Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
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Am 16. März 1988 Corona infiziere, sei er tot, sagt Sabre und deutet auf den Karton in der Ecke des Raums, der bis zum Rand ließ Saddam angefüllt ist mit leeren Asthmasprays und Medikamen- Hussein die tenschachteln: Astahlin, Foracort, Nexum, Loratadin. In der Hand hält er einen dicken Ordner mit Rezepten, kurdische Stadt auf dem seine Diagnose vermerkt ist: „Chronic cough due to chemical gas exposure diagnosed as chronic Halabja mit Giftgas bronchitis“ (Chronischer Husten aufgrund von Gift- bombardieren. gasexposition, diagnostiziert als chronische Bronchitis). Der dreijährige Sabre kann noch nicht richtig Innerhalb weniger sprechen, als er die Fähigkeit verliert, selbstständig Stunden wurden zu atmen. Als Saddam Hussein am 16. März 1988 die Stadt Halabja mit Hunderten Tonnen Giftgas bombar- 10.000 Menschen dieren lässt. Als innerhalb von wenigen Stunden 5.000 der 60.000 Einwohner ersticken, 10.000 schwer verletzt schwer verletzt, werden. Sabre sagt, er sei Opfer – und nicht Überleben- 5.000 ermordet. der. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das Gas auch ihn umbringe. Die Ärztin habe ihm erklärt, dass seine Lun- Drei Jahrzehnte ge langsam, aber unaufhaltsam verfalle. Solange wolle später verklagen er als „Archiv“ dienen, damit die Welt niemals vergisst. „Deutschland und Frankreich haben Saddam geholfen. die Überlebenden Ohne europäische Chemie hätte es den Angriff nicht gegeben. Ohne den Angriff würde ich heute nicht an deutsche Firmen dieser Maschine hängen. Ich wäre ein gesundes Kind wegen Beihilfe zum geblieben und heute ein normaler Vater, der seine Fa- milie ernähren kann.“ Völkermord „Ich war erst drei Jahre alt, als uns Saddam angriff. Alles, Die Amis lehnten die was ich weiß, ist, dass ich mit meinem Onkel zu Fuß aus Anfrage des Irak ab der Stadt floh. Irgendwann wurde ich bewusstlos und bin im Iran wieder aufgewacht. Ich habe an diesem Tag mei- Hawkar Sabre Mohammad ist noch nicht geboren, nen Vater, meinen Onkel und drei meiner Cousins ver- als die islamische Revolution 1979 im Iran den Schah loren.“ – Hawkar Sabre Mohammad stürzt und Ajatollah Khomeini an die Macht kommt. Nicht, als Saddam Hussein im selben Jahr Präsident des März 2021. Die Sauerstoffmaschine pfeift wie eine alte Irak wird und 1980 beschließt, den Nachbarn anzugrei- Dampflok. Auf dem Sofa daneben sitzt Hawkar Sabre fen, womit der erste Golfkrieg beginnt. Ein Krieg, der Mohammad, 37, wache hellbraune Augen, die Stimme acht Jahre dauert, der rund eine Million Opfer fordert, eines alten Mannes, und saugt sich drei Liter Sauerstoff von dem Historiker später schreiben werden, dass er pro Minute in die Nase. In Halabja ist Frühling. In den ähnlich erfolglos gewesen sei wie der Erste Weltkrieg, Straßen duftet es nach frisch gebackenem Brot und weil es am Ende für niemanden Gebietsgewinne gab. süßem Schwarztee, die Felder vor den Toren der Stadt Und noch etwas haben beide Kriege gemein: dass ton- leuchten grün, und auf den Gipfeln der Hawraman- nenweise Giftgas eingesetzt wurde, das Zehntausenden Berge, die den Iran von der kurdischen Autonomie die Luft zum Atmen raubte. region im Nordirak trennen, liegt noch Schnee. Schon Mitte der 1970er hatte das irakische Baath- Sabre sieht das alles nicht. Schon vor Beginn der Regime erste Versuche gestartet, sich mithilfe westli- Pandemie hat er das Haus nur selten verlassen. Seit ei- cher Firmen ein Chemiewaffenarsenal zuzulegen. Dazu nem Jahr geht er gar nicht mehr raus. Wenn er sich mit brauchte es neben Chemikalien auch Infrastruktur: Text: Bartholomäus von Laffert
Fürs Leben gezeichnet: Der 37-jährige Hawkar Sabre Mohammad will, dass die Welt den Giftgas- ans chlag niemals vergisst 51
„Der glücklichste Tag meines Lebens“, so nennt Gemeinde- vorsteherin Kwestan Akram Faraj (54) den Tag, an dem Saddam Hussein zum Tode verurteilt wurde (Bild oben) Auf diesem Friedhof liegen Tausende Opfer begraben (Bild rechts) 52
Bunker, Kühlhäuser und Abfüllanlagen, um das Gas in industriellen Sparten vor ca. 20 Jahren veräußert und die Sprengköpfe zu füllen. Mitarbeiter der irakischen ihre Firmenbezeichnung im Jahre 2002 in TUI AG ge- Behörde zum Aufbau von Militär- und Waffentechnik ändert hat, konnten im Zusammenhang mit den tragi- (SOTI), die dem Verteidigungsministerium unterstand, schen Ereignissen im Irak im Jahre 1988 keine Vorwürfe wandten sich damals an die Unternehmen Pfaudler Inc. gemacht werden.“ in den USA und Imperial Chemical Industries in Groß- Das Bauunternehmen Heberger antwortet: „Wir britannien. Beide lehnten ab, weil sie den Verdacht hat- sind über die Existenz des Verfahrens unterrichtet. Wir ten, dass ihre Produkte für die Chemiewaffenprodukti- weisen die hierin gegenüber unserem Unternehmen er- on vorgesehen waren. Doch 1980 fand Saddam Hussein hobenen Vorwürfe zurück und sehen im Übrigen von schließlich willige Helfer in Deutschland. Jenem Land, einer weiteren Stellungnahme ab.“ Der Laborgeräte- in dem der Nobelpreisträger Fritz Haber in den Wirren Zulieferer Karl Kolb war für eine Stellungnahme nicht des Ersten Weltkriegs Chemiewaffen erfunden und des- zu erreichen. sen Armee als erste Giftgas auf dem Schlachtfeld ein- gesetzt hatte. In der irakischen Wüste, in Falludscha und in Sa- marra, südlich und nördlich von Bagdad, entstanden die größten Giftgasanlagen der Welt. Riesige unter- Getestet an irdische Komplexe – abgeschirmt durch Wachtürme Hunden und Eseln und Panzer- und Maschinengewehrstellungen –, die von den deutschen Ingenieuren wahlweise „Teufels- Laut Anklage soll die Preussag AG das erste Unterneh- werkstatt“ oder „Giftküche“ genannt worden sein sol- men gewesen sein, das sich 1980 mit dem Saddam-Re- len. Anlagen, um angeblich Pestizide zum Schutz der gime einigte. Damals heuerte ein Mann namens Saleh Dattelernte zu produzieren. So wollen es die deutschen Majid, ein deutsch-irakischer Anwalt, als Senior Legal Unternehmer glauben machen, so verteidigten sie sich Advisor in Hannover an. Vier Jahre zuvor hatte er für Jahre später vor Gericht. die irakische Behörde zum Aufbau von Militär- und Unterhändler des irakischen Diktators reisten 1980 Waffentechnik gearbeitet. Jene irakische Behörde, mit nach Dreieich in Hessen, nach Schifferstadt in Rhein- der die Deutschen bald Millionendeals abwickeln. land-Pfalz und nach Hannover, berichten später die Das Unternehmen Karl Kolb soll insgesamt neun „Spiegel“-Journalisten Hans Leyendecker und Richard komplette Fabriken in den Irak geliefert haben, heißt es Rickelmann. Die Unternehmen, die dem Irak beim Auf- in der Klageschrift der Überlebenden. Außerdem habe bau des Chemiewaffenprogramms helfen sollen, sind die Firma Inhalationskabinen bei dem Unternehmen der Laborgeräte-Zulieferer Karl Kolb, das Bauunter- Rhema Labortechnik bestellt, in denen Hunde und nehmen Heberger und der Industriekonzern Preussag Esel vergast wurden, um die tödliche Wirkung der Gift AG, der heute TUI heißt und nicht länger Chemikalien mischung zu testen. und Bauteile liefert, sondern als weltweit größtes Tou- Um die Infrastruktur der Giftgasanlagen habe sich ristikunternehmen fungiert. Doch die Vergangenheit das Bauunternehmen Heberger gekümmert. Dazu ge- lässt sich nicht ändern wie ein Name. hörte die Errichtung von Straßen und unterirdischen Im Jahr 2018 wurden im Irak alle drei Unterneh- Bunkern, in denen später tonnenweise Sarin, Tabun men und deren damals Verantwortliche angeklagt. Der und VX hergestellt wurden, und auch der Bau von Ge- Vorwurf, den ihnen die Überlebenden des Giftgas- bäuden, die den Anschein erwecken sollten, dass es sich anschlages mithilfe einer Chicagoer Menschenrechts- lediglich um Pestizidfabriken handelte. kanzlei machten: Verschwörung und Beihilfe zu Völ- Die Preussag AG soll Vorläuferprodukte für die kermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Gase Tabun und Sarin geliefert haben, darunter meh- Menschlichkeit. rere Tonnen des Stoffes POC13, Natriumflorid und Die Unternehmen weisen die Vorwürfe bis heute Thionylchlorid, sowie ein Warensortiment von Kühl- zurück. Die TUI AG schreibt auf Anfrage, „dass eine containern, Lastwagen, Stahlrohren, Vakuumpumpen, juristische Klärung bereits in den Jahren 1987 bis 1996 Telefonkabeln bis hin zu Kränen. vor den Gerichten in Darmstadt und Frankfurt/Main Damals schaute die deutsche Bundesregierung abgeschlossen wurde. Der Preussag AG, die ihre letzten unter Kanzler Helmut Kohl offenbar bereitwillig weg. 53
Überlebende des Anschlags in den Straßen von Halabja heute. „Ich habe keine Hoffnungen, dass wir entschädigt werden“, sagt einer der Männer, „auch wenn man über unser Schicksal berichtet.“ 54
Schon 1982 soll sich ein deutscher Preussag-Techniker eltern geflüchtet. Von dem Gas erfuhren wir erst einige an die deutsche Botschaft in Bagdad gewandt haben Stunden später. Wir sind dann vor der irakischen Armee mit dem Hinweis, dass in Samarra chemische Waffen weiter in den Iran geflohen. Als wir drei Monate später hergestellt werden. Als er einen Monat später zum Ur- illegal über die Kandil-Berge zurückgekehrt sind in den laub in Deutschland ist, kündigt ihm sein Arbeitgeber. Irak, hat der Fahrer des Trucks zu uns gesagt: ‚Schaut Als der deutsche Ingenieur Fritz-Willi Dörflein nicht nach draußen.‘ Am Straßenrand lagen Leichen, die 1983 die Anlage besuchte und einen der Arbeiter fragte, vom Gas auf ihr doppeltes Körpervolumen aufgequollen was sie dort machen, soll ihm dieser laut einem Bericht waren.“ – Kwestan Akram Faraj des „Spiegel“ geantwortet haben: „Wir stellen Mittel ge- gen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschre- „Warum“, sagt Kwestan Akram Faraj, „fragen Sie die cken, Perser, Israelis.“ Leute nicht, wie es früher war?“ Den ganzen Tag hat sie Im selben Jahr beschwerte sich Ajatollah Khomeini hinter dem schweren Holzschreibtisch im Rathaus von bei den Vereinten Nationen, dass der Irak im Krieg ge- Halabja gesessen, dem Lokalfernsehen Interviews ge- gen den Iran Giftgas einsetze. Im Januar 1984 wandte geben, Baugrundstücke verteilt und stapelweise Doku- sich das US State Department an die deutsche Botschaft mente unterschrieben. Jetzt, um zehn Uhr am Abend, in Washington, um mitzuteilen, dass der Irak laut CIA- steht die Gemeindevorsteherin auf der Terrasse ihres Informationen Chemiewaffen herstelle und sich deut- Landhauses auf der Anhöhe im nahe gelegenen Dorf sche Firmen – namentlich Karl Kolb – daran beteiligen. Ababil. Hierhin ist sie am 16. März 1988 vor den Gift- Kurz darauf berichtete die „New York Times“, dass Karl wolken geflohen, bevor auch sie mit ihrer Familie in Kolb Laborequipment zur Giftgasproduktion in den den Iran flüchtete. Irak geliefert habe – mit dem Einverständnis der Bon- Wie ein Teppich breitet sich Halabja mit den vielen ner Regierung. Lichtern nachts vor ihr aus. Ihre Stadt. „Früher war Ha- Und was tat die deutsche Regierung? Selbst als labja eine rebellische Dichterin, ohne Schwächen, mit iranische Gas-Opfer zur Behandlung in den Westen vielen Kindern, alle perfekt“, sagt Faraj. „Dieselbe Person geschickt wurden, zitierte „Die Zeit“ Regierungsspre- ist heute kränklich, vernachlässigt und traumatisiert.“ cher Peter Boenisch, diese seien allein durch Hautgas Im Stadtzentrum erinnert die Statue des kurdi- verletzt worden. Ein solches Gas könne in Anlagen zur schen Volksdichters Abdullah Goran (1904–1962) an Produktion von Pflanzenschutzmitteln nicht herge- eine Zeit vor dem Trauma. Die Menschen in Halabja stellt werden. „Ganz gleich, was die CIA behauptet – sind stolz, dass ihre Felder einmal zu den fruchtbarsten auch die CIA kann aus Pflanzenschutzmitteln kein der ganzen Welt zählten. Sie sind stolz auf die „Klash“, Senfgas entwickeln.“ die traditionellen Schuhe, die niemand wie sie fertigt. Auch in der „New York Times“ echauffierte sich ein Sie sind stolz auf den Ruf als Intellektuelle und Rebel- Mitarbeiter des damaligen FDP-Wirtschaftsministers len, der ihnen vorauseilte, bevor ihn das Mitleid ablös- Martin Bangemann: „Demnächst sollen wir wohl auch te. Darauf, dass sie schon in den 1970er-Jahren gegen noch den Export von Hämmern unterbinden, weil ir- das faschistische Baath-Regime demonstrierten. Und gendjemand sie nutzen könnte, anderen damit auf den darauf, dass sie mit den kurdischen Peschmerga am Kopf zu schlagen.“ Trotzdem verschärfte Bonn im sel- 15. März 1988 – einen Tag vor dem Giftgasanschlag – ben Jahr, am 6. August 1984, die Ausfuhrregeln für Pro- ihre Stadt von der irakischen Armee zurückeroberten. dukte, die zur Herstellung chemischer Waffen dienen Der Giftgasanschlag auf Halabja war Teil der An- könnten. Zu spät, um das Unheil aufzuhalten. fal-Operation. Jenem Feldzug, den Saddams Cousin Ali Majid im Nordirak führte, um kurdische und andere Minderheiten auszulöschen, und in dessen Folge Tau- sende Dörfer vernichtet und mindestens 180.000 Men- Eine Stadt mit schen ermordet wurden. Spätestens seit den 1986 gestarteten genozidalen Vergangenheit Maßnahmen der irakischen Regierung gegen die eigene kurdische Bevölkerung hätten die Verantwortlichen der „Als der Angriff am 16. März begann, bin ich mit meiner deutschen Firmen wissen können, welchem Zweck die Familie aus der Stadt in das Heimatdorf meiner Groß- Anlagen dienen sollten. Darauf deuteten auch mutmaß- 56
Mitleid will Aras Abid Akram nicht, nur Gerechtigkeit. 26 Familien- mitglieder hat er damals verloren 57
„Neu-Halabja“ heißt die Stadt, die Saddam Hussein ein Jahr nach dem Gif tgas- anschlag im Nordwesten aus dem Boden stampfen ließ – für die Opfer eine weitere Verhöhnung 58
DUMMY 7 1 — I can’t breathe 59
liche Bestrebungen hin, die Verschärfung der Exportbe- Auf die Flugzeuge folgte ein Helikopter, der Papier- schränkungen durch die Bundesregierung zu umgehen. schnipsel abwarf, die mit dem Wind von West nach So gründete der Chef der Preussag-Niederlassung im Ost durch die Stadt gewirbelt wurden. Zunächst ahnte Irak zusammen mit zwei anderen Kollegen die Firma niemand, warum. Am Abend kehrten die Flugzeuge zu- „Water Engineering Trading GmbH“. Gemeinsam mit rück, die Piloten wussten nun, woher der Wind wehte. Partnern in den Niederlanden und Frankreich ver- Diesmal hatten sie Raketen dabei, deren Sprengköpfe suchte man laut Anklage, auf diese Weise die Exportbe- befüllt waren mit einer Mischung aus Senfgas, Tabun, schränkungen zu umschiffen. Die Geschäfte sollen über Sarin und dem Nervengift VX. Abgefüllt in Samarra, Hannover und Bagdad abgewickelt worden sein. dem Chemiewaffenkomplex, der mithilfe von Preussag Im Dezember 1987, vier Monate bevor Saddam AG, Karl Kolb und Heberger errichtet worden sein soll. Hussein Halabja bombardieren ließ, veröffentlichte der Sie bombardierten den Westen der Stadt, und die „Stern“ einen Artikel mit dem Titel „Wie die Deutschen Giftwolken verbreiteten sich über ganz Halabja. Viele mitmischen“, der die Verwicklung der Preussag AG, von Überlebende erinnerten sich später an den Duft süßer Heberger und Karl Kolb in das irakische Chemiewaffen- Äpfel, dass es der Geruch von Tabun war, wussten sie programm offenlegte. Kurz zuvor hatte das Kölner Zoll- damals nicht. Es drang durch die zerborstenen Fens- kriminalinstitut (ZKI) eine „Soko Bagdad“ gegründet ter in die Keller, in denen sich die Menschen vor den und mit den Ermittlungen gegen die Firmen begonnen. Bomben versteckten, und raubte ihnen die Luft zum Atmen. Das Senfgas ließ sie innerlich verbrennen – das Nervengas ließ sie qualvoll ersticken. 5.000 Menschen in wenigen Stunden. Papierschnipsel und Saddam Hussein erklärte das ganze Gebiet rund um Halabja kurz danach zur „verbotenen Zone“. Fünf- der Duft süßer Äpfel zig Kilometer nordwestlich stampfte er eine neue Stadt aus dem Boden, nannte sie Neu-Halabja, siedelte dort „Als das Bombardement begann, versteckte ich mich mit Getreue an und behauptete, ein anderes Halabja hätte achtzehn Freunden in einem Keller. Irgendwann drang es nie gegeben. der Geruch von süßen Äpfeln zu uns. Einer ging nach- Der erste Golfkrieg wurde am 20. August 1988 für schauen, und als er zurückkam, sagte er: ‚Sie haben uns beendet erklärt, und der 16. März markiert ein Kriegs- mit Gas angegriffen.‘ Zum Schutz sollten wir uns feuchte verbrechen von vielen. Für die Menschen in Halabja Decken vors Gesicht halten. Gegen acht Uhr am Abend ist es der Tag, an dem ihr Schicksal neu geschrieben entschieden wir, den Keller zu verlassen und in den Iran wurde. Jede und jeder hat seine eigene 16.-März- zu fliehen. Nach fünf Tagen kam ich zurück, um meine Geschichte zu erzählen. Wie Omed Hama Ali Rashid, Familie zu suchen. Ich ging in mein Haus, und allein 48, den sie „Omedi, der Wiederauferstandene“ nen- im Keller fand ich 23 Familienmitglieder. Alle waren tot. nen, weil er nach zwei Tagen Bewusstlosigkeit, als ihn Dann wurde ich bewusstlos, und als ich wieder zu mir die iranischen Soldaten in einem Massengrab beerdi- kam, lag ich in einem iranischen Krankenhaus.“ gen wollten, auf einmal die Augen aufgeschlagen habe. – Aras Abid Akram Oder Chro Taib Ali, die 1988 zehn Jahre alt war und bis heute nach ihren zwei jüngeren Schwestern sucht, die Zwischen zehn und elf Uhr am Vormittag muss es ge- sie seither vermisst. Und da ist die Geschichte von Aras wesen sein, als die ersten Kampfjets der Luftwaffe von Abid Akram, dem damaligen Studenten. Niemand – so Kirkuk aus Kurs auf Halabja nehmen, erzählt Aras Abid erzählen es sich die Menschen in Halabja – habe mehr Akram. Bemalt mit der rot-weiß-schwarzen irakischen Opfer in der Familie zu beklagen als er. Darunter seine Flagge und bestückt mit 190 Kilogramm schweren Ra- Eltern, sieben Schwestern, drei Brüder. 26 Verwandte keten, die sie über den Wohnvierteln der Stadt abwer- insgesamt. Sein Facebook-Profilbild zeigt die überein- fen. „Dieser Angriff hatte zwei Ziele: erstens Menschen andergelegten Körper seiner toten Angehörigen. zu töten, zweitens die Fenster der Wohnhäuser zu zer- Wenn man mit Aras Abid Akram durch die Stra- stören“, sagt Abid, ein Mann in Karohemd und Dau- ßen Halabjas geht, dann bleiben die Leute stehen. Sie nenweste mit schwerem grauem Schnauzer, damals ein legen sich die Hand aufs Herz oder an den Kopf, ver- 21 Jahre alter Student. neigen sich leicht und ehrfurchtsvoll. Seine Geschichte 60
hat er schon Joe Biden erzählt und vor dem britischen chen. Es folgten Freisprüche für die meisten Angeklag- Parlament. „Mitleid kann ich nicht ausstehen“, sagt ten, denn die Anlage in Samarra sei nicht „besonders Abid. „Alles, was ich will, ist Gerechtigkeit.“ Gerech- geeignet“ gewesen für die Herstellung von Kampfgasen. tigkeit für seine toten Verwandten, für seine geschä- Um einen Rechtsverstoß zu beweisen, hätte den Ange- digten Augen, die kaputte Lunge und die vielen an- klagten aber Wissen über die besondere Eignung der deren Menschen in Halabja. Abid ist stellvertretender Anlage zur Giftgasproduktion nachgewiesen werden Vorsitzender der „Halabja Chemical Victims Society“, müssen. Von einer „Strafbarkeitslücke“ sprachen die der Kampf für Gerechtigkeit ist für ihn zur Lebensauf- Richter. Wie intern darüber gesprochen wird, zeigte der gabe geworden. „Spiegel“, der einen Karl-Kolb-Geschäftsführer zitierte: Er habe sich gefreut, als der republikanische US- „Die warten immer noch darauf, einen Brief zu finden: Außenminister Colin Powell 2003 nach Halabja gekom- Hiermit liefern wir eine Giftgasfabrik.“ men sei, um seine Argumente für eine Invasion gegen Aras Abid Akram will, dass die deutschen Unter- Saddam Hussein zu untermauern – wenngleich ihm nehmen Verantwortung für die Vergangenheit über- bewusst gewesen sei, dass ihr Schicksal wieder einmal nehmen. Dafür hat er gemeinsam mit acht anderen von den Interessen der Mächtigen missbraucht wurde. Familien im Namen von mehr als 7.000 Opfern Kla- Er sei stolz gewesen, als er zusammen mit seiner ge beim Zivilgericht in Halabja eingereicht. Ihr Vor- Jugendfreundin, der Gemeindevorsteherin Kwestan wurf: Verschwörung und Beihilfe zum Völkermord, zu Akram Faraj, eingeladen worden sei, um im Verfahren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch- gegen Saddam Hussein und Ali Majid in Bagdad auszu- lichkeit. Ihre Forderung: Schadensersatzzahlungen. sagen. Sie hätten sich entschieden, den beiden Kriegs- Eine Million Euro für jeden Toten. Sieben Millionen für verbrechern gegenüberzusitzen, obwohl man ihnen jeden Überlebenden. angeboten hatte, einen Vorhang zwischen sie und die Männer zu spannen. Als Saddam und sein Cousin Ali Majid, auch „Chemical Ali“ genannt, zum Tode ver- urteilt wurden, hätten sie gejubelt. Der Strick, mit dem Majid hingerichtet wurde, ist heute im Museum von Statt Millionen eine Halabja ausgestellt. gesunde Lunge Abid sagt, sie hätten gefeiert, als der holländische Unternehmer Frans van Anraat, der dem Saddam-Re- In Halabja ist der Frühling zu spüren. Aras Abid Akram gime tonnenweise Chemikalien geliefert hatte, 2005 in hat die Tür geöffnet, sodass Sonnenstrahlen in Hawkar den Niederlanden zu siebzehn Jahren Haft verurteilt Sabre Mohammads Wohnzimmer fallen, während die wurde. Und als nacheinander die Parlamente des Irak, Maschine in der Ecke noch immer gurgelt. Schwedens, Norwegens und Großbritanniens Saddam Regelmäßig besucht Abid die anderen Überleben- Husseins Verbrechen am kurdischen Volk im Zuge der den der „Halabja Chemical Victims Society“. Nach Anfal-Operation als Genozid anerkannten. dem dreißigminütigen Gespräch ist Sabre erschöpft, Aus einem Land aber sei seither nichts als Stille zu hustet nach jedem Wort. Nur eines wolle er noch an- vernehmen. Jenem Land, aus dem laut späteren Recher- fügen, sagt er. Er habe trotz allem einen Schulabschluss chen der Bundesregierung wohl etwa achtzig Prozent gemacht, habe Ingenieurwesen studiert. Würde sein der Giftgasanlage in Samarra stammten. Deutschland. Körper eines Tages wieder funktionieren, er sei für das Die Bundesregierung hat sich bislang nicht ent- Leben gewappnet. Ein Bekannter habe in Deutschland schuldigt. Der Bundestag hat Saddam Husseins Terror eine Lungentransplantation erhalten, seitdem könne gegen die kurdische Bevölkerung nicht als Völkermord er selbstständig atmen und sogar Sport treiben. „Kön- anerkannt. Ein entsprechender Antrag der Linkspartei nen Sie die deutsche Bundesregierung nicht bitten, wird derzeit im Bundestag debattiert. Entschädigungs- dass sie dasselbe für mich tut, bevor meine Lunge ver- zahlungen von deutscher Seite gab es nicht. Im einzigen fällt?“, fragt Sabre. größeren Verfahren gegen die beteiligten deutschen Un- Er braucht keine sieben Millionen. Hawkar Sabre ternehmer Anfang der 1990er-Jahre in Darmstadt ging Mohammad reichen ein Visum und circa 100.000 es lediglich um Verstöße gegen das Außenwirtschafts- Euro. So viel kostet nämlich eine Lungentransplantation gesetz – nicht aber um die Beteiligung an Kriegsverbre- in Deutschland. 61
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