Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien
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supported by Geogr. Helv., 77, 133–139, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-133-2022 © Author(s) 2022. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien Susanne Hübl Institut für Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Heisenbergstr. 2, 48149 Münster, Deutschland Correspondence: Susanne Hübl (susanne.huebl@uni-muenster.de) Received: 6 January 2021 – Revised: 6 January 2022 – Accepted: 20 January 2022 – Published: 16 March 2022 Kurzfassung. Black women are three to four times more likely to die during childbirth than white women. Re- search in population geography and demography highlight factors such as educational background or access to health services as social determinants of fertility, to better understand these reproductive inequalities. Notwith- standing these determinants are key causes for reproductive outcomes, the question of how these determinants are embedded in global power relations remains mainly unresolved. As a feminist science intervention, this artic- le develops two impetuses for a power-sensitive, intersectional knowledge production in the field of population geographies. Therefore, the article cursorily refers to current activist protests in the name of reproductive justice, a concept developed by black feminists in the US. It argues that a multi-scalar analysis of reproductive relati- ons helps to shift the focus from the demographic question „who is born?“ to „how are life chances unevenly distributed?“. Reproductive justice suggests that smaller scales such as the body or the womb constitute helpful analytical entry points to disentangle the powerful webs, within which reproductive outcomes are embedded. Finally, the article outlines a future research design towards geographies of reproductive justice. 1 Einleitung fehlende medizinische Versorgung wichtige Ursachen die- ser reproduktiven Ungleichheiten dar, jedoch werden sie sel- Schwarze Frauen1 sterben in den USA drei bis viermal häufi- ten als eingebettet in gesellschaftliche Machtstrukturen ver- ger während einer Geburt als weiße (Villarosa, 2018). Bei der standen. Denn obgleich die race-spezifischen Unterschiede Säuglingssterblichkeitsrate und den Frühgeburten ist dieses als besorgniserregend erkannt werden, werden institutiona- Verhältnis ähnlich (March of Dimes, 2019). Zur Erklärung lisierter Rassismus, obstetrische Gewalt und Transfeindlich- dieser race-spezifischen Unterschiede wird in gesundheits- keit im Gesundheitssystem selten als Risikofaktoren in Ge- politischen und demographischen Debatten zumeist das indi- nerativitätsstatistiken herangezogen (Bey et al., 2019:8). Ob- viduelle Verhalten Schwarzer Frauen mit den sozialen Deter- wohl transgenerationelle Traumata und toxischer Stress auf- minanten von Gesundheit und Fertilität wie sozioökonomi- grund alltäglicher Diskriminierungen Auswirkungen auf die scher Status, Zugang zum Gesundheitssystem oder Bildung reproduktive Gesundheit haben (Lakhani, 2019), werden die in Zusammenhang gebracht. Zweifelsohne stellen Armut und Ursachen beispielsweise in Präventionskampagnen zur Re- 1 Die Datengrundlage zu Müttersterblickeit und Frauen im ge- duktion der Mütter- und Säuglingssterblichkeit häufig bei dem Verhalten der Mütter selbst gesucht (Brunson und Suh, bärfähigen Alter basieren in den meisten amtlichen Statistiken nach 2019; Sziarto, 2017). Die Ausblendung der machtgeladenen wie vor auf einem binären Geschlechterdenken und reproduzieren dieses. Die Tatsache, dass Personen mit Uterus sich nicht zwangs- reproduktiven Relationen in bevölkerungswissenschaftlichen läufig als Frauen identifizieren und als potentielle Mütter adressiert Analysen prägt folglich auch die gesundheitspolitische Her- werden können berücksichtige ich in diesem Artikel. Wenn ich mich angehensweise an ebendiese Problemlagen. auf statistische Daten beziehe, verwende ich dieser repräsentativen In der Bevölkerungsgeographie, als eine Disziplin, die tra- Lücke getreu nur die Kategorie Frau/Mutter, in allen anderen Fällen ditionell demographische Prozesse wie z. B. Müttersterb- ergänze ich ein*. Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
134 S. Hübl: Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien lichkeitsentwicklungen in ihren räumlichen und zeitlichen 2 Familienplanung – eine freie Entscheidung?! Das Ausprägungen untersucht, werden seit einigen Jahren frucht- Konzept der reproductive justice bare Vorschläge formuliert, das machtgeladene Gewebe, in das demographische Prozesse eingebettet sind, genauer zu There is no choice where there is no access (Sister- beleuchten. So dekonstruieren Foucault-inspirierte Bevölke- Song Women of Color Reproductive Health Col- rungsgeograph:innen die sozioräumlichen und verkörperten lective, 2021:97). Dimensionen machtvoller Biopolitiken, indem sie der de- mographischen Frage nachgehen: „Within any given place, Reproductive justice basiert auf der Überzeugung, dass who lives, who dies, and who decides?“ (Tyner, 2013:702). Entscheidungen rund um Familienplanung und Elternschaft Mit dieser Frage rücken die Politiken und performativen keine ausschließlich individuellen sind, sondern immer Praktiken in den Fokus, die menschliche Körper und zu- schon von institutionalisierten Machtverhältnissen wie Ras- künftiges Leben als „surplus“ (ibid.), prekär oder vermeid- sismus, Ableismus oder Klassismus mitgeprägt, beschränkt bar markieren (Legg, 2005). Mit dieser Machtsensibilität ge- und verunmöglicht werden (Ross und Solinger, 2017). So raten auch die Grundkonstellationen demographischer und widersetzen sich Initiativen wie Sister Song (https://www. bevölkerungsgeographischer Wissensproduktion zunehmend sistersong.net/, letzter Zugriff: 15. März 2022) oder Califor- in die Kritik: So analysieren beispielsweise Hannah (2009), nia Latinas for Reproductie Justice (https://californialatinas. Wintzer (2017) und Schultz (2018, 2019), wie vermeintlich org/, letzter Zugriff: 15. März 2022) der universalisierenden apolitische und neutrale bevölkerungsstatistische Praktiken Annahme, individuelle reproduktive Entscheidungen (choi- des Zählens, Kategorisierens und Visualisierens – als macht- ce) könnten losgelöst von machtvollen Fragen des Zugangs volle gouvernementale Praktiken – verkörperte Ungleich- (access) zu beispielsweise Gesundheitsleistungen getroffen heiten permanent (re-)produzieren. In diesem Zusammen- werden. Vielmehr machen sie in ihren politischen Forde- hang geraten auch gängige Modelle wie das des demogra- rungen auf die „stratifizierte, also hierarchisch angeordne- phischen Übergangs (Murphy, 2017) oder die Interpretatio- te Politik des Kinderbekommens und mit Kindern Lebens“ nen nationaler Sex Ratios (Bhatia, 2020) auch aus der Per- (Schultz, 2021:97) aufmerksam, die sich in den gewaltvollen spektive der feministischen Wissenschafts- und Technikfor- Facetten reproduktiver Unterdrückungsformen besonders ge- schung auf den Prüfstand. Nicht zuletzt betonen Robbins und genüber marginalisierten Frauen* widerspiegelt. So hindern Smith die Notwendigkeit feministischer und intersektionaler beispielsweise fehlende finanzielle Ressourcen und ein un- Erweiterungen des klassischen bevölkerungsgeographischen sicherer Aufenthaltsstatus geflüchtete Frauen* in den Lagern Kanons, die eine wissenschaftliche Praxis für reproduktiv- an der Grenze zu Mexiko daran, einen gewünschten Schwan- gerechte Zukünfte und Visionen ermöglichen (Robbins und gerschaftsabbruch auch realisieren zu können. Denn die feh- Smith, 2016; vgl. auch: Underhill-Sem, 2017). lende Kostenübernahme und bürokratischen Abläufe in den In diesem Beitrag schließe ich an diese Diskussionen um staatlichen Immigration Detention Centers hebeln das Recht neue Ansätze in den Bevölkerungsgeographien (Wehrhahn auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung häufig aus und Sandner Le Gall, 2021; Wintzer und Siedhoff, 2019; (Holter, 2022) – von dem in vielen Staaten wieder etablierten Tyner, 2016) an, indem ich zwei Impulse für einen dezi- Abtreibungsverbot ganz zu schweigen. diert intersektionalen bevölkerungsgeographischen Umgang Entstanden ist die Forderung nach reproductive justi- mit dem Phänomen der Generativität formuliere. Diese Im- ce durch eine Gruppe Schwarzer Frauen, die im Rah- pulse begreife ich im Sinne einer feministischen Wissen- men einer ProChoice-Gesundheitskonferenz in Chicago im schaftskritik als other-worlding. Als worlding wird „die Pra- Jahr 1994 eine intersektionale Erweiterung bisheriger repro- xis der Wissenschaft [bezeichnet], definieren zu können, wel- duktiver Rechte formulierte (Ross, 2021:17). Loretta Ross, chen Zugriff auf die Welt sie als relevant erachtet“ (Dzudzek damals eine der Aktivist:innen und heute eine der wich- und Strüver, 2020:14). In der wissenschaftlichen Praxis eine tigsten Vertreter:innen der Bewegung, beschreibt es so: Perspektive auf Orte einzunehmen, die globales Wissen und „Wir nehmen sämtliche öffentliche Politiken unter die Lu- Machtverhältnisse nicht nur fortschreiben, sondern anfech- pe, um (. . . ) unerwartete Zusammenhänge zu berücksichti- ten (Biehl, 2016:135, zit. in: Dzudzek und Strüver, 2020:14), gen, die das Kinderkriegen und die Elternschaft beeinflus- ist daher ein ,anderes wissenschaftliches Weltmachen‘. Die sen“ (Ross, 2021:23). Damit geraten zunächst sehr dispa- Impulse für ein bevölkerungsgeographisches other-worlding rat erscheinende Aspekte wie die Verfügbarkeit von bezahl- entwickle ich in dichter Auseinandersetzung mit dem Kon- barem Wohnraum, der Zugang zu angemessener Gesund- zept der reproductive justice, welches ich zunächst kurz ein- heitsversorgung, Polizeigewalt oder das Leben in Gefangen- führe und daran anschließend sein Potential für eine intersek- schaft ebenso in den analytischen Blick reproduktiver Ent- tionale bevölkerungsgeographische Wissensproduktion aus- scheidungen wie der Aufenthaltsstatus, Zugang zu sauberem lote, worauf ich abschließend einen Ausblick auf ein zukünf- Trinkwasser, Bildungsmöglichkeiten oder die Kreditwürdig- tiges Forschungsprogramm zu den Geographien reprodukti- keit (ebd.). ver Gerechtigkeit gebe. Insgesamt geht es in der Auseinandersetzung mit repro- ductive justice also zunächst um eine umfassende Thema- Geogr. Helv., 77, 133–139, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-133-2022
S. Hübl: Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien 135 tisierung reproduktiver Ungleichheiten in ihre kapitalisti- und Spannungen mit sich bringt, die zweifelsohne notwen- schen, rassifizierten und neomalthusianischen Dimensionen dig sind – hier aber zu weit gehen (als erste Annäherung dazu hinein. Zentralen Ausgangspunkt stellen hierfür die verkör- Kyere, 2021). perten Erfahrungen Schwarzer und indigener Frauen* sowie von Frauen* of Color dar. Gleichzeitig geht es nicht nur dar- 3 Mit reproductive justice zu intersektionalen um, sich „mit den alltäglichen gelebten Praktiken der Dis- Bevölkerungsgeographien kriminierung und strukturellen Gewalt zu befassen, sondern auch die Wahrheitsproduktionen über ,Bevölkerung‘ in Frage Im Folgenden skizziere ich ausgehend von aktuellen Forde- zu stellen, die diese Praktiken begründen und legitimieren“ rungen um reproductive justice zwei Impulse für eine in- (Schultz, 2021:97). tersektionale Wissensproduktion in der bevölkerungsgeogra- Es ist dieser von Susanne Schultz skizzierte doppelte Cha- phischen Forschung. rakter, den ich im Folgenden mobilisieren möchte. Ich rekur- riere auf reproductive justice als fruchtbares Reflexions- und 3.1 Dem Geflecht reproduktiver Relationen nachspüren Erkenntnisinstrument (vgl. Ross, 2021:24), um die bisherige bevölkerungsgeographische Wissensproduktion um mensch- Die race-spezifischen Unterschiede in der Müttersterblich- liche Generativität intersektional zu erweitern. Dafür for- keit in den USA werden von diversen Akteur:innen thema- muliere ich zwei Impulse, wie eine andere bevölkerungs- tisiert und versucht präventiv zu vermeiden (Oparah et al., wissenschaftliche Forschungspraxis aussehen kann, die zen- 2018). So treten auch radikale Doulas mit der Forderung trale Forderungen um reproductive justice ernst nimmt – #BirthingJustice für die Reduktion der Mütter*sterblichkeit nämlich ,Dem Geflecht reproduktiver Relationen nachspü- marginalisierter Frauen* ein (Oparah, 2015). Doulas be- ren‘ und ,Von der Gebärmutter aus Globales betrachten‘. Da- gleiten Gebärende nicht nur prä- und postnatal, sondern mit thematisiere ich auch, inwiefern sich reproduktive Un- sie verstehen sich auch unter der Geburt als emotiona- terdrückungsformen in der bisherigen Konzeption von be- le Stütze und Advokatin:innen gegenüber Ärzt:innen, Heb- völkerungswissenschaftlichem Wissen niederschlagen. Mei- ammen oder dem Personal in Geburtshäusern (ebd.). Dar- nen Beitrag verorte ich demensprechend auf der Ebene ei- über hinaus reicht die Arbeit sogenannter ,full-spectrum‘ ner feministischen wissenschaftskritischen Intervention, die Doulas über die Geburtsbegleitung von Frauen of Co- eine Wissensproduktion forciert, welche von einer grund- lor hinaus: Sie sind auch erste Anlaufstelle und emotio- sätzlichen Relationalität, Situiertheit und Machtgeladenheit nale Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen, Ad- akademischer Faktenproduktion (Haraway, 2013; vgl. auch optionen und Fehlgeburten für alle Frauen* (Bey et al., Mendel, 2015) ausgeht. 2019). In den USA entstehen in den letzten Jahren ver- Durch meinen Blickwinkel als im deutschsprachigen mehrt Doula-Kollektive wie das Ancient Song Doula Col- Raum situierte, weiße Person habe ich jedoch nur einen be- lective (https://www.ancientsongdoulaservices.com/, letzter grenzten Zugang zu den Komplexitäten aktueller Kämpfe um Zugriff: 15. März 2022), Tewa Women United (https: reproductive justice. Die kursorischen Bezüge zu den aktivis- //tewawomenunited.org/, letzter Zugriff: 15. März 2022) tischen Forderungen #Black Birthing Justice und #NoDAPL oder Uzazi Village (https://uzazivillage.org/, letzter Zugriff: im folgenden Kapitel beruhen auf einer Internetrecherche 15. März 2022), die durch ihre fürsorgende und intensive Be- und keiner ausdifferenzierten empirischen Forschung. Ich gleitung schwangerer Personen of Color nicht nur das der- ziehe sie als Denkhilfen zur Plausibilisierung meiner ar- zeitige Gesundheitssystem bereichern, sondern ihre Arbeit gumentativen Schritte heran, ohne sie dabei romantisieren auch als community-basiert und radikal politisch begreifen oder instrumentalisieren zu wollen. Vielmehr möchte ich da- (Davis, 2019). Als politisch verstehen sie sich deshalb, weil mit, wie es Loretta Ross formuliert, die künstliche Tren- sie ungewollte Kaiserschnitte, Gewalterfahrungen unter Ge- nung zwischen wissenschaftlichen Theoretisierungen und burt, Diskriminierungen von nicht-binären Personen mit Ute- aktivistischer Praxis aufbrechen und das Wissen reproduktiv- rus, aber auch die fehlenden finanziellen Ressourcen für die gerechter Aktivismen als wissenschaftliches Wissen sicht- Kosten eines Schwangerschaftsabbruches nicht als individu- bar machen (Ross, 2021:30). Denn in der wissenschaftli- elle Einzelfälle begreifen, sondern eingebettet in ein macht- chen Praxis eine Perspektive auf konkrete Orte einzuneh- volles Geflecht reproduktiver Unterdrückungsformen (Apfel, men, an denen Forderungen nach reproductive justice for- 2016). Radikale Doulas begreifen ihre Arbeit als Stellschrau- muliert werden, verstehe ich als anderes wissenschaftliches ben in genau diesem Geflecht machtvoller reproduktiver Re- Weltmachen. Als eine Strategie des Sichtbarmachens habe lationen (Apfel, 2016:7). ich diejenigen aktivistischen Initiativen, die ich beispielhaft Mit ihrer Forderung nach #Birthing Justice tritt für ei- herausgreife, mit Hyperlinks im Fließtext versehen. Bei der ne bevölkerungsgeographische Auseinandersetzung die Fra- Auswahl habe ich mich ausschließlich auf den angloamerika- ge in den Vordergrund: ,Wie sind die Chancen auf mütter- nischen Kontext fokussiert, da reproductive justice hier sei- liches* Überleben verteilt und welche machtvollen Relatio- ne Wurzeln hat und die Übertragung beispielsweise in den nen stehen dahinter?‘ Damit wird statt konkreter Mütters- deutschsprachigen Kontext weitere Übersetzungsleistungen terblichkeitsraten und der klassischen bevölkerungswissen- https://doi.org/10.5194/gh-77-133-2022 Geogr. Helv., 77, 133–139, 2022
136 S. Hübl: Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien schaftlichen Frage ,Wer stirbt wo?‘ das Zusammenspiel un- Heiligen Landes der Sioux durchqueren sollen (Lorenzo, terschiedlichster reproduktiver Relationen, deren numerische 2016). Besonders das Wasser des Missouri und des Oahe Annäherung diese Raten sind, zentral. Als Aufgabe einer in- Stausees, welches 10 000 Indigenen als primäre Trinkwas- tersektionalen Bevölkerungsgeographie lässt sich daraus die serquelle dient, drohte durch das Bauprojekt kontaminiert Notwendigkeit einer Analyse der historisch und räumlich ex- zu werden (Estes und Dhillon, 2019). Sie verorten ihre tensiven kolonialen Relationen, ökonomischen Beziehungen drohende Exposition gegenüber Umweltkontaminationen und vergeschlechtlichten Biopolitiken ableiten, die die un- und Toxinen in den Kontinuitäten indigener Unterdrückung gleichen Chancen auf mütterliches* Überleben erst hervor- und chemischer Gewalt (Champlin, 2016). Die Aktivistin bringen. In der Analyse steht dann weniger die in der demo- Kelly Hayes betont, dass der Protest in Standing Rock graphischen Forschung übliche bivariate Analyse der mütter- „Teil eines anhaltenden Kampfes gegen koloniale Gewalt lichen Sterblichkeit mit Determinanten wie sozioökonomi- ist“ (Hayes, 2016, eigene Übersetzung), denn in der ur- schem Status oder medizinischer Versorgung im Fokus (kri- sprünglichen Planung sollte die Pipeline 300 km nördlicher tisch dazu: Wehrhahn und Sandner Le Gall, 2021:59; Dzud- entlang der Stadt Bismarck verlegt werden. Doch die zek und Strüver, 2020). Vielmehr geht es darum, die Ursa- mehrheitlich von weißen besiedelte Stadt konnte den Bau chen aufzuspüren, die ,sozioökonomisch schwache‘ Schwar- mit einer Wasserschutzgenehmigung verhindern (Milman, ze Mütter mit einer statistisch höheren Wahrscheinlichkeit 2016). Doch mit der geplanten Pipeline stand nicht nur bei oder nach der Geburt versterben lassen. Hierzu kann es die Versorgung mit sauberem Trinkwasser auf dem Spiel. sinnvoll sein, den von radikalen Doulas bereits thematisier- So erklärte die indigene Journalistin Bogado in einem ten intersektionalen Verschränkungen in der Gesundheitsver- Zeitungsinterview „[I]n the Lakota way of understanding, sorgung und medizinischen Ausbildung, aber auch den pre- putting water at risk means putting wombs at risk“ (Bogado, kären Arbeitsverhältnissen und Asylpolitiken nachzuspüren, 2022). Indem die Wasserschützer:innen die Gesundheit ihrer die das Überleben Schwarzer Mütter* und Mütter* of Color Gebärmütter durch ihre Exposition gegenüber Umweltkon- in den USA strukturell verunmöglichen. taminationen bedroht sahen und öffentlich skandalisierten Ein solcher Blick hinter demographische Raten bringt (ebd.), verdeutlichen sie ein Verständnis von Reproduktion zweifelsohne empirische Herausforderungen mit sich: Denn als einen Prozess, der weit über den einzelnen gebärenden wie kann angesichts der Diagnose, dass potentiell „alle Po- Körper hinaus geht (vgl. Shadaan und Murphy, 2020). litiken auch reproduktive Politiken“ (Briggs, 2018, eigene Auch die Aktivist*innen des Native Youth Sexual Health Übersetzung) sind, eine bevölkerungsgeographische Nähe- Network in Kanada machen die Wirkmächtigkeit globaler rung – beispielsweise an Ungleichheiten in der Müttersterb- petrokapitalistischer Produktionsverhältnisse in den Körpern lichkeit – stattfinden, die nicht in eine relationale Beliebig- indigener Personen unter dem Slogan „Violence on the keit abrutscht? Dafür ist eine grundsätzliche Machtsensibili- land, Violence on our bodies“ (Women’s Earth Alliance tät sowohl auf epistemologischer als auch methodologischer und Native Youth Sexual Health Network, 2016) deutlich. Ebene, wie sie bereits Tyner (2013) eingefordert hat, notwen- So haben beispielsweise 39 % der Frauen der indigenen dig. Denn auch wenn mit reproductive justice der Blick auf Aamjiwnaang Community, die im sogenannten Chemical eine „scheinbar unendliche Anzahl (. . . ) reproduktiver Un- Valley Kanadas leben, zwischen 2004 und 2005 mindestens terdrückungsformen“ (Ross, 2021:27) eröffnet wird, geht eine Fehl- oder Todgeburt erlebt (Brophy et al., 2012): es dem Ansatz doch grundsätzlich darum, diejenigen Quer- „Die chemische Vergangenheit manifestiert sich hier in verbindungen herauszuarbeiten, die die „größten materiel- einer Abwesenheit“ (Murphy, 2013, eigene Übersetzung) – len Unterschiede in den Leben von Menschen produzie- Menschen, die nicht lebensfähig oder tot geboren wurden. ren“ (Ross, 2021). Das kontextspezifische Wissen von Ak- Kämpfe an der Schnittstelle von environmental und repro- teur:innen wie Radikalen Doulas bietet für die Fokussierung ductive justice (vgl. Lappé et al., 2019) wie im #NoDAPL dieser Querverbindungen wichtige Anknüpfungspunkte. Camp im Norden der USA oder im Chemical Valley Ka- nadas öffnen den Blick auf generatives Verhalten über die 3.2 Von der Gebärmutter aus Globales betrachten in der demographischen Forschung gängige Maßstabsebe- ne der ,individuellen Frau im gebärfähigen Alter‘ und de- Auch die Wasser-Schützer:innen im #NoDAPL Protest- ren Bedeutung für die demographische Entwicklung auf na- camp (https://www.nodaplarchive.com/, letzter Zugriff: tionaler Ebene hinaus. Vielmehr ist es die Auffassung von 15. März 2022) im Norden der USA machten 2016 in „verteilter Reproduktion“ (Murphy, 2013) – weit über die ihren Forderungen deutlich, dass ihre reproduktive Ge- Maßstabsebene des einzelnen gebärenden Körpers hinaus, sundheit keineswegs nur mit ihrem individuellen Verhalten die die kontextspezifischen Zusammenhänge zwischen lo- zusammenhängt, sondern eng mit der Kontinuität kolonialer kal erhöhten Schadstoffbelastungen, globalen petrokapitalis- Unterdrückung verflochten ist (Tanis et al., 2019). Auslöser tischen Produktionsverhältnissen und den Gebärmüttern in- für das Protestcamp der lokalen indigenen Bevölkerung digener Personen deutlich macht. Daraus leitet sich für eine in Standing Rock waren die Bauplanungen der Pipeline intersektionale Bevölkerungsgeographie die Notwendigkeit Dakota Access, deren Erdölrohre den nördlichen Teil des ab, diesem multiskalaren Charakter reproduktiver Relatio- Geogr. Helv., 77, 133–139, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-133-2022
S. Hübl: Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien 137 nen nachzuspüren. Es sind die kleinräumigen Maßstabsebe- spannen und dabei die kontextspezifischen „particularities of nen wie der Körper, die Gebärmutter, die Muttermilch oder lived oppressions“ (Apfel, 2016:7) herausarbeiten lassen. die menschlichen Fettzellen, die besonders geeignete Aus- Nicht zuletzt wirft reproductive justice als aktivistische gangspunkte darstellen, um den wechselseitigen Verschnei- Forderung und wissenschaftliche Perspektive auch die Frage dungen zwischen Intimen und Globalen empirisch zu fol- auf, inwiefern ,Bevölkerung‘ als Begriff und wissenschaft- gen – ohne diese jedoch als „eindeutig abgrenzbare Orte“ licher Referenzpunkt mit seinem vielfach problematisierten (Hutta et al., 2021:225) zu fassen. Stattdessen ist es hilf- machtgeladenen Ballast (Schultz, 2020; Murphy, 2018) über- reich, Körper als permeable Entitäten zu begreifen, deren haupt noch politisch akzeptabel und zeitgemäß ist. So kri- räumliche und zeitliche Relationen als offenes Beziehungs- tisieren Feminist:innen seit den 1990er Jahren die gewalt- gefüge zur Welt von den Wasserschützer:innen thematisiert förmigen bevölkerungsstatistischen Kurzschlüsse und damit wird. Hier bieten sich fruchtbare Anknüpfungspunkte zum legitimierte Bevölkerungspolitiken, die vor allem die repro- Feld der Feministischen Politischen Ökologie und der In- duktiven Rechte Schwarzer Frauen* im Globalen Süden ein- timate Geopolitics (Smith, 2020; Schurr und Militz, 2020) schränkten (Roberts, 1998) und das in neomalthusianischer an, die den raumwirksamen Beziehungen zwischen Kör- Manier auch nach wie vor tun (Bhatia et al., 2019). Eine pern/Gebärmüttern und globalen Geo-, Bio- und Klimapoli- Teildisziplin der Geographie, die sich als relational und kri- tiken analytisch nachgehen. Darüber hinaus sind strategische tisch versteht und gleichzeitig eine Brücke zur demographi- Mobilisierungen neuerer biologischer Einsichten und theo- schen Forschung beibehalten will (vgl. Wehrhahn und Sand- retische Perspektivierungen aus dem Bereich der feminis- ner Le Gall, 2021:9), kommt nicht ohne eine engagierte tischen Neuen Materialismen hilfreich (Alaimo, 2008), die Auseinandersetzung zu der Frage aus, welche Chancen auf sich den Körper-Umwelt-Intraaktionen, jenseits eines Ver- Über*leben unsere Wissensproduktion befördert und welche ständnisses passiver Körperlichkeit zuwenden (vgl. Strüver sie verunmöglicht. und Marquardt, 2021:180). Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze genutzt. 4 Ausblicke auf ein Forschungsprogramm zu den Geographien reproduktiver Gerechtigkeit Interessenkonflikt. Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkon- In diesem Beitrag habe ich entlang des Konzepts der repro- flikt besteht. ductive justice zwei Impulse für eine intersektionale bevölke- rungsgeographische Wissensproduktion formuliert – die ich Danksagung. Mein Dank geht an die Arbeitsgruppe Kritische als other-worlding begreife. Ich habe die Notwendigkeit ei- Stadtgeographie der Universität Münster sowie die Gutachter*innen ner Analyse des Geflechts reproduktiver Relationen deutlich für die hilfreichen Kommentare in der Entstehung dieses Beitrags. gemacht und am Beispiel radikaler Doula-Kollektive in den Auch danke ich Susanne Schultz und Katharina Hoppe für ihre offe- USA veranschaulicht. Daran anknüpfend habe ich gezeigt, nen Gesprächseinladungen zur feministischen Auseinandersetzung inwiefern eine multiskalare Analyse ebendieser reprodukti- mit Bevölkerung. ven Relationen hilfreich ist. Am Beispiel der Wasserschüt- zer:innen im #NoDAPL Protestcamp habe ich gezeigt, wie kleinräumige Maßstabsebenen wie die der Gebärmutter ge- Begutachtung. This paper was edited by Nadine Marquardt and eignete Ausgangspunkte für diese Analysen darstellen kön- reviewed by two anonymous referees. nen. Damit habe ich einige konzeptionell-theoretische Vor- schläge formuliert, die ich nun abschließend konkretisieren möchte: Ein Forschungsprogramm, das sich den Geogra- Literatur phien reproduktiver Gerechtigkeit nähert, stellt die alltäg- lichen Aushandlungen reproduktiver Selbstbestimmung ins Alaimo, S.: Trans-Corporeal Feminisms and the Ethical Space Zentrum seiner Analyse. Im Rahmen einer multisited Eth- of Nature, in: Material feminisms, Herausgeber: Alaimo, nographie werden dafür konkrete Orte aufgespürt, an denen S., Indiana Univ. 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138 S. Hübl: Reproductive Justice: Impulse für intersektionale Bevölkerungsgeographien ugd/f36f23_7d936f97617a4e34aaddd8a052ac1de6.pdf (letzter Holter, L.: Detained Immigrant Women Are Facing A Grueling Ab- Zugriff: 13. März 2022), 2019. ortion Struggle, https://www.bustle.com/p/detained-immigrant- Bhatia, R.: Tricky Tools for Feminist Struggle: Sex Ratios as Indica- women-are-facing-a-grueling-abortion-‚struggle-50388, letzter tors of the Status of Women and Girls, Catalyst: Feminism, Theo- Zugriff: 13. März 2022. ry, Technoscience, 6, https://doi.org/10.28968/cftt.v6i2.32805, Hutta, J., Klosterkamp, S., Laketa, S., und Marquardt, N.: Emo- 2020. tionen und Affekte, in: Handbuch Feministische Geographien: Bhatia, R., Sasser, J. S., Ojeda, D., Hendrixson, A., Na- Arbeitsweise und Konzepte, Herausgeber: Autor*innenkollektiv dimpally, S. und Foley, E. 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