Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21.01.2021 ...

Die Seite wird erstellt Stefan-Nikolai Noack
 
WEITER LESEN
Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21.01.2021 - L 1 R
    160/18

Fundstelle                      openJur 2021, 26429           Rkr:  AmtlSlg: 

Tenor
1
    Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 27. August 2018 wird
    zurückgewiesen.
2
    Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3
    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand
4
    Streitig ist eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung.
5
    Die 1957 geborene Klägerin beantragte am 24. April 2015 eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Mit
    Bescheid vom 18. November 2015 bewilligte die Beklagte ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. August
    2014. Als Rentenantrag gelte der am 6. August 2014 gestellte Antrag auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation.
    Die Anspruchsvoraussetzungen seien seit dem 14. Oktober 2013 erfüllt (Beginn der Arbeitsunfähigkeit). Die Rente
    werde längstens bis zum 31. Januar 2023 (Monat des Erreichens der Regelaltersrente) gezahlt. Der monatliche
    Zahlbetrag betrage 1.051,86 EUR. Hierbei berücksichtigte die Beklagte u.a. eine Zurechnungszeit von 64 Monaten (1.
    November 2013 bis 24. Februar 2019 bzw. bis zur Vollendung zur Vollendung des 62. Lebensjahres) und einen
    verminderten Zugangsfaktor in Höhe von 0,108 (für die Anzahl der Kalendermonate für die Zeit vom 1. November 2017
    bis 31. Oktober 2020 vervielfältigt mit dem Faktor 0,003). Der für die Zeit vom 1. August 2014 bis 31. Dezember 2015
    ausgewiesene Nachzahlungsbetrag wurde zur Erfüllung von Erstattungsansprüchen an die Krankenkasse (1. August
    2014 bis 13. April 2014 iHv 7.479,35 EUR) und die Agentur für Arbeit (14. April 2015 bis 31. Dezember 2015 8.954,96
    EUR) überwiesen.
6
    Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 8. Dezember 2015 Widerspruch gegen den Rentenbescheid. Der Bescheid
    entspreche nicht den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes (GG). Er verstoße außerdem gegen Ziele des
    Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) sowie des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG). Ihre
    volle Erwerbsminderungsrente sei auf das Niveau des Arbeitslosengelds bzw. des Krankengeldes anzuheben. Die
    Rente wegen Erwerbsminderung solle erreichen, dass der Lebensstandard nicht wesentlich eingeschränkt werde.
    Hierzu im Widerspruch stehe die Einführung des gekürzten Zugangsfaktors. Im Interesse verfassungsrechtlich
    gebotener Gleichbehandlung bedürfe es analog zu der Mindestpension für Beamte in der gesetzlichen
    Rentenversicherung einer Mindestsicherung für Erwerbsminderungsrentner. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass
    die private Versicherungswirtschaft keine adäquaten Produkte vorhalte, die das Risiko der Erwerbsminderung
    abdeckten, sodass ein Lebensstandard aus drei Säulen de facto Illusion sei. Es liege zudem ein Verstoß gegen Art. 28
    UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vor. Danach sei der soziale Schutz und die Verwirklichung des Rechts auf
    einen angemessenen Lebensstandard von Deutschland anzuerkennen. Dabei sei u.a. auch der gleichberechtigte
    Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung für Menschen mit Behinderungen zu sichern. Diese
    Vorgabe bedeute, dass auch Menschen mit einer Erwerbsminderungsrente beim Bezug einer Altersrente nicht aufgrund
    ihrer Erwerbsminderung schlechter gestellt werden dürften. Darüber hinaus richtete sich der Widerspruch auch gegen
    die von der Beklagten ermittelten Entgeltpunkte für Beitragszeiten. Die Klägerin fügte diesbezüglich diverse
    Gehaltsunterlagen bei. Für die Zeiten der Pflege ihres Vaters von Juni 2008 bis Januar 2010 liege kein Gutachten des
    MDK-Nord vor. Ihr Vater habe eine Begutachtung zur Pflegestufe verweigert.
7
    Die Beklagte nahm mit Schreiben vom 22. Februar 2016 Stellung. Der Zugangsfaktor richte sich nach §77
    Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und verringere sich demnach um 0,003 von 1,0 um jeden Kalendermonat,
    den die Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahrs in Anspruch genommen werde.
    Bezüglich der Anerkennung von Pflichtbeitragszeiten für die Pflege ihres Vaters in der Zeit von Juni 2008 bis Januar
    2010 sei die Beklagte an die Entscheidungen der Pflegekasse gebunden. Hinsichtlich der Berücksichtigung eines
    höheren beitragspflichtigen Einkommens für die Jahre 1985, 1991, 1995 und 1999 wies sie darauf hin, dass das
    steuerpflichtige Einkommen nicht gleich dem rentenversicherungspflichtigen Einkommen ist. Für die Jahre 2000 bis
    2002 seien die Entgelte nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze beitragspflichtig gewesen.
8
    Mit Schreiben vom 31. Mai 2016 vertiefte die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und übersandte weitere Unterlagen.
    Mit Bescheid vom 19. Juli 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ihrem Begehren, eine Rentenzahlung in
9
     Mit Bescheid vom 19. Juli 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ihrem Begehren, eine Rentenzahlung in
     Höhe von Arbeitslosengeld oder Krankengeld zu erhalten, könne nicht entsprochen werden. Bei der Rentenberechnung
     seien alle nachgewiesenen bzw. glaubhaftgemachten Beitragszeiten und Anrechnungszeiten berücksichtigt worden. Die
     im Widerspruchsverfahren eingereichten Entgeltunterlagen entsprächen den berücksichtigten Daten. Die Berechnung
     selbst entspreche den gesetzlichen Vorschriften. Der angefochtene Bescheid sei daher nicht fehlerhaft. Soweit die
     Klägerin der Auffassung sei, das angewandte Recht sei nicht mit dem GG vereinbar, weise sie darauf hin, dass sie - die
     Beklagte - bei ihrem Handeln an Recht und Gesetz gebunden sei. Sie dürfe nicht prüfen, ob ein Gesetz
     verfassungsgemäß sei. Diese Prüfung erfolge nur durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Der Bescheid sei
     deshalb nicht zu beanstanden.
10
     Die Klägerin hat am 19. August 2016 Klage vor dem Sozialgericht Schleswig erhoben mit der sie ihr Begehren
     weiterverfolgt und vertieft hat. Analog zur Mindestversorgung bei Dienstunfähigkeit im Beamtenrecht sei bei der
     Erwerbsminderungsrente eine Mindestsicherung als "Teilhabeäquivalenz" in Höhe des Arbeitslosengelds festzusetzen.
     Kürzungen bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente seien als nicht verfassungsgemäß zu
     streichen, da die Abschläge das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzten. Die Erwerbsminderungsrente werde aus
     individuell überprüften zwingenden gesundheitlichen Gründen in Anspruch genommen. Der Zugang unterliege strengen
     sozialmedizinischen Prüfungen. Sie sei nicht als freiwillige Frührente zu behandeln. Wenn jemand aufgrund einer
     Krankheit Erwerbsminderungsrente beantragen müsse, tue er es nicht, um vorzeitig in den Ruhestand zu wechseln,
     sondern aufgrund massiver gesundheitlicher Einschränkungen. Deshalb dürften Erwerbsminderungsrentner nicht mit
     Abschlägen auf ihre Rente belastet werden. Es sei weiter nicht nachvollziehbar, dass diverse versicherungsfremde
     Leistungen (z.B. Mütterrente) aus der Gesetzlichen Rentenversicherung und nicht aus Steuermitteln beglichen würden.
11
     Die Beklagte hat sich im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen und den Inhalt der streitigen Bescheide bezogen.
12
     Das Sozialgericht hat die Klage, nach Anhörung der Beteiligten, mit Gerichtsbescheid vom 27. August 2018
     abgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie habe
     keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von Krankengeld oder 67 % entsprechend
     Arbeitslosengeld. Es fehle hierfür an einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage. Die Kürzung des Zugangsfaktors bei
     Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sei, wie das BVerfG entschieden habe (Beschluss vom 11. Januar 2011 -
     1 BvR 3588/08), ein legitimes Ziel zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung und mit dem GG vereinbar.
     Es liege hierin auch keine Verletzung der Eigentumsgarantie. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte die persönlichen
     Entgeltpunkte infolge fehlerhafter Berechnung von zu geringem rentenversicherungspflichtigen Einkommen fehlerhaft
     berechnet habe, lägen nicht vor. Die von der Klägerin angenommene verfassungswidrige Ungleichbehandlung zwischen
     Dienstunfähigkeitspensionen von Beamten und Erwerbsminderungsrentnern hinsichtlich der Höhe greife ebenfalls nicht
     durch. Es handele sich um grundsätzlich verschiedenartige Systeme, bei denen schon nicht zwei wesentlich gleiche
     Gruppen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG ungleich behandelt würden. Im Beamtenrecht herrsche das sog.
     "Alimentationsprinzip", wonach aufgrund der besonders engen gegenseitigen Beziehung zwischen Beamten und
     Dienstherrn eine besonders umfassende finanzielle Zuwendung des Dienstherrn erfolge. Im Erwerbsminderungsrecht
     als Teil der gesetzlichen Rentenversicherung gelte hingegen das Versicherungsprinzip, wonach sich die Rentenhöhe
     als Äquivalent von geleisteten Beiträgen und Versicherungszeiten darstelle. Allein diese unterschiedlichen Systeme
     rechtfertigten unterschiedliche Bezüge im Falle der Dienst- und Erwerbsminderung. Soweit die Klägerin darüber hinaus
     umfangreiche verfassungsrechtliche Bedenken äußere, so seien diese letztlich als sozialpolitische Forderungen
     einzuordnen, die jedoch keine Vorlage an das BVerfG im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle im Sinne von Art.
     100 GG gebieten würden. Die Kammer halte keine der möglichen rentenrechtlichen Normen, die die Höhe des
     Erwerbsminderungsrentenanspruchs bedingten, für verfassungswidrig.

     Die Klägerin hat gegen den ihr am 13. September 2018 zugestellten Gerichtsbescheid am 11. Oktober 2018 Berufung
13
     Die Klägerin hat gegen den ihr am 13. September 2018 zugestellten Gerichtsbescheid am 11. Oktober 2018 Berufung
     vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben. Sie vertieft und wiederholt ihr bisheriges Vorbringen.
     Insbesondere sehe sie sich in den Beschlüssen der Bundesregierung zu Leistungsverbesserungen bei den
     Erwerbsminderungsrenten mit der Beschränkung, diese jeweils nur auf Neuzugänge anzuwenden, in ihrem Grundrecht
     auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 und 3 GG verletzt. Dass Bestandsrentner von der schrittweisen Anhebung der
     Zurechnungszeit ausgeschlossen seien, sei willkürlich. Eine solche Schlechterstellung sei sozialpolitisch nicht zu
     rechtfertigen und verfassungswidrig. Für die Ungleichbehandlung gebe es keine plausiblen Gründe. Ihr stünden daher
     die Neuerungen in Bezug auf die Anhebung der Zurechnungszeit nach dem EM-Leistungsverbesserungsgesetz ab dem
     1. Januar 2018 als auch nach dem RV-Leistungs- und Stabilisierungsgesetz ab dem 1. Januar 2019 zu. Der gewählte
     Stichtag 1. Januar 2019 wie auch die vorangegangenen (1. Januar 2018 und 1. Juli 2014) erschienen willkürlich, da das
     Ziel, eine Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten zu bewirken, damit nur partiell erreicht werde. Ein knapper
     Finanzrahmen, wie er zur Begründung der Regelung vorgebracht worden sei, könne nicht die Benachteiligung einer
     einzelnen Gruppe von Versicherten rechtfertigen, insbesondere nicht, wenn parteiübergreifend Einigkeit über die
     Notwendigkeit nach Verbesserungen für Erwerbsminderungsrentner bestehe. Eine private Vorsorge gegen
     Erwerbsminderung sei gerade für gesundheitlich vorbelastete Personen unmöglich, u.a. auch deshalb, weil die
     risikoadäquate Kalkulation von privaten Versicherungen gegen Erwerbsminderung weiterhin zulässig bleibe. Das Ziel
     der Lebensstandardsicherung in der Altersvorsorge aus drei Säulen sei gescheitert. Des Weiteren sehe sie sich in den
     Beschlüssen der Bundesregierung zur Beibehaltung der Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten in ihrem Grundrecht
     auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG und des Benachteiligungsgebots gemäß UN-BRK verletzt. Anders als bei
     der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente sei die Erwerbsunfähigkeit ein schicksalhaftes Ereignis, welches
     nicht geplant oder aufgehoben werden könne. Eine Parallele zu den Abschlägen der Altersrente verbiete sich somit. Es
     liege kein ausreichender Sachgrund für eine Gleichbehandlung verschiedenartiger Rentenarten vor. Bei der zum 1.
     Januar 2019 erfolgten Beitragssatzerhöhung in der Pflegeversicherung (3,3 % für Kinderlose) handele es sich faktisch
     ebenfalls um eine Kürzung der Erwerbsminderungsrente, da die Beiträge von den Rentnern selbstständig aufgebracht
     werden müssten.
14
     Die Klägerin beantragt,
15
     den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 27. August 2018 aufzuheben und den Bescheid vom 18.
     November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016 abzuändern und die Beklagte zu
     verurteilen, ihr eine volle Erwerbsminderungsrente auf Dauer in Höhe des Krankengeldes gemäß UN-
     Behindertenrechtskonvention, hilfsweise ab dem 1. Januar 2018 und ab dem 1. Januar 2019 eine höhere
     Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung der seit dem 1. Januar 2018 und 1. Januar 2019 geltenden
     Zurechnungszeiten und ohne Abschlag zu gewähren.
16
     Die Beklagte beantragt,
17
     die Berufung zurückzuweisen.
18
     Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
19
     Mit Beschluss vom 8. August 2019 hat der Senat die Entscheidung über die Berufung der Berichterstatterin gemeinsam
     mit den ehrenamtlichen Richtern gemäß §153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übertragen.
20
     Im Hinblick auf das vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revisionsverfahren (B 13 R 24/20 R) hat die
     Berichterstatterin mit Verfügung vom 4. Januar 2021 das Ruhen des Verfahrens angeregt. Die Beklagte hat dem
     zugestimmt, die Klägerin nicht.
21
     Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
     beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Gründe
22
     Über das Berufungsverfahren konnte gemäß § 153 Abs. 5 SGG durch die Berichterstatterin zusammen mit den
     ehrenamtlichen Richtern entschieden werden, nachdem der Senat mit Beschluss vom 8. August 2019 eine
     entsprechende Übertragung vorgenommen hat.
23
     Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 18.
     November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin
     nicht in ihren Rechten. Sie hat unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf eine höhere
     Erwerbsminderungsrente. Die Voraussetzungen einer Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 GG sind nicht erfüllt.

     Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
24
     Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
     19. Juli 2016 mit dem die Beklagte der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1.
     August 2014 unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit von 64 Monaten und einem verminderten Zugangsfaktor
     von 0,108 bewilligt hat. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren auf eine höhere Erwerbsminderungsrente mit der
     kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).
25
     Für die von der Klägerin mit ihrem Hauptantrag begehrte Erwerbsminderungsrente in Höhe des Krankengeldes fehlt es
     bereits an einer entsprechenden Rechtsgrundlage.
26
     Die Beklagte hat die volle Erwerbsminderungsrente der Kläger gemäß §43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch
     (SGB VI) entsprechend der gesetzlichen Vorschriften festgesetzt und berechnet.
27
     Zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Festsetzung der Rente (vgl. §300 SGB VI) betrug die Zurechnungszeit
     gemäß § 59 SGB VI idF des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes vom 23. Juni 2014 64 Monate. Danach beginnt die
     Zurechnungszeit bei einer Rente wegen Erwerbsminderung mit dem Eintritt der hierfür maßgebenden
     Erwerbsminderung (vgl. § 59 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI aF) und endet mit Vollendung des 62. Lebensjahres (vgl. §59
     Abs. 2 S. 2 SGB VI aF). Der Leistungsfall wurde vorliegend auf den 14. Oktober 2013 bestimmt. Die Klägerin vollendete
     2019 ihr 62. Lebensjahr. Die Zurechnungszeit beträgt damit 64 Monate (1. November 2013 bis 24. Februar 2019).
28
     Anhaltspunkte dafür, dass die Summer der persönlichen Entgeltpunkte unrichtig ermittelt oder berücksichtigt wurden,
     bestehen nicht und werden auch von der Klägerin nicht mehr geltend gemacht.
29
     Auch der Zugangsfaktor wurde von der Beklagten richtig bestimmt und festgesetzt. Die Kürzung des Zugangsfaktors
     erfolgte nach § 77 Abs. 2 S.1 Nr. 3, S. 2 SGB VI und beträgt für die hier maßgeblichen 36 Kalendermonate insgesamt
     0,108.
30
     Der Senat sieht ebenso wie das Sozialgericht keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs. 1
     GG, das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG bzw. das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK
     sowie Art 28 UN-BRK soweit die volle Erwerbsminderungsrente der Klägerin der Höhe nach nicht dem Zahlbetrag für
     das Krankengeld entspricht.
31
     Soweit die Klägerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf die Beamten bei Dienstunfähigkeit zu
     gewährende Mindestpension rügt, verweist der Senat nach eigener Prüfung auf die überzeugenden Ausführungen des
     Sozialgerichts im Gerichtsbescheid vom 27. August 2018, die zum Gegenstand auch der hier getroffenen Entscheidung
     gemacht werden; § 153 Abs. 2 SGG.
32
     Auch das in Art. 5 Abs. 2 UN-BRK normierte Diskriminierungsverbot, das unmittelbar zur Anwendung gelangt und im
     Wesentlichen den Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 6. März 2012 -B 1 KR 10/11
     R, juris Rn. 31), stützt die Auffassung der Klägerin nicht.
33
     Die Vorschriften zur Rentenhöhe bei Erwerbsminderungsrenten verstoßen nicht gegen das dort geregelte und auch
     verfassungsrechtlich geschützte (Art 3 Abs. 3 GG) Benachteiligungsverbot behinderter Menschen (vgl. auch BVerfG
     zum geminderten Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3588/08,
     juris). Die Regelungen knüpften bereits nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen und
     konventionsrechtlichen Sinne an. Eine behinderungsbezogene Ungleichbehandlung liegt vor, wenn Regelungen und
     Maßnahmen die Situation des behinderten Menschen wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm z.B.
     Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustünden, verweigert würden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 -
     1 BvR 9/97, juris Rn. 64 ff.; Beschluss vom 19. Januar 1999 -1 BvR 2161/94, juris Rn. 53) oder bei einem Ausschluss
     von Entfaltungsmöglichkeiten oder Betätigungsmöglichkeiten, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung
     bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR
     9/97, juris Rn. 64 ff.).
34
     Die Vorschriften zur Ermittlung der individuellen Höhe der Erwerbsminderungsrente stellen keine Diskriminierung der
     Klägerin wegen ihrer Behinderung (Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) dar. Denn die Vorschriften zur Rentenhöhe treffen alle in der
     Gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten in gleicher Weise und unabhängig vom Vorhandensein einer
     Behinderung. Es gilt grundsätzlich das Äquivalenzprinzip, wonach die Höhe der Rente von der Höhe der
     beitragspflichtigen Einkommen sowie der Dauer der Beitragszahlungen bzw. der erwarteten Rentenlaufzeit des
     Einzelnen abhängt. In Bezug auf den für die Rentenhöhe mit maßgeblichen Zugangsfaktor (vgl. § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
     SGB VI) hat das BVerfG einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich verneint (BVerfG, Beschluss vom 11.
     Januar 2011 - 1 BvR 3588/08, juris Rn. 54).

     Aus Art. 28 Abs. 1 UN-BRK lassen sich bereits keine konkreten Rechtsansprüche von Behinderten ableiten, die über die
35
     Aus Art. 28 Abs. 1 UN-BRK lassen sich bereits keine konkreten Rechtsansprüche von Behinderten ableiten, die über die
     im SGB VI geregelten Ansprüche hinausgehen. Nach dieser Vorschrift erkennen die Vertragsstaaten das Recht von
     Menschen mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien, einschließlich
     angemessener Ernährung, Bekleidung und Wohnung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen an
     und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz und zur Förderung der Verwirklichung dieses Rechts ohne
     Diskriminierung aufgrund von Behinderung.
36
     Es handelt sich nicht um eine unmittelbar anwendbare Norm, aus der sich ein Anspruch ableiten lässt. Dies ergibt sich
     aus dem Wortlaut des Adressaten ("Die Vertragsstaaten..") sowie aus dem Kontext. Die Vorschrift ist erkennbar offen
     und als Programmsatz für die Gesetzgebung formuliert (vgl. auch LSG Bayern, Urteil vom 30. September 2015 - L 2 P
     22/13 und Urteil vom 12. April 2018 - L 8 SO 227/15, jeweils juris). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der deutsche
     Gesetzgeber dagegen dadurch evident verstoßen hätte, dass die Erwerbsminderungsrente des SGB VI anderen
     Bemessungsgrundlagen als das Krankengeld unterliegt und etwa im Falle der Klägerin niedriger ausfällt. Behinderten
     Menschen, deren Erwerbsminderungsrente nicht zum Lebensunterhalt ausreicht, stehen weitere Sozialleistungen
     ergänzend zur Sicherung eines angemessenen Lebensstandards im ausreichenden Maße zur Verfügung.
37
     Zudem weißt der Senat drauf hin, dass die sich aus der UN-BRK ergebenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten
     grundsätzlich unter dem Vorbehalt der verfügbaren Mittel (Art. 4 Abs. 2 UN-BRK) stehen und mithin die Funktions- und
     Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung zu beachten ist.
38
     Soweit die Klägerin schon jetzt negative Auswirkungen auf ihre Altersrente infolge des gekürzten Zugangsfaktors
     geltend macht, ist eine entsprechende Beschwer mangels Altersrentenbezugs bereits nicht gegeben, sodass es
     diesbezüglich keiner weiteren Ausführungen bedarf.
39
     Auch, dass die Klägerin den aus ihrer Rente bemessenden Pflegeversicherungsbeitrag allein zu tragen hat, begegnet
     keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Senat verweist insoweit auf die Entscheidung des BSG vom 29.
     November 2006 (B 12 RJ 4/05 R, juris) und macht sich diese zu eigen. Die gegen das Urteil erhobene
     Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 7. Oktober 2008 - 1
     BvR 299/09, juris).
40
     Der von der Klägerin verfolgte Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine volle
     Erwerbsminderungsrente ohne Berücksichtigung eines gekürzten Zugangsfaktors sowie unter Berücksichtigung der
     zum 1. Januar 2018 und 1. Januar 2019 geltenden Zurechnungszeiten.
41
     Soweit die Klägerin sich gegen den um 0,108 geminderten Zugangsfaktor wendet, entspricht dieser - wie ausgeführt -
     der gesetzlichen Vorschrift des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2 SGB VI. Verfassungsrechtliche Zweifel an der Vorschrift des
     § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI teilt der Senat nicht. Das BVerfG hat sich in seinem Beschluss vom 11. Januar 2011 -1
     BvR 3588/08, juris, bereits umfassend - auch mit den von der Klägerin geltend gemachten Argumenten -
     auseinandergesetzt und die Vorschrift für vereinbar mit dem GG gehalten. Demnach müssen Abschläge, die sich an der
     Tatsache des Eintritts in den Ruhestand vor Vollendung des Regelalters orientieren, von Verfassungs wegen nicht
     danach unterschieden werden, ob die Zurruhesetzung aus der Perspektive des Betroffenen freiwillig oder unfreiwillig
     erfolgt. Dem Umstand, dass dies auch auf gesundheitlichen Einschränkungen beruht, hat der Gesetzgeber dadurch
     ausreichend Rechnung getragen, dass die Kürzung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten bei weitem nicht
     die Höhe der Kürzung bei vorzeitigen Altersrenten erreicht und zudem noch durch die Zurechnungszeiten teilweise
     kompensiert werden (BVerfG - 1 BvR 3588/08, a.a.O., Rn. 49 m.w.N., 53). An der weiterhin bestehenden Gültigkeit der
     Entscheidung hat der Senat keine Zweifel.
42
     Die Rente der Klägerin war auch nicht unter Berücksichtigung einer höheren Zurechnungszeit gemäß der zum 1. Januar
     2018 bzw. zum 1. Januar 2019 geltenden Vorschriften zu gewähren. Wie ausgeführt hat die Beklagte die
     Rentenbewilligung in Anwendung des § 300 SGB VI unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der erstmaligen
     Bewilligung bereits in Kraft getretenen Vorschriften vorgenommen.
43
     Nach Auffassung des Senats liegt keine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1
     GG zwischen Bestandsrentnern und Neurentnern, die von der Anhebung der Zurechnungszeit ab dem 1. Januar 2018
     bzw. 1. Januar 2019 profitieren, vor (so auch LSG NRW, Urteil vom 13. März 2020 - L 14 R 883/19, juris - anhängig
     BSG - B 13 R 24/20 R; vgl. auch zur Nichtanwendbarkeit des § 59 Abs. 2 S. 2 SGB VI idF des RV-
     Leistungsverbesserungs-gesetz vom 23. Juni 2014 auf Bestandsrentner LSG Bayern, Urteil vom 28. September 2016 -
     L 19 R 458/16, juris). Der Gesetzgeber kann grundsätzlich bei der Neuregelung von Lebenssachverhalten
     Stichtagsregelungen einführen, sofern hierfür nachvollziehbare sachliche Gründe vorliegen (BVerfG, Beschluss vom 27.
     Februar 2007 - 1 BvL 10/00, juris Rn. 69 ff., insbesondere Rn. 73).

     Für Neurentner wirkt sich die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre im Regelfall stärker aus als
44
     Für Neurentner wirkt sich die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre im Regelfall stärker aus als
     für Bestandsrentner. Die durch die Erhöhung der Zurechnungszeit begründete Rentenerhöhung stellt insoweit auch
     einen Ausgleich für die Anhebung der gesetzlichen Altersgrenzen dar. Zudem profitieren Rentnerinnen und Rentner, die
     bereits eine Rente beziehen vom RV-Leistungs-verbesserungs- und Stabilisierungsgesetz ebenfalls. Mit dem Gesetz
     wurde eine Haltelinie eingeführt, die sicherstellt, dass das Rentenniveau bis zum Jahr 2025 mindestens 48 Prozent
     beträgt (vgl. § 154 Abs. 3 SGB VI). Hinzukommt, dass eine Gefährdung des Systems der Gesetzlichen
     Rentenversicherung nicht ausgeschlossen wäre, wenn sämtliche Leistungsverbesserungen nicht nur für Neurentner
     Anwendung finden würden, sondern alle Bestandrentner mit umfassten. Durch die Einbeziehung der Bestandsrentner
     wären weitere erhebliche finanzielle Mittel erforderlich (vgl. BT-Drs. 19/5412). Die Funktionsfähigkeit des
     Rentenversicherungssystems als solches ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG und des BVerfG ein
     übergeordnetes Gut des Gemeinwohls, das eine sachliche Differenzierung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG und auch eine
     Stichtagsregelung für die Anwendung einer gesetzlichen Neuregelung rechtfertigt. Eine Willkürlichkeit der
     Stichtagsregelungen durch das EM-Leistungsverbesserungsgesetz oder das RV-Leistungsverbesserungs- und
     Stabilisierungsgesetz vermag der Senat nicht zu erkennen.
45
     Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
46
     Die Revision war im Hinblick auf das vor dem BSG anhängige Verfahren -B 13 R 24/20 R wegen grundsätzlicher
     Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Sie können auch lesen