SAISONARBEITERINNEN STÄRKEN! - GEWERKSCHAFTEN UND BERATUNGSSTELLEN GEHEN NEUE WEGE - FORUM UMWELT ...
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SAISONARBEITERiNNEN STÄRKEN! Gewerkschaften und Beratungsstellen gehen neue Wege Gut ein Drittel der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Deutschland sind SaisonarbeiterInnen aus Ländern wie Rumänien und Polen. Vom Sozialsystem werden sie jedoch ausgeschlossen. Gewerkschaften und Beratungsstellen versuchen, ihre Isolation durch aufsuchende Formen der Beratung zu überwinden. E nde März 2021 auf einem Gemüsebetrieb im südli- Deutschland. Als sich die Beratungsstelle Faire Mobilität chen Nordrhein-Westfalen: Marian aus Rumänien und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG arbeitet seit eineinhalb Monaten auf dem Betrieb, BAU) einschalten, hat der Betriebsleiter des Hofs es eilig, die als er sich bei der Arbeit an einer Abfalltonne den Arztrechnung selbst zu zahlen und Marian wieder zurück Daumen zerquetscht. Zunächst verbindet nur ein Kollege nach Rumänien zu schicken. Eigentlich müsste Marian bei den Daumen notdürftig. Erst zwei Tage nach seinem Un- der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft, der Sozial- fall wird Marian zum Arzt gefahren. Es stellt sich heraus: versicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau Weder in Rumänien ist Marian krankenversichert noch in (SVLFG) zumindest unfallversichert sein. Angeblich aus 26 Schwerpunkt
muss über die SVLFG abgedeckt sein. Der Fall von Marian zeigt die Problematik dieses Modells auf. Ein weiteres Problem, mit dem Beschäftigte wie Marian konfrontiert sind: Von dem Brutto-Mindestlohn von 9,50 Euro pro Stunde (bzw. 9,60 Euro ab 1. Juli 2021) bleibt bei der Abreise aus Deutschland netto sehr wenig übrig. Häufig wird für einen Schlafplatz in heruntergekommenen Mas- senunterkünften eine horrende Miete abgezogen. In ande- ren Betrieben wird die hohe Zahl von Überstunden nicht vollständig entgolten. So auch bei Marian – er bekommt bei der Auszahlung deutlich weniger Arbeitsstunden an- gerechnet, als er sich selbst notiert hatte. Gerade in der Landwirtschaft ist die soziale Isolation der mobilen Beschäftigten sehr hoch. Häufig leben sie in lager- artigen Unterkünften, in ländlichen Räumen mit schlechter Internetverbindung und ohne rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Isolation hat sich im Zuge der COVID-Pandemie nochmals massiv verschärft. Die Her- kunftsländer der SaisonarbeiterInnen gehören nach Defi- nition der Bundesregierung zu den Risiko- und Hochinzi- denzgebieten. Seit letztem Jahr wurde daher das Modell der Arbeitsquarantäne eingeführt. Die ersten fünf bis zehn Tage in Deutschland arbeiten die Beschäftigten, ohne mit ande- ren Gruppen in Kontakt kommen zu dürfen. Zugleich gelten laxe Sicherheitsstandards: Bis zu acht Beschäftigte dürfen in einem Zimmer gemeinsam untergebracht werden, bis zu 15 Beschäftigte in einer engen Gruppe zusammenarbeiten, wenn der Betriebsablauf dies erfordert. Matthias Böckel/Pixabay Antworten der Gewerkschaften Immerhin: Stärker als im letzten Jahr, als die Medienbe- richterstattung hauptsächlich auf die Sorge um den Spar- Datenschutzgründen erhält die Gewerkschaftssekretärin gel angesichts der Corona-Pandemie fokussierte, werden der IG BAU jedoch keine klare Information dazu. in einigen Medienbeiträgen die SaisonarbeiterInnen auch So wie Marian geht es vielen der 270.000 Saisonar- als Subjekte sichtbar, die ihre Rechte einfordern und sich beiterInnen, die Jahr für Jahr auf den deutschen Feldern wehren. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Arbeit ge- schuften. Sie stellen eine neue Art von sogenannten mobilen werkschaftsnaher Beratungsorganisationen wie der Eu- Beschäftigten dar, ohne die große Teile der Landwirtschaft ropäische Verein für Wanderarbeiterfragen (EVW), die in Deutschland zusammenbrechen würden. Eine zirkuläre, Beratungsstellen von „Arbeit und Leben“ auf Landesebe- Jahr für Jahr befristete Arbeitsmigration ist inzwischen in ne und das Netzwerk „Faire Mobilität“ auf Bundesebene. vielen Branchen elementare Stütze der deutschen Wirt- Die Beratungsstellen bieten migrantischen Beschäftigten schaft – nicht nur in der Landwirtschaft, sondern ebenso im kostenlos eine arbeitsrechtliche Beratung in ihrer Sprache Baugewerbe, in der häuslichen Pflege, im LKW-Transport an, unterstützen sie aber auch bei der außergerichtlichen oder in der Fleischproduktion. Einerseits gilt in der EU die Durchsetzung ihrer Rechte, beispielsweise durch Medien- Arbeitnehmerfreizügigkeit, andererseits herrscht zwischen arbeit und der Unterstützung von Streiks. Südost- und Osteuropa und Nordwesteuropa ein gewaltiges Bei der Beratungsarbeit in der Landwirtschaft hat sich Lohngefälle. Für mobile Beschäftigte wie Marian ist die Sai- in den letzten Jahren eine Form der aufsuchenden Beratung sonarbeit in Deutschland daher alljährlich seine Strategie, bewährt: Die IG BAU hat gemeinsam mit den Beratungs- um wirtschaftlich zu überleben. In Rumänien schlägt er organisationen die „Initiative Faire Landarbeit“ gegründet. sich das restliche Jahr über mit Gelegenheitsarbeiten auf In den verschiedenen Regionen in Deutschland werden ko- dem Bau durch. ordinierte Feldaktionen von GewerkschaftssekretärInnen Der überwiegende Teil der Saisonbeschäftigten aus und BeraterInnen gemeinsam durchgeführt, um mit den Ländern wie Rumänien, Polen oder Bulgarien arbeitet in Saisonbeschäftigten in einen ersten Kontakt zu kommen Deutschland über das Modell der sogenannten kurzfris- und sie über ihre grundlegenden Arbeitsrechte in Deutsch- tigen Beschäftigung. Dabei geht die Bundesregierung bei land zu informieren. Im vergangenen Jahr wurden bei 30 SchülerInnen, Studierenden, Hausfrauen bzw. -männern koordinierten Feldaktionen schätzungsweise 2.500 Beschäf- und RenterInnen davon aus, dass sie die Saisonarbeit in tigte direkt erreicht, die ihrerseits als MultiplikatorInnen Deutschland „nicht berufsmäßig“ ausüben. Sie müssen die Informationen in ihrem Netzwerk weitergeben. daher in Deutschland weder kranken-, noch renten- oder Seit 2020 hat die Gewerkschaft IG BAU zudem ein Jah- sozialversichert werden. Lediglich eine Unfallversicherung resmitgliedschaftsmodell entwickelt, das sich speziell an Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2021 27
Direktzahlungen im Rahmen der GAP müssen an die Bereitstellung von guten, sozialversicherten Arbeitsplätzen gekoppelt werden. mobile Beschäftigte wendet. SaisonarbeiterInnen können Die Debatte um eine zukunftsfähige Landwirtschaft sollte für einen geringen Betrag ein Jahr lang Mitglied der IG BAU sich nicht nur auf die Fragen der ökologischen Nachhaltig- werden. Sie erhalten Beratung und Informationen in ihrer keit und der Produzentenpreise richten, sondern auch auf Herkunftssprache und ab dem ersten Tag ihrer Mitglied- die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. schaft den vollen Arbeits- und Sozialrechtsschutz. Dieser Rechtschutz kann in Fällen wie dem von Marian entschei- Benjamin Luig dend sein. Denn vielfach liegt bei der Ausbeutung in den Betrieben offensichtlicher Rechtsbruch vor. Fraglos ist ein Der Autor ist Branchenkoordinator für Baugewerbe und solcher Versuch, mobile Beschäftigte in die gewerkschaft- Landwirtschaft bei EVW und Faire Mobilität. liche Struktur einzubinden, voller Herausforderungen und ressourcenintensiv. Die politischen Rahmenbedingungen Mehr Informationen: müssen sich ändern Initiative Faire Landarbeit(2020): Die Projekte der Beratung, Stärkung und Organisierung Saisonarbeit in der Landwirtschaft, allein reichen jedoch nicht aus. Entscheidend ist ebenso eine https://igbau.de/Binaries/Binary15315/ Veränderung der politischen Rahmenbedingungen. Dazu InitiativeFaireLandarbeit-Bericht2020.pdf gehört erstens eine Teilhabe an den Sozialsystemen für Sai- sonbeschäftigte. Den Menschen, die in Deutschland Jahr für Jahr mehrere Monate lang teilweise in 60 Wochenstun- den unser Gemüse produzieren, dürfen weder eine Kran- kenversicherung mit vollem Leistungsumfang noch Ren- tenansprüche verwehrt werden. Zweitens bedarf es mehr und besser abgestimmter Kontrollen in den Betrieben von Zoll, Arbeitsschutzbehörden und der Berufsgenossenschaft SVLFG. Zu zahlreich sind die Fälle, bei denen geltendes Ar- beitsrecht verletzt wird. Drittens sollten Schutzinstrumente für abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft Teil der gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP) werden. Direktzah- lungen müssen an die Bereitstellung von guten, sozialver- sicherten Arbeitsplätzen gekoppelt werden. Für all diese Veränderungen braucht es gesellschaftli- chen Druck und Unterstützung, auch von Seiten der Um- weltverbände und entwicklungspolitischer Organisationen. 28 Schwerpunkt
RUNDBRIEF Forum Umwelt und Entwicklung 2/2021 REICHT’S FÜR ALLE ? WELTERNÄHRUNG AN DEN GRENZEN DES WACHSTUMS WATER FUTURES MANCHMAL IST DIE TRANSFORMATION ERNÄHRUNGSSYSTEME WENIGER MEHR ALS ANLAGEOBJEKT Eine gefährliche Form DER ERNÄHRUNGSSYSTEME der Kommerzialisierung Abschied von Weltmärkten Richtungs- & Machtfragen Folgen der Finanzialisierung durch global-solidarische von Ernährung & von Wasser der Welternährungspolitik Regionalisierung Landwirtschaft › Seite 32 › Seite 17 ISSN 186 4-0 982 › Seite 14 › Seite 7
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