Schiller und die Religion

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Schiller und die Religion
                  Von Dr. Matthias Schulze-Bünte (Universität Frankfurt)

            (Vortrag auf der Akademietagung des Bistums Mainz am 29.10.2005)

Guten Tag, meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute zu Ihnen über Schiller und die Religion, über Schillers religiöse
Bindungen sprechen zu dürfen. Das Thema wird durch die Herkunft Schillers und durch
vielfältige Textzeugnisse nahe gelegt. Die vielleicht deutlichste Äußerung Schillers zur
Bedeutung des Christentums gleich zu Beginn:

„Die christliche Religion hat an der gegenwärtigen Gestalt der Welt einen so vielfältigen
Antheil, dasß ihre Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltgeschichte wird: aber
weder in der Zeit , wo sie sich zeigte, noch in dem Volke, bey dem sie aufkam, liegt (aus
Mangel an Quellen) ein befriedigender Erklärungsgrund ihrer Erscheinung.“

Es soll verfolgt werden, auf welche Weise sich Schiller in seinen verschiedenen Lebens- und
Schaffensperioden diesem „wichtigsten Faktum für die Weltgeschichte“ immer wieder neu
angenähert hat. Dabei geht es mir nicht so sehr um die Analyse seiner persönlichen
Glaubensüberzeugung. Interessanterweise findet sich im Gesamtwerk weder eine historische
noch eine philosophische Reflexion auf die Person Jesu Christi. Es wird sich aber zeigen, dass
die Dichtkunst in Schillers Sinn eine enge Verbindung zu religiöser Letztbegründung eingeht,
Darüber hinaus wird zu sehen sein, inwieweit die religiöse Praxis für Schiller einen Fixpunkt
menschlicher Freiheit markiert. Folgende Gliederung wird durch das Thema nahe gelegt:

1. Elternhaus und pietistische Ursprünge
2. Die Begründung der Dichtung vor der Kantlektüre
2.1. Die Kritik der natürlichen Religion
2.2. Die Kritik des Katholizismus
3. Schillers ästhetische Initiative: Was ist die Aufgabe der Kunst?
3.1. Schillers kritische Anthropologie
3.2. Die Begründung menschlicher Praxis: Maria Stuart

Zu 1. Elternhaus und pietistische Ursprünge

Schillers Elternhaus ist streng gläubig, die Mutter und der zunächst häufig abwesende Vater
erziehen den Jungen im Geiste des Pietismus. Tägliche Hausgebete, die der Vater sogar
eigens dichtet, sind Rituale des Familienlebens. Der Alltag der Familie wird durch die
Religion bestimmt. Schillers frühe Jugend ist so von einem intensiven Kontakt zum
christlichen Ritus und zu religiösen Fragestellungen gekennzeichnet.
Im Alter von sechs Jahren beginnt der Junge, Latein beim Dorfpfarrer Moser in Lorch zu
lernen, einem Mann, der den Jungen sehr beeindruckt haben muss. Jedenfalls gibt Schiller
später nicht nur dem furchtlosen Pfarrer in seinen Räubern den Namen dieses Dorfpfarrers.
Die Schwester Schillers Christophine berichtet auch, wie stark der Pfarrer und seine
Predigten den Jungen prägen. So verkleidet er sich als Pfarrer.
„Mutter und Schwester mussten dem Knaben eine schwarze Schürze umbinden und ein
Käppchen aufsetzen. Dabei sah er sehr ernsthaft aus. Was zugegen war, musste zuhören, und
wenn jemand lachte, wurde er unwillig, lief fort und ließ sich so bald nicht wieder sehen.“

Die kindliche Identifikation mit der christlichen Lehre wirkt sich auch auf den übrigen
Familienalltag aus. Sie geht so weit, dass der junge Schiller Schuhschnallen, Bücher und
Kleidungsstücke aus dem Haushalt der Familie an Bedürftige wegschenkt. Das geht solange
gut, bis er auch das Bettzeug der Familie weggeben will, was ihm der Vater streng verbietet.
Das wörtliche Verständnis des Christentums legt sich daraufhin bei dem Jungen ein wenig.

Aufgrund der tief greifenden religiösen Prägung in der Kindheit ist es nicht verwunderlich,
dass Schiller, darin von den Eltern unterstützt, den Wunsch äußert, ein Theologiestudium
aufnehmen zu wollen: Er will Pfarrer werden. Doch der Herzog Karl Eugen von
Württemberg, der den Jungen 1773 in seine neu gegründete Akademie, die spätere Hohe
Karlschule aufnimmt, hat andere Pläne: Er nötigt den Jungen zuerst zu einem ungeliebten
Jurastudium und nachdem der Lehrplan der Hohen Karlschule um dieses Fach erweitert wird,
schließlich zum Studium der Medizin. Schiller schließt dieses Studium auch mit zwei
Examensarbeiten ab und ist nach Beendigung seiner Studien auch eine Weile ohne
sonderlichen Erfolg als Arzt tätig. Landesherrliches Verwertbarkeitsdenken, nicht persönliche
Neigung sind für die Berufswahl verantwortlich.

Neben seiner Berufsausbildung aber entwickelt Schiller eine dichterische Begabung, wobei er
den Sinn seiner dichterischen Aufgabe zunächst religiös begründet. Die frühe religiöse
Neigung des noch kindlichen Dichters zeigt sich an den Titeln seiner zwei ersten Stücke, die
allerdings nicht überliefert sind, „Die Christen“ und „Absalom“. Der früheste
Begründungsversuch für Schillers Dichtung schreibt sich aus der pietistischen Geisteswelt
seines Elterhauses und seiner Umgebung her.

Praktisch tätige und lebendige Frömmigkeit in der Gemeinde kennzeichnen den Pietismus. Er
ist eine Glaubensausprägung der lutherischen Tradition. Damit wendet sich der Pietismus
insbesondere gegen eine immer stärker institutionalisierte lutherische Orthodoxie, die im
Sinne des cuius regio eius religio (ggf. erläutern: der Landesherr bestimmt das Bekenntnis
seiner Untertanen, nicht der gläubige Gewissensentscheid) politische Bündnisse mit den
evangelischen Landesherren eingeht und damit von politischem Kaküldenken und
dogmatischer Erstarrung bedroht ist. Neben dem Insistieren auf der Glaubensgültigkeit des
Schriftworts betont der Pietismus die Individualität des Gläubigen: Er muss sich durch das
Wort Gottes persönlich in seinem Innersten angesprochen und zum neuen Adam geläutert
fühlen. Die Gefühlssphäre und die Innerlichkeit des Einzelnen werden damit zum Ort der
Gottbegegnung. Der Pietismus baut somit auf der mystischen Tradition des deutschen
Geisteslebens auf.

Vor dem Hintergrund eines pietistisch geprägten Alltags in Kindheit und Jugend ist die frühe
dichterische Selbstbegründung des Jugendlichen wenig verwunderlich. Das erste von Schiller
veröffentlichte Gedicht „Der Abend“ begreift 1776 die Dichtung als Gotteslob und
Schöpfungsverherrlichung. Ganz im Geiste des Pietismus versteht sich der junge Dichter als
Inspirierter, der sich in seinem Inneren und durch das „höhere Gefühl“ von Gott persönlich
angesprochen weiß und sich aufgrund dessen durch „die Begeisterung“ zur Aufgabe des
Gotteslobs berufen sieht. Folgerichtig hat die Dichtung primär die Aufgabe, den Menschen
Gott nahe zu bringen.

„Jetzt schwillt der Geist zu höheren Gesängen,
lass strömen sie o Herr aus höherem Gefühl.
Laß die Begeisterung die kühnen Flügel schwingen
Zu dir, zu dir, des hohn Fluges Ziel.“

Der weitere Bildungsgang Schillers wird allerdings durch eine fortschreitende Abkehr von der
pietistischen Gefühls- und Geisteswelt seines Elternhauses gekennzeichnet. Der eher naive
und gefühlsbetonte Zugriff auf die Dichtkunst weicht einer reflektierteren und rationaleren
Begründung der dichterischen Aufgabe. Auf der Hohen Karlschule begegnet Schiller den
philosophischen Gedankenentwürfen seines Zeitalters, die ihm durch seinen Lehrer Jacob
Friedrich Abel vermittelt werden. Später nach der Flucht aus Württemberg trifft er auf den
Hochgebildeten Christian Gottlieb Körner. Ein frühes Zeugnis dieser Begegnung ist der
Briefwechsel zwischen Julius und Raffael.

Zu 2. Die Begründung der Dichtung vor der Kantlektüre

Mit Leibniz in der Tradition des Johannesevangeliums und des Neuplatonismus verwurzelt,
begründet Schiller die Aufgabe des Dichters nun folgendermaßen: Die Welt wird als
Schöpfung Gottes aufgefasst. Durch den Schöpfungsakt partizipiert sie am Wesen Gottes. Der
Schöpfungsplan erschließt sich dem Menschen aber nicht so wie die Erkenntnis des
Naturgeschehens über rationale Erkenntnis und ihre empirische Überprüfung. Gott ist kein
Gegenstand der Welterfahrung. Von ihm gibt es demnach kein Wissen in einem
naturwissenschaftlichen Sinne. Hypothesen über Gott sind auch nicht wie
naturwissenschaftliche Erkenntnisse empirisch überprüfbar.
Dennoch muss es möglich sein, von den innerweltlichen Verhältnissen auf den Schöpfer und
seinen Schöpfungsplan zu schließen: Aufgrund der Schöpfung erlauben die Verhältnisse in
der Natur zwar kein gesichertes Wissen über Gott und sein Wesen. Gleichwohl muss die
Annahme berechtigt sein, dass das Naturgeschehen qua Schöpfung am Wesen Gottes teilhat
und diesem Wesen und seiner Planung ähnelt. Da die Natur als Schöpfung am Sein Gottes
teilhat, sind ihre Gesetze die Chiffern, die spekulativ zur Gotteserkenntnis führen: Die Welt
ist Schöpfung Gottes und ihm darum ähnlich. Diese Ähnlichkeit zu erkennen und zu
formulieren, wird zur philosophisch begründeten Aufgabe des Dichters. Da die Bildung von
Seinsanalogien in die Domäne des Dichters fällt, begründet sich sein Schaffen theologisch.
Bereits Schillers frühe Naturdichtung und Gedankenlyrik ist darum auch nicht im
spinozistischen Sinne als unmittelbare Naturvergötterung zu deuten. Als Beispiel kann hier
das frühe Gedicht „An die Sonne“ erwähnt werden:

„Preis dir, die du dorten heraufstrahlst, Tochter des Himmels!
Preis dem lieblichen Glanz
Deines Lächelns, der alles begrüset und alles erfreut! (...)
Alle wesen taumeln wie am Busen der Wonne:
Seelig die ganze Natur!
Und dieß alles o Sonn‘ entquoll deiner himmlischen Liebe.
Vater der Heiligen vergib, daß ich auf mein Angesicht falle
Und anbete dein Werk! – (...)“

Ähnlich wie das lebenspendende Wesen der Sonne sich auf die Geschöpfe auswirkt, muss es
demnach mit den Wirkungen der göttlichen Liebe auf die Schöpfung bestellt sein, an der die
Sonne dadurch teilhat, dass sie als „Werk“ Bestandteil dieser Schöpfung ist.

2.1. Die Kritik der natürlichen Religion
Die darauf gründende Kritik Schillers gilt zunächst verstandesabstrakten Spielarten der so
genannten natürlichen Religion, insbesondere dem Deismus: Weil der gewalttätige Kampf der
Konfessionen in den europäischen Glaubenskriegen so schrecklich gewütet hat, begegnet die
natürliche Religion allen geoffenbarten Religionen mit großer Skepsis. Im Rekurs auf die
Erfolge der Naturwissenschaften nimmt der Deismus an, dass sich der Organisationsplan des
Universums auf dem Wege der Naturgesetze dem menschlichen Verstand kundgibt. Damit
wird das göttliche Planungsdenken allen Menschen ganz unabhängig von ihrer Konfession
oder Religion zugänglich. Je deutlicher der göttliche Plan verstandesgemäß erkannt und
durchdrungen ist, umso erfolgreicher wird der Mensch auch in moralischer und
gesellschaftlicher Selbstorganisation voranschreiten. Da der Überlieferungsbestand der
christlichen Offenbarungsreligion sich solcher Verstandesgesetzmäßigkeit nicht fügt, ist die
christliche Religion für den Deismus nicht glaubwürdig.

Schiller befürchtet angesichts des Deismus, dass ein derartiges verstandesabstraktes Denken,
den Religions- und Gottesbegriff der christlichen Religionsgemeinschaften folgenreich
beeinträchtigen kann: Dies zeigt Schiller in seinem berühmten Gedicht „Die Götter
Griechenlandes“. Die Abstraktionen einer auf das Verstandesdenken reduzierten
menschlichen Selbstauffassung führen nicht nur zur „Entgötterung“ und Seelenlosigkeit der
Natur, die damit zum Opfer menschlicher Ausbeutung degeneriert. Auch ein Gott dem
sinnliche Attribute fehlen, weil er zum „Werk (und Schöpfer) des Verstandes“ geworden ist,
entzieht sich der menschlichen Erfahrung. Schiller spricht einer solchermaßen reduzierten
Gottesvorstellung glaubenskonstitutive Kraft ab: Ein Gott, dem die sinnliche Anschaulichkeit
genommen wird, kann vom Menschen nicht erfahren werden. Und ein Gott, der nicht erfahren
werden kann, ist nicht glaubwürdig. Dem deistisch reduzierten Gottesbild stellt Schiller die
sinnliche Anschaulichkeit der griechischen Mythologie entgegen.

„Wo jezt nur, wie unsre Weisen sagen,
seelenlos ein Feuerball sich dreht,
lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.
Diese Höhen füllten Oreaden,
eine Dryas starb in jenem Baum,
aus den Urnen lieblicher Najaden
sprang der Ströme Silberschaum.“

Nach Schillers Auffassung des antiken Mythos ist die gesamte griechische Lebenswelt
von der Unmittelbarkeit und Erfahrbarkeit des Göttlichen gekennzeichnet: Selbst einzelne
Bäume werden von göttlichen Wesen bewohnt und darum von Menschen verehrt. So zeigt
sich an den griechischen Mythen, dass jeder Bereich des menschlichen Lebens und die
gesamte Natur in eine göttliche Sphäre transferiert werden. Die sinnliche Anschaulichkeit des
Göttlichen, deren Fehlen Schiller an einem verstandesabstrakten Gottesbegriff so sehr
beklagt, ist hier bis in Phänomene des alltäglichen Lebens hinein eingelöst.

An dieser Stelle muss ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Schiller will nicht
künstlich naiv die Glaubensinhalte des antiken Mythos an die Stelle des christlichen Glaubens
setzen. Der antike Mythos ist für den aufgeklärten Gebildeten kein glaubwürdiger Gehalt
mehr. Aber Schiller hält die christlichen Glaubensgemeinschaften für gut beraten, wenn sie
sich nicht die Verstandesabstraktionen der Moderne zu eigen machen, sondern sich im Sinne
eines Korrektivs auf die Momente des sinnlichen Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit
zurückbesinnen, die dem Christentum wesensgemäß sind (Inkarnation).
„(…) Religion wirkt im Ganzen mehr auf den sinnlichen Theil des Volks – sie wirkt vielleicht
durch das Sinnliche allein so unfehlbar. Ihre Kraft ist dahin, wenn wir ihr dieses nehmen.“

2.2. Schillers Kritik des Katholizismus

Schillers kritische Sicht des Katholizismus ist eindeutig bestimmbar und durch vielfältige
Äußerungen, insbesondere innerhalb seiner historischen Schriften belegt. Wie viele seiner
Zeitgenossen vertritt Schiller die Ansicht, dass in der Geschichte des Katholizismus nicht nur
gegen Grundsätze christlichen Glaubens, sondern auch gegen die Verbindlichkeit der Moral
verstoßen wird. Das Grundübel sieht Schiller dabei in der spätmittelalterlichen Identifikation
der geistlichen mit der weltlichen Sphäre angelegt:

Immer wenn es historisch zu einer Indienstnahme des christlichen Glaubens für die
durchsichtigen Zwecke der innerweltlichen Macht- und Interessenausübung kommt, ist das
Christentum der Gefahr ausgesetzt, zu politischem Fanatismus oder gewälttätigem
Herrschaftsmissbrauch zu degenerieren. In diesem Sinne hält Schiller der historischen
Erscheinung des spätmittelalterlichen Katholizismus die Verwahrlosung zu einer weltlichen
Gewalt vor:

„Durch seine wachsenden Reichthümer, durch die Unwissenheit der Völker und durch die
Schwäche ihrer Beherrscher mußte der Klerus verführt und begünstigt werden, sein Ansehen
zu mißbrauchen, und seiner stille Gewissensmacht in ein weltliches Schwerd umzuwandeln.
Die Hierarchie mußte in einem Gregor und Innozenz alle ihre Greuel auf das
Menschengeschlecht ausleeren, damit das überhandnehmende Sittenverderbniß und des
geistlichen Despotismus schreiendes Scandal einen unerschrockenen Augustinermönch
auffordern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben und dem römischen Hierarchen eine
Hälfte Europens zu entreisen.“

Die gewaltsame Verfolgung Andersgläubiger, die Kreuzzüge und die Inquisition bekunden
ein fatales Missverständnis des Verkündigungsauftrags. Die Vereinigung von
Glaubensfanatismus und Herrschaftsideologie identifiziert die weltlichen Belange der Politik
mit den geistlichen des Glaubens. Politische Rebellion ist Ketzerei, Verstoß gegen die
Glaubensdoktrin politischer Aufruhr. Gesteigert wird die Verfolgungspraxis durch die Erfolge
des Protestantismus in Europa. In seiner Schrift „Der Abfall der der Vereinigten Niederlande
von der spanischen Regierung“ schreibt Schiller

„Ebenso wie die göttliche Regierung die ganze Schöpfung umfasst, sollte der Despotismus
des Glaubens ihm (dem spanischen König Philipps II) die ganze politische Welt unterjochen.
Jeder Aufrührer wäre dann zugleich Ketzer, und jeder Ketzer würde als Aufrührer behandelt.
Man hätte sich gegen den Monarchen vergangen, sobald man sich von der Formel seines
Glaubens entfernte. Eine solche Tyrannei des Gewissens – die schlimmste aller schlimmen
Regierungsformen – wollte Philipp in seinen Staaten errichten. Er wollte seine irdische
profane Gewalt mit dem göttlichen Zepter vermählen. Ein finstrer und grausamer Aberglaube
verschlang das Licht der Vernunft und errichtete seinen Thron auf den Trümmern der
Gewissensfreiheit.“

Die daraus resultierende inquisitorische Praxis verurteilt Schiller auch im letzten Auftritt des
Don Carlos: Der König wird vom Großinquisitor dazu genötigt, sich der Räson der Inquisition
zu beugen und seinen Sohn Carlos zur Hinrichtung auszuliefern. Als Philipp die Alternative
erwägt, den Sohn entfliehen zu lassen, kommt es zu dem folgenden Dialog. Die Ermordung
des Sohnes durch die Inquisition wird seitens des Großinquisitors durch den Glauben
gerechtfertigt. So wie Gott seinen Sohn geopfert hat, soll auch Philipp seinen Sohn Carlos
opfern. Dass hier offenkundig ein absichtliches Missverständnis der christlichen Lehre
vorliegt, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

König: Mein Sohn ist Hochverraths verdächtig.
Grossinquisitor: Was beschließen Sie?
König: Alles oder nichts.
Grossinquisitor: Was heißt hier alles?
König: Ich laß ihn fliehn, wenn ich ihn
Nicht sterben lassen kann.
Grossinquisitor mit lauerndem Gesicht: Nun?
Beide schweigen eine Zeit lang
König: Können
Sie einen neuen Glauben mir erdenken,
der Kindermord des Gräßlichen entkleidet?
Grossinquisitor: Die ewige Gerechtigkeit zu sühnen, starb an dem Holze Gottes Sohn.
König: Sie wollen
Durch ganz Europa diese Meinung pflanzen?
Grossinquisitor: So weit, als man das Kreuz verehrt.

Soviel zu Schillers Positionen in Bezug auf die religiösen Strömungen seiner Zeit.
Wir kommen nun zur klassischen Wendung in Schillers Dichtung und Theoriebildung. Hierzu
werden wir zunächst den Kalliasbriefwechsel ansehen und dann eines seiner späten Dramen,
die „Maria Stuart“ betrachten.

Zu 3. Schillers ästhetische Initiative: Was ist die Aufgabe der Kunst?

Will man sich Schillers ästhetische Initiative nach seiner Kantlektüre vor Augen führen, so
bietet sich zunächst der Kalliasbriefwechsel mit dem Freund Christian Gottfried Körner an:
Dabei ist für Schiller durch die Kantlektüre deutlich, dass sich die Aufgabe einer
Letztbegründung der Dichtkunst nach der „Kritik der Urteilskraft“, der so genannten Kritik
der Kritiken neu stellt. So einfach schöpfungsgläubig, wie das noch an der Theosophie des
Julius gezeigt wurde, lässt sich die Dichtung nicht mehr begründen. So geht es Schiller zuerst
darum, die formalen Bedingungen dichterischer Rede abzuklären. Sehr deutlich kann man
sich diese formalen Bedingungen an dem Dualismus des Freiheitsbegriffs klar machen.
Schiller stellt den Vollzug der „Freiheit in der Tat“ gegen die Darstellung der Freiheit im
Symbol der schönen Kunst. Diese Freiheit nennt Schiller „Freiheit in der Erscheinung“.

Betrachten wir zunächst die „Freiheit in der Tat“. Schiller ist im Gefolge seiner Kantlektüre
der Auffassung, dass der Mensch im Handlungsvollzug sich aus Freiheit selbst bestimmen
und konkretisieren kann. Doch von den Resultaten menschlicher Handlungen her ist nicht
über die moralische Qualität der Willensbildung zu befinden. Niemand kann letztlich sagen,
ob sein Gegenüber aus moralischen oder bloß eigennützigen Motiven handelt. Denn die
Willensmotive menschlichen Handelns bleiben der Anschauung verborgen. Auch der Erfolg
oder Misserfolg einer Handlung sagt nichts über die moralische Dignität der zugrunde
liegenden Absicht aus.

Dem gegenüber kann die symbolische Darstellung des Dramas menschliche Willensmotive
zur Anschauung bringen. Da diese Darstellung dabei weder einem bestimmten praktischen
Interesse dient also keinen konkreten Handlungszweck verfolgt noch zu einer bestimmten
positiven Erkenntnis führt, ist es in jeder Hinsicht interesselos. Die Kunst ist „Freiheit in der
Erscheinung“. So kann die menschliche Freiheit von ihren Motiven her in der Dichtung und
hier insbesondere im Drama in die Erscheinung treten und damit positiv erfahren werden. Um
es anders zu sagen: in der Darstellung des Dramas kann man konkret sehen, was und wie
jemand will, und auf welche Weise er diese Motive verwirklicht, in der Erfahrungswelt nicht.

3.1. Schillers kritische Anthropologie

Im Anschluss an die Kantlektüre modifiziert Schiller sein Menschenbild dem
Vermittlungsauftrag gemäß, der sich für ihn aus der „Kritik der Urteilskraft“ ergibt.
Unbefriedigend erscheint ihm die Alternative, nach welcher der Mensch entweder
ausschließlich aus naturgesetzlichem Antrieb, d.h. neigungsgemäß handelt, oder aber unter
der Gesetzmäßigkeit moralischer Maxime steht. Denn auch dem moralischen Handeln eignet
etwas Zwanghaftes in der Erscheinung.

„Offenbar hat die Gewalt, welche die praktische Vernunft bei moralischen
Willensbestimmungen gegen unsere Triebe ausübt, etwas Beleidigendes, etwas Peinliches in
der Erscheinung. Schön ist aber ein Charakter, eine Handlung nicht, wenn sie die Sinnlichkeit
des Menschen, dem sie zukommen, unter dem Zwang des Gesetzes zeigen.“

Den daraus erwachsenden Vermittlungsanspruch zwischen praktischer und theoretischer
Vernunft, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung kennzeichnet Schiller mit dem
Begriff des „schönen Charakters“, bzw. der „schönen Handlung“. In der schönen Handlung
sind naturgesetzliche Bestimmtheit und moralische Selbstbestimmung zwanglos zur Synthese
gelangt. Sie vollzieht sich mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit so, als ob sie nur
Neigungsantrieben gehorchen würde. Dem schönen Charakter ist das moralische Gesetz zur
zweiten Natur, d.h. habituell geworden:

„Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht
wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. Mit einem Worte: eine freie Handlung
ist eine schöne Handlung, wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der
Erscheinung     koinzidieren.    Aus    diesem     Grunde    ist das      Maximum      der
Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann
ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.“

Wenn man die späten Dramen Schillers vor diesem Hintergrund liest, dass in ihnen in der Tat
menschliche Motive, die Horizonte möglicher menschlicher Selbstbestimmung zur
Erscheinung gebracht werden sollen, dann ergibt sich daraus ein wichtiger Hinweis, wie sie
zu lesen sind: Sie stellen nämlich bestimmte alternative Motivationsebenen der praktischen
Vernunft, man könnte auch sagen sie stellen unterschiedliche Lebensprogramme oder
Selbstentwürfe dar. Diese Lebensentwürfe werden in den Dramen einander konfrontiert.
Dabei wird gezeigt, welche Tragweite diese Lebensentwürfe haben und wohin sie ihre
Apologeten führen.

3.2. Die Begründung menschlicher Praxis: Maria Stuart
So erhebt sich erneut die Frage, welche Rolle und welche Tragweite Schiller einer religiösen
Begründung der Lebensführung einräumt. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Heldinnen
seiner späten Dramen lässt etwas Merkwürdiges erkennen: Die Figur der Maria Stuart
definiert sich aus ihrem Glauben, die Figur der Johanna von Orleans entstammt der
Legendenbildung um eine Heilige. Beide sind ihrer historischen Existenz nach Katholikinnen.
Das soll aber an dieser Stelle nicht in erster Linie interessieren. Denn es geht Schiller hier
nicht um die historische Wahrheit. Dichtung ist keine Geschichtsschreibung. Schiller
verwendet den historischen Stoff nur, um mit ihm seine kritische Anthropologie zu
vermitteln.

„Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darinn, das etwas wirklich geschehen ist, sondern
darinn, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Selbst an
wirklichen Begebenheiten ist nicht die Existenz, sondern das durch die Existenz kund
gewordene Vermögen das poetische.“

In diesem Sinne haben wir es bei der Maria Stuart nicht mit der historischen Figur zu tun. Die
historische Erscheinung bietet Schiller nur die Möglichkeit die Motivationshorizonte der
praktischen Vernunft bei ihrer Selbstverwirklichung vorzuführen. So werden die
Selbstbestimmung aus Neigung in der Figur der Elisabeth, die aus einer moralischen
Motivation in der gestalt Talbots und die aus dem Glauben in der Figur der Maria Stuart
konfrontiert. Wir wollen uns vordringlich mit Maria Stuart beschäftigen.

Schiller führt uns in einen Konflikt, bei dem es vordergründig um einen Machtkampf
zwischen der englischen Königin Elisabeth I. und der Maria Stuart geht. Seit ihrer Flucht aus
Schottland befindet sich Maria in Gefangenschaft der englischen Königin. Denn von Marias
Anspruch auf die englische Krone geht eine ernsthafte Bedrohung für Elisabeths Herrschaft
aus. Trotz dieser Bedrohung zögert Elisabeth eine Verurteilung Marias hinaus, weil das
Todesurteil über die Schwester ihr Ansehen und ihr Bild vor der Geschichte beschädigen
würde.

Sehen wir uns Maria Stuart einmal so an, wie sie in das Drama eingeführt wird. Ihr erstes
Auftreten zeichnet sie gegenüber allen anderen Personen des Dramas als Gläubige aus: Sie
hält ein Kruzifix in der Hand und ersucht ihren Wächter Paulet, einen Gottesdienst nach
katholischem Ritus abhalten zu dürfen, was ihr jedoch verweigert wird.

„Schon lange Zeit entbehr ich im Gefängnis
Der Kirche Trost, der Sakramente Wohltat.
Und die mir Kron und Freiheit hat geraubt,
Die meinem Leben selber droht, wird mir
Die Himmelstüre nicht verschließen wollen.“

Diese gläubige Selbstauslegung Marias ändert nichts daran, dass sie sich in der Vergangenheit
mit schwerer Schuld belastet hat: Sie hat ihren Ehemann ermorden lassen und in Missbrauch
ihrer Macht, den Freispruch für den Täter erwirkt. Anschließend hat sie den Mörder sogar
geheiratet. Diese Verbrechen kann sich Maria trotz Beichte nicht verzeihen:

„Frischblutend steigt die längst vergebne Schuld
Aus ihrem leichtbedeckten Grab empor!
Des Gatten rachefoderndes Gespenst
Schickt keines Messedieners Glocke, kein
Hochwürdiges in Priesters Hand zur Gruft.“

Die Gläubige ist weder schuldlos noch ist sie ihrer geschichtlichen Rolle entrückt. Maria steht
nicht nur für ihr Recht auf Freiheit, sondern auch für ihren Anspruch auf die englische Krone
ein:

„Ein heilig Zwangsrecht üb ich aus, da ich
Aus diesen Banden strebe, Macht mit Macht
Abwende, alle Staaten dieses Weltteils
Zu meinem Schutz aufrühre und bewege
Was irgend nur in einem guten Krieg
Recht ist und ritterlich, das darf ich üben.“

Allerdings hat sich Maria seit Gattenmord und Bluthochzeit geläutert. Entgegen der Anklage
Elisabeths hat sie nie versucht, die englische Königin ermorden zu lassen. An den Anschlägen
auf deren Leben, die letztlich das Todesurteil gegen Maria legitimieren sollen, trägt sie
entgegen Anklage und Urteil keine Schuld, wie auch die Aussage des Schreibers Kurl
unmittelbar nach ihrer Hinrichtung beweist

„Den Mord allein, die heimlich blutge Tat,
Verbietet mir mein Stolz und mein Gewissen
Mord würde mich beflecken und entehren.“

Der Streit der Königinnen eskaliert in der übrigens frei erfundenen Begegnung auf Schloss
Fotheringhay. Zunächst verleugnet Maria ihre königliche Herkunft, ihren Thronanspruch und
sogar ihr Recht auf persönliche Freiheit. Damit erhofft sie, ihre Begnadigung erlangen zu
können. Maria appelliert an das Gewissen Elisabeths:

„(...) sprecht es aus,
das Wort um dessentwillen Ihr gekommen,
Denn nimmer will ich glauben, dasß Ihr kamt,
um Euer Opfer grausam zu verhöhnen.
Sprecht dieses Wort aus. Sagt mir: Ihr seid frei,
Maria! Meine Macht habt ihr gefühlt,
Jetzt lernet meinen Edelmut verehren.
Sagts, und ich will mein Leben, meine Freiheit
Als ein Geschenk aus Eurer Hand empfangen.
- Ein Wort macht alles ungeschehn. Ich warte
Darauf. O laßt michs nicht zu lang erharren.“

Da Elisabeth moralische Appelle fremd bleiben, verhallt diese Gnadenbitte wirkungslos. Die
Gelegenheit zur Versöhnung ist unwiderruflich vertan. Angesichts der Aussichtslosigkeit
ihrer Bitte fällt Maria in den alten Hass gegenüber Elisabeth zurück:

„Der Thron von England ist durch einen Bastard
Entweiht, der Britten edelherzig Volk
Durch eine listge Gauklerin betrogen.
- Regierte recht, so läget Ihr vor mir
Im Staube jetzt, denn ich bin Euer König.“
Auch die Motivbildung aus dem Glauben ist von Rückfällen bedroht. Trotz
Gewissenerforschung und Wandlung ihrer Lebensführung ist Maria vor neuerlicher
Schuldverstrickung nicht sicher. Die Folgeszene zeigt sie im Genuss ihrer Rache.

„O wie mir wohl ist, Hanna! Endlich, endlich
Nach Jahren der Erniedrigung, der Leiden,
Ein Augenblick der Rache, des Triumphs!
Wie Bergeslasten fällts von meinem Herzen,
Das Messer stieß ich in der Feindin Brust.“

Mit dieser Szene verdeutlicht Schiller, dass auch der gläubige Mensch allen willkürlichen
Neigungsantrieben und Irritationen ausgesetzt ist, die ihm seine irdische Existenz auferlegen.
Insbesondere ist Maria nicht in der Lage, konsequent moralisch zu handeln. Sie weiß aus
ihrem Glauben, wie sie handeln sollte und sie bemüht sich auch darum. Dieses Bemühen
scheitert aber an der Wirkungsmächtigkeit ihrer partikularen Ansprüche, Neigungen und
Wünsche. Die Gläubige ist eine geschichtliche Person.

Ein grundlegender Wandel im Habitus Marias tritt aber mit der Abendmahlsszene im siebten
Auftritt des fünften Akts ein. Wir haben gesehen, wie sich Maria vor dieser Szene darstellt,
als Gläubige zwar, doch notwenig in alle weltlichen Belange eingebunden. Wir wollen nun
sehen, in welcher Weise sich ihr Habitus verändert.

Ein Mordanschlag auf Elisabeth, den Maria aber nicht zu verantworten hat, befördert das
Todesurteil durch die englische Königin, die gleichwohl davor zurückschreckt, es zu
vollstrecken und zu vertreten.. Dieses Urteil wirft Maria völlig auf die Gewißheit ihres
Glaubens zurück. Aufs neue „ein Kruzifix in der Hand“ gibt sie ihrem ehemaligen
Haushofmeister Melvil gegenüber Auskunft über die Begründung ihres Glaubens. Dabei
verdeutlicht sie, dass die subjektive Befindlichkeit des Herzens zur Begründung der
Glaubensüberzeugung nicht ausreicht. Die Heilstat muss vielmehr in die Erfahrung des
Einzelnen gelangen und von diesem lebensgeschichtlich real eingeholt werden können. Der
Glaube bedarf der Positivität des „irdischen Pfandes“, um sich seiner selbst zu vergewissern.

„Ach Melvil! Nicht allein genug ist sich
das Herz, ein irdisch Pfand bedarf der Glaube ,
das hohe Himmlische sich zuzueignen.“

Garant für diese Erfahrbarkeit des Glaubens ist das religiöse Symbol, das als „irdisches
Pfand“ das göttliche Gnadenwirken in die menschliche Erfahrung bringt. Erfahrbar wird diese
Präsenz des Gnadenwirkens im Vollzug des Sakraments. Nur vor diesem Hintergrund
erscheint Marias Klage verständlich, in ihrem Gefängnis vom Vollzug des Abendmahls
ausgeschlossen zu sein.

„Der Bischof steht im reinen Meßgewand,
er faßt den Kelch, er segnet ihn, er kündet
Das hohe Wunder der Verwandlung an,
Und niederstürzt dem gegnwärtgen Gotte
Das gläubig überzeugte Volk- Ach! Ich
Allein bin ausgeschlossen, nicht zu mir
In meinen Kerker dringt der Himmelssegen.“
Da gibt sich Melvil als geweihter Priester zu erkennen. Maria beichtet zunächst, indem sie die
Schuldverstrickung ihrer geschichtlichen Existenz aus ihrem Glauben heraus bekennt und
bereut. Vor dem neuerlichen Bekenntnis von Gattenmord und Bluthochzeit bereut Maria
freimütig ihre abermalige Schuldverstrickung, ihre Liebe zu dem bekanntermaßen
unwürdigen Leicester und ihren Haß auf Elisabeth.

„Von neidschem Hasse war mein Herz erfüllt,
Und Rachgedanken tobten in dem Busen.
Vergebung hofft ich Sünderin von Gott
Und konnte nicht der Gegnerin vergeben.“

Melvil insistiert darauf, dass Maria sich auch zu ihrer möglichen Verstrickung in den
Mordanschlag auf Elisabeth durch Babington und Parry bekennt.

„Du sagst mir nichts von deinem blutgen Anteil
An Babingtons und Parrys Hochverrat?
Den zeitlichen Tod stirbst du für diese Tat,
Willst Du auch noch den ewgen dafür sterben?“

Doch Maria weist alle Verantwortung für den Mordanschlag von sich. Darin zeigt sich ihre
moralische Bildung und Läuterung. (Wie die Ermordung ihres Ehemannes zeigt, blieben ihr
solche Maximen in der Vergangenheit fremd.)

Der Beichte folgt die Absolution. Sie ist wie folgt gekennzeichnet: Maria kann sich nicht
selbst von Schuld freisprechen, sie ist weder scheinheilig noch selbstgerecht. Auch das Recht
spielt dabei keine Rolle. Denn die Rechtspraxis steht in der Willkür menschlicher Auslegung,
wie die ungerechtfertigte Verurteilung Marias zeigt. Auch ein Freispruch Marias durch eine
moralische Instanz scheint undenkbar. Vor deren Rigorismus kann ihre Lebensführung nur
verworfen werden.

Melvil urteilt darum nicht nach menschlichen Kriterien, sondern in Ankündigung der
Gnadeninstanz als „Diener des höchsten Gottes, und sein heilger Mund.“ Er stellt ihr göttliche
Vergebung für ihre irdische Schuld in Aussicht. Marias Glaube, der sich in Reue beweist,
nicht ihre Läuterung ist dabei Anknüpfungspunkt des Gnadenaktes. Werkgerechtes Denken
wird hier distanziert:

„Dem selgen Geiste folgen nicht die Schwächen
Der Sterblichkeit in die Verklärung nach.
Ich aber künde Dir, kraft der Gewalt zu lösen und zu binden,
Erlassung an von allen deinen Sünden!
Wie Du geglaubet so geschehe Dir.“

Mit dem Vollzug der Kommunion wird Maria nicht nur das ewige Leben und die Verklärung
in Aussicht gestellt. Interessanter für Schillers Anthropologie und für die Darstellung der
verschiedenen Motivationshorizonte der praktischen Vernunft ist die Darstellung des
Freiheitsspielraums, der Maria aus dem Vollzug des Abendmahls erwächst.

Mit dem Abendmahl verändert sich der Habitus der verurteilten Königin, sie verwandelt sich
grundlegend und wird zu einem andern Menschen. Alle innerweltlich begründbaren
Motivationshorizonte praktischer Vernunft werden transzendiert. Diese grundlegende
Wandlung Marias zeigt sich in der Vergebung gegenüber Elisabeth. Maria ist nicht nur von
geschichtlicher Schuld freigesprochen. Sie verfällt dieser Schuld auch nicht wieder, sondern
konkretisiert ihre neu gewonnene Freiheit, indem sie Elisabeth vergibt.

„Der Königin von England
Bringt meinen schwesterlichen Gruß – Sagt ihr,
Daß ich ihr meinen Tod von ganzem Herzen
vergebe, meine Heftigkeit von gestern
Ihr reuevoll abbitte – Gott erhalte sie
Und schenk ihr eine glückliche Regierung.“

Damit befindet sich Maria bereits innerweltlich in dem von Melvil angekündigten
„Freudenreich“, in dem „keine Schuld mehr sein wird.“ Die Selbstbegründung aus einem
aufgeklärten Glaubensverständnis zeigt sich damit allen andern Versuchen menschlicher
Selbstbegründung überlegen. Auf das Todesurteil reagiert Maria mit der Vergebung
gegenüber ihrer Richterin.

Abschließend können wir uns mit der Frage beschäftigen, aus welchem Grund Schiller glaubt,
seine Anthropologie nicht in philosophisch begrifflicher Systematik, sondern in der Form des
Kunstwerks, d.h. in der dramatischen Dichtung darstellen zu sollen. Seinem Anspruch der
Darstellung der „Freiheit in der Erscheinung“ gemäß ist Schiller der Auffassung, dass diese
Aufgabe sich der Fixierung durch einen Begriff sperrt. Die Darstellung der Motivbildung und
der Handlungsmöglichkeiten der menschlichen Praxis sieht Schiller am besten dort
aufgehoben, wo dogmatische Festlegungen unterbleiben. Das Drama bietet ihm die
Möglichkeit, seine Anthropologie zu konkretisieren, ohne die Selbstbestimmung aus Freiheit
auf bestimmte Zwecke oder Lehren hin festzulegen. Ihm geht es nicht darum festzustellen,
wie moralische, politische oder religiöse Freiheit in einer konkreten Situation gelebt werden
sollten. Schiller ist es darum zu tun, die Handlungsmöglichkeiten aus diesen Instanzen der
praktischen Vernunft zu zeigen, gegen einander abzugrenzen und für die konkrete
Motivbildung des Einzelnen zu eröffnen. Er sieht seine Aufgabe darin, den Freiheitsspielraum
des Menschen offen zu halten. Zur Darstellung dieses Spielraums erscheint ihm die
Kunstdarstellung darum am besten geeignet. Um des Freiheitsspielraums der menschlichen
Praxis Willen glaubt er sich eine dogmatische Festlegung auf eine im Begriff fixierte Lehre
oder Lehrmeinung verbieten zu müssen. Denn die Darstellung menschlicher Freiheits- und
Selbstbestimmungsspielräume wäre in Schillers Sinne gescheitert, wenn sie die menschliche
Freiheit auf bestimmte Zwecke einschränken und damit den kritischen Diskurs vorab fixieren,
beschränken und beenden würde.
 Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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