SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
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SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer September 2017 Eine «Courgette» sorgt für Furore: Die Erfolge des Schweizer Trickfilms Wahlen 2017 in der Diaspora: Das ist der neue Auslandschweizerrat Schlusspunkt in Moutier: Das definitive Ende des Jurakonflikts?
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Inhalt Editorial 3 Ein Bekenntnis zur Schweizer Revue 5 Briefkasten 6 Schwerpunkt Das erhoffte Ende des Jurakonflikts Es ist so weit: Die Auslandschweizer-Organisation hat ihren Vertrag mit dem Eidgenössischen Departement 10 Politik für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bezüglich der Rücktritt von Bundesrat Burkhalter Schweizer Revue um vier Jahre verlängert. Der Kredit Die Schweizer Hochseeflotte im des EDA für das Magazin der Diaspora ist für 2018 politischen Fokus gesichert. Was nach einer Formalität aussieht, ist in Wirk- 12 Gesellschaft lichkeit ein wichtiges Bekenntnis des EDA zur Schwei- Pendlerverkehr in Basel und Genf zer Revue. In Z eiten, in denen der Bund sparen muss und auch das Budget des Die Geschichte des Auswanderers Aussendepartements gekürzt wird, kann es die Auslandschweizer- Louis Eyer Organisation durchaus als Erfolg verbuchen, dass ihr Magazin in der beste- henden Form weiter erscheinen wird. 16 Literaturserie Wir können unsere Kernaufgabe – die Belieferung der Auslandschweize- Max Pulver in Wien rinnen und Auslandschweizer mit Infos zur Meinungsbildung vor Abstim- mungen und Wahlen – damit auch in Zukunft wahrnehmen. Und wir wer- Nachrichten aus aller Welt den weiterhin die wichtigsten Neuigkeiten aus den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Sport und Gesellschaft ergänzen. Ausserdem wird das Magazin auch 17 Sport fortan die Regionalseiten und die Nachrichten aus aller Welt enthalten. Olympia 2026 auf dem Prüfstand Alles wie gehabt also? Ja und nein. Es ist unsere Aufgabe als Herausgeber, uns jetzt nicht zurückzulehnen, sondern über die Periode bis Ende 2021 20 Kultur hinauszuschauen. Und da warten viele Herausforderungen. Der finanzielle Schweizer Trickfilmer Druck wird nicht kleiner werden. So müssen wir uns laufend Gedanken ma- chen, wie die Ausgaben vor allem in den Bereichen Vertrieb und Druck opti- 22 Der neue Auslandschweizerrat miert werden können – bei gleichbleibender Qualität, versteht sich. Und die Lesegewohnheiten werden sich auch in der Diaspora weiter verändern. Das 24 ASO-Informationen Thema Papier versus Internet und die Möglichkeiten der Social Media wer- den uns weiter beschäftigen. 26 news.admin.ch Ziel ist es, auch in Zukunft den medialen Bedürfnissen der Ausland- schweizerinnen und Auslandschweizer gerecht zu werden. Zugleich dürfen 28 Gesehen wir die A ugen vor Veränderungen und Entwicklungen nicht verschliessen. Art Brut in Lausanne In diesem Spannungsfeld werden wir uns bemühen, die Leserinnen und Leser in der Ferne noch viele Jahre zufriedenzustellen. 30 Gelesen MARKO LEHTINEN, CHEFREDAKTOR Eine Entdeckungsreise von Jost Auf der Maur 30 Gehört «Live/Monotypes» von Yannick Delez 31 Herausgepickt 31 Echo Titelbild: Szene aus dem Schweizer Trickfilm «Ma vie de Courgette». Foto Keystone Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
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Briefkasten 5 Schweizer Kartografie. Eine Ikone des Schweizer Weins. Im Land der gestochen scharfen Ränder Die Winzerin Marie Thérèse Chappaz Wunderbar zu lesen, viel Neues gelernt! Nur ein Grosse Klasse, vielen Dank! Fully ist kleiner Zusatz: Zum Schattenwurf mit einer ein für die Einwohner der drei Täler imaginären Sonne aus nordwestlicher Richtung aus meiner Kindheit legendäres Obst- schreibt Marc Lettau: «Der Vorzug der deplat- anbaugebiet wie aus dem Paradies. Ich zierten Sonne ist, dass sie die kartografierte denke wehmütig zurück an die Zeit, in Wirklichkeit besonders plastisch und somit be- der Maulesel noch an der Tagesord- sonders wirklich aussehen lässt». Ich glaube, nung waren, an das Tal von La Neuvaz der Sechzigerjahre dies ist nur, weil wir uns daran gewöhnt haben. vor dem herrlichen Chalet Troillet, das in Rauch aufging. Für mich einleuchtender ist, dass die ersten Gestalter dieser Was das Val Ferret an Ursprünglichkeit eingebüsst hat, hat Kunstwerke die imaginäre Sonne identisch zur Tischlampe es an negativer Entwicklung gewonnen. Mein nächstes links oben platzierten, um sich das Relief plastisch vorzustel- Glas Petite Arvine trinke ich auf das Wohl der Troillets. len. Sehr wahrscheinlich waren sie ja meist Rechtshänder. Die CHARLES ROCHAT, SCHWEIZ Luft- und Satellitenbilder, an die wir uns heute gewöhnen, haben den Schattenwurf übrigens eher mit der Sonne aus öst- Editorial. licher Richtung, weil es oft Morgenbilder sind. Deshalb sehen Konti zu gleichen Bedingungen wir unter Umständen das Relief verkehrt, das heisst die Berge sind Löcher und die Flüsse fliessen oben auf dem Grat. Warum begründen die Schweizer Banken ihre hohen HANS HURNI, SCHWEIZ Kontogebühren immer mit dem enormen Aufwand der Zu- sammenarbeit mit anderen Staaten? Ich kenne Menschen Diese kleinen in den Felsen und Seen versteckten kartografi- aus England und Deutschland, die hier in Spanien leben schen Scherze sind einfach herrlich! Wer sagt denn, dass die und Konten in ihrem Heimatland haben – ohne solche hor- Schweizer keinen Sinn für Humor haben? Solche kartografi- renden Gebühren! Wenn man von der AHV lebt und dann schen Scherze überwinden Landesgrenzen. In den Karten des noch 300 Franken pro Jahr bezahlen muss, um ein Konto britischen Ordnance Survey sind auch welche versteckt. in der Schweiz zu haben, ist das ein Abriss. ROBERT CAMPBELL, ENGL AND RENATO BESOMI, SPANIEN Wunderbar! Ich erinnere mich jedes Mal an die Qualität unse- Das Verhalten der Banken trifft viele Auslandschweizer rer topografischen Karten, wenn ich im Ausland nach etwas hart. Begründungen wie Sicherheit oder Risiko stempeln Vergleichbarem suche. FRÉDÉRIC VOGT, CHILE uns Kleinen fast zu Kriminellen, während die Grossen in den Chefetagen der Banken mit ihren Abenteuern mit Kundengeldern ungeschoren davonkommen. Ein Konto kostet mich 360 Franken pro Jahr, dies gegenüber Zinsen von unter 100 Franken pro Jahr. Ist das vertretbar? Können unsere Parlamentarier tatsächlich nichts tun gegen diese im Ruf schwer angeschlagenen Finanzinstitutionen? PIERRE STACHER, AUSTRALIEN MIET-PW, MIET-Camper, MIET-4x4 Ilgauto ag, 8500 Frauenfeld 200 Autos, 40 Modelle, ab Fr. 500.-/MT inkl. 2000Km 61 11 Tel. 0041 52 7203060 / www.ilgauto.ch Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
6 Schwerpunkt Die letzten Meter zur Konfliktlösung? Mit dem Wechsel der Kleinstadt Moutier vom Kanton Bern zum Jura ist ein Schlussstrich unter einen uralten und hartnäckigen Territorialkonflikt gezogen worden. Das hofft man zumindest. JÜRG MÜLLER irischen Belfast verglichen werden Plötzlich ging gar nichts mehr: Der konnten, so war die Lage im bern Bohrkopf einer Tunnelbohrmaschine jurassischen Städtchen über weite steckte bei Moutier in einer heiklen Strecken doch äusserst angespannt. geologischen Zone fest. Zwei Jahre Eines der letzten grossen Kapitel dauerte es, bis das Ungetüm 2005 mit des bernisch-jurassischen Konflikts grossem Aufwand wieder freigebud- ist nun eben dort geschrieben worden, delt war. Die Mehrkosten beliefen sich gewaltfrei und gesittet: In einer histo- auf 158 Millionen Franken. Im vergan- rischen Volksabstimmung hat sich die genen April konnte das 6,6 Milliarden Gemeinde am 18. Juni entschieden, Franken teure Bauwerk nach fast dem Kanton Bern den Rücken zu keh- 30-jähriger Bauzeit nun vollendet ren und sich dem Kanton Jura anzu- werden – die Transjurane, die Auto- schliessen. Allerdings: In den kom- bahn A 16 von Biel in den Kanton Jura. menden Jahren wird noch um das Die Strasse verbindet nicht nur den Organisatorische und Administrative Kanton Jura mit dem Berner Jura und gerungen, beispielsweise um Fragen dem Schweizer Mittelland, sondern der Güterausscheidung. Dieser Prozess auch das Schweizer Autobahnnetz mit kann Jahre dauern. Und anschliessend Versammlung) ins Leben gerufen. Die dem französischen. müssen noch die Stimmbürgerinnen Arbeiten der AIJ führten 2012 zu einem Das Trennende ist in dieser Ge- und -bürger der Kantone Jura und Abkommen zwischen den Kantonen gend manchmal jedoch stärker als das Bern sowie der National- und Stände- Bern und Jura. Dieses sah ein mehr- Verbindende. Und die Kleinstadt Mou- rat den Kantonswechsel absegnen. stufiges Verfahren mit regionalen und tier war nicht nur 2005 eine geologi- kommunalen Abstimmungen vor. Zu- sche Knacknuss, sie war auch ein Epi- Ein langwieriges, mehrstufiges erst konnten die Stimmberechtigten zentrum des Jurakonflikts. Auch des Kantons Jura und des Berner Jura Verfahren wenn die Zustände in Moutier in den darüber befinden, ob man gemeinsam Siebzigerjahren des vergangenen Jahr- Die Moutier-Abstimmung ist ein wich die Gründung eines Grosskantons hunderts nicht mit denen im nord tiger Teil der – so die erklärte Absicht – Jura einleiten soll. Der Berner Jura endgültigen Lösung des schwierigsten sagte 2013 Nein, der Kanton Jura Ja: Da Kantonswechsel: Moutier wurde jurassisch Schweizer Territorialkonflikts des nicht beide Teile einverstanden waren, Moutier hat am 18. Juni für den 20. Jahrhunderts. Man erinnert sich: konnte das Projekt nicht weiterver- Kantonswechsel gestimmt. Nach der Gründung des Kantons Jura folgt werden. Der zweite Schritt sah 51,72% Ja 48,28% Nein im Jahr 1979 beruhigte sich die Lage in vor, dass einzelne Gemeinden, wenn der gespaltenen Region nicht vollstän- sie es denn wünschten, über einen Stimmbeteiligung: 88% dig, es kam vielmehr zu ernsthaften Wechsel zum Kanton Jura befinden Spannungen. Die Separatisten waren könnten. nicht zufrieden, weil nur die drei JURA nördlichen Bezirke Porrentruy, Delé- Neuer Zündstoff oder neuer mont und Franches-Montagnes den Pragmatismus? Kanton Jura bilden sollten, die drei südjurassischen Bezirke Moutier, Geht der Jurakonflikt nach den kom- Courtelary und La Neuveville dagegen munalen Abstimmungen im Berner beim Kanton Bern bleiben wollten. Jura jetzt wirklich definitiv zu Ende? BERN 1994 wurde deshalb die Assemblée in- Die Antwort lautet: Ja, zumindest in- terjurassienne (AIJ, Interjurassische stitutionell. Denn die Kantone Bern Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
7 und Jura haben sich im Jura-Abkom- Doch Sean Müller, Kenner der Jura Schweiz bietet», also vor allem diverse Jubel bei den Pro men von 2012 verpflichtet, die Frage frage und Dozent am Institut für Poli- Abstimmungen auf allen Ebenen des Jurassiern: Moutier als gelöst zu betrachten, sobald das tikwissenschaft der Universität Bern, Staates. Marty zeigt sich überzeugt, stand jahrzehntelang im Zentrum des Jura mehrstufige Abstimmungsverfahren ist überzeugt, «dass niemand Lust hat, dass der zeitintensive Prozess mitge- konflikts. Im vergan abgeschlossen ist. Eine andere Frage den Konflikt ernsthaft neu anzufa- holfen hat, «ein Problem zu lösen, das genen Juni gabs end ist, ob das alle politischen Akteure chen». In Sachen Kantonsgrenzen sei andernorts unter gleichen Vorausset- lich Grund zur Freude, ebenfalls so sehen. In einer Demokra- das Thema gelöst. Im Berner Jura, das zungen hätte in gewaltsame Konflikte zumindest für die tie darf jedes Thema wieder aufgerollt hätten alle Abstimmungen gezeigt, umschlagen können». Befürworter des Kantonswechsels. werden. So hat etwa das Mouvement gibt es keine Mehrheit für einen ge- Foto Keystone autonomiste jurassien (MAJ) schon samtheitlichen Kantonswechsel. «Und «Findling aus alten Zeiten» kurz nach der Moutier-Abstimmung alle, sowohl die Autonomisten wie verkündet, dass die Stunde gekom- auch die militant Berntreuen, sind Der wichtigste Meilenstein war laut men sei, «neue Wege zu suchen, die pragmatisch geworden und haben Sean Müller die Bereitschaft des Kan- jurassische Souveränität über die Ge- sich an den Dialog im Rahmen der In- tons Bern, den Ablösungsprozess er- samtheit des Territoriums wiederher- terjurassischen Versammlung und an- gebnisoffen einzuleiten. Das war be- zustellen». Mit anderen Worten: Die derer Gremien gewöhnt», sagt Müller reits 1970, als die Berner Stimmbürger Autonomisten beanspruchen den gan- im Gespräch mit der Schweizer Revue. einem Verfassungszusatz zustimmten, zen Berner Jura. Im Berner Kantons- Wesentlichen Anteil an der Prob- mit dem der Weg zu einer mehrstufi- parlament wiederum wurden Stim- lemlösung hatte Dick Marty, ehemali- gen Abstimmungskaskade im Jura men laut, die den garantierten Sitz des ger Tessiner Staatsanwalt, früherer freigemacht wurde. Sie führte schliess Berner Juras in der Kantonsregierung FDP-Ständerat und auch internatio- lich zur Gründung des Kantons Jura. in Frage stellen oder zumindest auf- nal ein gefragter Mann für heikle «Es war durchaus grosszügig und res- weichen wollen. Auch von einer Re- Missionen. Er präsidiert seit 2010 die pektvoll, einer Minderheit diese Mög- duktion der zwölf Sitze des Berner Interjurassische Versammlung. Ge- lichkeit zu geben», sagt Müller. Doch Juras im Kantonsparlament ist die genüber Swissinfo sagt er: «Wir haben zuvor seien Dinge geschehen, «die Rede, da dieser Landesteil schliesslich zur Lösung dieses Konflikts die ge- nicht immer ins übliche Bild der kleiner geworden sei. Das alles birgt samte Bandbreite der Instrumente an- Schweizer Politik passten»: Nachdem neuen Zündstoff. gewandt, welche die Demokratie der Fortsetzung auf Seite 8 Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
8 Schwerpunkt 200 Jahre Jurakonflikt im Überblick 1815: Am Wiener Kongress wird das Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Basel dem Kanton Bern zugesprochen. Seit 1793 war dieser Teil des Juras ein französisches Departement. Erste Konflikte zwischen Berntreuen und Jurassiern gab es schon nach 1815. 1947: Das Berner Kantonsparlament verweigert dem jurassischen Regierungsrat Georges Moeckli das Baudeparte- ment, dies wegen seiner französischen Muttersprache. Der Jurakonflikt beginnt zu eskalieren. 1950: Der Kanton führt das Französische als zweite Amtsspra- che ein. Zudem erhalten die jurassischen Bezirke zwei garantierte Sitze in der Kantonsregierung. Zeiten der Gewalt: jurassische Separatisten an einer unbewilligten Demonstration im 1963: Gründung der separatistischen Jugendorganisation November 1969 vor dem Bundeshaus in Bern. Foto Keystone Béliers, welche diverse provokative Aktionen durchführt. Verschiedene Sprengstoff- und Brandanschläge gehen auf das mauert. Es gab auch Sprengstoff- und auf die Schweizer Politik von den Konto der Jurassischen Befreiungsfront (FLJ). Brandanschläge. In Moutier kam es 1950er-Jahren bis 1980. «Der Jurakon- 1970: Das Berner Volk stimmt einem Verfassungszusatz zu, der Mitte der Siebzigerjahre zu Strassen- flikt spiegelte die Opposition zwischen den Weg zu einer mehrstufigen PlebiszitKaskade freimacht. schlachten zwischen bewaffneten der progressiven, fortschrittlichen Be- 1974: Das jurassische Volk entscheidet sich für einen eigenen Separatisten und der Berner Kantons- wegung der Sechziger und der konser- Kanton. Allerdings werden nur die drei nördlichen Bezirke den polizei. vativen Schweiz», sagt er. Umgekehrt, Kanton Jura bilden, weil die drei südjurassischen Bezirke beim Der Historiker Jakob Tanner geht so Crévoisier, «konnten die Separatis- Kanton Bern bleiben wollen. noch weiter zurück und bezeichnet ten sich gerade in den Sechziger- und 1978: Das Schweizer Volk und alle Kantone stimmen der den Jurakonflikt in seinem Buch «Ge- Siebzigerjahren an die damalige Auf- Gründung des Kantons Jura mit 82,3 Prozent zu. Ein Jahr später schichte der Schweiz im 20. Jahrhun- bruchstimmung lehnen». tritt die République et Canton du Jura als jüngster Teilstaat der dert» als «politischen Findling aus al- Schweizerischen Eidgenossenschaft bei. ten Zeiten». Mit der Zuweisung des Ein nonkonformistischer Teilstaat? 1994: Da der Jurakonflikt auf kleinerem Feuer immer noch Juras an den Kanton Bern am Wiener weiterschwelt, wird eine Interjurassische Versammlung ins Kongress von 1815 war ein franzö- Der Kanton Jura ist also auch das Kind Leben gerufen, die Lösungsvorschläge erarbeiten soll. Dieses sischsprachiges, katholisches Gebiet einer Zeit, in der politische Zukunfts- Gremium schlägt Volksabstimmungen über die Wiedervereini- unter die Herrschaft eines protestan- visionen noch einen anderen Stellen- gung des Juras vor. tischen, deutschsprachigen Kantons wert hatten als heute. Das Historische 2012: Die Kantone Bern und Jura schliessen ein Abkommen, gekommen. Die Nordjurassier fühlten Lexikon der Schweiz sieht im jüngsten um den Jurakonflikt definitiv zu beenden. Das Abkommen sieht sich danach von Bern ausgenützt. Von Kanton immer noch «einen fortschritt- ein mehrstufiges Verfahren mit regionalen und kommunalen bernischer Seite wurde wenig inves- lichen und nonkonformistischen Teil- Abstimmungen vor. tiert. Die Strassen- und Bahninfra- staat». struktur war mangelhaft. Gleichzeitig Für den Politikwissenschaftler fühlten sich die Jurassier mit ihrer Sean Müller dagegen zeigt das allge- frankofonen Kultur zu wenig respek- meine Abstimmungsverhalten im tiert. Der Südjura dagegen erlebte eine Kanton Jura ein uneinheitliches Bild. zunehmende Industrialisierung, ge- In gesellschaftspolitischen Fragen, wo Fortsetzung von Seite 7 paart mit einer markanten Einwande- religiöse Einstellungen eine wichtige etwa die Berner Stimmbürger 1959 rung von Deutschschweizern. Das Rolle spielen, sei der Jura eher zurück- eine Initiative des Rassemblement verlieh dem Konflikt, neben den his- haltend. In Öffnungs-, Migrations- jurassien für ein Jura-Plebiszit abge- torischen, religiösen und wirtschaft- und aussenpolitischen Themen lehnt hatten, griffen die Separatisten lichen Gründen, auch eine sprach- stimme das Etikett «fortschrittlich» – in den Sechzigerjahren zu immer ra- lich-ethnische Komponente. aber da ticke der Jura nicht anders als dikaleren Methoden. So wurden zum Mehr noch: Für den Historiker die Romandie insgesamt und die gros Beispiel der Berner Tag an der Landes- Clément Crevoisier hatte die Jurafrage sen Deutschschweizer Städte. Und die ausstellung Expo von 1964 gestört und laut einem Interview in Der Bund ei- Zusammensetzung der politischen Be- das Berner Kantonsparlament zuge- nen wichtigen symbolischen Einfluss hörden des Kantons Jura entspreche Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
9 mittlerweile ungefähr helvetischem Zwei Seelen im Berner Jura Durchschnitt. Als nonkonformistisch könne man den Jura insofern bezeich- Bern oder Jura? Am 18. Juni hat Moutier nach Jahrzenten der Spaltung nen, als er gleich von Anfang an bei- spielsweise das Ausländerstimmrecht knapp für den Kantonswechsel votiert. In zwei kleinen Dörfern im Berner in die Verfassung aufgenommen hat. Jura wurde am 17. September ebenfalls abgestimmt. Wirtschaftlich dagegen ist der Kanton Jura keine Wachstumsloko- SIMON THÖNEN gespalten war. Andernorts sind die motive. Bei der Wettbewerbsfähigkeit Der Abstimmungssonntag vom 18. Verhältnisse klarer. Der grösste Teil bildet er regelmässig das Schlusslicht, Juni war in der Kleinstadt Moutier der des Berner Juras will beim Kanton und beim kantonalen Finanzaus- Tag der Entscheidung – und der gros- Bern bleiben, wie eine regionale gleich gehört er mit zu den grössten sen Gefühle. Schon seit dem Morgen, Volksabstimmung 2013 klar gezeigt Pro-Kopf-Empfängerkantonen. Die Stunden bevor das mit Spannung er- hat. Und es haben nur zwei weitere Erwartungen seien bei der Kantons- wartete Resultat der Gemeindeab- Gemeinden im Berner Jura nach Mou- gründung deutlich ambitiöser gewe- stimmung über den Kantonswechsel tier über einen Kantonswechsel abge- sen, sagt Müller. Doch die Ausgangs- verkündet wurde, dominierten die stimmt – am 17. September (nach Re- lage als Randregion, relativ weit weg Pro-Jurassier mit ihren rotweissen daktionsschluss dieser Ausgabe): von den Wirtschaftszentren, sei von Fahnen das Bild des Industriestädt- Belprahon ist im Ortskern ein wun- Anfang an schwierig gewesen. Die chens. Gross war der Jubel, als fest- derschönes ehemaliges Bauerndorf eben erst fertiggestellte Transjurane stand: Moutier will den Kanton wech- am Südhang des Mont Raimeux – und weckt zwar Hoffnungen auf wirt- seln, von Bern in den Jura. «Bravo ansonsten ein Vorort von Moutier mit schaftliche Impulse für die struktur- Moutier!», rief ein Autonomist in die vielen Einfamilienhäusern. Auch in schwache Region. Nur, so sagt Sean Menge. «Wir haben es geschafft!» Es diesem 300-Einwohner-Dorf war Müller, eine Autobahn könne auch folgte ein Volksfest mit viel Bier, Mu- man in der Frage Bern oder Jura ge- den gegenteiligen Effekt haben, näm- sik und Feuerwerk bis spät in die Nacht. spalten – bis in die Familien hinein. lich dass mehr Leute zur Arbeit aus Doch das Resultat war mit 51,7 Gemeindepräsident Michel Leuenber- dem Kanton hinauspendelten. Prozent Ja-Stimmen knapp, der Vor- ger galt als pro-bernisch, sein Bruder Im Jurakonflikt geht es, wie bei sprung des Ja betrug bloss 137 Stim- Philippe hoffte auf ein Ja zum Jura, den meisten ähnlich gelagerten Fällen men. Die Kleinstadt mit 7700 Einwoh- «weil der Jura familiärer ist, dort feiert und generell in der Politik, nie nur um nern und Einwohnerinnen blieb am man die besseren Feste». Doch inzwi- streng Rationales, sondern auch um Tag der Entscheidung also gespalten. schen führe man, bestätigen die bei- viel Emotionales. Selbst die heute et- Die Pro-Berner, die sich in einer Halle den, anders als früher wegen der Jura was anachronistische Auseinander- am Stadtrand versammelt hatten, hat- frage keinen Krieg mehr in der eigenen setzung um die «richtige» Kantonszu- ten ebenfalls gejubelt – wenn auch nur Familie. gehörigkeit bewegt sich irgendwo sehr kurz. Irrtümlich glaubten sie ei- Sorvilier, das zweite Dorf, das am zwischen Selbstbestimmungsrecht, nen Moment lang, der Sieg sei auf ih- 17. September abstimmte, grenzt nicht Identitätsfragen und Ethno-Nationa- rer Seite. Dann brachen viele in Trä- an Moutier. Abgestimmt wurde, weil lismus. nen aus. Und die Enttäuschung der die Mehrheit des Gemeinderates pro Und auch wenn der Kanton Jura Verlierer machte dem pro-jurassi- jurassisch ist – der Gemeindepräsi- kaum je bis zum Bielersee hinunter schen Bürgermeister von Moutier, dent allerdings ist Pro-Berner. Wie reichen und der Konflikt dereinst Ge- Marcel Winistoerfer (CVP), «ein biss- viele Dorfbewohner hat François schichte sein wird, wird es in der chen Angst», wie er trotz der Freude Romy, der Präsident der neutralen «Rauracienne», der offiziellen Hymne über seinen Abstimmungssieg ein- Burgergemeinde, zwei Seelen in seiner des Kantons Jura, wohl weiterhin räumte. Es sei jetzt eine grosse Her Brust. «Im Herzen bin ich Jurassier», heissen: «Vom Bielersee bis zu den Toren ausforderung für die Stadtbehörden, sagt er. «Doch ich bin auch ein vehe- Frankreichs / Reift die Hoffnung im Dun- auch jene von der jurassischen Zu- menter Verteidiger der Zweisprachig- kel der Städte / Aus unseren Herzen er- kunft zu überzeugen, die diese abge- keit» – also des Zusammenlebens von klingt ein Gesang der Erlösung / Unsere lehnt hatten. Frankofonen und Deutschsprachigen Fahne hat auf den Bergen geweht / Ihr, die In Moutier sind die Würfel gefal- im Kanton Bern. um das Los des Vaterlands euch sorgt / len. In den Jahrzehnten zuvor war der Brecht die Ketten eines ungerechten Streit heftig, weil die Stadt an der SIMON THÖNEN IST JOURNALIST Schicksals!» Grenze zwischen Nord- und Südjura BEI DER TAGESZEITUNG DER BUND Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
10 Politik Linke trauert Burkhalter mehr nach als die eigene Partei Der Rücktritt von Aussenminister Didier Burkhalter kam sogar für seine Partei FDP überraschend. Ob der Neuenburger Bundesrat aus privaten oder politischen Gründen geht, bleibt unklar. MARKUS BROTSCHI Auf den Tag genau acht Jahre nach seinem Amtsantritt wird Didier Burkhalter am 31. Oktober das Departement für auswärtige Angele- genheiten (EDA) seinem Nachfolger übergeben. Ob er damit den völ- ligen Rückzug ins Private antritt oder später doch noch ein Amt in ei- Auf dem internatio ner internationalen Organisation übernimmt, bleibt offen. In seiner nalen Parkett zu Rücktrittserklärung drückte Burkhalter den Wunsch aus, nach fast Hause: Bundesrat 30 Jahren in der Politik ein Stück Freiheit wieder zu gewinnen. Das Didier Burkhalter Amt als Bundesrat nehme einen so stark in Anspruch, dass es sich wie mit dem chinesi eine zweite Haut anfühle, sagte der 57-Jährige. schen Aussen minister Wang Yi Die meisten Parlamentarier, auch aus Burkhalters FDP, interpre- im Dezember 2016 tierten den Rücktritt allerdings anders. Der Bundesrat sei mit dem in Neuenburg. Europa-Dossier in eine Sackgasse geraten. Denn Burkhalter verfolgt Foto Keystone seit Jahren hartnäckig das Ziel, mit der Europäischen Union ein Rah- menabkommen über die institutionelle Anbindung der Schweiz zu erreichen. Angetrieben vom Widerstand der SVP, hat ein solches Rah- weltoffenen Schweiz. Schuld an seinem Rücktritt seien die CVP und menabkommen jedoch in der FDP und der CVP an Rückhalt verloren. FDP, die Burkhalter in der Europapolitik im Stich gelassen hätten. Burkhalter wurde immer lauter vorgeworfen, er verkenne die Reali- Mit Burkhalter tritt ein Bundesrat zurück, der sich auf dem inter- tät, dass ein solches Abkommen in einer Volksabstimmung scheitern nationalen Parkett wohler fühlte als in der Innenpolitik. Internatio- werde. «Man hat Didier Burkhalter seinen Weg in Richtung eines in- nale Anerkennung erreichte er 2014 als Vorsitzender der Organisa- stitutionellen Rahmenabkommens weiterverfolgen lassen, obwohl tion für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Als diese Richtung seit einiger Zeit nicht mehr mehrheitsfähig ist», sagte Vermittler im Ukraine-Krim-Konflikt verschaffte er sich weitherum FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis, Burkhalters möglicher Nachfolger Respekt und rang den Konfliktparteien Zugeständnisse ab. Zeitweise im Bundesrat, am Tag des Rücktritts. Den Fehler sah Cassis vor allem wurde Burkhalter gar als künftiger UNO-Generalsekretär gehandelt. beim Bundesrat und Burkhalters Rücktritt als «Ausdruck einer staats- männischen Haltung». Die geerbte Zweite Säule Der erfolgreiche Konsens-Politiker Weniger geschickt und mit weniger Elan agierte Burkhalter in seinen ersten zwei Amtsjahren als Vorsteher des Innendepartements (EDI). Burkhalter dementierte vehement, dass er aus dem fehlenden Rück- So musste er vier Monate nach seinem Amtsantritt gleich eine Abstim- halt für seine Politik die Konsequenzen ziehe. Eine Genugtuung muss mungsniederlage verdauen. Das Volk verwarf mit 73 Prozent Nein die es für ihn gewesen sein, dass der Gesamtbundesrat an einer euro- Senkung des Umwandlungssatzes in der Zweiten Säule. Für diese Vor- papolitischen Klausur kurz nach der Rücktrittsankündigung weit- lage konnte Burkhalter zwar nichts, da er sie von seinem Vorgänger gehend am bisherigen europapolitischen Kurs festhielt. Es war dies Pascal Couchepin geerbt hatte. Aber statt die nötige grosse Reform der ein Ausdruck jener Politik, die Burkhalter während seiner ganzen Altersvorsorge zügig anzupacken, startete Burkhalter einen wenig Amtszeit verfolgte. Der Bundesrat soll als Kollegialbehörde auftre- zielführenden Dialog mit allen interessierten Kreisen. ten. Alle sollen bemüht sein, im Gremium den Konsens zu suchen Bereits nach zwei Jahren im EDI, nach dem Rücktritt von Aussen- und nicht einzelne Mitglieder in ihren Vorhaben bremsen. Doch ministerin Micheline Calmy-Rey, packte er die erste Gelegenheit zum manche Deutschschweizer Parteikollegen hätten sich von Burkhal- Wechsel ins EDA. Dies wurde ihm zuweilen als Fahnenflucht vorge- ter gewünscht, im Bundesrat öfter für eine «bürgerliche» Politik zu worfen. Zweifellos entsprach aber das Aussendepartement dem welt- sorgen. Burkhalter wird vorgeworfen, zu häufig mit Doris Leuthard gewandten Neuenburger Freisinnigen besser als das zähe innenpoli- (CVP) und den beiden SP-Vertretern für Mitte-Links-Mehrheiten tische Ringen um Reformen in der Gesundheits- und Rentenpolitik. gesorgt zu haben. Mit grossem Bedauern reagierten denn auch Vertreter von SP und Grünen auf den Rücktritt. Sie lobten Burkhalter als Vertreter einer MARKUS BROTSCHI IST BUNDESHAUSREDAKTOR DES TAGES-ANZEIGERS UND DES BUND Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
11 Ein teures Seeabenteuer Die Schweiz liegt nicht am Meer und hat keine Marine. Und doch ist sie eine Seefahrernation – was dem Bund nun einen Verlust von 215 Millionen Franken einbringt. CHRISTOPH LENZ Helfer im Bundesamt für wirtschaft stark überschuldeten Schiffe abzu Seit dem Zweiten Weltkrieg fördert liche Landesversorgung, die die stossen – auch wenn damit erstmals der Bund den Erhalt einer Schweizer Schiffskäufe mit grosszügigen Bundes seit den 50er-Jahren Bundesbürg Hochseeflotte. Die Schiffe, die priva bürgschaften erleichterten. Besonders schaften effektiv fällig wurden. Unter ten Besitzern gehören, sollen im Kri offensiv ging der Berner Reeder Hans dem Strich dürfte der Verlust für die senfall der Landesversorgung dienen. jürg Grunder vor. Ursprünglich ein Fi Bundeskasse nun rund 215 Millionen Die Idee: Die Schiffe würden in einem nanzfachmann, spezialisierte er sich Franken betragen. «Ungern, verdammt westeuropäischen Meerhafen ausge auf den Bau und Handel von neuen ungern!» verteidige er diesen Kredit laden, ihre Ladung würde dann auf Schiffen. Zeitweilig besass er über ein antrag, sagte der FDP-Bundesrat im dem Landweg in die Schweiz befördert – Dutzend Schiffe mit Staatsgarantie, Juni im Nationalrat. dank Duldung des Transitstaates. die Bürgschaftssumme belief sich auf Jahrzehntelang war die Förderung weit über 100 Millionen Franken. 500 Millionen sind noch offen der Hochseeflotte ein aufregungs Wegen des Expansionsdrangs der armes Geschäft, mit dem sich nur eine Schweizer Reeder waren die Mittel, Das Parlament stimmte dem Kredit Handvoll Beamte befasste. Seit diesem die der Bund für Bürgschaften zur Ver zwar zähneknirschend zu. Doch die Frühling ist das anders. Die Schweizer fügung stellte, rasch erschöpft. Zwi Hochsee-Affäre wird ein politisches Flotte steht sinnbildlich für ein Loch schen 2002 und 2008 weitete das Par Nachspiel haben. Die Geschäftsprü von 215 Millionen Franken in der lament den Kreditrahmen zweimal fungskommissionen wollen den Fall Bundeskasse und für Misswirtschaft aus – von 400 Millionen auf 1,1 Milli unter die Lupe nehmen. Einerseits, im Bundesamt für wirtschaftliche arden Franken. Das Risiko sei «mini weil interne Untersuchungen Hin Landesversorgung. mal und vertretbar», sagte die dama weise auf Misswirtschaft und sogar lige Volkswirtschaftsministerin Doris strafbare Handlungen im zuständigen Reeder an der Bonanza Leuthard im Nationalrat. Bundesamt ergaben. Andererseits, Schon bald zeigte sich, wie sehr weil die Risiken der Hochseebürg Was ist geschehen? Der Aufstieg der sich Bundesbern irrte. Als 2008 die schaften durch den 215-Millionen BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Finanzkrise die globalen Boomjahre Franken-Abschreiber keineswegs ge Die Schweizer Indien, Südafrika und insbesondere Hochseeflotte steht abrupt beendete, fielen auch die Preise tilgt sind. Bürgschaften im Umfang China in den Nullerjahren befeuerte sinnbildlich für ein im Frachtgeschäft in den Keller. Seit von über 500 Millionen Franken sind den globalen Handel und führte zu Loch von 215 her befindet sich die Handelsschiff bei anderen Schweizer Reedereien einem Boom in der Handelsschifffahrt. Millionen Franken in fahrt in einer einmaligen Krise. Zahl noch offen. 30 Schiffe sind weiterhin der Bundeskasse. Auch Schweizer Reeder wollten an der reiche Werften und Grossreedereien mit Staatsgarantie unterwegs. Im Bild: der Frachter Bonanza teilhaben und begannen, «SCL Bern». mussten in den letzten Jahren Insol Doch die Abwicklung der Schwei ihre Flotte auszubauen. Sie fanden Foto Stiftung Swiss-Ships venz anmelden. Auch die mit Staats zer Flotte hat begonnen. Mehrere garantien gesicherten Schweizer Schiffe von Hansjürg Grunder sind Schiffe kamen in Schwierigkeiten. verkauft. Unter anderem die «SCL Und ganz besonders jene von Reeder Bern», ein stattlicher Frachter von 140 Hansjürg Grunder. Seit Ende 2014 Metern Länge und einer Ladekapazi kämpfte seine Swiss-Cargo-Line tät von 12 500 Tonnen. Neuerdings Gruppe ums Überleben, seit 2015 hielt heisst sie «Angelo Maria». Ihr Heck das Wirtschaftsdepartement von Jo ziert nicht mehr das Schweizerkreuz. hann Schneider-Ammann die Schiffe Dort flattert jetzt die Flagge von Bar mit Finanzspritzen über Wasser – ver bados. geblich, wie sich Ende 2016 zeigte. Der Bundesrat entschied, die zwölf CHRISTOPH LENZ IST BUNDESHAUSREDAKTOR DES mit Bundesbürgschaften gesicherten, TAGES-ANZEIGERS UND DES BUND Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
12 Gesellschaft Basel und Genf: These und Antithese der grenzüberschreitenden Mobilität Der westlichste Kanton der Schweiz kämpft mit Überlastungsproblemen. Es gibt aber einen kleinen Lichtblick: die Verbindungslinie CEVA. In Basel dagegen sind Staus zwar nicht unbekannt, doch verfügt man dort über ein modernes trinationales Mobilitätssystem. STÉPHANE HERZOG Die französische Verkehrsinfrastruktur – und die von Genf selbst – «Es ist ein Wunder, dass zwischen den Strassen Frankreichs und de hatte jedoch auch einmal einen wahrhaften Rückbau erdulden müs nen des Kantons eine Verbindung besteht.» So lautet ein in Genf auf sen: Zwischen 1969 und 1995 etwa verkehrte in Genf ein einziges Tram. geschnappter Witz über die bauliche Verbundenheit der beiden Basel seinerseits wird «oftmals als gelungenes Beispiel in Bezug auf Grenzstädte. Zum Vergleich: Die Region Basel, die ebenfalls Zehn öffentliche Verkehrsmittel angesehen», schreibt Yves Dubois. «Diese tausende von Grenzgängern kennt, «wird häufig als Erfolgsbeispiel Aussage trifft aufgrund der dichten Vernetzung, der grenzüberschrei für grenzüberschreitende Zusammenarbeit genannt, und zwar tenden Verbindungen, aber auch aufgrund der Pionierrolle der Stadt ebenso in politischer Hinsicht wie auf Mobilitätsmanagementsebene», bei der Einführung verschiedener Verkehrsmittel zu.» so Geograf Yann Dubois von der ETH Lausanne. Zu betonen seien die In Genf ist das Tramnetz im Laufe der ersten zehn Jahre nach der dortigen grenzüberschreitenden Regiobahnen, Trams und Busse. Jahrtausendwende spürbar gewachsen, doch verlor der Ausbau all Der Grossraum Genf, der geografisch auf zwei französischen mählich an Schwung. Der (Wieder-)Aufbau der Linien nach Anne Departements sowie den Kantonen Waadt und Genf liegt, vermittelt masse und Saint-Julien wird für 2021 und 2023 erwartet. Des Weite beizeiten den Eindruck, sich ohne Beachtung seines Status als Region ren verkleinerte der Staat das Angebot der Genfer Verkehrsbetriebe entwickelt zu haben. Der Wirtschaftsraum mit mehr als einer Million (Transports Public Genevois, TPG) nach einer Reihe von Abstimmun Einwohnern leidet unter erheblichem Kraftfahrzeugverkehr und gen zugunsten günstigerer Verkehrsmittel. Ihre Beförderungsge einer Leerstandsquote von Wohnraum im Zentrum von gegen null schwindigkeit? Die Beförderungsgeschwindigkeit lag 2016 bei 16,5 (0,45 Prozent in Genf). «Mehr als 90 Prozent des Wohnungsbaus der km/h (+0,09 km/h), gegenüber 19,7 km/h in Basel. Das Gesetz schreibt Agglomeration Frankreich-Waadt-Genf wird in Frankreich realisiert, auf Hauptverbindungsstrecken allerdings eine Geschwindigkeit von da Bauen dort einfacher ist. Obwohl in der Stadt 54 Prozent der Ar mindestens 18 km/h vor. beitsplätze liegen, wohnen nur 42 Prozent der Kantonsbevölkerung Dennoch baut die Region Genf ihren öffentlichen Nahverkehr aus. in der Stadt Genf», gab 2012 der französische Geograf Jean-Baptiste Das Angebot der TPG beinhaltet 13 grenzüberschreitende Verbindun Delaugerre an. 2017 kritisierten mehrere politische Verantwortliche gen, die 66 Kilometer französisches Gebiet abdecken. 2016 waren 5,5 Frankreichs den neuen kantonalen Richtplan und warfen Genf vor, Millionen Fahrten auf den französischen Busstrecken zu verzeichnen. seiner Verantwortung nicht nachzukommen. 2015 wurde mit 2000 In Basel legen die zwei grenzüberschreitenden Verbindungen der BVB Wohnungen ein Rekord erreicht, bei einem Durchschnitt von 1500 in (Basel-Stadt), nämlich die Tramlinie 8 (1,5 Millionen Passagiere 2016) zehn Jahren. Die Franzosen schätzen den Bedarf jedoch auf 3500 Ein sowie die Buslinie 38 insgesamt 8 km Wegstrecke auf deutschem Bo heiten jährlich. den zurück. Die Hoffnung der Region ruht auf einer Zugverbindung: der CEVA. Der Dienstleistungsbereich zieht Grenzgänger an Die 16 Kilometer lange Bahnstrecke ist für 2019 vorgesehen und wird den französischen Ort Annemasse mit dem Genfer Hauptbahnhof In Basel und Genf zieht der Bereich Dienstleistungen noch vor der In Cornavin verbinden. Sie bedient vor allem den Stadtteil Champel in dustrie eine rekordverdächtige Anzahl an Grenzgängern an: 60 000 der Nähe des Kantonsspitals, dessen Pflegepersonal zu zwei Dritteln Ausweise G im industriellen, 86 000 im Dienstleistungsbereich, wobei aus Franzosen besteht. Die CEVA soll den Grenzgängern, von denen hier noch etwa 20 000 Schweizer Grenzgänger sowie 8000 interna mehr als 80 Prozent mit dem Auto zur Arbeit fahren, eine Alternative tionale Beamte hinzu addiert werden müssen. Am Ende des Sees be bieten. Mit ihrer Einführung wird ein neues Netz einschliesslich anspruchen die Grenzgänger circa 30 Prozent der Arbeitsplätze. Die Bahnhöfen in Betrieb genommen. Zwischen 4 und 5 Millionen Fahr Mittelklasse zieht auf der Suche nach günstigerem Wohnraum nach gäste werden über Annemasse anreisen, versprach Christian Dupres Frankreich. Diese Abwanderung ist heute verstärkt zu beobachten in sey, Mitglied des französischen Regionalrates, in den Medien. einem Kanton, der seine Grünflächen und Häuser im städtischen Lisa Mazzone, Vorsitzende der Association Transports et Environ Umland bewahren wollte und nicht genug neuen Wohnraum für die nement Genf (ATE) und grüne Nationalrätin, befürwortet die Einfüh dort entstehenden Arbeitsplätze schafft. rung der CEVA, befürchtet jedoch auch, dass diese in einem Kontext Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
13 Viele Grenzgänger aus Deutschland kommen mit dem Auto nach Basel zur Arbeit. Foto Keystone stattfindet, der öffentliche Verkehrsmittel nicht ausreichend fördert. neralabonnement ausserhalb der Schweiz keine Gültigkeit hat. Sie Sie beklagt «die mangelnde politische Bereitschaft des Regierungs verweist ausserdem auf die schlechte Lesbarkeit der Informationen rates in einem Kanton, in dem die Auto-Tradition erhalten wird und hinsichtlich der internationalen Gültigkeit der Billette. Ferner spricht dessen Emblem die Mont-Blanc-Brücke ist, die einer Autobahn mit Fuchs von einer erzwungenen Änderung in Basel auf der S-Bahn-Ver ten im Zentrum gleichkommt». Die Bereitschaft Basels beschreibt sie bindung Rheinfelden (CH) – Mülhausen (FR) und von einer schlech als positiver. «Dort wurden bereits Massnahmen beschlossen. Das ten Verbindung zwischen den beiden Basler Bahnhöfen. Der VCS freut System funktioniert, und die Menschen sind zufrieden», so Mazzone. sich hingegen über das Inverkehrbringen der neuen Tramlinie 3 und über die guten Taktungen der Busse und Bahnen. Auch Basel kennt Schwachstellen Die Agglomeration Basel ist dennoch einer Verkehrsüberlastung ausgesetzt, stellt Geograf Yann Dubois fest. 42 Prozent der Einwoh Der Stadtkanton in der Deutschschweiz kann sich seiner Fussgän ner der Region nutzen seiner Studie zufolge ihr Auto täglich. In Basel gerzonen rühmen, die in Genf quasi nicht existent sind. Doch nicht liegt der Anteil der tagtäglichen Nutzer bei 11 Prozent, gegenüber 80 alles ist ebenso rosig. Chemieingenieur Jérôme Giovannoni, der im Prozent im französischen Umland. Dubois Forschungen haben erge französischen Village-Neuf lebt, arbeitet auf dem Novartis-Campus. ben, dass die Basler Bemühungen, eine vermehrte Nutzung der öf Er weist auf einen Verkehr hin, der «in der Stadt und auf der Autobahn fentlichen Verkehrsmittel zu erreichen, bei den Pendlern auf wenig dicht ist, insbesondere aufgrund des Transit-Schwerverkehrs» und Gegenliebe stossen. Auf Schweizer Seite geht das «Zurückgreifen auf beschreibt einen «äusserst zuverlässigen Bahnverkehr auf Schweizer das Auto als einzigem Verkehrsmittel praktisch gegen null, da die öf Seite sowie einen weniger verlässlichen auf französischer Seite, be fentlichen Verkehrsmittel einen hohen Stellenwert im Leben der Bas dingt durch Verspätungen und Streiks». Der Grenzgänger erachtet das ler einnehmen». Tram als äusserst praktisches regionales Fortbewegungsmittel, da Der Kanton Genf, in dessen Verfassung die Gleichstellung der Ver das Hauptproblem darin besteht, sein Auto nahe der Grenze zu par kehrsmittel festgehalten ist, verzeichnet täglich 180 000 motorisierte kieren. «Dies wird sich mit der Inbetriebnahme der Tramlinie 3 und Einreisen an den Grenzen. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz sieht ihrer Verbindung zwischen Saint-Louis (FR) und Basel ändern, da ein die Einräumung prioritärer Zonen für öffentliche Verkehrsmittel vor, Park-and-ride-System in der Nähe des Bahnhofs existiert», freut sich doch der Regierungsrat «beschliesst eine Entlastung des motorisier Giovannoni. ten Verkehrs durch grüne Wellen, was noch mehr Autos bedeutet», so Die Basler Sektion des VCS hält das grenzüberschreitende Ver Grünen-Mitglied Lisa Mazzone. Der Kanton will ausserdem die Bus kehrsnetz weiterhin für «unzureichend». Stephanie Fuchs, Geschäfts spuren für motorisierte Zweiräder freigeben. Dieses Vorhaben wurde führerin der VCS-Sektion beider Basel, beklagt unter anderem das jedoch durch eine Klage der Stadt Genf «zum Schutze ihrer Einwoh Fehlen eines trinationalen Tarifs sowie die Tatsache, dass ein SBB-Ge ner vor Luftverschmutzung und Lärmbelästigung» blockiert. Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
14 Gesellschaft Einmal Held, einmal Nobody Ein Schweizer Büezer wandert aus. Er wird in der Ferne zum Helden. Ein Heldensohn – sein Sohn – wandert zurück in die Schweiz. Er bleibt aber unwillkommen und wird zum Büezer. Eine kleine Schweizergeschichte übers Auswandern und Zurückwandern. MARC LETTAU ten auf die neue Heimat ab, so sehr, Der 2. September 1916 endete für ihn dass der Turnerbund in der Donau schrecklich. Er, der kräftige Schweizer stadt Lom einen Steinstösser im Ban- Turner, hörte im griechisch-bulgari- ner führte. schen Grenzgebiet – mitten in den Der Zweijahresvertrag der Schwei- Wirren des 1. Weltkrieges – das Don- zer Turner endete. Doch Eyer blieb. nergrollen der Kanonen und Peit- Rastlos brachte er landauf, landab die schen der Gewehrsalven. Doch er Jugend ins Schwitzen. Er war mit da- hörte es aus der Ferne. Denn Louis bei, als ein landesweiter turnerischer Emil Eyer aus Vevey, einziger Offizier Jugendbund aufgebaut wurde. Er in der königlich-bulgarischen Armee führte in Varna 1900 ein erstes «Fête mit Schweizer Pass, lag nicht im Schüt- Fédéral» nach schweizerischem Vor- zengraben. Er lag im Lazarett. Er war bild durch. Kurz: Er katalysierte tur- von keinem Projektil getroffen, von nerische Massenbewegungen. Und er keinem Bajonett niedergestochen griff für seine Wahlheimat wiederholt worden. Tödlich geschwächt war er zur Waffe. wegen einer inneren Infektion. Er Kein Zweifel: Eyer stand nicht für schaffte es am Ende nicht. In Eile behutsame Pädagogik. Der Jugend be- wurde ein Denkmal errichtet. Andere gegnete er mit der Weidenrute. Sein Gefallene wurden daraufhin im offe- Hang zu Disziplin trug ihm zusätzli- nen Sarg vor dem Eyer-Denkmal für che Achtung bei. Und er überdauerte die Hinterbliebenen fotografiert. Ihr jede Korrektur der Geschichtsschrei- Tod sollte so einen Hauch von histori- bung. Er erntete das Lob der Royalis- schem Sinn erhalten. Denn Eyer war ten, weil er das Land westlichen Wer- ein Held, dessen Glanz selbst post ten näherbrachte. Später lobten ihn mortem abfärbte. die Sozialisten, weil er der echte, frühe Doch wer war dieser Eyer? Er ist Internationalist war, der ehrliche Ar- eine der in der Schweiz konsequent beiter- und Bauernsöhne bildete. unerwähnten historischen Figuren. Boxhandschuhe, Säbel, Fachbücher Frühe Version der Auch das demokratische Bulgarien der Louis-Emil Eyer (1865–1916) war Gies- und lederne Bälle, für das aufstre- Autogrammkarte: Nachwendezeit zählt den Schweizer sereiarbeiter und leidenschaftlicher bende Spiel, das die Engländer erfun- eine von Louis-Emil zum soliden historischen Personal, Eyer signierte Foto Turner. Er war es in einer Zeit, als die den hatten. weil der Abkömmling der selbstbe- grafie. Turnerbewegung in der Schweiz so stimmungsfreudigen Turnernation in sehr in Hochblüte stand, dass dies Marschieren im Kreis den Alpen bestens als Vorbild taugt. selbst fremden Regierungen aufgefal- len war. Das Königreich Bulgarien bat Sport war damals zunächst ein Inst- Zurück in die «Heimat» deshalb die Schweiz, den Aufbau des rument zur Stählung des Volkskör- eben erst unabhängig gewordenen pers und zur Hebung des Wehrwillens. Hier könnte die Schilderung im Prin- Staates mit der Entsendung von Turn- Auch Eyer liess dem militärisch An- zip enden. Doch die Auswandererge- lehrern zu unterstützen. Zehn Recken mutenden viel Raum: disziplinierte schichte mündet in eine Rückwande- aus der Deutsch- und Westschweiz, Marschübungen, Marschieren in Rei- rergeschichte. Zwar gewährte Bulga- unter ihnen Eyer, machten sich 1894 hen, in Kolonnen, im Kreis. Aber zu- rien Eyers Witwe Pauline eine üppige per Zug auf den Weg – im Gepäck gleich färbten seine alten Leidenschaf- Rente. Aber den Hinterbliebenen Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
15 Von Eyer eingeführt als Last und permanente Entfrem- und in der bulgari- dung. Marcel Eyers Sohn Louis Kosta schen Stadt Russe erinnert sich: «Die Verehrung meines erprobt: Anleitungen Grossvaters durch meinen Vater hatte für die Bildung einer Menschenpyramide. etwas Furchtbares. Selbst mein Vater kannte ihn ja vor allem aus Distanz.» Bulgariens Oberturner war nämlich immer auf Achse. Seine Mission trieb ihn an. Für seine Familie war er stets ein Abwesender. Die Enkel schrieben schliesslich ein kleines Zusatzkapitel über die Emanzipation von einem «Zuviel an Geschichte»: Sie übergaben alle Erin- nerungsstücke dem bulgarischen Staat. Louis Kosta Eyers: «Louis-Emils ‹grosse› Geschichte begann in Bulga- fehlte die Perspektive. «Der Schweizer hundert steht, illustriert die Ge- rien. Und sie endete in Bulgarien.» Zu- mit bulgarischem Herzen» – so ein schichte von Sohn Marcel den reser- rück bleibe bloss die Erkenntnis, dass bulgarischer Filmtitel – war tot und vierten Umgang der Schweiz mit es zu nichts tauge, sich mit den Ver- seine Nachfahren waren sehr mit der Auslandschweizern: Der perfekt fran- diensten von Vorfahren zu schmü- Schweiz verbunden. Insbesondere kofone Rückkehrer galt schlicht nicht Eyers in Bulgarien aufgewachsener als Schweizer. Die Bittschreiben des Sohn Marcel drängte auf die Heim- von einem Studium träumenden jun- reise. 1920, vier Jahre nach dem Tod gen Mannes an den Regierungsrat der des ordensgeschmückten Offiziers Waadt blieben folgenlos. Es gab nach und verehrten Sportpädagogen, trat damaligem Verständnis der Behörde er an der Seite seiner Mutter die Rück- keinen Anlass, ihm eine Brücke in den reise in «sein Land» an. Ein Land, das schweizerischen Alltag zu bauen. Der er nicht kannte. Ein Land, das nicht Heldensohn, der noch den Geruch auf ihn wartete. frisch polierter Offiziersstiefel in der Der damals 18-Jährige dachte, es Nase trug, fiel zurück in die staubige werde für ihn höchstens schwierig Fabrikwelt, der sein Vater seinerzeit werden, aus allen ihm in der Schweiz entkommen war. Er, faktisch ein offenstehenden Türen die allerbeste Flüchtling, hauste in den Räumlich- zu wählen. Doch während die Ge- keiten einer abgetakelten Zigarrenfa- Louis Eyer mit seinen cken: «Ich lese Louis-Emils Geschichte, schichte von Turnvater Louis-Emil für brik in Vevey. Für Jahre blieb er gefan- turnerischen Mitstrei- wie ich in den Büchern die Geschich- die Auswanderungswelle im 19. Jahr- gen im enormen Spannungsfeld tern in Bulgarien. ten anderer historischer Persönlich- zwischen Selbstbild (schweizerischer keiten lese: mit Interesse, aber im Be- Heldensohn) und Aussenwahrneh- wusstsein, dass das seine und nicht Spurensuche mung (bulgarischer Wirtschafts- meine Geschichte ist. Jeder ist für Über zwei Jahre hinweg war Marc Lettau, flüchtling). In der ärmlichen Fabrik- seine eigene Geschichte verantwort- Redaktor der Schweizer Revue, zusammen mit wohnung richtete er sich einen Schrein lich.» Beim Blick zurück lässt der En- zwei bulgarischen Historikern auf Spurensuche. der eigenen Geschichte ein – ein po- kel immerhin einen positiven Gedan- Das dabei entstandene Sachbuch «Die drei liertes Hausmuseum mit dem Ölbild ken zu: «Wir sehen heute ein Europa Leben des Louis Eyer» (ISBN 978-619-01-0041-6) des Helden, dem Offizierssäbel des Ge- der erstarkenden Nationalismen. ist sowohl in deutscher wie bulgarischer fallenen, den Orden. Es waren seine Heute nehmen immer mehr Men- Sprache («Трите живота на Луи Айер») im «Beweise» dafür, wie sehr die Schweiz schen die Welt aus ihrer nationalen Buchhandel erhältlich. Es kann auch bei die «wahre Geschichte» ignorierte. Perspektive war. Louis-Emil erinnert Variant 5 bestellt werden (info@variant5.ch, Die Kinder des Glücklosen, also uns zumindest an ein Europa, das ogy.de/buchtipp). die Enkel des Helden, erlebten die Do- offener und durchlässiger war, als es minanz der Geschichte zunehmend heute ist.» Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
16 Literaturserie Wien und die Sehnsucht nach erotischer Erfüllung Max Pulver liess «Himmelpfortgasse», seinen einzigen Roman, in Wien spielen und fiel bei der Kritik gründlich durch. CHARLES LINSMAYER Psychologe, der er ist, an der Grenze zwischen Lebenswille Kaum je ist ein Schweizer Roman derart verkannt worden und Todessehnsucht selbst herausarbeitet. Bei aller Trieb wie die 1927 erschienene «Himmelpfortgasse» des damals haftigkeit seines Charakters will er in faustischer Attitüde 38-jährigen Berner Dramatikers und Psychologen Max dem Leben sein Geheimnis, seinen Sinn abtrotzen. Und auf Pulver. Als abstossendes Beispiel für einen «schrankenlosen dieser Suche nach dem Sinn gibt es kein Tabu, nichts, was Sensualismus» verhöhnte ihn die Kritik, und noch 1968 er ausschliesst, bis er schliesslich wieder auf sich selbst, auf sprach der Germanist Werner Günther davon, dass Pulver die Begegnung mit dem eigenen Ich, zurückgeworfen wird. «seine Stilkraft an einen hoffnungslosen Gegenstand ver «Das ist Gesundung: Begegnung mit mir selbst. Mein ältes geudet» habe. ter und weiss Gott recht unbekannter Freund.» Der Roman entstand 1924 in Zürich und wurde in grosser seelischer Bedrängnis in einem Zug niedergeschrie Kokain als Stimulanz ben. Pulver hatte sich von seiner Frau, der er längst entfrem det war, endgültig getrennt. Und er muss kurz zuvor in Und das Kokain, das die Kritik 1927 offenbar noch mehr als München eine Begegnung mit einer jungen Frau gehabt die offen dargestellte Erotik verstört hat? Es dient im haben, die ihn erst in eine himmelhochjauchzende Eupho Roman weder der Lustgewinnung noch der Wirklichkeits rie und dann in eine tödliche Niedergeschlagenheit ver verdrängung. Gleich am Anfang stellt Pulver klar, «Vergnü setzte. In einen Zustand jedenfalls, in dem Pulver, der als gungsreisenden» empfehle er es nicht. «Es allein zu nehmen, Schüler Hofmannsthals galt und den Oskar Walzel zu den ist Selbstmord.» Für die Liebesbegegnung aber spiele die «neuen Erfüllern klassischer Stilabsichten» rechnete, allen Droge eine stimulierende Rolle, ist sie es doch, die sie zur Bildungsballast fallen liess und zu dem wurde, was man überwirklichen Ekstase transzendiert: «Blutwellen stürm einen Expressionisten nannte: ein Getriebener, der das ten aus dem Herzen jubelnd unter einem Wirbel, die sie mit Erlebte unmittelbar und ungefiltert in Sprache umsetzte. fremdem Antrieb peitschte; dieser erste Anprall zersprengt Pulver tritt in dem Roman, nur notdürftig getarnt, als alle Schlösser, keine Verschwiegenheit hält diesem Dietrich ein holländischer Psychologe und Schriftsteller namens stand, der, wirksamer als alle Schlüs Alexander Mooenboom in Erscheinung, lässt seine Frau sel, Brecheisen und Lötflamme, Behü Berta Feldmann als Ruth auftreten und bringt eine junge tetes unwiderstehlich sanft entrie Malerin namens Mariquita ins Spiel, deren Liebreiz Mooen gelt.» boom mit Haut und Haar verfällt. Er begegnet ihr in Mün Pulver schrieb nach «Himmel chen, reist ihr nach Wien nach und erlebt mit ihr in jener pfortgasse», dem Buch, das er selbst Stadt, die für Pulver ohnehin «zu Gestalt geronnene Sehn später als sein schlechtestes qualifi sucht nach erotischer Erlösung» war, eine Ekstase, bei der zierte, wieder brave klassizistische das Kokain eine wichtige Rolle spielt. Gedichte, wurde mit der «Symbolik der Handschrift» zum Begründer der «Nebeneinander gelagert sausen Ekstase und Ernüchterung wissenschaftlichen Grafologie und wir auseinander wie Sterne, starb 1952 in Zürich als hoch angese Zentrale Schauplätze sind die Wiener Hotels und Gaststät hener Handschriftfachmann und Ge deren Bahn sich tödlich nah ten Klomser, Ronacher und Kobenzl und vor allem die enge lehrter. 1981 aber, anlässlich der Wie gestreift. Die Zeit steht still und Himmelpfortgasse, wo sich Mariquitas Atelier befindet und derausgabe von «Himmelpfortgasse» lauscht. Leises Knistern in den die der Roman indirekt zu einem Vagina-Symbol stilisiert: nach 55 Jahren, schrieb der New Yor Wänden. Nichts zerschlägt die «Mein Reich. Das Himmelreich. Das Paradies. Eine dunkle ker Aufbau, es sei damit «ein Meister Haarflamme schlägt vor dem inneren Auge hoch. Wollust werk des schweizerischen Expressio Spannung.» überfällt mich. Die Tür zum Paradies muss eng sein.» Die nismus wieder zugänglich geworden, Ekstase endet in Ernüchterung, Mariquita gibt ihre Heirat das als solches in seiner Bedeutung (Aus Max Pulver, «Himmel mit einem biederen Wiener bekannt, und am Ende stellt erst noch zu entdecken ist.» pfortgasse». Roman, Frühling sich heraus, was in dem Roman von allem Anfang an ange der Gegenwart Bd. 13, legt ist: dass die Wiener Ekstase die letzte Phase einer t iefen CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- Ex Libris, Zürich, 1981) Lebenskrise ist, aus welcher sich Mooenboom, brillanter SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
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