Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm

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Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
Saddam, die Deutschen
Bild: Daniela Sala
Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
und der Völkermord
DUMMY 7 1 — I can’t breathe   49
Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
Am 16. März 1988                                               Corona infiziere, sei er tot, sagt Sabre und deutet auf
                                                                       den Karton in der Ecke des Raums, der bis zum Rand
        ließ Saddam                                                    angefüllt ist mit leeren Asthmasprays und Medikamen-

        Hussein die
                                                                       tenschachteln: Astahlin, Foracort, Nexum, Loratadin.
                                                                       In der Hand hält er einen dicken Ordner mit Rezepten,
        kurdische Stadt                                                auf dem seine Diagnose vermerkt ist: „Chronic cough
                                                                       due to chemical gas exposure diagnosed as chronic
        Halabja mit Giftgas                                            bronchitis“ (Chronischer Husten aufgrund von Gift-
        bombardieren.                                                  gasexposition, diagnostiziert als chronische Bronchitis).
                                                                            Der dreijährige Sabre kann noch nicht richtig
        Innerhalb weniger                                              sprechen, als er die Fähigkeit verliert, selbstständig

        Stunden wurden
                                                                       zu atmen. Als Saddam Hussein am 16. März 1988 die
                                                                       Stadt Halabja mit Hunderten Tonnen Giftgas bombar-
        10.000 Menschen                                                dieren lässt. Als innerhalb von wenigen Stunden 5.000
                                                                       der 60.000 Einwohner ersticken, 10.000 schwer verletzt
        schwer verletzt,                                               werden. Sabre sagt, er sei Opfer – und nicht Überleben-
        5.000 ermordet.                                                der. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das Gas auch ihn
                                                                       umbringe. Die Ärztin habe ihm erklärt, dass seine Lun-
        Drei Jahrzehnte                                                ge langsam, aber unaufhaltsam verfalle. Solange wolle

        später verklagen
                                                                       er als „Archiv“ dienen, damit die Welt niemals vergisst.
                                                                       „Deutschland und Frankreich haben Saddam geholfen.
        die Überlebenden                                               Ohne europäische Chemie hätte es den Angriff nicht
                                                                       gegeben. Ohne den Angriff würde ich heute nicht an
        deutsche Firmen                                                dieser Maschine hängen. Ich wäre ein gesundes Kind
        wegen Beihilfe zum                                             geblieben und heute ein normaler Vater, der seine Fa-
                                                                       milie ernähren kann.“
        Völkermord

        „Ich war erst drei Jahre alt, als uns Saddam angriff. Alles,
                                                                       Die Amis lehnten die
        was ich weiß, ist, dass ich mit meinem Onkel zu Fuß aus        Anfrage des Irak ab
        der Stadt floh. Irgendwann wurde ich bewusstlos und bin
        im Iran wieder aufgewacht. Ich habe an diesem Tag mei-         Hawkar Sabre Mohammad ist noch nicht geboren,
        nen Vater, meinen Onkel und drei meiner Cousins ver-           als die islamische Revolution 1979 im Iran den Schah
        loren.“ – Hawkar Sabre Mohammad                                stürzt und Ajatollah Khomeini an die Macht kommt.
                                                                       Nicht, als Saddam Hussein im selben Jahr Präsident des
        März 2021. Die Sauerstoffmaschine pfeift wie eine alte         Irak wird und 1980 beschließt, den Nachbarn anzugrei-
        Dampflok. Auf dem Sofa daneben sitzt Hawkar Sabre              fen, womit der erste Golfkrieg beginnt. Ein Krieg, der
        Mohammad, 37, wache hellbraune Augen, die Stimme               acht Jahre dauert, der rund eine Million Opfer fordert,
        eines alten Mannes, und saugt sich drei Liter Sauerstoff       von dem Historiker später schreiben werden, dass er
        pro Minute in die Nase. In Halabja ist Frühling. In den        ähnlich erfolglos gewesen sei wie der Erste Weltkrieg,
        Straßen duftet es nach frisch gebackenem Brot und              weil es am Ende für niemanden Gebietsgewinne gab.
        süßem Schwarztee, die Felder vor den Toren der Stadt           Und noch etwas haben beide Kriege gemein: dass ton-
        leuchten grün, und auf den Gipfeln der Hawraman-               nenweise Giftgas eingesetzt wurde, das Zehntausenden
        Berge, die den Iran von der kurdischen Autonomie­              die Luft zum Atmen raubte.
        region im Nordirak trennen, liegt noch Schnee.                      Schon Mitte der 1970er hatte das irakische Baath-
            Sabre sieht das alles nicht. Schon vor Beginn der          Regime erste Versuche gestartet, sich mithilfe westli-
        Pandemie hat er das Haus nur selten verlassen. Seit ei-        cher Firmen ein Chemiewaffenarsenal zuzulegen. Dazu
        nem Jahr geht er gar nicht mehr raus. Wenn er sich mit         brauchte es neben Chemikalien auch Infrastruktur:

Text: Bartholomäus von Laffert
Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
Fürs Leben
gezeichnet:
Der 37-jährige
Hawkar Sabre
Mohammad
will, dass die Welt
den Giftgas­-
­an­s chlag niemals
 vergisst

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„Der glücklichste
     Tag meines Lebens“,
     so nennt Gemeinde-
     vorsteherin Kwestan
     Akram Faraj (54)
     den Tag, an dem
     Saddam Hussein zum
     Tode verurteilt wurde
     (Bild oben)

     Auf diesem Friedhof
     liegen Tausende Opfer
     begraben (Bild rechts)

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Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
Bunker, Kühlhäuser und Abfüllanlagen, um das Gas in        industriellen Sparten vor ca. 20 Jahren veräußert und
die Sprengköpfe zu füllen. Mitarbeiter der irakischen      ihre Firmenbezeichnung im Jahre 2002 in TUI AG ge-
Behörde zum Aufbau von Militär- und Waffentechnik          ändert hat, konnten im Zusammenhang mit den tragi-
(SOTI), die dem Verteidigungsministerium unterstand,       schen Ereignissen im Irak im Jahre 1988 keine Vorwürfe
wandten sich damals an die Unternehmen Pfaudler Inc.       gemacht werden.“
in den USA und Imperial Chemical Industries in Groß-           Das Bauunternehmen Heberger antwortet: „Wir
britannien. Beide lehnten ab, weil sie den Verdacht hat-   sind über die Existenz des Verfahrens unterrichtet. Wir
ten, dass ihre Produkte für die Chemiewaffenprodukti-      weisen die hierin gegenüber unserem Unternehmen er-
on vorgesehen waren. Doch 1980 fand Saddam Hussein         hobenen Vorwürfe zurück und sehen im Übrigen von
schließlich willige Helfer in Deutschland. Jenem Land,     einer weiteren Stellungnahme ab.“ Der Laborgeräte-
in dem der Nobelpreisträger Fritz Haber in den Wirren      Zulieferer Karl Kolb war für eine Stellungnahme nicht
des Ersten Weltkriegs Chemiewaffen erfunden und des-       zu erreichen.
sen Armee als erste Giftgas auf dem Schlachtfeld ein-
gesetzt hatte.
     In der irakischen Wüste, in Falludscha und in Sa-
marra, südlich und nördlich von Bagdad, entstanden
die größten Giftgasanlagen der Welt. Riesige unter-
                                                           Getestet an
irdische Komplexe – abgeschirmt durch Wachtürme            Hunden und Eseln
und Panzer- und Maschinengewehrstellungen –, die
von den deutschen Ingenieuren wahlweise „Teufels-          Laut Anklage soll die Preussag AG das erste Unterneh-
werkstatt“ oder „Giftküche“ genannt worden sein sol-       men gewesen sein, das sich 1980 mit dem Saddam-Re-
len. Anlagen, um angeblich Pestizide zum Schutz der        gime einigte. Damals heuerte ein Mann namens Saleh
Dattel­ernte zu produzieren. So wollen es die deutschen    Majid, ein deutsch-irakischer Anwalt, als Senior Legal
Unternehmer glauben machen, so verteidigten sie sich       Advisor in Hannover an. Vier Jahre zuvor hatte er für
Jahre später vor Gericht.                                  die irakische Behörde zum Aufbau von Militär- und
     Unterhändler des irakischen Diktators reisten 1980    Waffentechnik gearbeitet. Jene irakische Behörde, mit
nach Dreieich in Hessen, nach Schifferstadt in Rhein-      der die Deutschen bald Millionendeals abwickeln.
land-Pfalz und nach Hannover, berichten später die             Das Unternehmen Karl Kolb soll insgesamt neun
„Spiegel“-Journalisten Hans Leyendecker und Richard        komplette Fabriken in den Irak geliefert haben, heißt es
Rickelmann. Die Unternehmen, die dem Irak beim Auf-        in der Klageschrift der Überlebenden. Außerdem habe
bau des Chemiewaffenprogramms helfen sollen, sind          die Firma Inhalationskabinen bei dem Unternehmen
der Laborgeräte-Zulieferer Karl Kolb, das Bauunter-        Rhema Labortechnik bestellt, in denen Hunde und
nehmen Heberger und der Industriekonzern Preussag          Esel vergast wurden, um die tödliche Wirkung der Gift­
AG, der heute TUI heißt und nicht länger Chemikalien       mischung zu testen.
und Bauteile liefert, sondern als weltweit größtes Tou-        Um die Infrastruktur der Giftgasanlagen habe sich
ristikunternehmen fungiert. Doch die Vergangenheit         das Bauunternehmen Heberger gekümmert. Dazu ge-
lässt sich nicht ändern wie ein Name.                      hörte die Errichtung von Straßen und unterirdischen
     Im Jahr 2018 wurden im Irak alle drei Unterneh-       Bunkern, in denen später tonnenweise Sarin, Tabun
men und deren damals Verantwortliche angeklagt. Der        und VX hergestellt wurden, und auch der Bau von Ge-
Vorwurf, den ihnen die Überlebenden des Giftgas-           bäuden, die den Anschein erwecken sollten, dass es sich
anschlages mithilfe einer Chicagoer Menschenrechts-        lediglich um Pestizidfabriken handelte.
kanzlei machten: Verschwörung und Beihilfe zu Völ-             Die Preussag AG soll Vorläuferprodukte für die
kermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die         Gase Tabun und Sarin geliefert haben, darunter meh-
Menschlichkeit.                                            rere Tonnen des Stoffes POC13, Natriumflorid und
     Die Unternehmen weisen die Vorwürfe bis heute         Thionylchlorid, sowie ein Warensortiment von Kühl-
zurück. Die TUI AG schreibt auf Anfrage, „dass eine        containern, Lastwagen, Stahlrohren, Vakuumpumpen,
juristische Klärung bereits in den Jahren 1987 bis 1996    Telefonkabeln bis hin zu Kränen.
vor den Gerichten in Darmstadt und Frankfurt/Main              Damals schaute die deutsche Bundesregierung
abgeschlossen wurde. Der Preussag AG, die ihre letzten     unter Kanzler ­Helmut Kohl offenbar bereitwillig weg.

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Saddam, die Deutschen und der Völkermord - Bild: Daniela Sala - Reportagen.fm
Überlebende
des Anschlags in
den Straßen von
Halabja heute.
„Ich habe keine
Hoffnungen, dass
wir entschädigt
werden“, sagt
einer der Männer,
„auch wenn
man über unser
Schicksal
berichtet.“

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Schon 1982 soll sich ein deutscher Preussag-Techniker      eltern geflüchtet. Von dem Gas erfuhren wir erst einige
     an die deutsche Botschaft in Bagdad gewandt haben          Stunden später. Wir sind dann vor der irakischen Armee
     mit dem Hinweis, dass in Samarra chemische Waffen          weiter in den Iran geflohen. Als wir drei Monate später
     hergestellt werden. Als er einen Monat später zum Ur-      illegal über die Kandil-Berge zurückgekehrt sind in den
     laub in Deutschland ist, kündigt ihm sein Arbeitgeber.     Irak, hat der Fahrer des Trucks zu uns gesagt: ‚Schaut
          Als der deutsche Ingenieur Fritz-Willi Dörflein       nicht nach draußen.‘ Am Straßenrand lagen Leichen, die
     1983 die Anlage besuchte und einen der Arbeiter fragte,    vom Gas auf ihr doppeltes Körpervolumen aufgequollen
     was sie dort machen, soll ihm dieser laut einem Bericht    waren.“ – Kwestan Akram Faraj
     des „Spiegel“ geantwortet haben: „Wir stellen Mittel ge-
     gen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschre-        „Warum“, sagt Kwestan Akram Faraj, „fragen Sie die
     cken, Perser, Israelis.“                                   Leute nicht, wie es früher war?“ Den ganzen Tag hat sie
          Im selben Jahr beschwerte sich Ajatollah ­Khomeini    hinter dem schweren Holzschreibtisch im Rathaus von
     bei den Vereinten Nationen, dass der Irak im Krieg ge-     Halabja gesessen, dem Lokalfernsehen Interviews ge-
     gen den Iran Giftgas einsetze. Im Januar 1984 wandte       geben, Baugrundstücke verteilt und stapelweise Doku-
     sich das US State Department an die deutsche Botschaft     mente unterschrieben. Jetzt, um zehn Uhr am Abend,
     in Washington, um mitzuteilen, dass der Irak laut CIA-     steht die Gemeindevorsteherin auf der Terrasse ihres
     Informationen Chemiewaffen herstelle und sich deut-        Landhauses auf der Anhöhe im nahe gelegenen Dorf
     sche Firmen – namentlich Karl Kolb – daran beteiligen.     Ababil. Hierhin ist sie am 16. März 1988 vor den Gift-
     Kurz darauf berichtete die „New York Times“, dass Karl     wolken geflohen, bevor auch sie mit ihrer Familie in
     Kolb Laborequipment zur Giftgasproduktion in den           den Iran flüchtete.
     Irak geliefert habe – mit dem Einverständnis der Bon-           Wie ein Teppich breitet sich Halabja mit den vielen
     ner Regierung.                                             Lichtern nachts vor ihr aus. Ihre Stadt. „Früher war Ha-
          Und was tat die deutsche Regierung? Selbst als        labja eine rebellische Dichterin, ohne Schwächen, mit
     iranische Gas-Opfer zur Behandlung in den Westen           vielen Kindern, alle perfekt“, sagt Faraj. „Dieselbe Person
     geschickt wurden, zitierte „Die Zeit“ Regierungsspre-      ist heute kränklich, vernachlässigt und traumatisiert.“
     cher Peter Boenisch, diese seien allein durch Hautgas           Im Stadtzentrum erinnert die Statue des kurdi-
     verletzt worden. Ein solches Gas könne in Anlagen zur      schen Volksdichters Abdullah Goran (1904–1962) an
     Produktion von Pflanzenschutzmitteln nicht herge-          eine Zeit vor dem Trauma. Die Menschen in Halabja
     stellt werden. „Ganz gleich, was die CIA behauptet –       sind stolz, dass ihre Felder einmal zu den fruchtbarsten
     auch die CIA kann aus Pflanzenschutzmitteln kein           der ganzen Welt zählten. Sie sind stolz auf die „Klash“,
     Senfgas entwickeln.“                                       die traditionellen Schuhe, die niemand wie sie fertigt.
          Auch in der „New York Times“ echauffierte sich ein    Sie sind stolz auf den Ruf als Intellektuelle und Rebel-
     Mitarbeiter des damaligen FDP-Wirtschaftsministers         len, der ihnen vorauseilte, bevor ihn das Mitleid ablös-
     Martin Bangemann: „Demnächst sollen wir wohl auch          te. Darauf, dass sie schon in den 1970er-Jahren gegen
     noch den Export von Hämmern unterbinden, weil ir-          das faschistische Baath-Regime demonstrierten. Und
     gendjemand sie nutzen könnte, anderen damit auf den        darauf, dass sie mit den kurdischen Peschmerga am
     Kopf zu schlagen.“ Trotzdem verschärfte Bonn im sel-       15. März 1988 – einen Tag vor dem Giftgasanschlag –
     ben Jahr, am 6. August 1984, die Ausfuhrregeln für Pro-    ihre Stadt von der irakischen Armee zurückeroberten.
     dukte, die zur Herstellung chemischer Waffen dienen             Der Giftgasanschlag auf Halabja war Teil der An-
     könnten. Zu spät, um das Unheil aufzuhalten.               fal-Operation. Jenem Feldzug, den Saddams Cousin Ali
                                                                Majid im Nordirak führte, um kurdische und andere
                                                                Minderheiten auszulöschen, und in dessen Folge Tau-
                                                                sende Dörfer vernichtet und mindestens 180.000 Men-
     Eine Stadt mit                                             schen ermordet wurden.
                                                                     Spätestens seit den 1986 gestarteten genozidalen
     Vergangenheit                                              Maßnahmen der irakischen Regierung gegen die eigene
                                                                kurdische Bevölkerung hätten die Verantwortlichen der
     „Als der Angriff am 16. März begann, bin ich mit meiner    deutschen Firmen wissen können, welchem Zweck die
     Familie aus der Stadt in das Heimatdorf meiner Groß-       Anlagen dienen sollten. Darauf deuteten auch mutmaß-

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Mitleid will Aras
Abid Akram
nicht, nur
Gerechtigkeit.
26 Familien­-
mitglieder
hat er damals
verloren

                    57
„Neu-Halabja“
heißt die Stadt,
die Saddam
Hussein ein
Jahr nach
dem Gif tgas-
anschlag im
Nordwesten
aus dem Boden
stampfen ließ –
für die Opfer
eine weitere
Verhöhnung

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liche Bestrebungen hin, die Verschärfung der Exportbe-      Auf die Flugzeuge folgte ein Helikopter, der Papier-
     schränkungen durch die Bundesregierung zu umgehen.          schnipsel abwarf, die mit dem Wind von West nach
     So gründete der Chef der Preussag-Niederlassung im          Ost durch die Stadt gewirbelt wurden. Zunächst ahnte
     Irak zusammen mit zwei anderen Kollegen die Firma           niemand, warum. Am Abend kehrten die Flugzeuge zu-
     „Water Engineering Trading GmbH“. Gemeinsam mit             rück, die Piloten wussten nun, woher der Wind wehte.
     Partnern in den Niederlanden und Frankreich ver-            Diesmal hatten sie Raketen dabei, deren Sprengköpfe
     suchte man laut Anklage, auf diese Weise die Exportbe-      befüllt waren mit einer Mischung aus Senfgas, Tabun,
     schränkungen zu umschiffen. Die Geschäfte sollen über       Sarin und dem Nervengift VX. Abgefüllt in Samarra,
     Hannover und Bagdad abgewickelt worden sein.                dem Chemiewaffenkomplex, der mithilfe von Preussag
         Im Dezember 1987, vier Monate bevor Saddam              AG, Karl Kolb und Heberger errichtet worden sein soll.
     Hussein Halabja bombardieren ließ, veröffentlichte der           Sie bombardierten den Westen der Stadt, und die
     „Stern“ einen Artikel mit dem Titel „Wie die Deutschen      Giftwolken verbreiteten sich über ganz Halabja. Viele
     mitmischen“, der die Verwicklung der Preussag AG, von       Überlebende erinnerten sich später an den Duft süßer
     Heberger und Karl Kolb in das irakische Chemiewaffen-       Äpfel, dass es der Geruch von Tabun war, wussten sie
     programm offenlegte. Kurz zuvor hatte das Kölner Zoll-      damals nicht. Es drang durch die zerborstenen Fens-
     kriminalinstitut (ZKI) eine „Soko Bagdad“ gegründet         ter in die Keller, in denen sich die Menschen vor den
     und mit den Ermittlungen gegen die Firmen begonnen.         Bomben versteckten, und raubte ihnen die Luft zum
                                                                 Atmen. Das Senfgas ließ sie innerlich verbrennen – das
                                                                 Nervengas ließ sie qualvoll ersticken. 5.000 Menschen
                                                                 in wenigen Stunden.
     Papierschnipsel und                                              Saddam Hussein erklärte das ganze Gebiet rund
                                                                 um Halabja kurz danach zur „verbotenen Zone“. Fünf-
     der Duft süßer Äpfel                                        zig Kilometer nordwestlich stampfte er eine neue Stadt
                                                                 aus dem Boden, nannte sie Neu-Halabja, siedelte dort
     „Als das Bombardement begann, versteckte ich mich mit       Getreue an und behauptete, ein anderes Halabja hätte
     achtzehn Freunden in einem Keller. Irgendwann drang         es nie gegeben.
     der Geruch von süßen Äpfeln zu uns. Einer ging nach-             Der erste Golfkrieg wurde am 20. August 1988 für
     schauen, und als er zurückkam, sagte er: ‚Sie haben uns     beendet erklärt, und der 16. März markiert ein Kriegs-
     mit Gas angegriffen.‘ Zum Schutz sollten wir uns feuchte    verbrechen von vielen. Für die Menschen in Halabja
     Decken vors Gesicht halten. Gegen acht Uhr am Abend         ist es der Tag, an dem ihr Schicksal neu geschrieben
     entschieden wir, den Keller zu verlassen und in den Iran    wurde. Jede und jeder hat seine eigene 16.-März-­
     zu fliehen. Nach fünf Tagen kam ich zurück, um meine        Geschichte zu erzählen. Wie Omed Hama Ali Rashid,
     Familie zu suchen. Ich ging in mein Haus, und allein        48, den sie „Omedi, der Wiederauferstandene“ nen-
     im Keller fand ich 23 Familienmitglieder. Alle waren tot.   nen, weil er nach zwei Tagen Bewusstlosigkeit, als ihn
     Dann wurde ich bewusstlos, und als ich wieder zu mir        die iranischen Soldaten in einem Massengrab beerdi-
     kam, lag ich in einem iranischen Krankenhaus.“              gen wollten, auf einmal die Augen aufgeschlagen habe.
     – Aras Abid Akram                                           Oder Chro Taib Ali, die 1988 zehn Jahre alt war und bis
                                                                 heute nach ihren zwei jüngeren Schwestern sucht, die
     Zwischen zehn und elf Uhr am Vormittag muss es ge-          sie seither vermisst. Und da ist die Geschichte von Aras
     wesen sein, als die ersten Kampfjets der Luftwaffe von      Abid Akram, dem damaligen Studenten. Niemand – so
     Kirkuk aus Kurs auf Halabja nehmen, erzählt Aras Abid       erzählen es sich die Menschen in Halabja – habe mehr
     Akram. Bemalt mit der rot-weiß-schwarzen irakischen         Opfer in der Familie zu beklagen als er. Darunter seine
     Flagge und bestückt mit 190 Kilogramm schweren Ra-          Eltern, sieben Schwestern, drei Brüder. 26 Verwandte
     keten, die sie über den Wohnvierteln der Stadt abwer-       insgesamt. Sein Facebook-Profilbild zeigt die überein-
     fen. „Dieser Angriff hatte zwei Ziele: erstens Menschen     andergelegten Körper seiner toten Angehörigen.
     zu töten, zweitens die Fenster der Wohnhäuser zu zer-            Wenn man mit Aras Abid Akram durch die Stra-
     stören“, sagt Abid, ein Mann in Karohemd und Dau-           ßen Halabjas geht, dann bleiben die Leute stehen. Sie
     nenweste mit schwerem grauem Schnauzer, damals ein          legen sich die Hand aufs Herz oder an den Kopf, ver-
     21 Jahre alter Student.                                     neigen sich leicht und ehrfurchtsvoll. Seine Geschichte

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hat er schon Joe Biden erzählt und vor dem britischen       chen. Es folgten Freisprüche für die meisten Angeklag-
Parlament. „Mitleid kann ich nicht ausstehen“, sagt         ten, denn die Anlage in Samarra sei nicht „besonders
Abid. „Alles, was ich will, ist Gerechtigkeit.“ Gerech-     geeignet“ gewesen für die Herstellung von Kampfgasen.
tigkeit für seine toten Verwandten, für seine geschä-       Um einen Rechtsverstoß zu beweisen, hätte den Ange-
digten Augen, die kaputte Lunge und die vielen an-          klagten aber Wissen über die besondere Eignung der
deren Menschen in Halabja. Abid ist stellvertretender       Anlage zur Giftgasproduktion nachgewiesen werden
Vorsitzender der „Halabja Chemical Victims Society“,        müssen. Von einer „Strafbarkeitslücke“ sprachen die
der Kampf für Gerechtigkeit ist für ihn zur Lebensauf-      Richter. Wie intern darüber gesprochen wird, zeigte der
gabe geworden.                                              „Spiegel“, der einen Karl-Kolb-Geschäftsführer zitierte:
     Er habe sich gefreut, als der republikanische US-      „Die warten immer noch darauf, einen Brief zu finden:
Außenminister Colin Powell 2003 nach Halabja gekom-         Hiermit liefern wir eine Giftgasfabrik.“
men sei, um seine Argumente für eine Invasion gegen             Aras Abid Akram will, dass die deutschen Unter-
Saddam Hussein zu untermauern – wenngleich ihm              nehmen Verantwortung für die Vergangenheit über-
bewusst gewesen sei, dass ihr Schicksal wieder einmal       nehmen. Dafür hat er gemeinsam mit acht anderen
von den Interessen der Mächtigen missbraucht wurde.         Familien im Namen von mehr als 7.000 Opfern Kla-
     Er sei stolz gewesen, als er zusammen mit seiner       ge beim Zivilgericht in Halabja eingereicht. Ihr Vor-
Jugendfreundin, der Gemeindevorsteherin Kwestan             wurf: Verschwörung und Beihilfe zum Völkermord, zu
Akram Faraj, eingeladen worden sei, um im Verfahren         Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-
gegen Saddam Hussein und Ali Majid in Bagdad auszu-         lichkeit. Ihre Forderung: Schadensersatzzahlungen.
sagen. Sie hätten sich entschieden, den beiden Kriegs-      Eine Million Euro für jeden Toten. Sieben Millionen für
verbrechern gegenüberzusitzen, obwohl man ihnen             jeden Überlebenden.
angeboten hatte, einen Vorhang zwischen sie und die
Männer zu spannen. Als Saddam und sein Cousin Ali
Majid, auch „Chemical Ali“ genannt, zum Tode ver-
urteilt wurden, hätten sie gejubelt. Der Strick, mit dem
Majid hingerichtet wurde, ist heute im Museum von
                                                            Statt Millionen eine
Halabja ausgestellt.                                        gesunde Lunge
     Abid sagt, sie hätten gefeiert, als der holländische
Unternehmer Frans van Anraat, der dem Saddam-Re-            In Halabja ist der Frühling zu spüren. Aras Abid Akram
gime tonnenweise Chemikalien geliefert hatte, 2005 in       hat die Tür geöffnet, sodass Sonnenstrahlen in Hawkar
den Niederlanden zu siebzehn Jahren Haft verurteilt         Sabre Mohammads Wohnzimmer fallen, während die
wurde. Und als nacheinander die Parlamente des Irak,        Maschine in der Ecke noch immer gurgelt.
Schwedens, Norwegens und Großbritanniens Saddam                  Regelmäßig besucht Abid die anderen Überleben-
Husseins Verbrechen am kurdischen Volk im Zuge der          den der „Halabja Chemical Victims Society“. Nach
Anfal-Operation als Genozid anerkannten.                    dem dreißigminütigen Gespräch ist Sabre erschöpft,
     Aus einem Land aber sei seither nichts als Stille zu   hustet nach jedem Wort. Nur eines wolle er noch an-
vernehmen. Jenem Land, aus dem laut späteren Recher-        fügen, sagt er. Er habe trotz allem einen Schulabschluss
chen der Bundesregierung wohl etwa achtzig Prozent          gemacht, habe Ingenieurwesen studiert. Würde sein
der Giftgasanlage in Samarra stammten. Deutschland.         Körper eines Tages wieder funktionieren, er sei für das
     Die Bundesregierung hat sich bislang nicht ent-        Leben gewappnet. Ein Bekannter habe in Deutschland
schuldigt. Der Bundestag hat Saddam Husseins Terror         eine Lungentransplantation erhalten, seitdem könne
gegen die kurdische Bevölkerung nicht als Völkermord        er selbstständig atmen und sogar Sport treiben. „Kön-
anerkannt. Ein entsprechender Antrag der Linkspartei        nen Sie die deutsche Bundesregierung nicht bitten,
wird derzeit im Bundestag debattiert. Entschädigungs-       dass sie dasselbe für mich tut, bevor meine Lunge ver-
zahlungen von deutscher Seite gab es nicht. Im einzigen     fällt?“, fragt Sabre.
größeren Verfahren gegen die beteiligten deutschen Un-           Er braucht keine sieben Millionen. Hawkar Sabre
ternehmer Anfang der 1990er-Jahre in Darmstadt ging         Mohammad reichen ein Visum und circa 100.000
es lediglich um Verstöße gegen das Außenwirtschafts-        Euro. So viel kostet nämlich eine Lungentransplantation
gesetz – nicht aber um die Beteiligung an Kriegsverbre-     in Deutschland.

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