Schweiz macht's vor: Bibliothekarinnen und Bibliothekare treffen sich wieder
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Holländer REPORTAGEN 661 Zufrieden blickt das Team des Kongresses auf die erfolgreichen Kongresstage zurück. © S. Holländer Schweiz macht’s vor: Bibliothekarinnen und Bibliothekare treffen sich wieder Schweizer Bibliothekskongress 2021 des Verbandes Bibliosuisse war als Präsenzveranstaltung in Bern sehr geschätzt. Stephan Holländer ❱ Der Schweizer Bibliothekskongress 2021 war in ver- der Anzahl von 480 Teilnehmenden aus, die im Ver- schiedener Hinsicht eine Premiere, wie der Präsident gleich zu der Teilnehmerzahl von 680 Teilnehmenden von Bibliosuisse Hans Ambühl in einer schriftlichen in Montreux vor der Pandemie rückläufig war. Einen Begrüßung zum Kongress in Bern schrieb. Dies war Einfluss mögen aber auch die Schulferien in der fran- der erste Kongress, nachdem der Verband 2018 in zösischsprachigen Westschweiz gehabt haben. Gut Montreux aus der Taufe gehoben worden war. We- gebucht war hingegen die Ausstellung mit 34 Firmen gen der Pandemie musste das 125-jährige Jubiläum und Institutionen, die ein breites Spektrum an Pro- der Schweizerischen Nationalbibliothek um ein Jahr dukten von Bibliothekssystemen bis zum Materialbe- verschoben werden. Gemäß dem Grußwort des Prä- darf für Bibliotheken abdeckten. sidenten handelte es sich auch um den ersten Biblio- Die Teilnehmenden erwartete nach der Prüfung ihrer thekskongress in Europa, der seit der Pandemie wie- Zertifikate bei der Registrierung eine Neuheit. Gab es der als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden in der Vergangenheit eine Tagungstasche und in Mon- konnte. Er richtete sich an Bibliothekarinnen und Bib- treux auch eine App, so war jetzt am Kongress in Bern liothekare von allen Bibliothekstypen und an Mitarbei- die Rückkehr zu einem analogen Medium angesagt: tende von Informations- und Dokumentationsstellen. es wurde ein Ringbuch mit den Kongressinformatio- Dennoch hatte die Pandemie ihre Spuren hinterlas- nen ausgegeben. sen. Zugelassen waren nur Teilnehmende, die ein Eine Neuigkeit in der Reihenfolge der Bibliosuisse- Impfzertifikat vorweisen konnten, genesen oder sich Veranstaltungen bildete das Bibliotheksforum, das zuvor hatten testen lassen. Dies drückte sich auch in am Vortag des Kongresses stattfand. Diese statuta- www.b-i-t-online.de 24 (2021) Nr. 6 online Bibliothek. Information. Technologie.
662 REPORTAGEN Holländer die sich einer konsequenten Virtualisierung und Di- gitalisierung ihrer Dienstleistungen verschrieben hat. Der Vorstellung der drei Bibliothekskonzepte folgte eine Podiumsdiskussion mit Bibliothekaren und Poli- tikern. Der gute Wille, sich gegenseitig verstehen zu wollen, war durchaus spürbar. Es wird wohl aber noch eine längere Zeit vergehen, bis Politiker und die Ver- treterinnen und Vertreter der Bibliotheken eine ge- meinsame Sprache sprechen. Ein erster Schritt dazu wurde aber mit dieser Veranstaltung getan. Ein weiteres Novum für einen Bibliothekskongress von Bibliosuisse waren die fünf großen Bibliobus- © SKarl-Heinz Hug se aus Delsberg, Genf, Lausanne und Neuenburg, die an prominentester Stelle auf dem Bahnhofsplatz die Kongress-Teilnehmenden empfingen. Mehr als 250.000 Personen frequentieren täglich den Bahn- Hans Ambühl, Präsident Bibliosuisse begrüsst die Anwesenden des hof Bern. Durch die Ausstellung der Bibliobusse ka- Bibliotheksforums. men auch Passantinnen und Passanten mit dieser Art der mobilen Bibliothek in Kontakt, die in der Deutsch- schweiz heute kaum mehr vertreten ist. Während des Kongresses findet in der Regel keine Mitgliederversammlung statt. Die Verbandsangele- genheiten werden in einer gesonderten Veranstaltung jeweils im Frühling beraten. Der Fokus des Kongres- ses lag also ganz auf den Fachveranstaltungen. Hans Ambühl eröffnete den Kongress mit dem Hin- weis, dass die Veranstaltung wegen der Pandemie ein Jahr später als geplant nun als Präsenzveranstaltung © S. Holländer stattfinden könne. Die Freude bei den Organisatoren wie auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich nach 19 Monaten der Einschränkungen und Martina Hoffmann von der Schweizerischen Nationalbibliothek referiert zum Schließungen endlich wieder im realen Leben begeg- Massendigitalisierungsprozess historischer Zeitungen. nen und austauschen konnten, war in allen Veranstal- risch festgelegte Veranstaltung will die Bibliotheken tungen und während der Kongresspausen deutlich und die Politik miteinander ins Gespräch bringen. spürbar. Gerade für Öffentliche Bibliotheken, die gezwungen Aus dem Angebot der Präsentationen und Vorträ- sind, ständig etwas Neues zu bieten, um die Aufmerk- ge seien drei Veranstaltungen herausgegriffen, die samkeit ihrer Nutzerinnen und Nutzer weiterhin zu er- die große Bandbreite der behandelten Themen aus halten, ist es wichtig, bei Ihren Auftrag- und Finanzge- Öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken bern den nötigen Rückhalt zu erlangen, um ihre Pläne aufzeigen sollen. für künftige Neuerungen umsetzen zu können. Martina Hofmann von der Schweizerischen Natio- Im Forum präsentierten drei öffentliche Bibliotheken nalbibliothek berichtete über den Massendigitalisie- und die für sie zuständigen Exekutivmitglieder der je- rungsprozess für Zeitungen zur Präsentation auf e- weiligen Standortgemeinden aus verschiedenen Lan- newspaperarchives.ch gemäß der ISO Norm 19264-1 desteilen ihre innovativen Konzepte, wie sie die Kul- zur Langzeitarchivierung mit externen Dienstleistern. turpolitik ihrer Gemeinden in ihrer Bibliothek umset- Diese Webseite befindet sich noch im Aufbau. Sie zen wollten. Die Konzepte reichten von Urban Garde- zeichnet sich dadurch aus, dass die gewünschten In- ning und praktischem Umweltschutz in einer Biblio- formationen auf Artikelebene gesucht und gefunden thek in Vevey am Genfer See über die Belebung eines werden können. Damit das Bedürfnis nach einer zen- ehemaligen Industriegebäudes mit einer Öffentlichen tralen Präsentations- und Zugangslösung, welches Bibliothek inmitten eines Einkaufzentrums als nicht von verschiedenen Institutionen geäußert wurde, die kommerzieller Dritter Ort in Mendrisio im Tessin so- ihre Zeitungen digitalisieren und öffentlich verfügbar wie einer weiteren Bibliothek in Aarau im Mittelland, machen wollen, realisiert werden kann, integrieren online 24 (2021) Nr. 6 Bibliothek. Information. Technologie. www.b-i-t-online.de
Holländer REPORTAGEN 663 verschiedene Kantone ihre digitalisierten Zeitungen in diese neue Plattform, sofern nicht die Verlage und Institutionen mit eigenständigen Plattformen das glei- che Ziel verfolgen. Wie die Referentin ausführte, ist es wichtig, dass die Original-Digitalisate zwei Anfor- derungen erfüllen: Erstens muss der Prozess der Di- gitalisierung spezifiziert und standardisiert sein und zweitens die Qualität der Digitalisate kontrolliert wer- den, um einen hohen Qualitätsstandard zu erreichen. Susanne Aerni, Leiterin der Geschäftsstelle des Kon- sortiums der Hochschulbibliotheken und Wilfried Lochbühler, Direktor der Hauptbibliothek der Univer- © S. Holländer sität Zürich präsentierten die Resultate der nationalen Open-Access-Strategie nach den abgeschlossenen Verhandlungen mit den drei Großverlagen Elsevier, Springer und Wiley unter der Leitung von swissuniver- Wilfried Lochbühler von der Hauptbibliothek der Universität Zürich spricht über sities, die mit einer mehrjährigen Vereinbarung unter- die Nationale Open-Access-Strategie der Schweizer Hochschulbibliotheken. zeichnet werden konnten. Der Anteil der OA-Publika- tionen konnte so signifikant gesteigert werden. Jetzt wird das Mandat überarbeitet, um voraussichtlich im kommenden Jahr die Verhandlungen in einer zweiten Runde mit Springer Nature für ein zweites Abkommen aufnehmen zu können. Karsten Schuldt, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachhochschule Graubünden und Redakteur der bi- bliothekswissenschaftlichen Zeitschrift LIBERAS sprach zum Thema „Was bedeutet Theorie in der Bi- bliothekswissenschaft und was kann sie?“. Der Re- ferent verspricht von einer besseren Nutzung biblio- © S. Holländer thekswissenschaftlicher Theorien durch die Biblio- theken eine bessere Erkenntnis darüber, was funkti- oniert, beziehungsweise nicht funktioniert und was ermöglicht, „blinde Flecken in der eigenen Arbeit zu Karsten Schuldt von der FH Graubünden referiert über die Theorie in der erkennen“. Gerade in der pragmatischen Schweiz Bibliothekswissenschaft. stoßen solche Aussagen auf Skepsis, wie die an- schließenden Fragen aus dem Publikum zeigten. Man Forschung schlicht ignoriert, andererseits Praktike- möchte möglichst sofort umsetzbare Fertigrezepte rinnen und Praktiker in der Forschungsliteratur oft aus der Forschung an den beiden Fachhochschulen nicht die gesuchten praktisch umsetzbaren Antwor- in Chur und Genf haben. Oft wird der bibliothekswis- ten finden würden. Deshalb werde, betonte der Refe- senschaftlichen Forschung vorgeworfen, sie sei zu rent, der Begriff „Kooperation“ oft lediglich als locke- weit von der Realität entfernt, ihre Resultate seien re Koppelung zweier Bibliotheken verstanden. nicht direkt umsetzbar und sie würde über Dinge re- Wenn die bibliothekarische Theorie hingegen als wis- den, die mit der tatsächlichen Bibliotheksarbeit wenig senschaftlich produziertes Wissen verstanden werde, oder nichts zu tun hätte. Der Referent ging daher der so könne sie Zusammenhänge und Funktionen erklä- Frage nach, wie Forschungsresultate in die Arbeit der ren, wenn sie transparent erstellt und damit überprüf- Bibliotheken integriert werden könnten. bar sei, denn sie abstrahiere von konkreten Situatio- Beispielsweise betreffe dies den geradezu märchen- nen und stelle in ihren Erkenntnissen weder eine poli- haft inflationären Gebrauch des Begriffs „Kooperatio- tische Forderung noch eine Zukunftsvision dar. nen“, oder aber auch die teilweise originellen Heran- Einem pragmatischen Aspekt wandte sich der Direk- gehensweisen an Themen wie „Nutzer- und Nutzerin- tor der SLSP AG, Thomas Marty, mit der Erläuterung nenbeteiligung“ oder „Servicemarketing“. Zu einem des vor einem Jahr in Betrieb genommenen Biblio- Dilemma führe, wie Karsten Schuldt feststellte, dass thekssystems swisscovery zu. Zuerst zeichnete er die einerseits Ergebnisse bibliothekswissenschaftlicher Entstehung der SLSP AG und swisscovery mit Alma www.b-i-t-online.de 24 (2021) Nr. 6 online Bibliothek. Information. Technologie.
664 REPORTAGEN Holländer verwendet. Axiell demonstrierte, wie sich beispiels- Kurz nachgefragt bei Jean-Marie Reding, weise sämtliche Angebote der Bibliothek Zug inklusive Vizepräsident des Luxemburger Bibliotheksverband der integrierte Online-Katalog über das Webinterface ALBAD: Axiell Arena nutzen lassen. Mit der Software winMedio für kleinere Bibliotheken Was war Dein bleibender Eindruck vom Kongress in Bern? war auch der Schweizer Anbieter Predata in Bern ver- Alles strahlte! Die Sonne, die Berge, die Gesichter der Teilnehmer! Es treten. war einfach wundervoll nach so langer internationaler physischer Kon- Alle Aussteller zeigten sich zufrieden, dass sie an sol- gressabstinenz. chen Veranstaltungen wieder direkt mit ihren Kun- Hast Du eine neue Erkenntnis aus den Vorträgen und Präsentationen den in Kontakt treten konnten. Dies bewog auch ei- mitgenommen? Ich wurde in meiner Überzeugung bestärkt, dass der Einsatz von nige Anbieter dazu, erstmalig als Aussteller zu dem Bibliotheken für die SDGs primär der Pressearbeit dient. Was aller- Kongress nach Bern zu kommen, wie beispielsweise dings tun, wenn SDGs die einheimischen Medien nicht interessieren? ein französischer Lieferant von E-Book-Plattformen. Gab es aus internationaler Perspektive etwas Besonderes zu berichten? Schweizer Bibliotheken gelten als finanzkräftige Kun- Die internationale Bibliotheksprominenz war extra nach Bern gekom- den, wie einige Aussteller den Schreibenden hinter men! Die IFLA-Präsidentin des Weltverbandes und der EBLIDA-Präsi- vorgehaltener Hand wissen ließen. dent waren auf einem Schweizer Bibliothekskongress präsent. Das will Verschiedene Arbeitsgruppen von Bibliosuisse nutz- was heißen! ten die Gelegenheit, mit den Mitgliedern des Ver- bandes in direkten Kontakt zu treten. So diskutierte beispielsweise die Ethikkommission des Verbandes im Gespräch mit Interessenten praktische Fragen, beispielsweise wie der Umgang mit dem COVID- Impfzertifikat in der Bibliothek zu handhaben sei, zu dessen Prüfung die Bundesbehörde die Bibliotheken verpflichtet hatte. Auch Fragen zum Umgang mit An- © Amandine Jacquet schaffungswünschen von extremistischer Literatur durch Nutzende wurden von den Kommissionsmit- gliedern beantwortet. Diese informellen Begegnungs- formen wurden erstmalig bei diesem Kongress er- möglicht und genutzt. In der Abschlussveranstaltung wies Hans Ambühl in nach (b.i.t.online berichtete) und kündigte einige Wei- seiner Eigenschaft als Präsident von Bibliosuisse auf terentwicklungen wie beispielsweise SLSP Key als sin- künftige Veranstaltungen des Verbandes in den kom- gle-sign-on für die Nutzerinnen und Nutzer von swiss- menden zwei Jahren hin und dankte der Geschäfts- covery an. stelle und ihren zahlreichen Helferinnen und Helfern, Auch weitere Anbieter von in der Schweiz gebräuch- die diesen Kongress organisiert hatten. lichen Bibliothekssystemen waren am Kongress als Am Wochenende vom 25. bis 27. März 2022 möchte Aussteller präsent: der Verband unter dem Titel „BiblioWeekend“ der Be- RERO ILS der Stiftung RERO+ ist ein Open Source Bi- völkerung die Bibliotheken in der Schweiz mit einem bliotheksverwaltungssystem, das Komponenten des Wochenende der offenen Tür und verschiedenen Ver- Invenio-frameworks von CERN als Basissoftware inte- anstaltungen und Animationen landesweit näherbrin- griert und von RERO+ in Zusammenarbeit mit der Ka- gen. Am 2. Mai 2022 findet die Generalversammlung tholischen Universität Löwen (UC Louvain) entwickelt mit Gesamterneuerungswahlen von Vorstand und wird. ILS ist eine Abkürzung für Integrated Library Sys- Präsidium statt. Der nächste Bibliosuisse-Kongress tem. Dabei handelt es sich um eine Softwarekatego- ist vom 1. bis 3. November 2023 in Zürich geplant. ❙ rie, die für die Verwaltung des täglichen Bibliotheksbe- triebs (Dokumentenerwerb, Ausleihe, Katalogisierung und Suche) verwendet wird und den Nutzerinnen und Nutzern eine öffentliche Schnittstelle bietet. RERO ILS Stephan Holländer ermöglicht die Verwaltung einer einzelnen Bibliothek Lehrbeauftragter, Basel oder eines Bibliotheksverbundes. stephan@stephan-hollaender.ch In der Schweiz wird auch die Bibliothekssoftware Qui- ria der schwedischen Firma Axielle als Cloudlösung online 24 (2021) Nr. 6 Bibliothek. Information. Technologie. www.b-i-t-online.de
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