Schatten über den Europawahlen - Einleitung
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NR. 58 OKTOBER 2018 Einleitung Schatten über den Europawahlen Drei Szenarien für EU-skeptische Parteien nach den Wahlen 2019 Nicolai von Ondarza / Felix Schenuit Europawahlen galten lange als Wahlen zweiter Ordnung, mit nur geringer politischer Bedeutung. Doch 2019 mausern sie sich zur Richtungswahl über die Zukunft der EU – nicht nur weil das Europäische Parlament (EP) an Bedeutung gewonnen hat, sondern vor allem weil sich das europäische Parteiensystem fundamental wandelt. Während etablierte Parteien an Unterstützung verlieren, haben rechtspopulistische und EU- skeptische Parteien europaweit zugelegt. Gleichzeitig gibt es verstärkte Bemühungen, die traditionell zersplitterten EU-skeptischen Kräfte in einer Sammlungsbewegung zu vereinen. In der nächsten Wahlperiode ist zwar kein drastischer Anstieg der Zahl EU- skeptischer Abgeordneter zu erwarten. Die Umordnung im EU-skeptischen Spektrum könnte aber den Auftakt für einschneidende Veränderungen im politischen Gefüge der EU bilden. Traditionell gilt das Europawahljahr in einem Jahrzehnt »Krisenmodus« ist die Brüssel als »Jahr des institutionellen Über- zukünftige Entwicklung der EU umstritten gangs«, denn nicht nur das EP, auch die wie nie. Im März 2019, knapp acht Wochen Kommission wird neu gewählt. Seit dem vor den Europawahlen, wird Großbritanni- Vertrag von Lissabon ist die Wahl des Parla- en (voraussichtlich) als erstes Mitglied die ments gemäß dem sogenannten Spitzen- EU verlassen. Deshalb wird das EP zum kandidatenprinzip direkt mit der des Kom- ersten Mal weniger Abgeordnete umfassen missionspräsidenten verknüpft. als zuvor, nämlich nur noch 705 (siehe Doch auf Ebene der Mitgliedstaaten SWP-Aktuell 11/2018). Mehr als sechs Mona- waren es bisher nicht viel mehr als Wahlen te vor den Wahlen drängen zudem Bewer- zweiter Ordnung, eine Aneinanderreihung ber um die Spitzenkandidatur in die euro- paralleler nationaler Wahlen, die vor allem päische Öffentlichkeit, früher als bei den dazu dienen, der jeweiligen nationalen letzten Wahlen. Regierung eine Botschaft zu senden. Europa- Gleichzeitig wandeln sich europaweit die politische Themen spielten in den EP-Wahl- Parteiensysteme, wenn auch in unterschied- kämpfen hingegen nur eine untergeordnete lichem Ausmaß: In nahezu allen Wahlen Rolle. seit 2014 verloren etablierte Parteien an 2019 finden die Wahlen jedoch unter Zustimmung, während vielfach sowohl die veränderten Vorzeichen statt. Nach fast Fragmentierung der Parteiensysteme als
auch die Stimmanteile EU-skeptischer Erstens spielen sie eine nicht zu vernach-
Parteien wuchsen. Doch auch liberale, pro- lässigende Rolle beim Interessenausgleich
europäische Strömungen haben mit dem zwischen nationalen Parteien und damit
französischen Staatspräsidenten Macron als Integrationsfaktor in der europäischen
eine Galionsfigur, die sich außerhalb des Politik. So koordinieren sich die Staats-
bestehenden Parteienspektrums bewegt. und Regierungschefs der großen Parteien-
Damit verdichten sich die Europawahlen familien ebenso wie ihre Fraktionen im EP.
zur Herausforderung für das politische Zweitens sind die europäischen Parteien
System der EU. Auf der einen Seite muss und ihre Parlamentsfraktionen Haupt-
die informelle »große Koalition« zwischen akteure bei der Mehrheitsbeschaffung im
christdemokratisch-konservativer EVP und EP. Dort gibt es keine feste Koalition, son-
Sozialdemokraten (S&D), die traditionell dern Mehrheiten müssen immer im Einzel-
die EU dominiert, zum ersten Mal um ihre fall gefunden werden. Trotz ihres Charak-
Mehrheit im EP bangen. Auf der anderen ters als Dachverbände ist es dabei vor allem
Seite formulierten etwa Matteo Salvini, den großen Parteien mit wenigen Aus-
Vorsitzender der italienischen Lega, oder nahmen gelungen, Fraktionsdisziplin im
Stephen Bannon, rechtspopulistischer EP herzustellen, statt entlang nationaler
Scharfmacher aus den USA, das Ziel, EU- Positionen abzustimmen.
skeptische Parteien zu vereinen und sie Drittens werden die Parteien auch für
zur größten Fraktion im EP zu machen. die Besetzung von EU-Spitzenpositionen
immer wichtiger. Deutlich wird dies an
der Stärkung des EP durch den Vertrag von
Europäische Parteien: Zwischen Lissabon und das 2014 erstmals angewand-
Zweckbündnissen und echten te Prinzip der Spitzenkandidaten. Auch
Interessengemeinschaften die Besetzung der Posten des Ratspräsiden-
ten und der Hohen Vertreterin der EU für
Grundsätzlich gilt weiterhin, dass euro- Außen- und Sicherheitspolitik wurde bis-
päische Parteien im Hinblick auf Charakter, lang über den Parteienproporz geregelt.
Bindewirkung und Durchsetzungskraft Viertens schließlich bieten europäische
nicht mit nationalen Parteien gleichzuset- Parteien und gemeinsame Fraktionen im
zen sind. Zwar erkennt der EU-Vertrag EP zusätzliche Ressourcen und Legitimation
Parteien auf europäischer Ebene an, welche für nationale Parteien. Paradoxerweise pro-
»zur Herausbildung eines europäischen fitierten gerade die EU-skeptischen Parteien
politischen Bewusstseins und zum Aus- von den finanziellen Mitteln des EP und
druck des Willens der Bürgerinnen und der dort gebotenen Bühne. Die Auftritte
Bürger der EU« (Artikel 10 EUV) beitragen. des damaligen Vorsitzenden der UK Inde-
Auch existiert eine Parteienfinanzierung pendence Party (UKIP), Nigel Farage, im EP
auf EU-Ebene, allerdings auf deutlich nied- erregten immer wieder großes Aufsehen.
rigerem Niveau als etwa in Deutschland.
Europäische Parteien sind jedoch keine
Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und EU-skeptische Parteien in
Bürgern, sondern Dachverbände nationaler Straßburg
Parteien. Bislang sind sie hinsichtlich des
Wahlkampfs sowie programmatisch und Wesentlich für die Konstituierung des
finanziell schlechter aufgestellt als ihre nächsten Europäischen Parlaments sind
nationalen Mitgliedsparteien. Sichtbar sind Größe und Zusammensetzung des EU-skep-
sie hauptsächlich durch die Arbeit ihrer EP- tischen Lagers, das im EP zuletzt am stärk-
Fraktionen. Dennoch erfüllen sie im poli- sten fragmentiert war. Im Sommer 2018
tischen System der EU vier wichtige Funk- sorgte der frühere Berater des US-Präsiden-
tionen: ten Trump, Stephen Bannon, für mediale
Aufmerksamkeit, als er ankündigte, rechts-
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Oktober 2018
2populistische Bewegungen in Europa zu EU-skeptische Fraktionen und
unterstützen. Erklärtes Ziel ist es, bei den Abgeordnete
Europawahlen 2019 eine große rechtspopu-
listische Fraktion mit bis zu einem Drittel Die größte dieser drei ist die EU-skeptische
der Abgeordneten zu bilden. Fraktion der Europäischen Konservativen
Auch wenn Bannon mit seinem Vorstoß und Reformer (EKR). Derzeit vereint sie
großen Widerhall fand, ist er damit nur auf 73 Abgeordnete aus 19 EU-Staaten. Neben
einen fahrenden Zug aufgesprungen: Schon der wirtschaftsliberalen Ausrichtung folgte
vor den Europawahlen 2014 hatten der die EKR ursprünglich einem moderat EU-
französische Front National, die nieder- skeptischen Leitbild. Demnach unterstützte
ländische PVV, die österreichische FPÖ und sie zwar mehrheitlich den Verbleib ihrer
die italienische Lega Nord eine rechts- Länder in der EU, forderte aber eine Rück-
populistische Zusammenarbeit vereinbart. besinnung auf den Binnenmarkt und inter-
Nachdem diese vier bei der Wahl 2014 gouvernementale Entscheidungsverfahren.
schlechter als erwartet abgeschnitten hat- Spätestens seit 2016 jedoch setzten sich die
ten, bildeten sie im Jahr darauf die Fraktion britischen Konservativen, welche die EKR
Europa der Nationen und der Freiheit (ENF). dominierten, für den Brexit ein. Parallel
2017 trafen sich die Führungsspitzen der dazu nahm die Fraktion Abgeordnete auf,
genannten Parteien und unter anderem der die eine härtere EU-skeptische Linie ver-
deutschen AfD in Koblenz, um sich gegen- traten. Dazu zählen die Schwedendemokra-
seitig in den laufenden Wahlkämpfen zu ten, die ein EU-Austrittsreferendum befür-
unterstützen und einen Politikwechsel in worten. Der Brexit gefährdet aber auch die
Europa zu forcieren. Der Anspruch ist klar Zukunft der EKR, da nach Wegfall der briti-
formuliert: Matteo Salvini, Parteichef der schen Konservativen die polnische PiS als
Lega, will ein »europäisches Bündnis« (»Lega einzige große Mitgliedspartei übrigbleibt.
de Legas«) schaffen, um alle EU-skeptischen, Noch deutlich größer sind die Frage-
nationalkonservativen und rechtspopulisti- zeichen über der Fraktion Europa der Frei-
schen Bewegungen Europas zu einen und heit und der direkten Demokratie (EFDD),
die Grenzen der EU zu schließen. Es ist eine mit 42 Abgeordneten die zweitkleinste
Kampfansage an die bestehende Ordnung Gruppe im EP. Sie wurde erst nach den Wah-
in der Union. len 2014 gebildet und hat kein gemein-
Bisher reicht das Spektrum EU-skepti- sames Wahlprogramm. Von Beginn an war
scher Parteien im europäischen Parteien- sie ein bloßes Zweckbündnis vor allem der
system von moderat EU-kritischen Parteien UKIP und der italienischen Fünf-Sterne-
bis zu Anti-EU-Parteien rechtspopulistischer Bewegung. Der kleinste gemeinsame Nen-
oder gar rechtsextremer Prägung. Diese ner bestand in der populistischen, EU-kriti-
Strömungen sind seit geraumer Zeit auf schen Grundhaltung und im Interesse an
europäischer Ebene repräsentiert. Schon bei den Ressourcen einer Fraktion. Mit dem
den ersten Direktwahlen 1979 wurde eine Brexit Ende März 2019 werden die 19 briti-
Handvoll europaskeptische Abgeordnete ins schen Abgeordneten wegfallen. Damit
EP gewählt, 1984 folgte der damals noch könnten die beteiligten Parteien zumindest
klar rechtsextreme Front National. Da die vor den Europawahlen 2019 keinen Frak-
angestrebte »nationale Internationale« per tionsstatus mehr beanspruchen, weil ein
se einen Widerspruch enthält, ist es den notwendiges Kriterium, nämlich minde-
betreffenden Parteien lange nicht gelungen, stens 25 Abgeordnete, nicht mehr erfüllt
eine stabile europäische Fraktion oder wäre. Ohnehin agiert die zweite Säule der
Partei zu gründen, die mehrere Legislatur- EFDD, die 14 Abgeordneten der Fünf Sterne,
perioden überdauert hätte. Bei den Europa- mehr wie eine eigenständige Fraktion denn
wahlen 2014 stieg die Anzahl EU-skepti- als Teil der EFDD, spätestens seit sie 2017
scher Abgeordneter derart, dass sie drei versuchten, sich der Allianz der Liberalen
separate Fraktionen bilden konnten. und Demokraten für Europa (ALDE) anzu-
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3schließen. In Italien hat die Partei ihre EU- Unter anderem Salvini hat den ungarischen
kritische Haltung zumindest rhetorisch Ministerpräsidenten Viktor Orbán eingela-
abgeschwächt. Die kleineren Parteien in der den, sich einer EU-skeptischen Sammel-
EFDD dürften sich daher spätestens nach fraktion anzuschließen. Seit Ungarns Bei-
den Europawahlen neu orientieren. tritt zur EU ist Orbáns Partei Fidesz Mitglied
Die Fraktion Europa der Nationen und der EVP. Diese versteht sich als proeuro-
der Freiheit (ENF) hat 35 Abgeordnete, päische Partei, die für Werte wie Rechts-
davon knapp die Hälfte aus der französi- staatlichkeit, Demokratie und Stärkung der
schen Nationalen Sammlungsbewegung Zivilgesellschaft eintritt. Orbán dagegen
(Rassemblement National, früher Front verfolgt in Ungarn sein Ziel einer »illibera-
National). Sie ist die kleinste und jüngste len Demokratie« und hat bereits die Presse-
Fraktion im EP. Ihre Mitgliedsparteien freiheit ebenso wie Tätigkeiten ausländi-
zeichnen sich durch strikte Ablehnung der scher Nichtregierungsorganisationen ein-
EU insgesamt und rechtspopulistische bis schränken lassen. Der europäischen Inte-
rechtsextreme Positionen aus. Als einzige gration in ihrer heutigen Form steht Orbán
der drei Fraktionen im EU-kritischen Spek- zunehmend skeptisch gegenüber und
trum ist die ENF nicht direkt vom Brexit kritisiert, es werde zu tief in die nationale
betroffen. Mehrere Vertreter der Parteien Souveränität eingegriffen. Schnittmengen
in dieser Fraktion, etwa der frühere ENF- mit EU-skeptischen, rechtspopulistischen
Abgeordnete und heutige italienische Parteien gibt es besonders in der Migra-
Innenminister Matteo Salvini, wollen die tionspolitik, aber auch bei der wachsenden
ENF nach den Europawahlen zu einer Ablehnung der europäischen Integration,
Sammlungsbewegung EU-kritischer Partei- wie sie derzeit praktiziert wird.
en aufbauen. Bis 2018 hat die EVP-Führung dennoch
Schließlich sitzen im Europäischen auf Dialog gesetzt und ein Rechtsstaats-
Parlament noch 23 fraktionslose Abgeord- verfahren der EU gegen Ungarn abgelehnt.
nete, von denen die meisten dem EU- Im September 2018 votierte jedoch auch
skeptischen Spektrum zuzuordnen sind. die Mehrheit der EVP-Abgeordneten dafür,
Hierzu gehören Mitglieder der deutschen gegen das Land ein solches Verfahren
NPD und der ungarischen Jobbik, die auf- nach Artikel 7 EUV einzuleiten, während
grund ihrer extremen Positionen bisher die EU-skeptischen Fraktionen EKR, EFDD
auch in anderen EU-skeptischen Fraktionen und ENF größtenteils mit der Fidesz ab-
keinen Anschluss gefunden haben. Offen stimmten. Zwar haben EVP-Führung und
ist auch die Zukunft der AfD im EP, die an- Fidesz nach der Abstimmung betont, dass
gesichts ihrer Umfragewerte und der vielen die Partei weder aus der EVP austreten noch
deutschen Parlamentarier auf eine zwei- ausgeschlossen werde. Allerdings kokettier-
stellige Anzahl an Abgeordneten hoffen te Orbán auch mit einem Zusammenschluss
kann. 2014 war die AfD mit sieben Abge- nationalkonservativer Kräfte. Diese Idee
ordneten noch als Teil der moderateren EKR untermauerte er während eines Treffens
gestartet. Nach mehreren parteiinternen mit Lega-Chef Salvini, bei dem sie eine
Spaltungen und dem Ausschluss aus der gemeinsame »Antimigrationsfront« ankün-
EKR ist formell nur noch ein AfD-Mitglied digten und sich im selben ideologischen
im EP vertreten, nämlich in der EFDD- Lager verorteten. Dabei grenzten sie sich
Fraktion. Auch ein Anschluss an die ENF vor allem klar vom französischen Präsiden-
wird in der Partei diskutiert. ten Macron ab. Dieser wiederum attackierte
die EVP und betonte, eine Partei könne
Orbán und die Zukunft der EVP nicht gleichzeitig das politische Zuhause
von Angela Merkel und Viktor Orbán sein.
Doch die Ambitionen auf eine Sammlungs-
bewegung beschränken sich nicht auf die
bestehenden EU-skeptischen Fraktionen:
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4Erwartbare Veränderungen im zuzurechnen sind. Vor und nach der Wahl
EU-skeptischen Spektrum sind intensive Verhandlungen über Frak-
tionsbeitritte und -wechsel zu erwarten. Die
Um eine große EU-kritische Fraktion bilden Ergebnisse dieser Unterredungen hängen
zu können, müssten rechtspopulistische sowohl von politischen als auch von per-
und nationalkonservative Parteien erstens sönlichen Faktoren ab und lassen sich des-
klare Wahlerfolge erzielen und zweitens halb kaum voraussagen – und werden
bereit sein, in einer gemeinsamen Fraktion dennoch erheblichen Einfluss auf die jewei-
zusammenzuarbeiten. ligen Fraktionsgrößen haben.
Knapp acht Monate vor den Wahlen Einiges spricht dafür, dass das EU-skepti-
lassen sich die Erfolgsaussichten der einzel- sche Spektrum nach den Europawahlen auf
nen Parteien mit demoskopischen Mitteln demselben (hohen) Niveau von etwas mehr
nur ungenau einschätzen. Die Europa- als 20 Prozent der Sitze im Europäischen
wahlen mit ihren 27 parallelen nationalen Parlament verharren, sich aber nicht stei-
Wahlen sind besonders anfällig für Abwei- gern würde. Dies mag überraschen, zieht
chungen bei den Umfragen und Änderun- man in Betracht, dass EU-skeptische Parteien
gen bei den Wahlabsichten. Außerdem bei nationalen Wahlen in fast allen EU-
existieren nur für die wenigsten EU-Staaten Mitgliedstaaten seit 2014 an Zustimmung
aussagekräftige Erhebungen zu den Europa- gewonnen haben. Abgesehen davon, dass
wahlen. die Berichterstattung rechtspopulistischen
Erste Prognosen (siehe Grafik) über den Parteien über Gebühr Aufmerksamkeit
möglichen Ausgang der Europawahl zeigen verleiht, lässt sich diese Prognose mit zwei
jedoch, dass ENF und EFDD im Kontrast zu Faktoren erklären:
fast allen anderen Fraktionen an Sitzen hin- Zum einen ist das EU-skeptische Spek-
zugewinnen können. Außer diesen beiden trum proportional am stärksten vom Brexit
könnte nur die ALDE mit einem Zuwachs betroffen, da die bis dato größten beiden
rechnen. Gewiss bieten die Ergebnisse Gruppen EU-skeptischer Abgeordneter
kaum mehr als eine erste vorsichtige Orien- (UKIP und britische Konservative) wegfallen.
tierung. Dennoch ist offensichtlich, dass die Zum anderen haben EU-skeptische Parteien
informelle »große Koalition« zwischen EVP schon bei den Europawahlen 2014 stark
und S&D ihre Parlamentsmehrheit zum zugelegt. Einige konnten hier Erfolge vor-
ersten Mal seit Beginn der direkten Wahlen wegnehmen, die ihnen auf nationaler
im Jahr 1979 verlieren könnte. Ebene erst nach den Europawahlen gelun-
Die EKR würde wegen des Ausscheidens gen sind. Dazu gehören zum Beispiel der
der britischen Konservativen Einbußen hin- französische Front National, die niederlän-
nehmen. Verluste befürchten müssen auch dische PVV oder die Dänische Volkspartei.
EVP, S&D, Die Grünen/Europäische Freie Der neue Zugewinn für EU-skeptische
Allianz (EFA) und die Konföderale Fraktion Parteien bei den Europawahlen 2019 ist
der Vereinten Europäischen Linken/Nordi- daher vor allem bei Parteien zu erwarten,
sche Grüne Linke (GUE/NGL). Ferner dürfte die 2014 noch nicht den Durchbruch
eine Reihe neuer oder bislang fraktionsloser geschafft hatten, in der Zwischenzeit aber
Parteien in das EP einziehen. Dazu gehören auf nationaler Ebene erfolgreich waren.
etwa Emmanuel Macrons Partei La Répu- Dies gilt vor allem für die italienische Lega,
blique en Marche (LREM), die vermutlich die deutsche AfD, die österreichische FPÖ
mit der ALDE-Fraktion zusammenarbeiten und die Schwedendemokraten. Damit kann
wird, und die Partei La France Insoumise im Vergleich zu 2014 eher der fundamental
(LFI) von Jean-Luc Mélenchon, die sich der kritische Teil der EU-Skeptiker mit größeren
GUE/NGL anschließen dürfte. Hinzu kom- Zuwächsen rechnen.
men einige neue Parteien, die überwiegend
dem EU-skeptischen Parteienspektrum
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5Grafik
Prognose: Sitzverteilung im EP nach den Europawahlen 2019
Drei Szenarien bis hin zu fundamentalen EU-Gegnern,
deren erklärtes Ziel es ist, die Union
Allerdings bleibt offen, ob und in welcher abzuschaffen oder zumindest ihr Land
Konstellation sich die Parteien des EU-skep- herauszuführen. Zweitens scheiden sich die
tischen Spektrums im EP zusammenschlie- Geister am Thema Migration. Nord- und
ßen werden. Bisher sind sie, wie gezeigt, mitteleuropäische Populisten etwa lehnen
auf drei kleinere Fraktionen und eine Reihe die Verteilung von Flüchtlingen ab, süd-
Fraktionsloser verteilt, die für sich genom- europäische hingegen verlangen Solidarität
men weniger Einfluss haben als eine größe- von den EU-Partnern. Drittens schließlich
re Fraktion. Aus inhaltlichen Gründen ist krankt eine »nationale Internationale«
eine durchsetzungsfähige Zusammenarbeit daran, dass die Betonung nationaler Identi-
auch in Zukunft wenig wahrscheinlich. Die tät und Souveränität im Widerspruch zu
Abstimmungen im Laufe der letzten Wahl- europäischer Zusammenarbeit steht.
periode offenbaren, dass von den dreien Und dennoch: Aus machtpolitischen
nur die EKR den Status einer handlungs- Gründen besteht ein nicht geringer Anreiz
fähigen Fraktion mit Fraktionsdisziplin für rechtspopulistische und EU-kritische
erreicht hat. Parteien, nach den Europawahlen ihre
Auch perspektivisch bestehen substan- Stärke durch eine möglichst große gemein-
tielle Differenzen zwischen den EU-skepti- same Fraktion symbolisch zu untermauern.
schen Parteien. Dies betrifft vor allem drei Gleichzeitig gäbe diese ihnen noch mehr
ihrer politischen Kernthemen. Erstens ver- Möglichkeiten, Rederechte und Ressourcen
treten die Parteien recht unterschiedliche im EP zu fordern.
Einstellungen zur EU. Das Spektrum reicht Aus dieser Gemengelage lassen sich drei
nach wie vor von moderaten EU-Skeptikern, Szenarien für die künftige Entwicklung des
welche die Tiefe der Integration ablehnen, rechtspopulistischen und EU-skeptischen
aber die Union an sich beibehalten wollen, Spektrums nach den Wahlen 2019 zeich-
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6nen: Fast auszuschließen ist Szenario A, stens sieben Mitgliedstaaten aufzuweisen.
eine Fortsetzung des Status quo mit den Mit Parteien wie der AfD, dem französischen
drei aufgesplitterten Fraktionen. Denn vor Rassemblement National, der FPÖ und der
allem die EFDD war seit ihrer Gründung PVV, die unterdessen im nationalen politi-
nicht mehr als ein Zweckbündnis und hat schen System fest verankert sind, hätte die
auch die wenigen übrigen Gemeinsamkei- ENF eine deutlich stabilere Grundzusam-
ten im Laufe der Legislaturperiode verloren. mensetzung als bisher. Allerdings müssten
Ohne UKIP als tragende Säule werden sich in einer solchen Fraktion zwischen den
die verbleibenden Parteien eher anderen nunmehr starken Parteien aus Italien,
Fraktionen zuwenden. Eine Schlüsselrolle Österreich, Frankreich und Deutschland ein
wird die Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien Machtausgleich und gemeinsame politische
spielen. Als zweiter Grundpfeiler neben Ziele gefunden werden. Für die teilweise
UKIP hat sie sich schon in der laufenden stark von Einzelpersonen dominierten
Legislaturperiode von der EFDD und zum Parteien in Italien und Frankreich oder die
Teil von früherer Anti-EU/Euro-Rhetorik durch unterschiedliche Flügel geprägten
distanziert. 2019 könnte sie die Anzahl Parteien wie die AfD könnte das eine große
ihrer Abgeordneten noch einmal erhöhen. Herausforderung werden.
In Szenario B würde sich das EU-skepti- Die EKR müsste sich ohne britische
sche Lager auf zwei Fraktionen entlang der Konservative zwar neu konstituieren und
Achse der EU-Skepsis konzentrieren. Dem- wäre in Zukunft stärker von mittel- und
nach würde sich die EFDD auflösen, die osteuropäischen Nationalkonservativen
EKR die eher moderat EU-skeptischen, wirt- bestimmt. Doch die Fraktion könnte weiter
schaftsliberalen Parteien aufnehmen und ihre Zwitterrolle spielen, in der sie bei
die ENF die fundamental EU-skeptischen, Wirtschaftsfragen durchaus mit EVP und
globalisierungskritischen Parteien in ihren ALDE kooperiert, bei Fragen der Europa-
Reihen versammeln. Szenarien B und C politik und konservativer Werte jedoch
setzen zudem voraus, dass eine Zusammen- eher eine oppositionelle Haltung einnimmt.
arbeit von Macrons LREM mit der ALDE Für beide Fraktionen böte sich außerdem
sowie Mélenchons LFI mit der europäischen Erweiterungspotential in Gestalt fraktions-
Linken (GUE/NGL) zustande kommt. loser Abgeordneter und neuer oder noch
Nach bisherigen Prognosen wären etwa nicht fraktionsgebundener Parteien. Span-
46 EFDD-Sitze neu aufzuteilen. Das beträfe nend bleibt deshalb auch über die Verkün-
vor allem die AfD und die Fünf-Sterne- dung des Ergebnisses hinaus, welches Lager
Bewegung. Zurzeit scheint es am plausibels- in diesem Szenario die größere Fraktion
ten, dass sich die AfD der ENF anschließt. bilden könnte, EKR oder ENF. Angesichts
Fünf Sterne hingegen hat ihre EU-skepti- der aktuellen Prognosen und der Vielfalt
schen Positionen zuletzt abgeschwächt und rechter Parteien scheint Szenario B derzeit
angekündigt, mit den Europawahlen 2019 das plausibelste zu sein.
eine neue eigene Fraktion zu gründen. In Szenario C schließlich gelänge es den
Noch ist aber völlig unklar, ob und mit wel- beteiligten Parteien, nach dem erklärten
chen Partnern dies gelingen kann. Scheitert Ziel Salvinis oder Bannons eine EU-kritische
das Vorhaben, würde sich Fünf Sterne wohl Sammelfraktion zu bilden, die alle Parteien
eher für die Fraktionslosigkeit entscheiden, des EU-skeptischen Spektrums in sich ver-
statt gemeinsam mit Salvini in der ENF oder eint. Nach Salvinis Wunsch soll diese nicht
stark wertkonservativen Parteien wie der nur die Parteien von EKR, EFDD und ENF
polnischen PiS in der EKR eine Fraktion zu umfassen, sondern auch die Unterstützung
bilden. Daher ist Fünf Sterne in den Sze- vom rechten Flügel der EVP gewinnen, vor
narien B und C noch den Fraktionslosen allem diejenige Viktor Orbáns.
zugeordnet. Eine solche Sammlungsbewegung hätte
Die ENF dürfte die notwendige Bedin- durchaus das Potential, zur größten oder
gung erfüllen, 25 Abgeordnete aus minde- zweitgrößten Fraktion im EP zu werden.
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7Dafür müssten aber die gravierenden die größte Fraktion bildet: das europaskep-
politischen Unterschiede dieser Parteien tische, aber eher konstruktive oder das
überbrückt werden. Nötig wäre auch ein rechtspopulistische um Akteure wie Salvini
Tabubruch, was die Zusammenarbeit oder Marine Le Pen.
zwischen dem bisherigen rechten Flügel der Vom Ausmaß der Zersplitterung im EU-
EVP, der EKR und den harten EU-Gegnern skeptischen Lager wird zudem nicht nur
angeht. Völlig ausgeschlossen ist dieses abhängen, wie viel Einfluss seine Anhänger
Szenario zwar nicht, aber wahrscheinlicher auf die Neubesetzung des Amtes des Kom-
ist eine erstarkte ENF, die schrittweise ver- missionspräsidenten und des Europäischen
sucht, Parteien von EKR oder EVP abzuwer- Rates ausüben können. Es wird auch ent-
© Stiftung Wissenschaft ben. Interessant wird dabei auch sein, ob scheidend dafür sein, inwieweit EU-skepti-
und Politik, 2018 als klar rechtsextrem geltende Parteien hof- sche Parteien und Abgeordnete Politikfelder
Alle Rechte vorbehalten fähig gemacht werden, indem ihre bis wie etwa Migrationspolitik mitgestalten
dahin fraktionslosen Abgeordneten Mitglie- können.
Das Aktuell gibt die
der der Sammelfraktion werden. Wie einig oder uneinig die EU-Skeptiker
Auffassung der Autoren
wieder. sein werden, wird auch grundsätzliche
Folgen für das künftige Zusammenspiel
In der Online-Version dieser Ausblick zwischen den europäischen Institutionen
Publikation sind Verweise haben. Erstarken die europaskeptischen
auf SWP-Schriften und
Die Szenarien lassen erste Schlüsse darüber und rechtspopulistischen Kräfte im EP,
wichtige Quellen anklickbar.
zu, was bei der Europawahl 2019 auf dem werden die Zweifel wachsen, ob das Parla-
SWP-Aktuells werden intern Spiel steht. Bleibt das EU-skeptische Lager ment weiter als verlässlicher Motor des
einem Begutachtungsverfah- so fragmentiert wie bisher, dürfte sich europäischen Integrationsprozesses gelten
ren, einem Faktencheck und in den Arbeitsabläufen des Parlaments kann. Mehrheiten für föderale Reform-
einem Lektorat unterzogen. nicht allzu viel ändern. Eine Sammlungs- prozesse werden in der nächsten Wahl-
Weitere Informationen
bewegung dagegen hätte sogar Chancen, periode noch schwieriger zu finden sein
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP- die größte Fraktion im EP zu stellen. Weil als zuvor.
Website unter https://www. aber die inhaltlichen Ausrichtungen der Was den Integrationsprozess als Ganzes
swp-berlin.org/ueber-uns/ EU-skeptischen Parteien stark divergieren, betrifft, zeichnet sich ab, dass die bevor-
qualitaetssicherung/ scheint es momentan realistischer, dass sich stehende Europawahl ein Schritt zur grund-
zwei Fraktionen entlang der Achse der EU- legenden Neuausrichtung des europäischen
SWP
Stiftung Wissenschaft und
Skepsis bilden und die in der EFDD versam- Integrationsprojektes sein könnte. Nach
Politik melten Parteien unter sich aufteilen werden. Jahren der Krise wird es im Wahlkampf in
Deutsches Institut für Ausschlaggebend sind die Verhandlun- erster Linie um das Selbstverständnis der
Internationale Politik und gen über künftige Fraktionszugehörigkeiten EU gehen. Aus der Niederlage Marine Le
Sicherheit nach der Wahl – nicht nur zwischen den Pens bei den französischen Präsidentschafts-
jetzt schon im Parlament vertretenen Par- wahlen 2017 haben viele auch fundamental
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin teien, sondern gerade zwischen den Neu- EU-skeptische Parteien den Schluss gezogen,
Telefon +49 30 880 07-0 mitgliedern. Das Wahlergebnis allein wird nicht mehr die EU an sich oder die Mitglied-
Fax +49 30 880 07-100 kaum Aufschluss über die Mehrheits- schaft des jeweiligen Landes in Frage zu
www.swp-berlin.org verhältnisse in der nächsten Wahlperiode stellen. Stattdessen fordern sie nun, die
swp@swp-berlin.org
geben können. Vielmehr ist davon auszu- Wertebasis der EU elementar zu verändern.
ISSN 1611-6364
gehen, dass sich in deren Verlauf die Frak- Quer zu vielen politischen Herausforderun-
tionen immer wieder verändern werden gen stellt sich deshalb immer drängender
und versuchen, weitere Abgeordnete in ihre die Frage, ob die europäische Integration
Reihen aufzunehmen. weiterhin einem kosmopolitischen Ideal
Vertraut man bisherigen Prognosen, folgen oder auf einen Kurs der Abschottung
dürfte über die Wahlperiode hinweg auch einschwenken wird.
relevant bleiben, welches der beiden Lager
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter (a.i.), Felix Schenuit Forschungsassistent der Forschungsgruppe EU / Europa.
SWP-Aktuell 58
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