Schengen-Raum Johannes Kohls

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Schengen-Raum

Johannes Kohls

   Zusammenfassung
   Der Schengen-Raum gilt als einer der wichtigsten Meilensteine im europäischen
   Integrationsprozess, existierte jedoch bis zum Inkrafttreten des Vertrags von
   Amsterdam am 1. Mai 1999 außerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen
   Union. Er basiert auf dem Schengener Übereinkommen (1985), das dem Ziel
   diente, den Verkehr von Gütern, Dienstleistungen und Personen innerhalb der
   europäischen Grenzen zu erleichtern. Mit der Unterzeichnung des Schengener
   Durchführungsübereinkommens am 19. Juni 1990 wurden die Binnengrenzkon-
   trollen zwischen den Schengen-Staaten endgültig aufgehoben und die Kontrollen
   an den Außengrenzen (zwischen einem Schengen- und einem Nicht-Schengen-
   Staat) verstärkt. Heute umfasst der Schengen-Raum 26 europäische Staaten. Die
   Entscheidungskrise im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem in den Jahren
   2015 und 2016 offenbarte grundlegende Gestaltungsfehler und damit den
   Reformbedarf des Schengen-Systems.

   Schlüsselwörter
   Außengrenzen · Binnengrenzen · Grenzkontrollen · Personenfreizügigkeit ·
   Schengener Durchführungsübereinkommen · Schengener Übereinkommen

   Vertragsgrundlage: Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europä-
   ischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand

                                                                          (Fortsetzung)

J. Kohls (*)
Institut für Europäische Politik, Berlin, Deutschland
E-Mail: Johannes.Kohls@iep-berlin.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019              1
W. Weidenfeld et al. (Hrsg.), Europa von A bis Z,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-24456-9_104-1
2                                                                            J. Kohls

       Ziele: Erleichterung der Personenfreizügigkeit und des Verkehrs von Gü-
    tern und Dienstleistungen, Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und
    Ordnung
       Instrumente: Aufhebung der Binnengrenzkontrollen, Verstärkung der
    Kontrollen an den gemeinsamen Außengrenzen, Vereinheitlichung der Aus-
    stellungsverfahren von Visa, Einrichtung des Schengener Informationssys-
    tems
       Internet: Europäische Kommission: https://ec.europa.eu/home-affairs/
    what-we-do/policies/borders-and-visas/schengen_en,      https://ec.europa.eu/
    home-affairs/what-we-do/policies/borders-and-visas/schengen-information-
    system_en; Frontex: https://frontex.europa.eu/

Die Kernidee und die Gründung des Schengen-Raums

Bereits im Jahr 1984 einigten sich Frankreich und Deutschland auf eine intergou-
vernementale Initiative, welche die Grenzkontrollen zwischen den beiden Staaten
aufheben sollte. Am 14. Juni 1985 unterzeichneten Frankreich und Deutschland
schließlich mit den Benelux-Staaten ein entsprechendes Abkommen in Schengen
(Luxemburg), das Schengener Übereinkommen. Dieses formulierte ambitionierte
Ziele zum schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, um
den BürgerInnen der fünf Staaten Freizügigkeit im Schengen-Raum zu ermöglichen.
Zudem sollten durch grenzüberschreitende Kooperation der Polizeiarbeit die öffent-
liche Ordnung und Sicherheit garantiert sowie der Drogenhandel und die illegale
Immigration bekämpft werden.

Das Schengener Durchführungsübereinkommen

Am 19. Juni 1990 wurde das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkom-
mens von Schengen (Schengener Durchführungsübereinkommen) unterzeichnet, in
dem die endgültige Aufhebung der Binnengrenzkontrollen beschlossen wurde. Im
Gegenzug wurden die Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt, das Verfahren zur
Ausstellung von Visa vereinheitlicht sowie das Schengener Informationssystem
(SIS) eingeführt, um einen einheitlichen Raum der Sicherheit und des Rechts zu
garantieren. Das SIS wie auch der Nachfolger SIS II registrieren v. a. zu Fahndungs-
zwecken Personen- und Sachdaten für alle Strafverfolgungsbehörden im gesamten
Schengen-Raum. Dies betrifft u. a. Informationen über an schweren Verbrechen
mutmaßlich Beteiligte, aber auch Vermisstenausschreibungen. Darüber hinaus wur-
den die polizeiliche Kooperation an den Binnengrenzen sowie das gemeinsame
Vorgehen gegen den Drogenhandel verbessert. Das Durchführungsübereinkommen
trat am 1. September 1993 in Kraft. Allerdings wurde der Schengen-Raum erst am
26. März 1995 Wirklichkeit, als alle rechtlichen und technischen Voraussetzungen
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für die praktische Anwendung (z. B. Einrichtung von Datenbanken und Daten-
schutzbehörden) geschaffen waren.

Die territoriale Erweiterung des Schengen-Raums

Der Schengen-Raum wurde nach dem Inkrafttreten des Durchführungsübereinkom-
mens beträchtlich erweitert. Bereits am 26. Februar 1992 hatte Spanien das Durch-
führungsübereinkommen ratifiziert, Portugal folgte am 25. November 1993. Bis
2007 traten mit Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Lettland,
Litauen, Malta, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spa-
nien, der Tschechischen Republik und Ungarn 17 weitere EU-Mitgliedstaaten dem
Schengen-Raum bei. Während die EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Großbritannien,
Irland, Kroatien, Rumänien und Zypern nicht Teil des Schengen-Raumes sind,
gehören mit Liechtenstein, Island, Norwegen und der Schweiz vier Nicht-EU-
Staaten dazu, sodass der Schengen-Raum insgesamt aus 26 Staaten besteht. Der
Beitritt Islands und Norwegens geht auf die bereits 1954 geschlossene Nordische
Passunion zurück, die u. a. die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen für Däne-
mark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden vorsieht. Bulgarien, Kroatien und
Rumänien fordern seit ihrem EU-Beitritt die Aufnahme in den Schengen-Raum,
allerdings wird diese aufgrund sicherheitspolitischer Bedenken seit Jahren verscho-
ben. Die territoriale Erweiterung zeigt, dass der Schengen-Raum ein Prototyp der
differenzierten Integration ist, bei dem einzelne Mitgliedstaaten der EU außerhalb
der Verträge vorangehen und anschließend eine Aufnahme des Rechtsbestandes in
die EU-Verträge sowie der Beitritt (fast) aller Mitgliedstaaten folgen.

Inhaltliche Ausweitung und aktuelle Rechtslage

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999 wurde der
Schengen-Besitzstand in den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft eingeglie-
dert. Im Zuge der EU-Osterweiterung 2004 wurde die Gründung der Europäischen
Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) beschlossen, um den Außen-
grenzschutz effektiver zu gestalten. Mit den Erweiterungen bis 2007 gewann dieser
weiter an Bedeutung. So ist in Art. 3 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische
Union der freie Personenverkehr festgelegt, allerdings mit explizitem Verweis auf
geeignete Maßnahmen der Kontrolle an den Außengrenzen. In den folgenden Jahren
deutete sich sodann eine Einschränkung des freien Personenverkehrs im Schengen-
Raum an. Mit dem Ausbruch der tunesischen Jasmin-Revolution im Februar 2011
reisten vermehrt tunesische Geflüchtete über das Mittelmeer vor allem nach Italien
und Malta. Der Umgang mit diesen sorgte im April und Mai 2011 für Konfliktpo-
tenzial zwischen den europäischen Mitgliedstaaten. Daher entschloss sich eine
Mehrheit der EU-InnenministerInnen auf einer Sondersitzung am 12. Mai 2011
dazu, das Schengener Übereinkommen zu flexibilisieren und damit eine zeitlich
begrenzte Wiedereinführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen zu ermög-
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lichen. Seitdem erleichtern verschiedene Verordnungen die temporäre Wiederein-
führung von Binnengrenzkontrollen. Insbesondere die Verordnung (EU) 2016/399
erlaubt einem Mitgliedstaat bei außergewöhnlichen Umständen zum Schutz der
inneren Sicherheit die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen für einen
begrenzten Zeitraum (Schengener Grenzkodex). Dieser Zeitraum kann sich von
30 Tagen bis zu einer Höchstdauer von zwei Jahren erstrecken.

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Die Entscheidungskrise im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) in den
Jahren 2015 und 2016 ging u. a. auf Gestaltungsfehler des Schengen-Systems
zurück. Die 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin-III-Verord-
nung) stellt dabei ein zentrales Instrument des GEAS dar und legt die Kriterien und
Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates fest, der für die Prüfung eines
Asylantrags zuständig ist. Das Grundprinzip des Dublin-Verfahrens besagt, dass
die Zuständigkeit bei demjenigen Mitgliedstaat liegt, über den der oder die Asylsu-
chende zuerst den Schengen-Raum betreten hat. In der Praxis bedeutet dies, dass
lediglich wenige Mitgliedstaaten an den Außengrenzen des Schengen-Raums für die
weitaus meisten Asylanträge zuständig sind. So fehlt es dem Schengen-Raum bis
heute an Mechanismen zur Absicherung gegen das Risiko eines plötzlichen Anstiegs
der Flüchtlingszahlen, der die Kapazitäten eines Mitgliedstaates an der Außengrenze
übersteigt. Diese Defizite bedrohen die Existenz des Schengen-Raums, insbesondere
da aktuell mit Dänemark, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Österreich und
Schweden sechs Schengen-Staaten temporäre Binnengrenzkontrollen durchführen.
In Deutschland wurden diese zuletzt abermals bis zum 12. Mai 2020 verlängert. Die
Abgeordneten des Europäischen Parlaments kritisierten im Mai 2018 diese Binnen-
grenzkontrollen, die sie angesichts ihrer Dauer, Notwendigkeit und Verhältnismä-
ßigkeit als unrechtmäßig einschätzten. Der EU-Kommissar für Migration, Inneres
und Bürgerschaft, Dimitris Avramopoulos, forderte Ende Dezember 2018 ebenfalls
die vollständige Aufhebung der vorübergehenden Binnengrenzkontrollen. Anstelle
dieser den Schengen-Raum gefährdenden Maßnahmen fordern die Abgeordneten
des Europäischen Parlaments u. a. eine Reform des SIS, welche die Mitgliedstaaten
zum Austausch von Informationen über Rückkehrentscheidungen verpflichten soll.
Die Forderung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im März
2019 nach einer weitgehenden Reform des Schengen-Raums, u. a. mit dem Ziel
einer gemeinsamen Grenzpolizei, einer europäischen Asylbehörde und eines Euro-
päischen Rats für innere Sicherheit, spiegelt dabei die komplexe Interessenlage
innerhalb der EU wider.
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Weiterführende Literatur und Dokumente
Ademmer, Esther/Barsbai, Toman/Lücke, Matthias/Stöhr, Tobias (2015): 30 Years of Schengen:
   Internal blessing, external curse?, Kiel Institute for the World Economy: Kiel Policy Brief
   Nr. 88.
Felbermayr, Gabriel/Gröschl, Jasmin/Steinwachs, Thomas (2018): The Trade Effects of Border
   Controls. Evidence from the European Schengen Agreement, in: Journal of Common Market
   Studies, Jg. 56, Nr. 2, S. 335–351.
Pudlat, Andreas (2011): Der lange Weg zum Schengen-Raum. Ein Prozess im Vier-Phasen-Modell,
   in: Journal of European Integration History, Jg. 17, Nr. 2, S. 303–326.
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985
   zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik
   Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrol-
   len an den gemeinsamen Grenzen, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L
   239 vom 22. September 2000, S. 19–62.
Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bun-
   desrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau
   der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften,
   Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 13–18.
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