Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter

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Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Schmerzen und Emotionen –
 wie hängt das zusammen?

       19. August 2021
 Fachsymposium Palliative Care

        Kevin Reuter
     kevin.reuter@uzh.ch
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Was kann die Philosophie leisten?

Ist nicht die Philosophie ungeeignet, um ein besseres Verständnis von Schmerzen zu erlangen?

1. Die traditionelle Philosophie geht primär ohne empirische Untersuchungen vor.
2. Die (analytische) Philosophie beschäftigt sich vor allem mit Schmerzbegriffen wie
   “Schmerz”, “wehtun”, “Leiden” und nicht mit Schmerz selbst.

In der Tat sollte Philosophie des Schmerzes auf empirischen Untersuchungen basiert sein.

                Experimentelle Philosophie

Allerdings ist ein Verständnis unserer Schmerzbegriffe zentral für Schmerzforschung
und bessere Schmerzkommunikation.
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Alltagsverständnis von Schmerzen

Falls sich zeigt, dass Laien Schmerzen so verstehen wie Experten, umso besser …

Falls sich aber zeigt, dass Schmerzen und Emotionen andere Merkmale aufweisen als von
Experten angenommen,
- brauchen wir einen besseren theoretischen Rahmen für die Untersuchung von Schmerzen
    und Emotionen und,
- sollten wir unser Verständnis der Art und Weise, wie Subjekte ihre affektiven Zustände
    kommunizieren, grundlegend verbessern.
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Schmerzen sind im
 Körper lokalisiert
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Schmerzen sind im
          Körper lokalisiert

 Schmerzen sind
mentale Zustände
Schmerzen und Emotionen - wie hängt das zusammen? - August 2021 Fachsymposium Palliative Care Kevin Reuter
Schmerzen sind im
          Körper lokalisiert

                        Mentale Zustände
 Schmerzen sind
                       sind nicht im Körper
mentale Zustände
                            lokalisiert
Paradoxie des Schmerzes

         Schmerzen sind im
          Körper lokalisiert

                        Mentale Zustände
 Schmerzen sind
                       sind nicht im Körper
mentale Zustände
                            lokalisiert
Fragen

(1)   Entspricht die allgemeine Definition von Schmerz dem
      Verständnis von Laien (=Nichtexperten)?

(2)   Was verstehen wir unter emotionalem Schmerz?

(3)   Sind Emotionen und Schmerzen normativ?
Fragen

(1)   Entspricht die allgemeine Definition von Schmerz dem
      Verständnis von Laien (=Nichtexperten)?

(2)   Was verstehen wir unter emotionalem Schmerz?

(3)   Sind Emotionen und Schmerzen normativ?
Definition von Schmerz
«Schmerz ist laut Weltschmerzorganisation IASP (= International Association for the Study of Pain)
ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden
Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.»

Unangenehme Sinnes- und Gefühlserlebnissse sind im Geist/Gehirn.
Schmerzaussagen
“Ich habe einen Schmerz in meiner Schulter.”      “Da ist ein Schmerz in meinem Knie.”

           “Wenn wir die Semantik unserer Schmerzberichte ablehnen, dann ist es
           buchstäblich wahr, dass noch nie jemand eine wahre Aussage über den Ort
           eines Schmerzes gemacht hat!“ (Hill, 2006, p.89).
Definition von Schmerz
«Schmerz ist laut Weltschmerzorganisation IASP (= International Association for the Study of Pain)
ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden
Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.»

Unangenehme Sinnes- und Gefühlserlebnissse sind im Geist/Gehirn.

Laut IASP gibt es keine Unterscheidung zwischen dem Schmerzgefühl und dem Schmerz selbst.

Doch stimmt dies überhaupt?
Schmerzen als Gefühlserlebnisse

Subjektivität des Schmerzes:
Wenn eine Person Schmerzen hat, dann fühlt diese Person einen Schmerz.
Unterscheidung von Schmerz und Schmerzempfindung:
Personen unterscheiden nicht zwischen Schmerz und Schmerzempfindung.
Schmerzen als Gefühlserlebnisse

Subjektivität des Schmerzes:
Wenn eine Person Schmerzen hat, dann fühlt diese Person einen Schmerz.
Unterscheidung von Schmerz und Schmerzempfindung:
Personen unterscheiden nicht zwischen Schmerz und Schmerzempfindung.
Die Subjektivität des Schmerzes

               Wenn Schmerzen Gefühlserlebnisse sind, dann gibt
               es keine ungefühlten Schmerzen.

               Schmerzen, die in unserem Körper verweilen, ohne
               dass wir uns ihrer bewusst sind, gelten nicht als
               Schmerzen, solange sie nicht gefühlt werden.

               Vergleiche: Ein Stück Schokolade kann existieren,
               ohne gesehen, gerochen oder geschmeckt zu
               werden.
Der verwundete Soldat

„Wenn wir uns voll und ganz dem Bild verschrieben hätten [d.h. dass Schmerzen nicht subjektiv
sind], wären wir bereit, es für möglich zu halten, dass ein verletzter Soldat trotz seiner
gegensätzlichen Beteuerung, tatsächlich starke Schmerzen hat […] Wenn ich Informanten
gebeten habe, die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios einzuschätzen, neigten sie all dazu, es
als absurd abzutun.“ (Hill, 2006, S.171)
Der verwundete Soldat

Soldaten erleiden oft schwere Verletzungen, zeigen aber keine Anzeichen von Schmerzen und
zeigen weiterhin ein normales Verhalten. Sie leugnen auch, dass sie Schmerzen haben. Erst nach
Ende des Gefechts verkünden Soldaten, dass sie starke Schmerzen verspüren und ein deutliches
Schmerzverhalten zeigen.

(A) Während des Kampfes hat der verletzte Soldat Schmerzen, spürt sie aber nicht.
(B) Während der Schlacht hat der verletzte Soldat keine Schmerzen.
Der verwundete Soldat - Ergebnisse

                                           (A) Während des Kampfes hat der
                                              verletzte Soldat Schmerzen, spürt
                                              sie aber nicht.
                                           (B) Während der Schlacht hat der
                                              verletzte Soldat keine
                                              Schmerzen.

Reuter & Sytsma, 2020
Schmerzmittel

Aydede (2006) behauptet, dass Menschen in Fällen von Gewebeschäden keinen
Schmerz als vorhanden betrachten, wenn Schmerzmittel verhindern, dass die Person
Schmerzen empfindet.
Schmerzmittel

Sally arbeitet in einer Industriefabrik. Eines Tages versagte die Maschine, die sie benutzte, und
verbrannte ihre linke Hand schwer. Sally verzog das Gesicht und rief „Autsch!“ Sie wurde sofort
ins Krankenhaus gebracht, wo ihr eine Pille gegen die Schmerzen gegeben wurde. Zehn Minuten
später kam die Ärztin, um Sally zu untersuchen. Als die Ärztin auf die verletzte Hand drückte,
zuckte Sally nur mit den Schultern und sagte, es tue überhaupt nicht weh. Am nächsten Morgen
untersuchte die Ärztin Sally erneut, nachdem das Schmerzmittel abgeklungen war. Als die Ärztin
diesmal auf die verletzte Hand drückte, verzog Sally eine Grimasse und rief „Autsch!“

Q1. Gab es Schmerzen in Sallys verletzter Hand, als sie ins Krankenhaus kam?
Q2. Gab es Schmerzen in Sallys verletzter Hand, als die Ärztin sie das erste Mal untersuchte,
          obwohl sie die Schmerzen nicht spürte?
Q3. Gab es Schmerzen in Sallys verletzter Hand, als die Ärztin sie das zweite Mal untersuchte?
Schmerzmittel - Ergebnisse

Reuter & Sytsma, 2020
Schmerzen als Gefühlserlebnisse

Subjektivität des Schmerzes:
Wenn eine Person Schmerzen hat, dann fühlt diese Person einen Schmerz.
Unterscheidung von Schmerz und Schmerzempfindung:
Personen unterscheiden nicht zwischen Schmerz und Schmerzempfindung.
Korpus Studie
Unterscheiden Laien in der Alltagssprache Schmerzen von Schmerzempfindungen?

                                                             Ich Form (haben):
                                                             Ich habe/hatte einen [Attribut] Schmerz. /
                                                             Ich habe/hatte [Attribut] Schmerzen.

                                                             Ich Form (fühlen/spüren/empfinden):
                                                             Ich fühle/fühlte einen [Attribut] Schmerz. /
                                                             Ich fühle/fühlte [Attribut] Schmerzen.

                                                                                  Reuter, 2011;
                                                                                  Sytsma & Reuter 2017
Verhältnis von «Schmerzen fühlen» zu «Schmerzen haben».

Bei kleinen Schmerzen sagen Personen überwiegend, dass sie einen Schmerz fühlen/spüren/empfinden.
Bei grossen Schmerzen sagen Personen überwiegend, dass sie einen Schmerz haben.
Schmerzen als Gefühlserlebnisse

Subjektivität des Schmerzes:
Wenn eine Person Schmerzen hat, dann fühlt diese Person einen Schmerz.
Unterscheidung von Schmerz und Schmerzempfindung:
Personen unterscheiden nicht zwischen Schmerz und Schmerzempfindung.
Schmerzen als Gefühlserlebnisse

Subjektivität des Schmerzes:
Wenn eine Person Schmerzen hat, dann fühlt diese Person einen Schmerz.
Unterscheidung von Schmerz und Schmerzempfindung:
Personen unterscheiden nicht zwischen Schmerz und Schmerzempfindung.
Definition von Schmerz
«Schmerz ist laut Weltschmerzorganisation IASP (= International Association for the Study of Pain)
ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden
Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.»

Obwohl Schmerz laut Weltschmerzorganisation als unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis
definiert wird, zeigen die Resultate, dass ein Grossteil der Laien nicht ein solches Verständnis von
Schmerzen zu haben scheint.

Anstatt dessen denken viele Laien, dass Schmerzen im Körper sind und nicht immer gefühlt werden.
Fragen

(1)   Entspricht die allgemeine Definition von Schmerz dem
      Verständnis von Laien?

(2)   Was verstehen wir unter emotionalem Schmerz?

(3)   Sind Emotionen und Schmerzen normativ?
Vokabular

  Wir verwenden oftmals dasselbe Vokabular, um sowohl über körperliche als auch über
  emotionale Schmerzen zu reden.

Emotionaler Schmerz:                                 Körperlicher Schmerz:

“Der Tod meines Vaters schmerzt sehr.”              “Die Entzündung in meiner Schulter schmerzt sehr.”
“Als sie mich verlassen hat, tat es sehr weh.”      “Als der Stein auf meinen Fuss fiel, tat es sehr weh.”
Der selbe Schmerz?

  An sich lässt die Wortwahl vermuten, dass wir bei emotionalen und körperlichen
  Schmerzen vom gleichen Phänomen reden.

  Auf der anderen Seite, sprechen wir womöglich nur metaphorisch von Schmerzen und
  wehtun, wenn wir „emotionalen Schmerz“ empfinden. Denken Sie an Sätze wie „Deine
  Ignoranz tut weh.“, oder „Die Börsendaten sind schmerzhaft für die Firma“.

Metaphorische Schmerzen                                                  Echte Schmerzen

                                Emotionale Schmerzen ??
Datenlage

Wie ähnlich empfinden Personen emotionalen und körperlichen Schmerz?

Zwei Experimente:

1.   Frage nach der Ähnlichkeit der beiden Anwendungen des Schmerzbegriffs.
2.   Frage, ob für emotionaler Schmerz der Begriff nur metaphorisch verwendet wird.
Datenlage

In beiden Versuchen zeigt sich ein sehr uneinheitliches Bild. Während viele Personen emotionale
Schmerzen als metaphorische Schmerzen abtun, beharren viele andere Personen, dass sie wie
körperliche Schmerzen sind.
Fragen

(1)   Entspricht die allgemeine Definition von
      Schmerz dem Verständnis der Laien?

(2)   Was verstehen wir unter emotionalem
      Schmerz?

(3)   Sind Emotionen und Schmerzen normativ?
Normativität von Schmerzen

Unsere gewöhnliche Sprachpraxis legt nahe, dass wir Emotionen normativ bewerten.

Beispiele:

(a) „Du solltest Dich nicht über das Leid einer anderen Person freuen.“
(b) „Du solltest wirklich keine Angst vor einer Spinne haben.“

Solche Emotionen gelten als unangemessen in diesen Kontexten.

Gewöhnlich wird argumentiert, dass Körperempfindungen, wie das Gefühl von Kälte, Hunger
oder Schmerz nicht in einer solchen Weise normativ bewertet werden kann.
Wie angemessen ist es Schmerzen in Frage zu stellen?
                                                    Angemessenheitsbewertungen
                                                  (0 = „absolut unangemessen“ und
                                                      7 = „absolut angemessen“)

                                                                        p = 0.256
  Jeden Mittwoch nach der Arbeit spielen
  Peter und Tom Tennis. An einem
  Mittwochabend sprintet Peter nach einem
  Stop von Tom zum Netz und verdreht sich
  den Knöchel. Peter hat sofort einen
  stechenden Schmerz. Er ist sehr
  verzweifelt und die Situation ist kaum zu
  ertragen. Er ist überwältigt von diesem
  quälenden Gefühl. Am Tag darauf stellt
  sich heraus, dass (a) er mehrere Bänder
  im Knöchel gerissen hat, (b) ein Band im        6.35                      6.39
  Knöchel verspannt ist, (c) es seinem                                                                  5.92
  Knöchel tatsächlich gut geht.

  Wie angemessen ist es Ihrer Meinung
  nach, dass Peter einen stechenden
  Schmerz im Knöchel hat/fühlt?

                                              torn ligaments strained ligament                       no injury

                                                      Basis: 94 respondents, 55 females, mean age = 42.26
Beispielantworten

«Einen Schmerz zu erleben war nicht
   seine eigene Wahl. Es ist weder
            angemessen                   «Es ist nicht angemessen oder
        noch unangemessen»                  unangemessen ... es ist
                                                    was es ist"

«Was ist mit "angemessen" gemeint?
          Logisch? Sozial
      akzeptabel? Verdient?»               «Angemessenheit eines
                                                 Schmerzes
                                      durch eine Verletzung verursacht?
                                             Lächerliche Frage.»
Interpretation

Vorläufiges Ergebnis: Der Grad, in dem die Leute Toms Aussage als
unangemessen empfanden, unterschied sich nicht signifikant von der Ursache.

Deutung:

Menschen scheinen Schmerzen (oder mehr oder weniger Schmerzen) nicht aus
Angemessenheit zu begreifen – es ist kein Phänomen, das einer rationalen
Bewertung zugänglich ist.
Vergleich: Angst – Hunger – Kälte - Schmerz

«Es ist
unangemessen
für Tom, … zu
fühlen.»
Alltagsverständnis von Schmerzen

Falls sich zeigt, dass Laien Schmerzen so verstehen wie Experten, umso besser …

Falls sich aber zeigt, dass die kognitiven Schmerzen und Emotionen andere Merkmale
aufweisen als von Experten angenommen,
- brauchen wir einen besseren theoretischen Rahmen für die Untersuchung von Schmerzen
    und Emotionen und,
- sollten wir unser Verständnis der Art und Weise, wie Subjekte ihre affektiven Zustände
    kommunizieren, grundlegend verbessern.
Schlussfolgerungen

1. In einigen Belangen zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen Experten und Laien, wie
   Schmerz verstanden wird (ungefühlte Schmerzen, Schein-Sein Unterscheidung)

2. In anderen Aspekten zeigt sich ein diffuses Bild. Laien haben sehr wahrscheinlich kein
   einheitliches Verständnis von Schmerzen und Emotionen.

3. In wiederum anderen Bereichen machen Experten richtige Vorhersagen bezüglich der
   Überzeugungen von Nicht-Experten, i.e., Normativität von Schmerzen.

ABER: Die Ergebnisse reflektieren primär das Schmerzverständnis von gesunden Personen.

Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten entwickeln sehr wahrscheinlich eine veränderte
Auffassung davon, was Schmerzen sind.
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