG liegt, was vorliegend der Fall war. So hat die Klägerin den Verwendungs‐ zweck der Steuerungsdisplays im Hinblick auf eine sichere und Verletzungen vorbeugende Steuerung des Ab‐ und Aufspulvorgangs klargestellt. Dieser Verwendungszweck liegt nicht im geschäftlichen Bereich, weil der wirtschaftliche Wert der aufzuspulenden Kabel über die Steuerungsdisplays nicht bestimmt werden soll. Anmerkung: Für die Einordnung eines Produkts als Messgerät i.S.v. § 3 Nr. 13 MessEG hat das Urteil des VG Freiburg eine grundsätzliche und produktübergreifende Bedeutung. So hat das Gericht klar‐ gestellt, dass ein Messgerät i.S.d. MessEG nur dann vorliegen kann, sofern die jeweilige Gerätever‐ wendung für die Gesetzeszwecke des MessEG bestimmt ist („geschäftlicher oder amtlicher Ver‐ kehr“). Positiv ist, dass das Gericht dem Gerätehersteller die Bestimmung des jeweiligen Verwen‐ dungszwecks überlässt und nicht auf eine faktische und zweckwidrige Verwendung durch den Ver‐ braucher abstellt. Im Hinblick auf die Bestimmung des Verwendungszwecks durch den Hersteller hat das Gericht jedoch auch darauf abgestellt, inwiefern dieser für den jeweiligen Verbraucher erkenn‐ bar ist. In Zweifelsfällen dürfte daher von einer Anwendbarkeit des MessEG auszugehen sein. Seite 7
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 4. VGH Bayern, Beschluss vom 10.7.2020 – 20 CS 20.435 Zur Unterlassung des Inverkehrbringens eines Präsentationsarzneimittels Die Beteiligten streiten über die rechtliche Einordnung des in Deutschland vertriebenen Produkts NOR‐MITE als zulassungspflichtiges Präsentationstierarzneimittel in Abgrenzung zu einem Futtermit‐ tel i.S.d. Lebensmittel‐ und Futtermittelgesetzbuches. Die Antragstellerin ist Herstellerin des Pro‐ dukts und bringt dieses ohne arzneimittelrechtliche Zulassung in den Verkehr. Mit einem für sofort vollziehbar erklärten Bescheid vom 30.10.2019 ordnete die Antragsgegnerin das Produkt als zulas‐ sungspflichtiges Präsentationsarzneimittel ein und untersagte der Antragstellerin das Inverkehrbrin‐ gen des Produkts ohne arzneimittelrechtliche Zulassung. Nach den Angaben innerhalb der Produkt‐ beschreibung soll NOR‐MITE zur Behandlung eines Befalls mit der Roten Vogelmilbe angewendet werden. Dabei beschreibt die Antragstellerin die Anwendung des Produkts bei dem Vorliegen der Symptome einer sog. Dermanyssose (starker Milbenbefall). Die Antragstellerin unterlag erstinstanz‐ lich vor dem VG München. Daraufhin hat sie eine Beschwerde vor dem VGH München erhoben. Sie ist im Wesentlichen der Ansicht, dass NOR_MITE kein zulassungspflichtiges Präsentationsarzneimit‐ tel darstelle, da es nicht an den Hühnern selbst, sondern als Stall‐ und Einstreu verwendet werden soll. Zudem habe NOR‐MITE eine lediglich Milbenabschreckende (repellierende) Wirkung. Die Beschwerde hat keinen Erfolg, weil sich der angegriffene Bescheid nach der im Eilrechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellt. Der Bescheid findet seine Rechtsgrund‐ lage in § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Hiernach kann das Inverkehrbringen eines Arzneimittels untersagt werden, sofern das jeweilige Arzneimittel nicht arzneimittelrechtlich zugelassen worden ist. Die Vo‐ raussetzungen der Rechtsgrundlage liegen vor, weil NOR‐MITE als Präsentationsarzneimittel i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG anzusehen ist. NOR‐MITE ist nach der Auffassung des VGH München zur Heilung, Linderung oder Verhütung eines krankhaften Milbenbefalls bestimmt, weil jedenfalls schlüssig bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher angesichts der Produktbeschreibung und Gestal‐ tung ein entsprechender Eindruck entsteht. NOR‐MITE ist zudem zur Anwendung „am tierischen Kör‐ per“ bestimmt, weil insbesondere die Produktpräsentation durch eine bildliche Darstellung des Wirk‐ mechanismus eine Wirkung des Produkts am betroffenen Huhn in Aussicht stellt. Ferner soll NOR‐ MITE nach den Angaben der Antragstellerin eine ökologische Alternative zur Bekämpfung der Milben und deren Folgen bieten. Die ausdrückliche Bezeichnung des Produkts als Futtermittel hat vorliegend keine rechtlichen Auswirkungen, weil die eben angeführten Umstände des Einzelfalles aus der allein maßgeblichen Sicht eines durchschnittlich informierten Verbrauchers die Annahme eines Arzneimit‐ tels rechtfertigen. Entsprechendes gilt für die Behauptung der Antragstellerin dahingehend, dass ihr Produkt lediglich eine repellierende und keine therapeutische oder pharmakologische Wirkung habe. Seite 8
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 Anmerkung: Diese Entscheidung zeigt erneut die Bedeutung der Produktbeschreibung und Gestal‐ tung im Hinblick auf die Annahme einer Präsentationsmitteleigenschaft nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG auf. Nach der Ansicht des VGH München hatte die tatsächliche Wirkweise von NOR‐MITE keine Be‐ deutung für die Prüfung der Präsentationsmitteleigenschaft. So sei ausschließlich auf die Produkt‐ beschreibung und Gestaltung abzustellen, weil diese letztlich die Perspektive eines durchschnittlich informierten Verbrauchers prägt. Dabei ist festzuhalten, dass die Wirkweise eines Produkts jedoch weiterhin in Fällen erheblich sein dürfte, in denen es um eine Abgrenzung von Präsentationsarznei‐ mitteln und stofflichen Medizinprodukten geht. Denn wegen der im Wesentlichen übereinstimmen‐ den Definition von Präsentationsarzneimitteln und stofflichen Medizinprodukten dürfte eine Ab‐ grenzung des Arzneimittelrechts vom Medizinproduktenrechts andernfalls kaum möglich sein, vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteil vom 4.3.2020 – 13 A 3209/17. 5. VGH Baden‐Württemberg, Urteil vom 29.9.2020 – 1 S 2999/19 Zur gebührenrechtlichen Heranziehung eines Messdienstleistungsunternehmens für im Eigentum Dritter stehende Kaltwassermessgeräte. Die Klägerin ist als Messdienstleistungsunternehmen tätig und wendet sich gegen die Heranziehung zur Zahlung einer Gebühr für eine eichrechtliche Verwendungsüberwachung. Die Klägerin liest Mess‐ geräte ab und übermittelt die abgelesenen Werte an ihre Auftraggeber (Ablese‐ und Abrechnungs‐ service). Die streitgegenständlichen Kaltwassermessgeräte stehen nicht im Eigentum der Klägerin, sondern im Eigentum einer Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG). In der Liegenschaft der WEG befinden sich sog. Unterzähler, auf deren Grundlage die Verbrauchswerte für die einzelnen Woh‐ nungseigentümer ermittelt werden. Im Jahr 2009 hat sich die Klägerin gegenüber der WEG zur Able‐ sung der Kaltwasserunterzähler sowie zur Abrechnung der abgelesenen Verbrauchswerte verpflich‐ tet. Im Jahr 2017 stellte das Eichamt bei einer Kontrolle der Messgeräte fest, dass sechs Messgeräte ungeeicht waren. Der Beklagte erließ einen an die Klägerin adressierten Gebührenbescheid für die Verwendungsüberwachung der Messgeräte. Die Klägerin ist im Wesentlichen der Ansicht, dass sie nicht als Gebührenschuldnerin anzusehen sei. Insbesondere stelle die Ablesung und Abrechnung der Messwerte für eine WEG keine Verwendung von Messwerten i.S.d. MessEG dar. Die Klägerin unterlag erstinstanzlich. Der VGH Baden‐Württemberg hat nunmehr über die Berufung der Klägerin entschie‐ den. Die Berufung hat Erfolg. Zunächst hat die Klägerin nach der Ansicht des Gerichts die kontrollierten Messgeräte nicht bereitgehalten oder betrieben (§ 3 Nr. 22 MessEG). Zwar ist sie als Verwenderin von Messwerten i.S.v. § 3 Nr. 23 MessEG anzusehen, was wiederum eine gebührenrechtliche Heran‐ ziehung begründen kann. Dies deshalb, da sie die Messwerte im „geschäftlichen Verkehr“ verwendet, indem sie die Messwerte zur Erfüllung ihrer vertraglichen und damit geschäftlichen Pflichten gegen‐ über ihrer Auftraggeberin (WEG) nutzt. Zudem hat die Klägerin die WEG nicht als Messgeräteverwen‐ Seite 9
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 derin vertraglich zur Einhaltung ihrer eich‐ und messrechtlichen Pflichten im Hinblick auf die streit‐ gegenständlichen Messgeräte verpflichtet. Der Gebührenbescheid ist aber dennoch aufzuheben, weil der Beklagte die vorliegend in Betracht kommenden Gebührenschuldner nicht ermessensfehler‐ frei ausgewählt hat. Nach § 59 Abs. 1 S. 1 MessEG können Gebühren für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen erhoben werden. Die Verwendungsüberwachung durch das Eichamt stellt eine öffentliche Leistung dar, die der Klägerin zudem individuell zurechenbar ist, weil sie an eine rechtliche Verantwortung der Klägerin als Messwerteverwenderin anknüpft. Allerdings hat der Be‐ klagte die WEG nicht als in Betracht kommende Gebührenschuldnerin berücksichtigt, obwohl diese als gebührenpflichtige Messgeräteverwenderin anzusehen ist. Anmerkung: Das Urteil des VGH Baden‐Württemberg dürfte für sämtliche Messdienstleistungsun‐ ternehmen eine grundsätzliche Bedeutung haben, sofern deren Geschäftstätigkeit die Abrechnung und Ablesung von im Eigentum Dritter stehender Messgeräte betrifft. Dabei ging das Gericht zutref‐ fend davon aus, dass derartige Messdienstleistungsunternehmen als potenzielle Gebührenschuld‐ ner einer Verwendungsüberwachung in Betracht kommen, weil diese Messwerte von Messgeräten im geschäftlichen Verkehr verwenden. Nach der Ansicht des Gerichts können Messdienstleistungs‐ unternehmen jedoch eine gebührenrechtliche Heranziehung als Messwerteverwender insbesondere durch vertragliche Vereinbarungen mit dem Messgeräteverwender verhindern. Dies setzt voraus, dass der Messgeräteverwender konkret zur Einhaltung seiner mess‐ und eichrechtlichen Pflichten verpflichtet wird. In diesem Falle erfüllt der Messwerteverwender wiederum seine Verpflichtung nach § 33 Abs. 2 MessEG, was nach der Ansicht des Gerichts dazu führt, dass keine gesetzlichen Anknüpfungspunkte für eine gebührenrechtliche Inanspruchnahme bestehen. 6. VGH Baden‐Württemberg, Urteil vom 7.10.2020 – 8 S 2944/18 Zur Überprüfung der Technischen Baubestimmung im Rahmen eines Normkontrollverfahrens hin‐ sichtlich der Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen aus Holzwerkstoffen Die durch Kopp‐Assenmacher & Nusser Rechtsanwälte vertretene Antragstellerin stellt u.a. OSB‐Plat‐ ten her und verkauft diese bundesweit. Bei OSB‐Platten handelt es sich um harmonisierte Baupro‐ dukte, die in den Anwendungsbereich der harmonisierten Norm EN 13986 und damit unter die EU‐ BauPVO fallen. Anforderungen an VOC‐Emissionen (volatile organic compounds) werden durch die harmonisierte Norm nicht aufgestellt. Die Musterverwaltungsvorschrift Technische Baubestimmun‐ gen (MVV‐TB) enthält hingegen mit den „Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesund‐ heitsschutzes (ABG)“ produktbezogene Anforderungen an VOC‐Emissionen aus OSB‐Platten. Eine der MVV‐TB entsprechende Regelung existiert im Hinblick auf Anforderungen an VOC‐Emissionen eben‐ falls in der Verwaltungsvorschrift über Technische Baubestimmungen Baden‐Württemberg (VwV‐ TB). Danach dürfen OSB‐Platten bestimmte Grenzwerte für VOC‐Emissionen nicht überschreiten. Die Seite 10
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 Antragstellerin wendet sich mit einem Normkontrollverfahren gegen die Aufstellung von Anforde‐ rungen an VOC‐Emissionen durch die VwV‐TB. Sie ist zum einen der Ansicht, dass die Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen gegen das Marktbehinderungsverbot des Art 8 Abs 4 BauPVO verstößt, weil die maßgeblichen Produktanforderungen für OSB‐Platten in der abschließenden har‐ monisierten Norm EN 13986 festgelegt worden sind. Zum anderen fehle es derzeit an gesicherten Forschungsergebnissen hinsichtlich gesundheitsschädlicher Auswirkungen von VOC‐Emissionen so‐ wie erst recht an einer fachlichen Grundlage für die Festlegung der streitgegenständlichen Grenz‐ werte; die Anforderungen seien daher dem Vorsorgebereich zuzurechnen. Letzteres ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 73a BW LBO gedeckt. Das Normkontrollverfahren hat Erfolg. Die Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen für OSB‐Platten durch die VwV‐TB ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 73a BW LBO gedeckt und somit unwirksam. Die angegriffene Regelung der VwV‐TB konkretisiert die gesetzlichen Anfor‐ derungen für bauliche Anlagen nach § 3 Abs. 1 BW LBO und stellt einen tauglichen Antragsgegen‐ stand eines Normkontrollverfahrens dar. § 73a BW LBO gestattet eine Konkretisierung der Anforde‐ rungen für bauliche Anlagen in der VwV‐TB jedoch nur, soweit hierdurch gewährleistet werden soll, dass insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen nicht bedroht werden und bauliche Anlagen ihrem Zweck entsprechend ohne Missstände nutzbar sind. Tatbestandliche Vo‐ raussetzung für die Aufstellung zusätzlicher Anforderungen an VOC‐Emissionen ist demnach das Vor‐ liegen einer abstrakten Gefahr, während ein Gefahrenverdacht oder eine bloße Besorgnis nicht aus‐ reichen. Der VGH Baden‐Württemberg konnte jedoch – trotz einer umfassenden Auseinanderset‐ zung mit dem verfügbaren Forschungsstand – keine hinreichend abstrakte Gefahr für die menschli‐ che Gesundheit im Hinblick auf von OSB‐Platten potenziell ausgehende VOC‐Emissionen feststellen, welche die Festlegung konkreter Summengrenzwerte für VOC‐Emissionen in Anhang 8 VwV‐TB als gerechtfertigt erscheinen lässt. Da die angegriffene Regelung der VwV‐TB bereits nicht den Voraus‐ setzungen der Ermächtigungsgrundlage entspricht, kommt es auf eine Unionsrechtswidrigkeit nicht mehr an. Jedoch stimmte das Gericht der Antragstellerin darin zu, dass der EU‐BauPVO das System der Vollharmonisierung zu Grunde liegt, welches den Mitgliedstaaten aufgrund von Art. 8 Abs. 4 EU‐ BauPVO grundsätzlich verbietet, zusätzliche nationale produktbezogene Anforderungen an harmo‐ nisierte Bauprodukte aufzustellen. Anmerkung: Die Bedeutung des Urteils geht weit über den entschiedenen Fall hinaus. Zwar gilt das Urteil zunächst unmittelbar nur für die VwV‐TB Baden‐Württemberg, dennoch hat die Entscheidung auch Bedeutung für die Rechtslage in anderen Bundesländern, da die in Baden‐Württemberg ange‐ griffenen Regelungen auch in anderen Bundesländern nahezu identisch umgesetzt worden sind. Dementsprechend sind Normenkontrollverfahren in weiteren Bundesländern anhängig. Die Ausfüh‐ rungen des VGH Baden‐Württemberg betreffen zudem nicht nur die Anforderungen an VOC‐Emissi‐ onen aus OSB‐Platten. Schließlich gilt das gesetzliche Erfordernis der Gefahrenabwehr grundsätzlich Seite 11
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 für alle normkonkretisierenden Anforderungen an bauliche Anlagen durch Technische Baubestim‐ mungen. Um die Eignung der Regelungen zur Gefahrenabwehr beurteilen zu können, muss der Re‐ gelungssetzer sich u.U. auch vertieft mit den verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagen des Rege‐ lungsthemas befassen. Neben Anhang 8 MVV‐TB dürften beispielsweise auch die „Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich der Auswirkungen auf Boden und Gewässer (ABuG)“ (Anhang 9 MVV‐ TB) von dieser Problematik betroffen sein. Für weitere Informationen vgl. unsere Mandanteninfor‐ mation. 7. OVG Lüneburg, Beschluss vom 7.10.2020 – 13 ME 332/20 Zur Unterlassung des Inverkehrbringens und Rückrufs von Präsentationsarzneimittel Die Beteiligten streiten über die Rechtsmäßigkeit eines marktüberwachungsrechtlichen Bescheids, mit dem seitens der Antragsgegnerin das Inverkehrbringen eines als Futtermittel für Haustiere be‐ zeichneten Produkts sowie dessen Rückruf angeordnet worden ist. Die Antragstellerin ist Herstellerin des Produkts und bewirbt es auf ihrer Website als „Ergänzungsfuttermittel“, welches verwendet wer‐ den soll, um den bei Haustieren häufig auftretenden Mangel an Kräuterinhaltstoffen auszugleichen. Durch Sicherstellung einer ausgewogenen Ernährung soll ein Wurmbefall präventiv verhindert wer‐ den. Die Produktetiketten enthalten grafische Darstellung eines Tierdarms mit einem sich darin be‐ findenden Wurm. In Webinaren, die auf der Website der Herstellerin regelmäßig angeboten werden, wird das Futtermittel zudem als Alternative zu chemischen Entwurmungsmitteln dargestellt. Das VG Osnabrück hat den Antrag der Herstellerin stattgegeben und die sofortige Vollziehbarkeit des Be‐ scheids aufgehoben. Hiergegen hat der Antragsgegner Beschwerde vor dem OVG Lüneburg erhoben. Er ist im Wesentlichen der Ansicht, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt um ein zu‐ lassungspflichtiges Präsentationsarzneimittel i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG handele. Die Beschwerde hat Erfolg. Die sofortige Vollziehbarkeit des angegriffenen Bescheids ist wiederher‐ zustellen. Der Bescheid findet seine Rechtsgrundlage in § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Hiernach kann das Inverkehrbringen eines Arzneimittels untersagt und der Produktrückruf angeordnet werden, sofern ein Arzneimittel ohne arzneimittelrechtliche Zulassung in den Verkehr gebracht worden ist. Die Vo‐ raussetzungen des § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG liegen vor, weil das Produkt als zulassungspflichtiges Prä‐ sentationsarzneimittel i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG anzusehen ist. Gegen die Annahme einer Präsen‐ tationsarzneimitteleigenschaft sprechen zwar die Angaben auf der Website der Herstellerin, da das Produkt dort von einer Wurmkur und damit von einem Arzneimittel abgegrenzt wird. Jedoch wird die Produktbeschreibung auf der Website der Antragstellerin von Umständen überlagert, die für Arz‐ neimitteleigenschaft sprechen. Dabei ist unerheblich, dass die Antragstellerin ihr Produkt ausdrück‐ lich als ein Futtermittel bezeichnet. Schließlich haben derartige Produktbezeichnungen des Herstel‐ Seite 12
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 lers im Hinblick auf die Prüfung einer Arzneimitteleigenschaft nur eine indizielle Bedeutung. Andern‐ falls könnte der Hersteller allein durch die Angabe einer bestimmten Produktkategorie die Anwend‐ barkeit des Arzneimittelrechts umgehen. Zudem ist das Eintreten schwerwiegender Nachteile nach der Ansicht des Gerichts auf Seiten der Antragstellerin durch eine sofortige Vollziehbarkeit des Be‐ scheids nicht zu befürchten, weil sie ihr Produkt in arzneimittelrechtlich konformer Weise in den Ver‐ kehr bringen kann, sofern sie eine unverfänglichere Produktgestaltung und Werbung wählt. Anmerkung: Die Produktgestaltung und Werbung haben im Hinblick auf die Einordnung eines Pro‐ duktes als Futtermittel oder als Präsentationsarzneimittel eine überragende Bedeutung. Sofern ein Futtermittel nicht zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt ist, sollte dies durch den jeweiligen Hersteller klargestellt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Marktüber‐ wachungsbehörden und Gerichte in Zweifelsfällen von dem Vorliegen eines zulassungspflichtige Präsentationsarzneimittels ausgehen. Die „arzneimittelrechtlich unverfängliche“ Produktgestaltung und Werbung kann nach den Ausführungen des OVG Lüneburg dazu führen, dass eine Anwendbar‐ keit des Arzneimittelrechts verhindert wird. Abschließend ist anzumerken, dass der angeordnete Produktrückruf nicht durch die vom Gericht vorgebrachte Möglichkeit einer „unverfänglichen“ Pro‐ duktgestaltung berührt wird, also unabhängig davon durchzuführen ist. Hiernach hätte das OVG Lüneburg die wirtschaftlichen Auswirkungen eines sofort vollziehbaren Produktrückrufs unabhängig von der Möglichkeit einer „unverfänglicheren“ Produktgestaltung und Werbung bei seiner Entschei‐ dung bewerten müssen. 8. VG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2020 ‐ 3 K 8156/19 Zur Konformität eines Produktetiketts mit den Vorgaben der VO (EG) 1272/2008 (CLP‐Verordnung) Die Parteien streiten über die Konformität eines Produktetiketts mit den Vorgaben der CLP‐Verord‐ nung. Die Klägerin stellt diverse chemische Spezialprodukte her, die unter den Anwendungsbereich der CLP‐Verordnung fallen. Streitgegenstand des Verfahrens ist ein chemisches Spray der Klägerin in einer 500 ml Dose. Bei dem Spray handelt es sich um einen entzündbaren Stoff, der für Wasserorga‐ nismen giftig ist und Hautreizungen verursachen kann. Die nach der CLP‐Verordnung vorgeschriebe‐ nen Warnhinweise und Informationen erfolgten zwar vollständig innerhalb der Etikettierung des Sprays, dies geschah jedoch mittels eines Wickeletiketts. Dabei wird das Wickeletikett um die jewei‐ lige Spraydose gewickelt. Es ist als solches widerstandsfähig und reißsicher. Nach der Ansicht des Beklagten erfüllt die Verwendung des Wickeletiketts jedoch nicht die Anforderungen nach Art. 31 Abs. 1 CLP‐Verordnung. Insbesondere würden die Voraussetzungen für eine Verwendung von „Fal‐ tetiketten“ nach Art. 29 Abs. 1 CLP‐Verordnung nicht vorliegen. Nach Anhörung der Klägerin unter‐ sagte der Beklagte das Inverkehrbringen der streitgegenständlichen Spraydose solange die nach der CLP‐Verordnung notwendigen Informationen und Warnhinweise nicht entsprechend Art. 31 Abs. 1 CLP‐Verordnung unmittelbar auf der Dose selbst angebracht werden. Seite 13
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 Die Klage hat keinen Erfolg, weil der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist. Rechtsgrundlage des Be‐ scheids ist § 23 Abs. 1 ChemG. Hiernach kann die zuständige Behörde im Einzelfall die Anordnungen treffen, die zur Beseitigung festgestellter Verstöße gegen die CLP‐Verordnung notwendig sind. Die Verwendung des Wickeletiketts zur Anbringung der notwendigen Warnhinweise und Informationen verstößt nach Ansicht des VG Düsseldorf gegen die Anforderungen nach Art. 31 Abs. 1 CLP‐Verord‐ nung. So müssen die nach Art. 4 Abs. 4 und Art. 17 CLP‐Verordnung vorgeschriebenen Warnhinweise und Informationen gemäß Art. 31 Abs. 1 CLP‐Verordnung auf einem Kennzeichnungsetikett angege‐ ben werden, welches wiederum fest auf einer oder mehreren Flächen der Verpackung angebracht, ist, die den jeweiligen Stoff oder das Gemisch unmittelbar enthält. Nach der Auffassung des Gerichts bietet eine 500 ml Dose zudem genügend Platz, um die gesetzlich vorgeschriebenen Warnhinweise und Informationen unmittelbar auf der Dose selbst anzubringen, weil die Warnhinweise und Infor‐ mationen lediglich in der Amtssprache des Staates anzugeben sind, in dem das etikettierungspflich‐ tige Produkt jeweils in den Verkehr gebracht wird. Eine Produktetikettierung durch „Faltetiketten“, „Anhängeetiketten“ oder auf „einer äußeren Verpackung“ ist daher auch auf der Grundlage der Aus‐ nahmevorschrift des Art. 29 Abs. 1 CLP‐Verordnung i.V.m. Anhang I Ziff. 1.5.1.1. CLP‐Verordnung un‐ zulässig. Insbesondere ist es der Klägerin weder aus praktischen noch aus finanziellen Gründen un‐ zumutbar, die Produktetikettierung gesondert in den Amtssprachen der jeweiligen Zielstaaten zu ver‐ fassen. Anmerkung: Bereits aus dem klaren Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 CLP‐Verordnung folgt, dass die vorgeschriebenen Warnhinweise und Informationen grundsätzlich unmittelbar auf der Verpackung anzubringen sind, die den Stoff oder das Gemisch enthält. Diese Anforderung wird durch eine „Um‐ wicklung“ der Verpackung des Erzeugnisses mit einem zusätzlichen Wickeletikett nicht erfüllt. Dabei ist dem VG Düsseldorf im Hinblick auf eine Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift des Art. 29 CLP‐ Verordnung jedoch entgegenzuhalten, dass die Produktion unterschiedlich gekennzeichneter Ver‐ packungen abhängig von dem jeweiligen Zielstaat des Produkts letztlich in aller Regel praxisfremd und unwirtschaftlich ist. 9. VG Stade, Beschluss vom 20.10.2020 – 6 B 1479/20 Zu der Untersagung der Bereitstellung von Atemschutzmasken Im Rahmen eines Marktüberwa‐ chungsverfahrens Die Antragstellerin vertreibt seit April 2020 Atemschutzmasken als FFP2‐Masken und wendet sich im Wege eines Eilverfahrens gegen einen für sofort vollziehbar erklärten marktüberwachungsrechtli‐ chen Bescheid, mit dem ihr der Vertrieb der Atemschutzmasken untersagt worden ist. Die Atem‐ schutzmasken werden in China produziert. Die Antragstellerin hat für die Atemschutzmasken eine Seite 14
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 Konformitätserklärung nach der PSA‐Verordnung (VO EU 2016/425) ausgestellt. Zwischen den Betei‐ ligten ist streitig, ob eine Prüfung der Atemschutzmasken durch eine zertifizierte Konformitätsbe‐ wertungsstelle stattfand. Hierzu behauptet die Antragstellerin, dass die Konformitätsbewertung der streitgegenständlichen Atemschutzmasken durch eine chinesische Zweigstelle einer in Deutschland notifizierten Konformitätsbewertungsstelle erfolgt sei. Zudem ist zwischen den Beteiligten streitig, ob im Hinblick auf eine Bereitstellung der streitgegenständlichen Atemschutzmasken wegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ein Versorgungsengpass i.S.v. § 9 Abs. 1 MedBVSV ge‐ geben ist, der nach § 9 Abs. 2 MedBVSV eine erleichterte Bereitstellung von FFP2‐Masken ohne Durchführung einer ansonsten notwendige EU‐Baumusterprüfung ermöglicht. Auf Grundlage eines Beschlusses des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales haben die Marktüberwachungsbehörden der Länder jedoch beschlossen, von der Möglichkeit einer erleichterten Bereitstellung nach § 9 Abs. 2 MedBVSV abzusehen, da ein Ver‐ sorgungsengpass für filtrierende Halbmasken nicht mehr gegeben sei. Der Antrag hat keinen Erfolg. Zunächst führt das VG Stade zwar aus, dass im Eilverfahren nicht ab‐ schließend beurteilt werden könne, inwiefern eine erleichterte Bereitstellung nach § 9 Abs. 2 MedBVSV möglich ist. So müsse hierfür jedenfalls ein Versorgungsengpass i.S.v. § 9 Abs. 1 MedBVSV vorliegen. Dies stelle eine tatsächliche Frage dar, die im Eilverfahren nicht aufgeklärt werden könne. Zudem sei im Hauptsacheverfahren zu prüfen, wer überhaupt einen Versorgungsengpass i.S.v. § 9 Abs. 1 MedBVSV feststellen bzw. ablehnen könne. Jedenfalls sei nicht nachzuvollziehen, dass die Ab‐ lehnung eines Versorgungsengpasses durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro‐ dukte und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erfolgen könne, weil die MedBVSV durch das Bundesministerium für Gesundheit erlassen worden ist. Zudem könne nur im Rahmen des Haupt‐ sacheverfahrens aufgeklärt werden, inwiefern die streitgegenständlichen Atemschutzmasken die Produktanforderungen der PSA‐Verordnung erfüllen. Allerdings nahm das VG Stade aufgrund der im vorliegenden Eilverfahren nicht aufklärbaren tatsächlichen und rechtlichen Fragen eine Interessen‐ abwägung vor, die zu Lasten der Antragstellerin ausfiel. Insbesondere überwiegt der Schutz der Be‐ völkerung vor potenziell unwirksamen FFP2‐Masken die wirtschaftlichen Interessen der Antragstel‐ lerin. Anmerkung: Letztlich lassen sich im Hinblick auf die Möglichkeit einer erleichterten Bereitstellung von FFP2‐Masken nach § 9 Abs. 2 MedBVSV kaum Rückschlüsse aus der Entscheidung des VG Stade ziehen, da das Gericht zur Entscheidung des Eilverfahrens nur eine Interessenabwägung vorgenom‐ men hat. Sofern Hersteller und Importeure FFP2‐Masken innerhalb des Unionsmarktes in den Ver‐ kehr bringen wollen, sollten diese daher darauf achten, dass die nach Art. 19 PSA‐Verordnung vor‐ geschriebene EU‐Baumusterprüfung ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Andernfalls drohen ohne anderweitige Absprachen mit den jeweils zuständigen Marktüberwachungsbehörden erhebli‐ che rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen. Seite 15
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 10. VG Würzburg, Urt. v. 16.10.2020 – W 10 K 19.451 Zur Einordnung eines Unternehmens als Erstbehandlungsanlage von Elektroaltgeräten Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung einer Betriebsstillegung. Er betreibt die Firma P, welche gebrauchte Elektronikgeräte abnimmt, sortiert, reinigt und zerlegt. Anschließen verkauft er sie wei‐ ter oder führt sie einer Erstbehandlungsanlage zu. Die Firma ist weder i.S.v. § 21 Abs. 1 ElektroG zertifiziert noch erfolgte eine Anzeige der Erstbehandlung von Elektroaltgeräten nach § 25 Abs. 4 ElektroG. Ausweislich des Betriebskonzepts werden gebrauchte Elektronikgeräte samt Elektronik‐ baugruppen und Zubehör von dem jeweiligen Kunden abgeholt. Die Geräte bzw. Bauteile werden anschließend überprüft, gereinigt sowie sortiert. Bei funktionsunfähigen Geräten werden Ersatzteile ausgebaut und anschließend verkauft. Funktionsunfähige Geräte und Bauteile werden gesondert ge‐ lagert und an Entsorgungsunternehmen weitergegeben. Nach der Ansicht des Beklagten handelt es sich bei dem Betrieb der Firma P. um eine Erstbehandlungsanlage. Daher verpflichtete der Beklagte den Kläger unter Androhung eins Zwangsgeldes zur Einstellung des Firmenbetriebs. Zuvor ist dem Kläger erfolglos die Durchführung eines Zertifizierungs‐ und Anzeigeverfahrens angeboten worden. Der Kläger ist im Wesentlichen der Ansicht, dass sein Betrieb nicht als Erstbehandlungsanlage anzu‐ sehen sei. Die Klage hat keinen Erfolg, weil der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist. Der Kläger hat gegen die Zertifizierungs‐ und Anzeigepflichten zum Betrieb einer Erstbehandlungsanlage nach § 21 Abs. 1 ElektroG und § 25 Abs. 4 ElektroG verstoßen. Die behandelten Geräte stellen Elektroaltgeräte dar, weil diese als Abfall i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 KrWG anzusehen sind. Vorliegend sei ein Entledigungswille einerseits deshalb anzunehmen, weil der Kläger überhaupt Ersatzteile aus reparaturbedürftigen Ge‐ räten ausbaut; dies stellt eine Abfallbehandlung dar. Andererseits erwirbt der Kläger jedenfalls auch gebrauchte und defekte Elektrogeräte zum Zwecke der Ersatzteilgewinnung erwirbt. Damit hat sich der subjektive Entledigungswille des Klägers bereits im Zeitpunkt des Erwerbs manifestiert, da ihm bereits zu diesem Zeitpunkt bewusst ist, dass jedenfalls ein gewisser Anteil der ihm übergebenen Endgeräte nicht mehr entsprechend der ursprünglichen Zweckbestimmung verwendet werden kann. Unerheblich ist dabei, dass einzelne Komponenten solcher Endgeräte noch als Ersatzteile dienen kön‐ nen, weil die Abfalleigenschaft nicht an einzelne Bauteile, sondern auf die Sachgesamtheit – also auf das Elektrogerät insgesamt – anstellt. Der angegriffene Bescheid genügt auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil dem Kläger vor Anordnung der Betriebsstilllegung erfolglos angeboten worden ist, die gesetzlich vorgeschriebenen Zertifizierungs‐ und Anzeigeverfahren durchzuführen. Seite 16
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 11. EuGH, Urteil vom 17.12.2020 Rs. C‐475/19 P und C‐688/198 Zu Verfahren nach Art. 18 Bauproduktenverordnung Das (Berufungs‐) Urteil des EuGH betrifft zwei Klagen der Bundesrepublik Deutschland gegen die Kommission, die vom EuG bereits 2019 abgewiesen worden waren und gegen die Deutschland unter einem Streitbeitritt Finnlands Berufung eingelegt hatte. Im Ergebnis wurden die Klagen auch vom EuGH vollständig abgewiesen. Deutschland stellte mit den Klagen im Kern zwei alternative „Lösungsmöglichkeiten“ im Falle einer unzureichenden, lückenhaften Normung zur Diskussion. Zunächst wurden mit Holzfußböden und Parkett sowie Sportböden seitens der Bundesrepublik Bauprodukte ausgewählt, deren Harmonisie‐ rung in Bezug auf gefährliche Stoffe unter Verstoß gegen die zugrunde liegenden Mandate nicht ge‐ geben war und für die die Kommission im Nachhinein auch die Möglichkeit einer nationalen Ergän‐ zung durch entsprechende Anforderungen wieder gestrichen hatte. Tatsächlich konnte Deutschland insoweit auf die seit Jahren von der Kommission praktizierte Verfahrensweise verweisen, wonach die Kommission – wegen der Unvollständigkeit der Harmonisierung in diesem Punkt – selbst eine Vielzahl von Normen mit dem Hinweis versehen hatte, dass in Bezug auf gefährliche Substanzen ergänzend nationale Bestimmungen zu beachten sein könnten. Nachdem Deutschland auf diesen Widerspruch hingewiesen hatte, hatte die Kommission diese Passagen aber für unwirksam erklärt und auf diese Weise den Widerspruch aufgelöst, wenn auch auf Kosten der gleichsam anerkannten „Unvollstän‐ digkeit“ der Harmonisierung. Deutschland war hierzu der Auffassung, dass derartige Korrekturen unzulässig seien und die Kom‐ mission angesichts der „unstreitigen“ Mängel der Normen die Pflicht gehabt hätte, die entsprechen‐ den Normen im Amtsblatt wieder zu streichen und damit die Harmonisierung aufzuheben. Alternativ hätte der Verweis auf die nationalen Normen erhalten bleiben müssen, da die betreffende Prüfme‐ thode nicht harmonisiert sei und damit einer nationalen Ergänzung zugänglich bleiben müsse. Als Kernargument verwies Deutschland auf den Umstand, dass andernfalls die Grundanforderungen an Bauwerke in Bezug auf deren Sicherheit nicht gewährleistet werden könne. Der EuGH stellte hierzu nun abschließend fest, dass die Kommission im Falle mangelhafter Normen die Möglichkeit habe, eine Norm oder den Teil der Norm, die bzw. der dem Mandat entspricht, ganz oder teilweise im Amtsblatt der Europäischen Union vollständig oder unter Vorbehalt zu veröffentli‐ chen oder zu belassen oder zu streichen. Diese Entscheidung habe die Kommission ohne offensicht‐ liche Beurteilungsfehler getroffen. Die Kommission habe aber nicht die Pflicht, eine Streichung vor‐ zunehmen. Zudem gebe die BauPVO der Kommission auch keine Möglichkeit, eine nationale Ergän‐ zung von Normen durch die Mitgliedstaaten zuzulassen. Daher könne Deutschland die Beibehaltung Seite 17
RECHTSPRECHUNGSREPORT PRODUKTRECHT Ausgabe 1/2021 der bisherigen Vorbehalte nicht verlangen. Die BauPVO enthalte für den Fall einer unzureichenden Norm die Möglichkeit für den Hersteller, die Lücke über eine Europäische Technische Bewertung zu schließen. Schließlich habe die Kommission auch keine Pflicht zu prüfen, ob eine harmonisierte Norm die Einhaltung der Grundanforderungen an Bauwerke ermögliche. Denn der Zweck der BauPVO liege nicht in der Erstellung von Anforderungen für Bauwerke. Für die Bauwerkssicherheit seien die Mit‐ gliedstaaten zuständig, die diese über Regeln zum Einbau und zur Verwendung von Bauprodukten sicherstellen könnten. In diesem Rahmen dürften aber keine zusätzlichen Anforderungen für harmo‐ nisierte Bauprodukte geschaffen werden. Deutschland hatte darüber hinaus auch die Unvollständigkeit einer harmonisierten Normen für Tanks beanstandet, da die Norm keine Anforderungen für die Verwendung dieser Tanks in Erdbeben‐ oder Überschwemmungsgebieten enthalte. Der EuGH beschied Deutschland aber dahin, dass „Tanks in Erdbeben‐ und Überschwemmungsgebieten“ nicht in den Anwendungsbereich der fraglichen Norm fallen würden, so dass insoweit gar keine Harmonisierung gegeben sei. Anmerkung: Mit dem Urteil dürfte der EuGH einen Schlusspunkt unter die Diskussion über die (Un‐) Zulässigkeit der nationalen Ergänzung harmonisierter Normen gesetzt haben. Es verbleibt daher bei den schon bisher praktizierten Verfahren, wonach die Bauwerksicherheit vor allem über Anforde‐ rungen an Bauwerke zu gewährleisten ist. Allerdings können die Hersteller die „Lücken“ in harmo‐ nisierten Normen aber nicht nur durch eine ETA sondern ggf. auch durch freiwillige Angaben schlie‐ ßen, denn solche Angaben sind als Ergänzung außerhalb der Leistungserklärung nach wie vor mög‐ lich. II. Produkthaftungsrecht BGH, Urteil vom 27.2.2020 – VII ZR 151/18 Zur Haftung der vom Hersteller fehlerhafter Silikonbrustimplantate beauftragten Benannten Stelle gegenüber den Patientinnen Der BGH hatte über Ansprüche wegen fehlerhafter Silikonbrustimplantate gegenüber der am Kon‐ formitätsbewertungsverfahren nach § 7 Medizinprodukte‐Verordnung (MPV) i. V. m. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte beteiligten Benannten Stelle zu entscheiden. Er hob das Berufungsurteil der OLG Nürnberg vom 27.06.2018 auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht zurück. Die Klägerin, eine Krankenkasse, verlangt von der Benannten Stelle aus übergegangenem Recht Scha‐ densersatz wegen von ihr erstatteter Kosten für Revisionsoperationen. Den von ihr behandelten Seite 18
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