Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden

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Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden
Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia
              Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden
                                                 Leseprobe
                                 Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden
                               von Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia
                                Herausgeber: MVS Medizinverlage Stuttgart

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Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden
aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden
WAS BEDEUTET
         TRAUMATISIERUNG
           Verschiedene Ereignisse können Traumata auslösen;
           bezeichnend sind extreme Angst- und Ohnmachts-
           gefühle.

aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
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     Was sind traumatische
     Erfahrungen?
     Traumatische Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie
     unsere Verarbeitungsfähigkeit weit übersteigen. Wir wollen der Situ-
     ation entfliehen oder kämpfen und uns in Sicherheit bringen.

     W     ir sind in der Klemme, weil wir uns          langsam und vorsichtig, denn die Straße
     nur noch ohnmächtig und hilflos füh-               ist eng. Rechts von Ihnen steigt der Berg
     len. Und das ist schwer auszuhalten.               auf, links geht es in die Tiefe.
     Ohnmacht, Todesangst und Hilflosig-
     keit sind vermutlich die unangenehms-              Plötzlich rast ein Auto auf Sie zu. Sie kön-
     ten Erfahrungen, die wir in unserem Le-            nen nicht ausweichen. Der Fahrer des an-
     ben zu erleiden haben. Dennoch erleiden            deren Fahrzeugs bremst gar nicht. Sie
     Menschen wie auch Säugetiere solche                denken: »Oh mein Gott, das ist das Ende«.
     Erfahrungen und haben einige Mechanis-             Dann kracht es …
     men entwickelt, damit irgendwie doch
     fertig zu werden. Wie? Das werden wir              Sie kommen wieder zu sich und bemer-
     weiter unten besprechen.                           ken, dass Sie im Wagen eingeklemmt
                                                        sind. Irgendwie schaffen Sie es, sich aus
     Stellen Sie sich vor, Sie machen gut ge-           dem Auto zu befreien. Was Sie sehen,
     launt an einem schönen Sonnentag im                lässt Ihnen das Blut in den Adern gefrie-
     Mai eine kleine Spazierfahrt auf einer             ren … (Wir beschreiben das absichtlich
     selten befahrenen Landstraße im Ge-                nicht genauer.) Irgendwie schaffen Sie es,
     birge. Sie freuen sich über das schöne             ins nächste Dorf zu kommen und Hilfe zu
     Wetter und den Bergfrühling. Sie fahren            holen.

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Was sind traumatische Erfahrungen?          11

Erst als sich dort jemand um Sie küm-              • Wenn uns die Natur verletzt, z. B. durch
mert, bemerken Sie, dass Sie zittern und             ein Erdbeben, ist das natürlich auch
Sie sich setzen müssen, weil Ihre Knie               entsetzlich, dennoch können wir inner-
weich sind. Jemand bringt Ihnen war-                 lich damit leichter fertig werden, weil
men Tee und gibt Ihnen eine Decke. Als               wir doch wissen, dass solche Dinge ge-
Sie diese Zuwendung erfahren, kommen                 schehen können, und weil wir uns
Ihnen die Tränen. Jetzt erst bemerken Sie,           nicht persönlich verraten und geschä-
dass in Ihnen Todesangst ist, Panik, Ent-            digt fühlen, selbst wenn uns das Ereig-
setzen, Ohnmacht und Hilflosigkeit.                  nis Schaden zufügt.
                                                   • Wenn wir kollektive traumatische Er-
Sie haben soeben eine traumatische Er-               fahrungen machen, wie z. B. einen
fahrung erlitten. In jedem Fall sind sol-            Krieg erleben, können wir uns zumin-
che Erfahrungen sehr einschneidend und               dest damit »trösten«, dass alle das glei-
man steckt sie nicht einfach weg. Die                che Schicksal trifft. Das hilft vielen
Verarbeitung braucht Zeit und setzt vor-             Menschen, mit Schrecklichem besser
aus, dass die äußere Gefahr vorüber ist.             fertig zu werden.

                                                   Verkehrsunfälle, Feuer u. Ä. werden meist
Welche Traumata gibt es?                           eher wie eine Naturkatastrophe erlebt
                                                   und weniger als etwas, das uns von ei-
Traumata, die Menschen anderen Men-                nem anderen Menschen angetan wird.
schen zufügen, bezeichnet man auch                 Aber hier gibt es Übergänge.
als »Man-made-Traumata«; leider kom-
men diese häufiger vor als die zweite              Diese Einteilung ist nur grob, und es gibt
Kategorie, die uns als Naturkatastrophen           immer wieder Situationen, die sich nicht
oder schwere Schicksalsschläge, wie z. B.          eindeutig einer der drei Kategorien zu-
 schwere Erkrankungen, begegnen. Als               ordnen lassen. Stellen Sie sich z. B. ein
 dritte Kategorie gibt es kollektive Trau-         kleines Kind vor, das im Krieg seine El-
matisierungen, die wir uns als Menschen            tern verliert. Oder Menschen, die infolge
gegenseitig zufügen, die aber in einem             des Krieges vergewaltigt werden.

                                                    »
größeren, also nicht individuellen Kon-
text geschehen, die allen widerfahren,                  Traumatische Erfahrungen übersteigen
wie z. B. Kriege.                                       das Erträgliche.
• »Man-made-Traumata« der ersten Ka-                    Wir fühlen uns ohnmächtig und hilflos.
   tegorie wirken sich am schlimmsten                   Danach ist nichts mehr, wie es vor-
   aus. Es ist schrecklich, wenn andere,                her war.

                                                                                          «
   denen wir vertrauen, uns schaden, uns                Wir haben Angst, sind panisch oder
   verraten und verletzen.                              fühlen uns leer – wie abgetötet.

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12   Was bedeutet Traumatisierung?

                                                        Traumata schwerer oder leichter ver-
                                                        schmerzen können. Stellen Sie sich vor,
         Unsere Wertesysteme können uns
                                                        Sie leben in einem totalitären Staat, in
         die Verarbeitung von Traumatisie-
                                                        dem Sie andauernd damit rechnen müs-
         rungen erleichtern oder erschwe-
                                                        sen, verschleppt und gefoltert zu werden.
         ren. Wenn wir z. B. sagen können,
                                                        Oder ein Kind lebt in einer Familie, in der
         »das war Gottes Wille« oder »ich
                                                        es zur Tagesordnung gehört, dass Miss-
         habe für eine gerechte Sache ge-
                                                        handlungen, Vernachlässigung und sexu-
         kämpft«, hilft uns das durchzuhal-
                                                        elle Gewalt geschehen.
         ten und leichter zu genesen.

                                                        In beiden Fällen wäre der Mensch, dem
                                                        solches widerfährt, in Dauerspannung,
     Unsere Wertesysteme spielen                        Angst und Panik. Dies würde seine Ab-
     eine Rolle                                         wehrkräfte möglicherweise noch zusätz-
     Auch unser kultureller Hintergrund ist             lich schwächen, in manchen Fällen aller-
     wichtig. Wenn wir z. B. gedemütigt wer-            dings auch gerade die Widerstandskräfte
     den, berührt das unsere Wertesysteme,              besonders fördern, z. B. bei Menschen,
     und die sind unterschiedlich. So würde             die sehr entschlossen gegen ein Un-
     es in Deutschland einen Mann vermut-               rechtsregime kämpfen.
     lich weniger demütigen, von einer Frau
     gezwungen zu werden, sich vor ihr zu
     entkleiden, als das bei einem arabischen           Welche Ereignisse können
     Mann der Fall ist. (Im Zusammenhang                traumatisieren?
     mit der Folter irakischer Gefangener
     durch US-Soldaten konnte man im Fern-              Wichtig ist, dass wir uns klar machen,
     sehen sehen, dass dieses Entkleiden als            dass ein traumatisches Ereignis mit Hilf-
     Demütigung eingesetzt wurde und dem-               losigkeit und Ohnmachtsgefühlen extre-
     entsprechend bei den betroffenen Volks-            mer Art einhergeht. Gleichzeitig kann es
     gruppen einen Impuls nach Blutrache                zu Gefühlsüberflutung, Panik und Todes-
     auslöste.)                                         angst führen. Wir beginnen mit der Kind-
                                                        heit, denn für Kinder sind traumatische
                                                        Erfahrungen am schlimmsten, sie verfü-
     Der soziale Kontext ist wichtig                    gen ja noch nicht über so viele Möglich-
     Traumata, die Menschen anderen Men-                keiten des Schutzes und der Verarbeitung
     schen zufügen, geschehen darüber hi-               wie Erwachsene.
     naus in einem sozialen Kontext. In der
     Familie und in der Gesellschaft. Dieser            Alle Fachleute sind sich heute einig, dass
     Kontext trägt ebenfalls dazu bei, ob wir           Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt

 aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
Was sind traumatische Erfahrungen?          13

und emotionale wie körperliche Ge-
walt traumatisch sind. Ebenso schwere                  Wie werden traumatische
Erkrankungen des Kindes, aber auch                     Ereignisse definiert?
kranke, insbesondere seelisch kranke El-
                                                       Trauma heißt Verletzung. Diese
tern (Seite 22). Peter Levine hat darauf
                                                       kann sowohl körperlich als auch
hingewiesen, dass Kinder durch Erfah-
                                                       seelisch sein. Definitionsgemäß er-
rungen traumatisiert werden können, die
                                                       füllt ein traumatisches Ereignis fol-
Erwachsene nicht für traumatisch halten.
                                                       gende Kriterien: Die Person war
Ein Angriff eines Tieres (z. B. eines Hun-
                                                       selbst Opfer oder Zeuge eines Er-
des), körperliche Verletzungen durch Un-
                                                       eignisses, bei dem das eigene Le-
fälle und Stürze (z. B. vom Fahrrad oder
                                                       ben oder das Leben anderer Perso-
einer Treppe), hohes Fieber oder auch Er-
                                                       nen bedroht war oder eine ernste
fahrungen von extremen Temperaturen
                                                       Verletzung zur Folge hatte. Die Re-
können extreme Ängste auslösen, insbe-
                                                       aktion des Betroffenen beinhaltete
sondere, wenn das Kind dabei alleine ist.
                                                       Gefühle von intensiver Angst, Hilf-
Traumatisch auswirken können sich auch
                                                       losigkeit oder Entsetzen.
plötzliche Verluste (z. B. der Tod des ge-
liebten Haustieres), beinahe Ertrinken
oder das Verlorengehen in Kaufhäusern.
Die genannten Situationen können trau-             liche Erkrankungen können sich ebenfalls
matische Auswirkungen haben, müssen                traumatisch auswirken. All diese mögli-
es aber nicht. Es kommt auch immer da-             chen Erfahrungen können Sie in Betracht
rauf an, wie stabil das Kind in der Situa-         ziehen, wenn Sie sich fragen: »Bin ich
tion und insgesamt ist.                            traumatisiert?«

Medizinische und zahnmedizinische Ein-             Insbesondere spielen sexuelle und an-
griffe sind auch ein wichtiges Feld. So            dere Gewalt eine große Rolle. Es wäre
können z. B. Krankenhausaufenthalte mit            aber falsch, nur an Gewalt und sexu-
Gefühlen von Verlassenheit und Ausge-              elle Gewalt zu denken, wenn man bei
liefertsein bis hin zu Todesängsten ver-           sich beobachtet, dass man Zeichen ei-
bunden sein. Früher war es üblich, Eltern          ner Traumafolgestörung (Seite 36) auf-
außerhalb vorgegebener Besuchszeiten               weist. Es könnte auch die Mandelope-
nicht zu ihren Kindern zu lassen; manch-           ration mit vier Jahren gewesen sein, bei
mal wurden Kinder auch fixiert.                    der fünf Erwachsene das Kind festgehal-
                                                   ten und ihm eine Spritze verpasst haben.
Medizinisch notwendige Eingriffe kön-              Manchmal haben auch »kleine Traumata«
nen als Trauma erlebt und entsprechend             große Auswirkungen. So können wie-
fehlverarbeitet werden. Schwere körper-            derholte Demütigungen (z. B. Hänseleien

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14   Was bedeutet Traumatisierung?

     oder Mobbing im Kindergarten oder in                  sich Hilfe holen können, sich besser
     der Schule) die Entwicklung eines gesun-              schützen können).
     den Selbstwertgefühls verhindern, wenn
     nicht gleichzeitig unterstützende Fakto-           Im Erwachsenenleben gibt es viele Ereig-
     ren vorhanden sind.                                nisse, die uns herausfordern. Jede länger
                                                        anhaltende psychosoziale Belastung, z. B.
                                                        Arbeitslosigkeit oder Mobbing, erfordert
     Wie gehen wir mit einem                            auf der anderen Seite sichere Bindungen
     Trauma um?                                         und Unterstützung, ansonsten können sie
                                                        traumatische Folgen haben.
     Für den Umgang mit traumatischen Er-
     fahrungen und deren Auswirkungen                   Es gibt also eine Vielzahl von traumati-
     spielen folgende Faktoren eine wesentli-           schen Ereignissen. Einige werden Sie ken-
     che Rolle:                                         nen, bei einigen werden Sie sich viel-
     • Ein einmaliges traumatisches Ereignis            leicht wundern, dass diese Ereignisse als
          im Erwachsenenalter kann in der Regel         Traumata angesehen werden. So wissen
          besser verarbeitet werden als wieder-         z. B. auch manche Fachleute nicht, dass
          holte und über Jahre andauernde Trau-         Vernachlässigung im Kindesalter eine
          mata im Kindesalter.                          schwere Traumatisierung darstellt.
      • Ein durch äußere Faktoren (z. B. Natur-
          katastrophen, Unfälle) ausgelöstes            Wir unterscheiden heute den Faktor, der
          Trauma kann normalerweise besser              durch das Ereignis gegeben ist und den
          verkraftet werden als ein durch Men-          subjektiven Faktor, der sich aus den Wi-
          schen verursachtes traumatisches Er-          derstandskräften des Individuums ergibt,
          eignis.                                       dem das Trauma widerfährt.
       • Je enger die Beziehung zur verursa-
          chenden Person ist, desto schwerer            Entscheidend ist also, auf welchen Boden
          sind im Allgemeinen die Folgen.               traumatische Erfahrungen fallen, welche
        • Je mehr unterstützende Faktoren vor-          Vorerfahrungen Betroffene gemacht ha-
          handen sind, desto besser gelingt der         ben. Wer bereits Vertrauen und Sicher-
          Umgang mit schweren Belastungen.              heit erfahren hat, weiß, dass es so et-
          Unterstützend wirken können vertrau-          was wie soziale Unterstützung gibt. Das
          enswürdige, verlässliche Menschen,            hält die Hoffnung aufrecht, dass es besser
          aber auch persönliche Fähigkeiten (z. B.      oder gut werden kann.

 aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
Was sind traumatische Erfahrungen?          15

    Auflistung der möglichen Traumata
    • Naturkatastrophen jeder Art                  • das Miterleben von Gewalt und se-
    • Krieg                                           xualisierter Gewalt als Zeuge
    • Vertreibung                                  • Das Miterleben anderer traumati-
    • Folter                                          scher Ereignisse als Zeuge, z. B. als
    • Traumata durch medizinische (not-               naher Angehöriger miterleben, wie
        wendige) Eingriffe                            jemandem Gewalt angetan wird oder
    •   traumatisches Geburtserleben                  auch, ein krebskrankes Kind haben.
    •   Unfälle im Verkehr, am Arbeitsplatz        • Die Konfrontation mit Traumafol-
        oder an anderen Orten, z. B. beim             gen als Helfer (z. B. Polizisten, Feu-
        Bergsteigen                                   erwehrleute, Ärzte) wird auch als
    •   Der Verlust einer nahen Bezugsper-            sekundäre Traumatisierung bezeich-
        son, insbesondere im Kindesalter              net.
        oder unerwartet. Vor allem der Ver-         • Das Zusammenleben als Kind mit
        lust der Eltern im Kindesalter oder           traumatisierten Eltern (Holocaustop-
        für Eltern der Verlust eines Kindes.          fer, Kriegsopfer, Opfer sexueller Ge-
    •   Vernachlässigung in der Kindheit –            walt). Hier wird ebenfalls von sekun-
        körperlich, psychisch und emotional           därer Traumatisierung gesprochen
    •   Gewalt                                        oder auch vom »Second-Generation-
    •   sexualisierte Gewalt                          Phänomenen«.

aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
16

     Die Rolle unserer
     Bindungsmuster
     Wie wir auf ein traumatisches Ereignis reagieren, hängt auch davon
     ab, welche Bindung wir als Kind zu unseren nahen Bezugspersonen
     – also meist unseren Eltern – hatten.

     E  s ist nachgewiesen, dass traumatische           ten Lebensjahren zurück. Dabei bezieht
     Erfahrungen und sogenannte Bindungs-               er sich auf die sogenannte »Bindungs-
     störungen sich wechselseitig beeinflus-            theorie«, die der englische Psychoana-
     sen, das heißt, traumatische Erfahrungen           lytiker John Bowlby in den 1950er-Jah-
     können zu Bindungsstörungen führen,                ren entwickelte. Diese besagt, dass der
     andererseits sind bindungsgestörte Kin-            Mensch, wie auch viele andere Lebewe-
     der/Erwachsene auch verletzlicher. Die-            sen, ein biologisch angelegtes »Bindungs-
     sen Zusammenhang wollen wir im Fol-                system« besitzt. Sobald eine Gefahr auf-
     genden näher beleuchten.                           taucht, wird es aktiviert. Ein kleines Kind
                                                        wendet sich in einer solchen Situation an
                                                        die ihm vertraute Person (z. B. an seine
     Die besondere Bindung                              Mutter oder seinen Vater), zu der es eine
     an die Eltern                                      ganz besondere »Bindung« aufbaut. Die
                                                        Art der Gefühle, Erwartungen und Ver-
     Karl Heinz Brisch führt in seinem Buch             haltensweisen in dieser Bindungsbezie-
     »Bindungsstörungen« viele seelische                hung hängt von den Erfahrungen mit
     Störungen von Kindern und Erwach-                  den wichtigsten Bezugspersonen ab. Ver-
     senen auf einen Mangel an Sicherheit,              trauen kann sich entwickeln, wenn die
     Schutz und Geborgenheit in den ers-                Bedürfnisse befriedigt werden.

 aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
Die Rolle unserer Bindungsmuster         17

Wir brauchen Schutz und                            tet, das Frühgeborene muss oft wochen-
Geborgenheit                                       lang im Krankenhaus gepflegt werden.
Das sogenannte Bindungsmuster, das sich            Man weiß heute, wie wichtig Körperkon-
bereits während des ersten Lebensjahres            takt und Ansprache auch für ganz kleine
ausprägt, bleibt in seinen Grundstruk-             Frühgeborene sind und versucht entspre-
turen relativ konstant. Für das unselbst-          chend, die Eltern miteinzubeziehen. Da-
ständige menschliche Neugeborene und               bei ist es wichtig, dass sich die Eltern mit
Kleinkind ist die Bindung an die Person,           ihren Ängsten nicht alleingelassen füh-
die Schutz und Fürsorge gewährt, von le-           len und sich bei Bedarf auch Unterstüt-
benserhaltender Bedeutung. Das Bedürf-             zung holen.
nis nach Sicherheit und Geborgenheit
durch eine zuverlässige Bindungsper-
son, die in Gefahrensituationen Schutz             Wie kann ich meinem Baby
und Hilfe gewährt, bleibt lebenslang be-           Sicherheit geben?
stehen. Auch bei Erwachsenen wird in               Ein Säugling sucht besonders die Nähe
einer bedrohlichen Situation das in der            zu seiner engsten Bezugsperson, wenn er
frühen Kindheit ausgeprägte Bindungs-              Angst erlebt. Wenn sich Ihr Baby von Ih-
system aktiviert und löst schutzsuchen-            nen getrennt fühlt, unbekannte Situatio-
des Bindungsverhalten aus. Schwierig               nen oder die Anwesenheit fremder Men-
wird es, wenn das Bedürfnis nach Sicher-           schen als bedrohlich erlebt oder wenn
heit und Schutz nicht befriedigt wird und          es Schmerzen hat, erhofft es sich von Ih-
die Angst bleibt.                                  rer Nähe Sicherheit, Schutz und Gebor-
                                                   genheit. Es sucht Ihre Nähe durch Blick-
                                                   kontakt oder körperlichen Kontakt. Ihr
Frühgeborene erhielten oft nicht                   Kind gibt dabei ganz aktiv Signale. »Fein-
genug Liebe                                        fühliges Verhalten« besteht darin, die
Trennungs- und Verlusterlebnisse spie-             Signale des Kindes (z. B. Weinen) wahr-
len bei der Entstehung vieler Erkran-              zunehmen, richtig einzuordnen und
kungen eine wesentliche Rolle. Durch               seine Bedürfnisse angemessen und so-
den medizinischen Fortschritt überle-              fort zu befriedigen. Sucht Ihr Kind Nähe
ben heute auch extrem kleine Frühge-               und Körperkontakt? Hat es Hunger oder
borene. Eltern von Frühgeborenen sind              Durst? Friert es oder ist ihm zu warm?
auf den frühen Verlust der Schwanger-              Hat es Schmerzen? Erkennen und befrie-
schaft oft nicht vorbereitet und können            digen Sie »feinfühlig« seine Bedürfnisse,
Schwierigkeiten haben, zu den sehr klei-           kann der Säugling eine sichere Bindung
nen Frühgeborenen eine emotionale Bin-             entwickeln. Diese Feinfühligkeit setzt bei
dung aufzubauen. Der Beginn des neuen              den Bezugspersonen Einfühlungsvermö-
Lebens verläuft somit anders als erwar-            gen voraus.

aus: Reddemann u.a., Traum verstehen · bearbeiten · überwinden (ISBN 9783432111049) © 2020 Trias Verlag
Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia
                                                            Trauma verstehen, bearbeiten,
                                                            überwinden
                                                            Ein Übungsbuch für Körper und
                                                            Seele

                                                            164 Seiten, kart.
                                                            erschienen 2020

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