Schulwandertag als sozialpädagogische Inszenierungsmöglichkeit hoher personaler Erlebnisqualität von Natur, Gruppe und Introspektion. Historische ...
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Stephan Wieser, Holger Winkelmaier Schulwandertag als sozialpädagogische Inszenierungsmöglichkeit hoher personaler Erlebnisqualität von Natur, Gruppe und Introspektion. Historische Entwicklung und hochschuldidaktische Umsetzung an der PH Wien Trotz historisch gewachsenem Zusammenhang von Wandern / Bewegen in der Natur und Bildung (Aristo- teles, Goethe, Rousseau…) hat das Schulwandern eine deutlich kürzere Tradition. Während in der Zwischen- kriegszeit noch ein monatlicher Schulwandertag angestrebt wurde, gibt es heute keine gesetzliche Veranke- rung dezidiert Schulwanderungen durchzuführen. Trotz nachgewiesener starker positiver Affekte des Bewegungsraums Natur per se und des Wanderns in speciali scheint der Schulwandertag in der Schulautonomie zu verschwinden. Die PH Wien hat hochschuldidaktische Überlegungen angestellt und umgesetzt um einen Kontraimpuls in der Ausbildung der Studierenden Lehramt Primarstufe zu setzen und sie für die Organisation und Leitung von Schulwandertagen zu befähigen und zu begeistern. This article deals with the development and the subsequent decrease of “Schulwanderns” and questions the positive influences regular hiking in school can have. It also investigates the Pedagogical “Hochschule” in Vienna and its framework for teaching primary school teachers to have a new level of awareness in order to successfully implement “Schulwandertagen.” Cet article examine le développement et plus particulièrement la baisse du nombre de journées de marche dans les établissements scolaires. Elle s’interroge sur les effets positifs que l’organisation régulière de marches pourrait avoir sur les relations entre élèves dans les classes ainsi que sur les possibilités d’inciter les étudiants de la Pädagogische Hochschule de Vienne, futurs enseignants/tes d’école primaire, d’organiser des journées de marche. A tanulmány az iskolai túrák fellendülésével, ill. visszaesésével foglalkozik és azt kutatja, milyen pozitív hatásai lehetnek az osztályközösségi keretben szervezett rendszeres túráknak, valamint a Bécsi Pedagógiai Főiskola a hallgatói képzés keretében hogyan tud a leendő alsó tagozatos tanítókban újfajta tudatot kialakítani az iskolai túranapok szervezésével kapcsolatban. U članku se govori o razvoju i opadanju školskoga pješačenja te se postavlja pitanje pozitivnih utjecaja koje može imati redovno pješačenje u razrednoj zajednici. Ispituje se i kako bi mogla stvoriti Visoka škola Beč u okviru obrazovanja svojih studentica i studenata za učitelja osnovne škole novu svijest o provedbi školskih dana pješačenja. 9. Schulwandertag 0 Ausgangslage und Fragestellung Der Artikel beschäftigt sich mit der Entwick- Hochschule Wien im Rahmen der Ausbildung lung bzw. des Rückgangs des Schulwanderns ihrer Studierenden für das Lehramt Primarstu- und hinterfragt, welche positiven Einflüsse das fe ein neues Bewusstsein für die Durchführung regelmäßige Wandern in der Klassengemein- von Schulwandertagen schaffen kann. schaft haben kann und wie die Pädagogische
1 Wandern – historische Entwicklung, philo- Menschen zur Rückkehr zur Natur und Na- 9. Schulwandertag sophische Überlegungen türlichkeit auffordert (vgl. Rousseau, 1998: 6, 9-10, 172, 450-451). 1.1 Historische Entwicklung Rousseaus Gedanken zur Erziehung formier- Das Spazieren bzw. Wandern im Kontext von te die Grundlage der aufgeklärten Pädagogik Bildung und geistigem Austausch hat eine lan- des Philanthropismus, welche zur Bildung von ge Tradition. Bereits die griechischen Philoso- Philanthropinen (Landeserziehungsanstalten phen der Antike, allen voran Aristoteles, lehr- der begüterten, oberen Stände) führte. Hier ten ihre Schüler während Sie sich im Freien wurden im Rahmen des Unterrichts regelmä- bewegten. (vgl. Höffe, 1999: 19) ßig Wanderungen durchgeführt (vgl. Burger & Groll, 1972: 33). Die Entwicklung des Wandergedankens in der Schule lässt sich im Mittelalter zunächst an Vittorino da Feltre (1378-1446) festmachen, 1.2 Schulwandertag in Österreich – historische der im Dienste des Grafen von Mantua (Ober- Entwicklung & Situation heute italien) die „casa giocasa“ führte, ein Erzie- hungsinstitut, welches Wanderungen mit sei- Zur Wende des 19. Jahrhunderts instrumenta- nen Schülern durchführte (vgl. Burger & Groll, lisiert Preußens „Turnvater“ Friedrich Ludwig 1972: 30). Die ersten urkundlich erwähnten Jahn (1778-1852) das regelmäßige, ausgedehn- Schulwanderungen in Deutschland datieren te Wandern im Rahmen des Turnunterrichts aus dem Jahr 1530, verantwortlich dafür zeich- ausschließlich zur körperlichen Ertüchtigung nete sich Schulmeister Valentin Friedland (vgl. für den späteren Militärdienst (vgl. Burger & Gaulhofer, 1932/1966: 227-228). Groll, 1972: 33). War das Wandern bisher der gehobenen Gesellschaftsschicht vorbehalten, Mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diente es jetzt der körperlichen Vorbereitung setzten sich große Denker der Aufklärung (u.a. des Volkes auf den Wehrdienst, Stiftung ei- Goethe, Schiller, Rousseau) nicht nur praktisch nes Gemeinschaftssinns und dem Kennenler- sondern auch intellektuell mit dem Wandern an nen des Landes bzw. der Landschaft um einen sich auseinander. Das Zitat „Was ich mir nicht emotionalen Bezug herzustellen (vgl. Zimmer- erlernt habe, habe ich mir erwandert“ (Riemer, mann, 1999: 9-11). 1841: 289) stammt von Goethe, der selbst als begeisterter Wanderer bekannt war. Im Ro- In Österreich wird das Wandern erst Mitte man „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die des 19. Jahrhunderts durch Bildung von Wan- Entsagenden“ (vollendet erschienen 1829) the- dervereinen „volksnah“ (1862 - Gründung des matisiert und beschreibt er das Wandern und österreichischen Alpenvereins; 1895 – die so- Auswandern (vgl. Fink, 1991). Die Elegie „Der zialdemokratische Arbeiterbewegung gründet Spaziergang“ ist ein 100 Distiche umfassendes „Die Naturfreunde“). Das Reichsvolksschulge- Gedicht (letztüberarbeitet veröffentlicht 1799) setz von 1869 führte den verpflichtenden Turn- von Schiller, in der er unter anderem die Leich- unterricht im Ausmaß von zwei Wochenstun- tigkeit des Spazierens bzw. die Leichtigkeit im den ein, Wandern findet (nicht obligatorisch) Gemüt beim Spazierengehen und die Idylle der im Rahmen eines jährlichen Schulausfluges Natur anpreist (vgl. Heinz, 2003: 312-318). Bei statt. (vgl. Burger & Groll, 1972: 39, 42) 1910 Rousseau gipfelt die Auseinandersetzung mit findet die „Enquete der körperlichen Erzie- der Natur in seinem 1762 erschienen Erzie- hung“ statt, in welcher umfangreiche Reformen hungsroman „Emile“, in welchem er auch die beschlossen, jedoch aufgrund des 1.Weltkriegs Erziehung durch Wandern beschreibt und den in weiterer Folge nicht umgesetzt wurden.
1915 wird aus militärischen Gründen der mo- 2 Schulwandertag – Wirkungsdimensionen natliche Wandertag eingeführt und nach Ende des ersten Weltkriegs wieder aufgehoben um „Wenn man nur ankommen will, kann man 1921 erneut die Schaffung eines monatlichen ruhig mit der Post fahren; wenn man aber rei- Wandertags an Mittelschulen zu beschließen. sen will, muss man zu Fuß gehen.“ (Rousseau, Bereits 1925 muss aus budgetären Gründen 1998: 451) Dieses Zitat betont, dass Wandern die Wandertagsanzahl von zehn auf fünf und mehr ist, als nur von Punkt A zu Punkt B zu 1934 sogar auf drei Wandertage pro Jahr redu- kommen und deutet an, dass Wandern und am- ziert werden. (vgl. Burger & Groll, 1972: 44, 47 Weg-Sein eine noch nicht näher beschriebene / Gaulhofer, 1926/1931: 215-216) 1980 war Erlebnisqualität haben muss. In diesem Kapitel die gesetzlich festgelegte Anzahl an jährlich wird der Erlebnisraum Natur als solcher be- durchzuführenden Wandertagen in der 3. und trachtet und seine Auswirkungen auf das In- 4. Schulstufe mit verpflichtenden drei festge- dividuum einerseits und die Möglichkeiten der legt (Fritsche, 1980: 5). Gegen Ende des letz- sozialen Interaktion andererseits beleuchtet. ten Jahrhunderts hat sich diese Zahl auf zwei reduziert, heute gibt es keine vorgeschriebene Anzahl an verpflichtenden Wandertagen mehr. 2.1 Erlebnisraum Natur Im Volksschullehrplan selbst findet der Termi- nus eine einmalige Erwähnung (ohne weitere Der Schulreformer Otto Glöckl (1917/1985: Erläuterungen) als inhaltliche Möglichkeit den 115) fordert bereits direkt nach dem 1. Welt- Erfahrungs- und Lernbereich „Erleben und krieg dazu auf, Kindern die „Freude an der Wagen“ umzusetzen (weitere Ausführungen Natur“ zu vermitteln, das „enge Schulzimmer“ siehe Kap. 3.1). Im fünften Teil der Informa- ins „Unendliche“ zu erweitern und „papieren- tionsblätter zum Schulrecht (Thema: Schul- de Lesebuchbegeisterung“ gegen „lebendige veranstaltungen) wird das Stundenausmaß Anschauung“ zu tauschen. Brezinka (1988: zur Umsetzung von Schulveranstaltungen wie 137) schlägt 80 Jahre später in dieselbe Ker- folgt festgehalten: In der Grundstufe 1 (1. und be, wenn er das Wandern als Ausweg „aus der 2. Schulstufe) „in dem unter Bedachtnahme engen künstlichen Welt heraus zur Begegnung auf die Anforderungen des Lehrplanes erfor- mit der Natur“ beschreibt. Die Natur bzw. das derlichen Ausmaß“ (BMUKK, 2007: 11), frei Wandern in der Natur ermöglicht „wichtigs- interpretiert „man kann, muss aber nicht“; In te Grunderfahrungen selbst zu machen“, um der Grundstufe 2 (3. und 4. Schulstufe) jährlich „mehr als sonst aus erster Hand, in unmittelba- insgesamt 13 Stunden (bei einer Schulveran- rer Berührung mit der Wirklichkeit“ (Brezinka, staltungsdauer von bis zu fünf Stunden) (vgl. 1988: 138) zu sein. Hier wird Natur mit Wirk- ebd.: 11), womit die Lehrpersonen maximal lichkeit gleichgesetzt, das Leben in der Stadt, drei Schulveranstaltungen für alle Fachbereiche welches kontrastierend herangezogen wird, einplanen dürfen. Das Rundschreiben RS17- wäre demnach eine Verzerrung der Wirklich- 2014 „Richtlinien für die Durchführung von keit durch „einseitige Reizüberflutung“ (ebd.: bewegungserziehlichen Schulveranstaltungen“ 138). 9. Schulwandertag macht keine Angaben zum Stundenausmaß von bewegungserziehlichen Schulveranstal- Die Natur hat für den Menschen besondere tungen im Allgemeinen oder Wandertagen im Erlebnis- und Erfahrungsqualität. Rousseau Speziellen. Es zeigt sich der Trend, dass der (1998: 451) spricht von „Reichtümer[n]…, die Schulwandertag in der Schulautonomie gänz- vor seinen Füßen liegen und die die Erde vor lich verschwinden kann. seinem Blick ausbreitet.“ um uns die Besonder-
heit der Vielfalt der Natur bewusst zu machen handelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, 9. Schulwandertag und zu mahnen uns dies nicht entgehen zu Widerständigkeit, Bezogenheit.“ (Renz-Pols- lassen (vgl. ebd.: 450-451). Goethe erklärt die ter & Hüther 2013: 9) Wirkung dieser Vielfalt als glücklich machen- de Zerstreuung: „Wo wir uns der Sonne freu- Die Unmittelbarkeit ergibt sich durch die kör- en, sind wir jede Sorge los: Dass wir uns in ihr persinnliche Wahrnehmung der Natur. Das zerstreuen, darum ist die Welt so groß.“ (Fink, Kind schafft einen Anker im Hier und Jetzt, 1991: 549) wenn es beispielsweise die Geräusche des Wal- des hört, den Wind auf der Haut spürt oder den „Das Wandern führt aus dem Lärm in die Stil- Duft der Blumen riecht. Dieses Ankommen im le.“ (Brezinka, 1988: 139) Die Ruhe der Na- Moment kuriert das ständige gedankliche Ab- tur ermöglicht innere Einkehr und Besinnung, schweifen im Lebensalltag. (vgl. Renz-Polster führt zu Entschleunigung und lässt eine seeli- & Hüther, 2013: 43-46) Die direkte, unmittel- sche Bindung an den umgebenden Naturraum bare und konkrete sinnliche Auseinanderset- entstehen (vgl. ebd.: 139-140 / Renz-Polster zung mit der Natur schafft einen wohltuenden & Hüther: 90-93). Gleichzeitig ist die Natur Kontrast zum sinnlichen Abschweifen vor al- Raum des Abenteuers durch unerwartete Situ- lem durch neue Medien „in den nicht erfahrba- ationen, plötzlich auftretende Gefahren- oder ren Raum des Virtuellen“ (ebd.: 46). Brezinka Risikosituationen und bei vielem Vorhersehba- (1988: 138-139) hat in diesem Zusammen- ren scheint auch immer wieder das vermeint- hang schon vor zwanzig Jahren attestiert, dass lich Neue bzw. Neuentdeckte in der Natur auf. die „seelische Erlebnisfähigkeit“ (ebd.: 139) Eben dieses Spannungs-/Entspannungsfeld der Kinder in der Stadt geschwächt ist und der Natur liefert einen pädagogisch besonders durch diese „unmittelbare Berührung mit der wichtigen Aspekt. (vgl. Brezinka, 1988: 139- Wirklichkeit“ (ebd.: 139) wieder aktiviert wird. 141) „Das Wandern [wie auch jede spielerische Durch das Aufgehen im Moment verliert Zeit Aufgabe in der Natur] formt und bildet ihn seine Bedeutung, das Zeitgefühl wird aufgeho- [Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene], ben. Es findet eine Entschleunigung statt. (vgl. aber die Wirkung entspringt unmittelbar einer Renz-Polster & Hüther, 2013: 90-91) Thomas fruchtbaren Situation [ohne erzieherische Ab- Mann (1981/2010: 109) beschreibt das Wan- sicht] und nicht einem überlegenen mensch- dern in diesem Kontext: „Du gehst und gehst… lichen Willen.“ (ebd.: 141) Die Natur ist der und wirst von solchem Gange niemals zu rech- Lehrmeister ohne zu belehren. Das Kind lernt ter Zeit nach Hause zurückkehren, denn du bist in der Natur spielerisch, indem es sich selbst die der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen.“ Situationen schafft, die es zu bewältigen sucht, um sich bewähren zu können. Hier spielen Die Freiheit als Quelle kindlicher Entwicklung auch die Freizügigkeit und die Widerständig- ergibt sich in der Natur durch die vielfältigen keit der Natur (siehe nachfolgendes Kapitel) Möglichkeiten des äußeren und inneren Erle- eine bedeutende Rolle. bens. Die sich in der Natur bewegende Person ist frei selbst zu entscheiden, für welche Wahr- nehmung sie offen ist und schöpft aus dem 2.2 Personale Ebene vielfältigen Angebot der Natur. Die Natur ist ein freier Spielraum, der die kreative Spielent- „Weil Natur für Kinder eben nicht einfach eine wicklung in ihr anstachelt. Somit ist das in der nette Ergänzung zum Alltag ist. Weil sie mehr Natur spielende Kind frei und aktiv in seiner ist als ein Erholungsraum, …. Sie ist ihr ange- Wahl der Spielmittel und der Entwicklung stammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die seiner Spielidee. (vgl. Renz-Polster & Hüther; Kinder auf vier für ihre Entwicklung unver- 2013: 47-49) Rousseau (1998: 450-451) sieht
die Selbstbestimmung des Menschen beim Verirrung preisgegeben sind. Ihr Leben verliert Wandern als große Freiheit: „Man bricht auf, den inneren Halt, ihr Wesen die Ursprünglich- wann man will; man rastet nach Belieben; … keit, Kraft und Schönheit des Natürlichen.“ Überall, wo es mir gefällt, verweile ich… Da (Gaulhofer & Streicher, 1949: 11) Erst durch ich nur von mir abhänge, erfreue ich mich aller die Auseinandersetzung in der Natur mit sich Freiheit, die ein Mensch haben kann.“ selbst kann Selbstfindung Nachhaltigkeit er- fahren. Die Gemeinschaft verstärkt die Aus- Als dritte Quelle kindlicher Entwicklung nen- einandersetzung mit sich selbst, indem sich nen Renz-Polster und Hüther Widerständig- einerseits gegenseitig der Spiegel vorgehalten keit. Die Natur ist widerständig, indem sie na- wird und sich andererseits das Individuum in- türliche Grenzen setzt (unwegsames Gelände, trospektiv noch intensiver mit sich (Wer bin Temperatur, …). Der Mensch muss sich an- ich? Was will ich? Was stört mich? …) und sei- passen oder nimmt das angebotene Abenteuer nen Gefühlen (zur Situation, zum Gegenüber, an und versucht diese Grenzen zu überwinden. …) beschäftigt. Somit führt das Wandern nicht Die vorgegebenen Grenzen aushalten und nicht nur zu sozialer Reifung, es ist gleichzeitig auch zurück zu weichen, sowie der Versuch diese Probe der sozialen Reife jedes einzelnen. (vgl. Grenzen zu überwinden sind unterschiedliche Brezinka, 1988: 139) widerständige Leistungen des Menschen. Um Widerstand leisten zu können, braucht der „Natur stellt für Kinder einen maßgeschnei- Mensch Klarheit über seine Fähigkeiten und derten Entwicklungsraum dar… Hier können Fertigkeiten, seine Erfahrungen und sein Wis- sie wirksam sein. Hier können sie sich auf Au- sen über sich selbst. Diese Bewusstmachung genhöhe selbstorganisieren. Hier können sie an des eigenen Ichs (Bewusstwerdung) ist eine ihrem Fundament bauen. Zeit in der Natur ist Stärkung der Persönlichkeit von innen. (vgl. Entwicklungszeit.“ (Renz-Polster & Hüther, Renz-Polster & Hüther, 2013: 50-53) 2013: 35) Die Kinder lernen spielerisch natürli- chen Umgang miteinander ohne hierarchische Verbundenheit findet auf zwei Ebenen statt. In Strukturen und ohne Fremdeinwirkung von der Auseinandersetzung mit der Natur entsteht Erwachsenen. Im „mitmenschlichen Begeg- eine emotionale Bindung an die Natur (siehe nungsraum“ (ebd.: 54) Natur erleben Kinder Kap. 2.1 – „seelische Bindung“ bei Brezinka). „hochprozentige Begegnungen“ (ebd.: 54) und Auf anderer Ebene ist festzuhalten, dass die gründen „Banden“ (ebd.: 54) zum Ausdruck Natur ein „mitmenschlicher Begegnungsraum“ ihres Gefühls der Verbundenheit bzw. zieht ge- (Renz-Polster & Hüther, 2013: 54) ist. Die rade dieses Gefühl sie gegenseitig sehr stark an. Kinder suchen im Spiel in der Natur die Ge- Es entstehen sozial hochaktive Gruppen. (vgl. meinschaft (weitere Ausführungen siehe Kap. ebd.: 54-55) 2.3). 3 Hochschuldidaktische Überlegungen und 2.3 Soziale Ebene Umsetzung an der PH Wien 9. Schulwandertag Das Wandern an sich hat eine sozialisierende 3.1 Einbettung des Schulwanderns im Volks- Dimension: „Überhaupt sind die Bestrebun- schullehrplan gen, den Menschen zur Natur zurückzufüh- ren, in bestem Sinn soziale Arbeit. Denn die Der Volksschullehrplan im Fachbereich „Bewe- Menschen, die keinen natürlichen Boden unter gung und Sport“ ist in sechs Erfahrungs- und den Füßen und keinen freien Himmel über sich Lernbereichen unterteilt: Motorische Grund- haben, die sind Entwurzelte, die jeder Art von lagen; Spielen; Leisten; Wahrnehmen und Ge-
stalten; Gesund leben; Erleben und Wagen. schnitt 5 erworben haben.“ (BMBF, 2014: 5) 9. Schulwandertag (vgl. BMUKK, 2012: 197-221) Ergo besteht die Ausbildungsverpflichtung sei- tens der pädagogischen Bildungseinrichtungen, Auch wenn andere Erfahrungs- und Lernberei- diese facheinschlägige Qualifikation bezüglich che durchaus Aspekte des Bewegens in der Na- der Durchführung und Leitung von Schulwan- tur bzw. des Wanderns (z.B. „Wahrnehmen und dergruppen zu gewährleisten. Gestalten“ – die Natur wahrnehmen) beinhal- ten könnten, wird ausschließlich und explizit in „Erleben und Wagen“ Natur thematisiert. Die 3.2 Curriculare Umsetzung an der Pädagogi- einleitende Erklärung zum Erfahrungs- und schen Hochschule Wien Lernbereich „Erleben und Wagen“ spricht von „…elementare[n] Bedürfnisse[n] der Schüle- Die in Kapitel 3.1 ausgewiesenen sechs Er- rinnen und Schüler in körperlicher, emotio- fahrungs- und Lernbereiche sind im Curricu- naler, kognitiver und sozialer Hinsicht. Diese lum der Pädagogischen Hochschule Wien für Primärerfahrungen sollen durch geeignete Un- das Lehramt Primarstufe im Grundstudium terrichtsformen vor allem im Freien bzw. in der mit jeweils einer Lehrveranstaltung mit ho- Natur ermöglicht werden… [und] nachhaltig hem Praxisbezug (als Übung) abgebildet. Das die Verantwortung gegenüber sich selbst, ge- Themenfeld „Leisten“ wird am Beispiel Tur- genüber den Mitschülerinnen und Mitschülern nen bearbeitet. „Wahrnehmen und Gestalten“ und der Natur entwickelt werden.“ (vgl. ebd.: sowie „Gesund leben“ sind in einer Lehrver- 201) In Bezug auf die Lernerwartungen wird anstaltung des dritten Studienjahres für alle als erster Punkt angeführt, dass die Natur von Studierenden schwerpunktwahlunabhängig den Kindern als Erlebnisraum für einfache zusammengefasst. (vgl. Pädagogische Hoch- bis vielfältige Möglichkeiten zum Bewegen schule Wien, 2018: 29-30) und Spielen wahrgenommen und als solcher beansprucht werden soll (vgl. ebd.: 201). Der Im Rahmen der Lehrveranstaltung „Bewegung Lehrstoff und besondere didaktische Grund- und Sport: Erleben und Wagen“ findet ein ge- sätze werden nach drei Aspekten (Erleben im blockter Termin zur Umsetzung eines Wan- Freien – Neues Wagen – Vertrauen und sicher dertags in Wien kongruent zur inhaltlichen bewegen) betrachtet. Im Fokus des ersten Teils Zuordnung im Volksschullehrplan statt. Die stehen Bewegungsgelegenheiten im Freien, um Stadt Wien hat neun Stadtwanderwege konzi- vielfältige Körper-, Bewegungs- und Naturer- piert, die Wanderrouten online zur Verfügung fahrungen zu machen. Beispielhaft sind hier gestellt (www.wien.gv.at/umwelt/wald/frei- unter anderem Naturerfahrungsspiele, Gelän- zeit...) und vor Ort entsprechend beschildert. de- und einfache Orientierungsspiele und das Zwei der Wanderrouten haben eine alternative Wandern angeführt. (vgl. ebd.: 217) Routenvariante. In nachfolgender Tabelle sind die Wanderrouten nach Nummerierung auf- Das Rundschreiben 17-2014 „Richtlinien für gelistet, benannt, dem Bezirk zugeordnet, die die Durchführung von bewegungserziehli- Originalweglänge angeführt und die geschätz- chen Schulveranstaltungen“ führt unter Punkt te Wanderdauer (Gehzeit ohne Pausen) wie 4 „Voraussetzungen zur Leitung und Organi- von der Stadt Wien angegeben. sation“ aus, dass Volksschullehrpersonen be- wegungserziehliche Schulveranstaltungen nur Jede Studierendengruppe (ca. 15-20 Personen dann leiten dürfen, wenn sie für die vorgesehe- pro Gruppe; pro Studienjahrgang 12-14 Grup- nen Inhalte „… im Rahmen ihrer Ausbildung pen) erhält vorab den Auftrag eine vorgegebe- befähigt wurden, bzw. wenn sie facheinschlägi- ne Route der elf Stadtwanderwege abzugehen, ge Qualifikationen an Einrichtungen gem. Ab- sich eine gekürzte Route zu überlegen, Pausen-
Tab. 1: Kennzahlen der Wiener Stadtwanderwege (eigene Darstellung) und Spielplätze einzuplanen und einzuzeich- dern (Teilbereich: sportartübergreifendes Kön- nen sowie Risikostellen (z.B. unübersichtliche nen und Wissen; z.B. angemessenes Gehtempo Straßenübergänge) zu erkennen, wenn mög- entwickeln) (vgl. Amesberger & Stadler, 2014: lich zu umgehen oder in der Planung ent- 13-15) Fachkompetenz zu den Stadtwander- sprechende Warn- und Sicherheitshinweise wegen (z.B. Routenkenntnisse, Wissen über anzuführen. Die gekürzten Routen sollen wie regionale Flora und Fauna) und Sozialkom- die Originalrouten mit einem entsprechenden petenz in Bezug auf das Leiten einer Gruppe Kartenprogramm (z.B. Runtastic, Outdoorac- beim Wandern (Teilbereiche: Kommunikation tive…) erstellt werden. Die Pausenplätze, die und Kooperation; Aufgaben, Rollen und leiten; Risikostellen, der höchste Punkt, sollte dieser z.B.: Betreuung der Wandergruppe, Moderati- ein anderer als bei der Originalroute sein, und on von Pausen...) (vgl. ebd.: 13-15) entwickelt. die Stempelstelle (Erklärung folgt in Kap. 3.3) sind zu markieren. Die Studierendengruppe soll Sachunterrichtsunterlagen zum jeweiligen 3.3 Transfer FÜR die Wiener Volksschulen Wandertag entwickeln (Naturkunde: Baumar- ten, Pflanzen, Tiere; Geschichte: Besondere Die Studierenden haben einen Wandertag im Bauwerke / Sehenswürdigkeiten und deren vorbereitenden Selbststudium geplant und historischer Hintergrund) und diese zusätzlich anschließend durchgeführt und zusätzlich gleich in Quizform (Kreuzworträtsel, Lücken- noch eine Vielzahl an Materialien zu sämtli- text, single-choice, offene Fragen) bearbeiten. chen Stadtwanderrouten erarbeitet. Wenn Sie Zusätzlich wird noch ein informativer Eltern- im Anschluss in einer Wiener Volksschule brief zum jeweiligen Stadtwanderweg verfasst. als klassenführende Lehrperson unterrichten, Diese Unterlagen sind vorab abzugeben, wer- können Sie (aufgrund der gekürzten Wander- 9. Schulwandertag den im Verlauf des Wandertags besprochen routen) standortunabhängig jeden Stadtwan- und eventuelle Mängel im Anschluss noch be- derweg gehen, den sie möchten und somit hoben. über die vier Jahre abwechslungsreich mit den Kindern wandern. Die Pläne zu den gekürz- Nach Beendigung der Lehrveranstaltung wer- ten Stadtwanderstrecken ermöglichen es den den sämtliche Unterlagen zu allen Stadtwan- Volksschullehrpersonen auch weiter entfernte derwegen allen Studierenden zur Verfügung Routen abzugehen, für die eine längere An- gestellt. Sie haben Fachkompetenz zum Wan- fahrtszeit eingeplant werden muss und werden
trotzdem zeitgerecht wieder zum Schulstand- alle Studierenden des Lehramtes Primarstufe 9. Schulwandertag ort zurückkehren. die Fachkompetenz zur Leitung von Wander- tagen vermittelt bekommen. Das Projekt der Die Stadt Wien stellt einen Wanderpass (www. Wandernadel (Kap. 3.3) könnte ein Anreiz- wien.gv.at/umwelt/wald/pdf...) als Download system darstellen, Volksschullehrende dazu zu zur Verfügung. Jeder Stadtwanderweg hat eine animieren, mit ihren Klassen regelmäßig wan- eigene Stempelstelle. Bei der Stempelstelle an- dern zu gehen. gekommen, kann jedes Kind seinen Wander- pass abstempeln. Mit drei Stempeln kann von Ein sinnvolles fortsetzendes Forschungsvor- der Stadtinformation des Wiener Rathauses haben wäre die Erhebung, wie viele Volks- die Wandernadel in Silber, bei sieben Stempeln schulklassen in Wien im heurigen Schuljahr die Wandernadel in Gold beantragt werden. 2018/19 wirklich Wanderungen unternehmen, Bei jährlich zwei Wanderungen (September um auf Basis dieser Daten dann im Schuljahr und Mai/Juni) bedeutet das, dass die Volks- 2020/21 erheben zu können, ob die Planung schulkinder neben dem Kennenlernen vieler und Durchführung von Wandertagen im Rah- Grünflächen und Wälder Wiens mit Winter- men der Ausbildung einen signifikanten Ein- semester der zweiten Klasse die Wandernadel fluss auf die Häufigkeit von Wandertagen hat. in Silber und mit Wintersemester der vierten Klasse die Wandernadel in Gold erhalten. Zu hinterfragen ist, ob eine Kooperation mit der Stadt Wien sinnstiftend ist, wenn auf der Plattform für die Stadtwanderwege auch ein 4 RESÜMEE & Ausblick Angebot für Unterrichtsmaterialien (Kap. 3.3) für Schulwandertage erstellt wird. Die an der Die Notwendigkeit zur Inszenierung von PH Wien entworfenen Unterlagen wären dann Schulwandertagen wurde hinreichend begrün- allen Volksschullehrpersonen zugänglich zu det (Kap. 1.1 und 2). Dem Verschwinden des machen. Wanderns aus der Schule (Kap. 1.2) ist des- halb unbedingt entgegenzuwirken. Die Päda- In der Arbeitseinheit „Bewegung und Sport“ gogische Hochschule Wien setzt im Rahmen im Verbund Nordost (PH Wien, PH Nieder- der Lehrveranstaltung „Bewegung und Sport: österreich, KPH Wien/Krems) wird diskutiert, Erleben und Wagen“ einen Kontraimpuls, in- wie das beschriebene Konzept (Kap. 3.2 und dem die Studierenden befähigt werden, Schul- 3.3) in die Ausbildung zum Lehramt Primar- wandertage zu organisieren und zu leiten (Kap. stufe im Bundesland Niederösterreich umge- 3.2). Aufgrund der Studierendenfeedbacks setzt werden könnte. Das Ziel muss es sein, („Ich habe ganz vergessen, wie schön Wandern Volksschullehrpersonen bundesweit dazu zu ist.“) und der umfangreich zur Verfügung ge- animieren, zumindest zweimal jährlich einen stellten Materialien (Wanderrouten, Spiele- Schulwandertag zu inszenieren. sammlung, Sachunterrichtsmaterialien; Kap. 3.2 und 3.3) darf darauf gehofft werden, dass die zukünftige Generation der Wiener Volks- Literatur: schullehrpersonen vermehrt Wanderungen mit ihren Schülerinnen und Schülern unternimmt. Amesberger, G.; Stadler, R. (2014): Bildungsstandards Die im Curriculum früh verankerte Lehrver- für Bewegung und Sport. Handreichung für kompeten- anstaltung lässt kritisch gesehen den „Wander- zorientiertes Lernen und Lehren [online]. Universität impuls“ bis zum Einstieg in die Lehrtätigkeit Salzburg, URL:http://www.bewegung.ac.at/fileadmin/ abschwächen. Allerdings ist nur durch die An- unterricht/Handreichung_gesamt_Bildungsstandard_ setzung im Grundstudium gewährleistet, dass Bewegung_und_Sport.pdf [30.09.2018]
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