SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation

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SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
SCHWEIZER REVUE
                  Die Zeitschrift für Auslandschweizer
                            September 2017

Eine «Courgette» sorgt für Furore:
Die Erfolge des Schweizer Trickfilms
Wahlen 2017 in der Diaspora:
Das ist der neue Auslandschweizerrat
Schlusspunkt in Moutier:
Das definitive Ende des Jurakonflikts?
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Inhalt                                          Editorial                                                                         3

                                                            Ein Bekenntnis zur
                                                            Schweizer Revue
            5         Briefkasten

            6         Schwerpunkt
                      Das erhoffte Ende des Jurakonflikts                          Es ist so weit: Die Auslandschweizer-Organisation hat
                                                                                   ihren Vertrag mit dem Eidgenössischen Departement
            10 Politik                                                             für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bezüglich der
                      Rücktritt von Bundesrat Burkhalter                           Schweizer Revue um vier Jahre verlängert. Der Kredit
                      Die Schweizer Hochseeflotte im                               des EDA für das Magazin der Diaspora ist für 2018
                      ­politischen Fokus                                           ­gesichert.
                                                                                       Was nach einer Formalität aussieht, ist in Wirk-
            12 Gesellschaft                                                        lichkeit ein wich­tiges Bekenntnis des EDA zur Schwei-
                      Pendlerverkehr in Basel und Genf      zer Revue. In Z
                                                                          ­ eiten, in denen der Bund sparen muss und auch das Budget des
                      Die Geschichte des Auswanderers       Aussendepartements gekürzt wird, kann es die Auslandschweizer-­
                      Louis Eyer                            Organisation durchaus als Erfolg verbuchen, dass ihr Magazin in der beste-
                                                            henden Form weiter erscheinen wird.
            16 Literaturserie                                   Wir können unsere Kernaufgabe – die Belieferung der Auslandschweize-
                      Max Pulver in Wien                    rinnen und Auslandschweizer mit Infos zur Meinungsbildung vor Abstim-
                                                            mungen und Wahlen – damit auch in Zukunft wahrnehmen. Und wir wer-
                      Nachrichten aus aller Welt            den weiterhin die wichtigsten Neuigkeiten aus den Bereichen Wirtschaft,
                                                            Kultur, Sport und Gesellschaft ergänzen. Ausserdem wird das Magazin auch
            17 Sport                                        fortan die Regionalseiten und die Nachrichten aus aller Welt enthalten.
                      Olympia 2026 auf dem Prüfstand            Alles wie gehabt also? Ja und nein. Es ist unsere Aufgabe als Herausgeber,
                                                            uns jetzt nicht zurückzulehnen, sondern über die Periode bis Ende 2021
            20 Kultur                                       hinauszuschauen. Und da warten viele Herausforderungen. Der finanzielle
                      Schweizer Trickfilmer                 Druck wird nicht kleiner werden. So müssen wir uns laufend Gedanken ma-
                                                            chen, wie die Ausgaben vor allem in den Bereichen Vertrieb und Druck opti-
            22 Der neue Auslandschweizerrat                 miert werden können – bei gleichbleibender Qualität, versteht sich. Und die
                                                            Lesegewohnheiten werden sich auch in der Diaspora weiter verändern. Das
            24 ASO-Informationen                            Thema Papier versus Internet und die Möglichkeiten der Social Media wer-
                                                            den uns weiter beschäftigen.
            26 news.admin.ch                                    Ziel ist es, auch in Zukunft den medialen Bedürfnissen der Ausland-
                                                            schweizerinnen und Auslandschweizer gerecht zu werden. Zugleich dürfen
            28 Gesehen                                      wir die A
                                                                    ­ ugen vor Veränderungen und Entwicklungen nicht verschliessen.
                      Art Brut in Lausanne                  In diesem Spannungsfeld werden wir uns bemühen, die Leserinnen und
                                                            ­Leser in der Ferne noch viele Jahre zufriedenzustellen.
            30 Gelesen                                                                                        MARKO LEHTINEN, CHEFREDAKTOR
                      Eine Entdeckungsreise
                      von Jost Auf der Maur

            30 Gehört
                      «Live/Monotypes» von Yannick Delez

            31 Herausgepickt

            31 Echo

            Titelbild: Szene aus dem Schweizer Trickfilm
            «Ma vie de Courgette». Foto Keystone

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
Internationale Kranken–
und Unfallversicherung
 Nach Schweizer Modell
 Privater Versicherungsschutz lebenslang
 Freie Arzt- und Spitalwahl weltweit
Ausserdem:
 Internationale Erwerbsausfallversicherung

                                                 Online
 Internationale Pensionskasse

Individuelle Lösungen für:
 Auslandschweizer                               Internationale
                                                 Krankenversicherung
 Auswanderer aller Nationalitäten
 Kurzzeit-Entsandte / Local Hire

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                      Tel: +41 (0)43 399 89 89
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CH-8027 Zürich
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Briefkasten                                                                                                                                             5

            Schweizer Kartografie.                                                          Eine Ikone des Schweizer Weins.
            Im Land der gestochen scharfen Ränder                                           Die Winzerin Marie Thérèse Chappaz
                                      Wunderbar zu lesen, viel Neues gelernt! Nur ein                           Grosse Klasse, vielen Dank! Fully ist
                                      kleiner Zusatz: Zum Schattenwurf mit einer                                ein für die Einwohner der drei Täler
                                      imaginären Sonne aus nordwestlicher Richtung                              aus meiner Kindheit legendäres Obst-
                                      schreibt Marc Lettau: «Der Vorzug der deplat-                             anbaugebiet wie aus dem Paradies. Ich
                                      zierten Sonne ist, dass sie die kartografierte                            denke wehmütig zurück an die Zeit, in
                                      Wirklichkeit besonders plastisch und somit be-                            der Maulesel noch an der Tagesord-
                                      sonders wirklich aussehen lässt». Ich glaube,         nung waren, an das Tal von La Neuvaz der Sechzigerjahre
                                      dies ist nur, weil wir uns daran gewöhnt haben.       vor dem herrlichen Chalet Troillet, das in Rauch aufging.
            Für mich einleuchtender ist, dass die ersten Gestalter dieser                   Was das Val Ferret an Ursprünglichkeit eingebüsst hat, hat
            Kunstwerke die imaginäre Sonne identisch zur Tischlampe                         es an negativer Entwicklung gewonnen. Mein nächstes
            links oben platzierten, um sich das Relief plastisch vorzustel-                 Glas Petite Arvine trinke ich auf das Wohl der Troillets.
            len. Sehr wahrscheinlich waren sie ja meist Rechtshänder. Die                                                         CHARLES ROCHAT, SCHWEIZ
            Luft- und Satellitenbilder, an die wir uns heute gewöhnen,
            haben den Schattenwurf übrigens eher mit der Sonne aus öst-                     Editorial.
            licher Richtung, weil es oft Morgenbilder sind. Deshalb sehen                   Konti zu gleichen Bedingungen
            wir unter Umständen das Relief verkehrt, das heisst die Berge
            sind Löcher und die Flüsse fliessen oben auf dem Grat.                          Warum begründen die Schweizer Banken ihre hohen
                                                                   HANS HURNI, SCHWEIZ     Konto­gebühren immer mit dem enormen Aufwand der Zu-
                                                                                            sammenarbeit mit anderen Staaten? Ich kenne Menschen
            Diese kleinen in den Felsen und Seen versteckten kartografi-                    aus England und Deutschland, die hier in Spanien leben
            schen Scherze sind einfach herrlich! Wer sagt denn, dass die                    und Konten in ihrem Heimatland haben – ohne solche hor-
            Schweizer keinen Sinn für Humor haben? Solche kartografi-                       renden Gebühren! Wenn man von der AHV lebt und dann
            schen Scherze überwinden Landesgrenzen. In den Karten des                       noch 300 Franken pro Jahr bezahlen muss, um ein Konto
            britischen Ordnance Survey sind auch welche versteckt.                          in der Schweiz zu haben, ist das ein Abriss.
                                                              ROBERT CAMPBELL, ENGL AND                                           RENATO BESOMI, SPANIEN

            Wunderbar! Ich erinnere mich jedes Mal an die Qualität unse-                    Das Verhalten der Banken trifft viele Auslandschweizer
            rer topografischen Karten, wenn ich im Ausland nach etwas                       hart. Begründungen wie Sicherheit oder Risiko stempeln
            Vergleichbarem suche.                                   FRÉDÉRIC VOGT, CHILE   uns Kleinen fast zu Kriminellen, während die Grossen in
                                                                                            den Chefetagen der Banken mit ihren Abenteuern mit
                                                                                            ­Kundengeldern ungeschoren davonkommen. Ein Konto
                                                                                            kostet mich 360 Franken pro Jahr, dies gegenüber Zinsen
                                                                                            von unter 100 Franken pro Jahr. Ist das vertretbar? Können
                                                                                            unsere Parlamentarier tatsächlich nichts tun gegen diese
                                                                                            im Ruf schwer angeschlagenen Finanzinstitutionen?
                                                                                                                               PIERRE STACHER, AUSTRALIEN

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Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
6        Schwerpunkt

Die letzten Meter zur Konfliktlösung?
Mit dem Wechsel der Kleinstadt Moutier vom Kanton Bern zum Jura ist ein Schlussstrich unter
einen uralten und hartnäckigen Territorialkonflikt gezogen worden. Das hofft man zumindest.

                            JÜRG MÜLLER                                        irischen Belfast verglichen werden
                            Plötzlich ging gar nichts mehr: Der                konnten, so war die Lage im bern­
                            Bohrkopf einer Tunnelbohrmaschine                  jurassischen Städtchen über weite
                            steckte bei Moutier in einer heiklen               Strecken doch äusserst angespannt.
                            geologischen Zone fest. Zwei Jahre                    Eines der letzten grossen Kapitel
                            dauerte es, bis das Ungetüm 2005 mit               des bernisch-jurassischen Konflikts
                            grossem Aufwand wieder freigebud-                  ist nun eben dort geschrieben worden,
                            delt war. Die Mehrkosten beliefen sich             gewaltfrei und gesittet: In einer histo-
                            auf 158 Millionen Franken. Im vergan-              rischen Volksabstimmung hat sich die
                            genen April konnte das 6,6 Milliarden              Gemeinde am 18. Juni entschieden,
                            Franken teure Bauwerk nach fast                    dem Kanton Bern den Rücken zu keh-
                            30-jähriger Bauzeit nun vollendet                  ren und sich dem Kanton Jura anzu-
                            werden – die Transjurane, die Auto-                schliessen. Allerdings: In den kom-
                            bahn A 16 von Biel in den Kanton Jura.             menden Jahren wird noch um das
                            Die Strasse verbindet nicht nur den                Organisatorische und Administrative
                            Kanton Jura mit dem Berner Jura und                gerungen, beispielsweise um Fragen
                            dem Schweizer Mittelland, sondern                  der Güterausscheidung. Dieser Prozess
                            auch das Schweizer Autobahnnetz mit                kann Jahre dauern. Und anschliessend         Versammlung) ins Leben gerufen. Die
                            dem französischen.                                 müssen noch die Stimmbürgerinnen             Arbeiten der AIJ führten 2012 zu einem
                                  Das Trennende ist in dieser Ge-              und -bürger der Kantone Jura und             Abkommen zwischen den Kantonen
                            gend manchmal jedoch stärker als das               Bern sowie der National- und Stände-         Bern und Jura. Dieses sah ein mehr-
                            Verbindende. Und die Kleinstadt Mou-               rat den Kantonswechsel absegnen.             stufiges Verfahren mit regionalen und
                            tier war nicht nur 2005 eine geologi-                                                           kommunalen Abstimmungen vor. Zu-
                            sche Knacknuss, sie war auch ein Epi-              Ein langwieriges, mehrstufiges               erst konnten die Stimmberechtigten
                            zentrum des Jurakonflikts. Auch                                                                 des Kantons Jura und des Berner Jura
                                                                               Verfahren
                            wenn die Zustände in Moutier in den                                                             darüber befinden, ob man gemeinsam
                            Siebzigerjahren des vergangenen Jahr-              Die Moutier-Abstimmung ist ein wich­         die Gründung eines Grosskantons
                            hunderts nicht mit denen im nord­                  tiger Teil der – so die erklärte Absicht –   Jura einleiten soll. Der Berner Jura
                                                                               endgültigen Lösung des schwierigs­ten        sagte 2013 Nein, der Kanton Jura Ja: Da
Kantonswechsel: Moutier wurde jurassisch                                       Schweizer Territorialkonflikts des           nicht beide Teile einverstanden waren,
Moutier hat am 18. Juni für den                                                20. Jahrhunderts. Man erinnert sich:         konnte das Projekt nicht weiterver-
Kantonswechsel gestimmt.                                                       Nach der Gründung des Kantons Jura           folgt werden. Der zweite Schritt sah
                                          51,72% Ja             48,28% Nein
                                                                               im Jahr 1979 beruhigte sich die Lage in      vor, dass einzelne Gemeinden, wenn
                                                                               der gespaltenen Region nicht vollstän-       sie es denn wünschten, über einen
                                                 Stimmbeteiligung: 88%
                                                                               dig, es kam vielmehr zu ernsthaften          Wechsel zum Kanton Jura befinden
                                                                               Spannungen. Die Separatisten waren           könnten.
                                                                               nicht zufrieden, weil nur die drei
                                          JURA                                 nördlichen Bezirke Porrentruy, Delé-         Neuer Zündstoff oder neuer
                                                                               mont und Franches-Montagnes den
                                                                                                                            Pragmatismus?
                                                                               Kanton Jura bilden sollten, die drei
                                                                               südjurassischen Bezirke Moutier,             Geht der Jurakonflikt nach den kom-
                                                                               Courtelary und La Neuveville dagegen         munalen Abstimmungen im Berner
                                                                               beim Kanton Bern bleiben wollten.            Jura jetzt wirklich definitiv zu Ende?
                                          BERN
                                                                               1994 wurde deshalb die Assemblée in-         Die Antwort lautet: Ja, zumindest in-
                                                                               terjurassienne (AIJ, Interjurassische        stitutionell. Denn die Kantone Bern

                                                                                                                                            Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
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und Jura haben sich im Jura-Abkom-         Doch Sean Müller, Kenner der Jura­        Schweiz bietet», also vor allem diverse            Jubel bei den Pro­
men von 2012 verpflichtet, die Frage       frage und Dozent am Institut für Poli-    Abstimmungen auf allen Ebenen des                  Jurassiern: Moutier
als gelöst zu betrachten, sobald das       tikwissenschaft der Universität Bern,     Staates. Marty zeigt sich überzeugt,
                                                                                                                                        stand jahrzehntelang
                                                                                                                                          im ­Zentrum des Jura­
mehrstufige Abstimmungsverfahren           ist überzeugt, «dass niemand Lust hat,    dass der zeitintensive Prozess mitge-
                                                                                                                                          konflikts. Im vergan­
abgeschlossen ist. Eine andere Frage       den Konflikt ernsthaft neu anzufa-        holfen hat, «ein Problem zu lösen, das             genen Juni gabs end­
ist, ob das alle politischen Akteure       chen». In Sachen Kantonsgrenzen sei       andernorts unter gleichen Vorausset-                 lich Grund zur Freude,
ebenfalls so sehen. In einer Demokra-      das Thema gelöst. Im Berner Jura, das     zungen hätte in gewaltsame Konflikte               zumindest für die
tie darf jedes Thema wieder aufgerollt     hätten alle Abstimmungen gezeigt,         umschlagen können».                                ­Befürworter des
                                                                                                                                         ­Kantonswechsels.
werden. So hat etwa das Mouvement          gibt es keine Mehrheit für einen ge-                                                         Foto Keystone
autonomiste jurassien (MAJ) schon          samtheitlichen Kantonswechsel. «Und       «Findling aus alten Zeiten»
kurz nach der Moutier-Abstimmung           alle, sowohl die Autonomisten wie
verkündet, dass die Stunde gekom-          auch die militant Berntreuen, sind        Der wichtigste Meilenstein war laut
men sei, «neue Wege zu suchen, die         pragmatisch geworden und haben            Sean Müller die Bereitschaft des Kan-
jurassische Souveränität über die Ge-      sich an den Dialog im Rahmen der In-      tons Bern, den Ablösungsprozess er-
samtheit des Territoriums wiederher-       terjurassischen Versammlung und an-       gebnisoffen einzuleiten. Das war be-
zustellen». Mit anderen Worten: Die        derer Gremien gewöhnt», sagt Müller       reits 1970, als die Berner Stimmbürger
Autonomisten beanspruchen den gan-         im Gespräch mit der Schweizer Revue.      einem Verfassungszusatz zustimmten,
zen Berner Jura. Im Berner Kantons-           Wesentlichen Anteil an der Prob-       mit dem der Weg zu einer mehrstufi-
parlament wiederum wurden Stim-            lemlösung hatte Dick Marty, ehemali-      gen Abstimmungskaskade im Jura
men laut, die den garantierten Sitz des    ger Tessiner Staatsanwalt, früherer       freigemacht wurde. Sie führte schliess­
Berner Juras in der Kantonsregierung       FDP-Ständerat und auch internatio-        lich zur Gründung des Kantons Jura.
in Frage stellen oder zumindest auf-       nal ein gefragter Mann für heikle         «Es war durchaus grosszügig und res-
weichen wollen. Auch von einer Re-         ­Missionen. Er präsidiert seit 2010 die   pektvoll, einer Minderheit diese Mög-
duktion der zwölf Sitze des Berner         Interjurassische Versammlung. Ge-         lichkeit zu geben», sagt Müller. Doch
Juras im Kantonsparlament ist die          genüber Swissinfo sagt er: «Wir haben     zuvor seien Dinge geschehen, «die
Rede, da dieser Landesteil schliesslich    zur Lösung dieses Konflikts die ge-       nicht immer ins übliche Bild der
kleiner geworden sei. Das alles birgt      samte Bandbreite der Instrumente an-      Schweizer Politik passten»: Nachdem
neuen Zündstoff.                           gewandt, welche die Demokratie der                                 Fortsetzung auf Seite 8

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
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8        Schwerpunkt

200 Jahre Jurakonflikt im Überblick
1815: Am Wiener Kongress wird das Gebiet des ehemaligen
Fürstbistums Basel dem Kanton Bern zugesprochen. Seit 1793
war dieser Teil des Juras ein französisches Departement. Erste
Konflikte zwischen Berntreuen und Jurassiern gab es schon
nach 1815.

1947: Das Berner Kantonsparlament verweigert dem
jurassischen Regierungsrat Georges Moeckli das Baudeparte-
ment, dies wegen seiner französischen Muttersprache. Der
Jurakonflikt beginnt zu eskalieren.

1950: Der Kanton führt das Französische als zweite Amtsspra-
che ein. Zudem erhalten die jurassischen Bezirke zwei
garantierte Sitze in der Kantonsregierung.                           Zeiten der Gewalt: jurassische Separatisten an einer unbewilligten Demonstration im
1963: Gründung der separatistischen Jugendorganisation               November 1969 vor dem Bundeshaus in Bern. Foto Keystone
Béliers, welche diverse provokative Aktionen durchführt.
Verschiedene Sprengstoff- und Brandanschläge gehen auf das           mauert. Es gab auch Sprengstoff- und              auf die Schweizer Politik von den
Konto der Jurassischen Befreiungsfront (FLJ).
                                                                     Brandanschläge. In Moutier kam es                 1950er-Jahren bis 1980. «Der Jurakon-
1970: Das Berner Volk stimmt einem Verfassungszusatz zu, der         Mitte der Siebzigerjahre zu Strassen-             flikt spiegelte die Opposition zwischen
den Weg zu einer mehrstufigen Plebiszit­Kaskade freimacht.           schlachten zwischen bewaffneten                   der progressiven, fortschrittlichen Be-
1974: Das jurassische Volk entscheidet sich für einen eigenen        ­Separatisten und der Berner Kantons-             wegung der Sechziger und der konser-
Kanton. Allerdings werden nur die drei nördlichen Bezirke den        polizei.                                          vativen Schweiz», sagt er. Umgekehrt,
Kanton Jura bilden, weil die drei südjurassischen Bezirke beim           Der Historiker Jakob Tanner geht              so Crévoisier, «konnten die Separatis-
Kanton Bern bleiben wollen.
                                                                     noch weiter zurück und bezeichnet                 ten sich gerade in den Sechziger- und
1978: Das Schweizer Volk und alle Kantone stimmen der                den Jurakonflikt in seinem Buch «Ge-              Siebzigerjahren an die damalige Auf-
Gründung des Kantons Jura mit 82,3 Prozent zu. Ein Jahr später       schichte der Schweiz im 20. Jahrhun-              bruchstimmung lehnen».
tritt die République et Canton du Jura als jüngster Teilstaat der    dert» als «politischen Findling aus al-
Schweizerischen Eidgenossenschaft bei.
                                                                     ten Zeiten». Mit der Zuweisung des                Ein nonkonformistischer Teilstaat?
1994: Da der Jurakonflikt auf kleinerem Feuer immer noch             Juras an den Kanton Bern am Wiener
weiterschwelt, wird eine Interjurassische Versammlung ins            Kongress von 1815 war ein franzö-                 Der Kanton Jura ist also auch das Kind
Leben gerufen, die Lösungsvorschläge erarbeiten soll. Dieses         sischsprachiges, katholisches Gebiet              einer Zeit, in der politische Zukunfts-
Gremium schlägt Volksabstimmungen über die Wiedervereini-
                                                                     unter die Herrschaft eines protestan-             visionen noch einen anderen Stellen-
gung des Juras vor.
                                                                     tischen, deutschsprachigen Kantons                wert hatten als heute. Das Historische
2012: Die Kantone Bern und Jura schliessen ein Abkommen,             gekommen. Die Nordjurassier fühlten               Lexikon der Schweiz sieht im jüngsten
um den Jurakonflikt definitiv zu beenden. Das Abkommen sieht         sich danach von Bern ausgenützt. Von              Kanton immer noch «einen fortschritt-
ein mehrstufiges Verfahren mit regionalen und kommunalen             bernischer Seite wurde wenig inves-               lichen und nonkonformistischen Teil-
Abstimmungen vor.
                                                                     tiert. Die Strassen- und Bahninfra-               staat».
                                                                     struktur war mangelhaft. Gleichzeitig                  Für den Politikwissenschaftler
                                                                     fühlten sich die Jurassier mit ihrer              Sean Müller dagegen zeigt das allge-
                                                                     frankofonen Kultur zu wenig respek-               meine Abstimmungsverhalten im
                                                                     tiert. Der Südjura dagegen erlebte eine           Kanton Jura ein uneinheitliches Bild.
                                                                     zunehmende Industrialisierung, ge-                In gesellschaftspolitischen Fragen, wo
                            Fortsetzung von Seite 7                  paart mit einer markanten Einwande-               religiöse Einstellungen eine wichtige
                            etwa die Berner Stimmbürger 1959         rung von Deutschschweizern. Das                   Rolle spielen, sei der Jura eher zurück-
                            eine Initiative des Rassemblement        verlieh dem Konflikt, neben den his-              haltend. In Öffnungs-, Migrations-
                            jurassien für ein Jura-Plebiszit abge-   torischen, religiösen und wirtschaft-             und aussenpolitischen Themen
                            lehnt hatten, griffen die Separatisten   lichen Gründen, auch eine sprach-                 stimme das Etikett «fortschrittlich» –
                            in den Sechzigerjahren zu immer ra-      lich-ethnische Komponente.                        aber da ticke der Jura nicht anders als
                            dikaleren Methoden. So wurden zum            Mehr noch: Für den Historiker                 die Romandie insgesamt und die gros­
                            Beispiel der Berner Tag an der Landes-   Clément Crevoisier hatte die Jurafrage            sen Deutschschweizer Städte. Und die
                            ausstellung Expo von 1964 gestört und    laut einem Interview in Der Bund ei-              Zusammensetzung der politischen Be-
                            das Berner Kantonsparlament zuge-        nen wichtigen symbolischen Einfluss               hörden des Kantons Jura entspreche

                                                                                                                                          Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
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mittlerweile ungefähr helvetischem           Zwei Seelen im Berner Jura
Durchschnitt. Als nonkonformistisch
könne man den Jura insofern bezeich-
                                             Bern oder Jura? Am 18. Juni hat Moutier nach Jahrzenten der Spaltung
nen, als er gleich von Anfang an bei-
spielsweise das Ausländerstimmrecht
                                             knapp für den Kantonswechsel votiert. In zwei kleinen Dörfern im Berner
in die Verfassung aufgenommen hat.           Jura wurde am 17. September ebenfalls abgestimmt.
      Wirtschaftlich dagegen ist der
Kanton Jura keine Wachstumsloko-             SIMON THÖNEN                               gespalten war. Andernorts sind die
motive. Bei der Wettbewerbsfähigkeit         Der Abstimmungssonntag vom 18.             Verhältnisse klarer. Der grösste Teil
bildet er regelmässig das Schlusslicht,      Juni war in der Kleinstadt Moutier der     des Berner Juras will beim Kanton
und beim kantonalen Finanzaus-               Tag der Entscheidung – und der gros-       Bern bleiben, wie eine regionale
gleich gehört er mit zu den grössten         sen Gefühle. Schon seit dem Morgen,        Volksabstimmung 2013 klar gezeigt
Pro-Kopf-Empfängerkantonen. Die              Stunden bevor das mit Spannung er-         hat. Und es haben nur zwei weitere
Erwartungen seien bei der Kantons-           wartete Resultat der Gemeindeab-           Gemeinden im Berner Jura nach Mou-
gründung deutlich ambitiöser gewe-           stimmung über den Kantonswechsel           tier über einen Kantonswechsel abge-
sen, sagt Müller. Doch die Ausgangs-         verkündet wurde, dominierten die           stimmt – am 17. September (nach Re-
lage als Randregion, relativ weit weg        Pro-Jurassier mit ihren rotweissen         daktionsschluss dieser Ausgabe):
von den Wirtschaftszentren, sei von          Fahnen das Bild des Industriestädt-        Belprahon ist im Ortskern ein wun-
Anfang an schwierig gewesen. Die             chens. Gross war der Jubel, als fest-      derschönes ehemaliges Bauerndorf
eben erst fertiggestellte Transjurane        stand: Moutier will den Kanton wech-       am Südhang des Mont Raimeux – und
weckt zwar Hoffnungen auf wirt-              seln, von Bern in den Jura. «Bravo         ansonsten ein Vorort von Moutier mit
schaftliche Impulse für die struktur-        Moutier!», rief ein Autonomist in die      vielen Einfamilienhäusern. Auch in
schwache Region. Nur, so sagt Sean           Menge. «Wir haben es geschafft!» Es        diesem 300-Einwohner-Dorf war
Müller, eine Autobahn könne auch             folgte ein Volksfest mit viel Bier, Mu-    man in der Frage Bern oder Jura ge-
den gegenteiligen Effekt haben, näm-         sik und Feuerwerk bis spät in die Nacht.   spalten – bis in die Familien hinein.
lich dass mehr Leute zur Arbeit aus             Doch das Resultat war mit 51,7          Gemeindepräsident Michel Leuenber-
dem Kanton hinauspendelten.                  Prozent Ja-Stimmen knapp, der Vor-         ger galt als pro-bernisch, sein Bruder
      Im Jurakonflikt geht es, wie bei       sprung des Ja betrug bloss 137 Stim-       Philippe hoffte auf ein Ja zum Jura,
den meisten ähnlich gelagerten Fällen        men. Die Kleinstadt mit 7700 Einwoh-       «weil der Jura familiärer ist, dort feiert
und generell in der Politik, nie nur um      nern und Einwohnerinnen blieb am           man die besseren Feste». Doch inzwi-
streng Rationales, sondern auch um           Tag der Entscheidung also gespalten.       schen führe man, bestätigen die bei-
viel Emotionales. Selbst die heute et-       Die Pro-Berner, die sich in einer Halle    den, anders als früher wegen der Jura­
was anachronistische Auseinander-            am Stadtrand versammelt hatten, hat-       frage keinen Krieg mehr in der eigenen
setzung um die «richtige» Kantonszu-         ten ebenfalls gejubelt – wenn auch nur     Familie.
gehörigkeit bewegt sich irgendwo             sehr kurz. Irrtümlich glaubten sie ei-         Sorvilier, das zweite Dorf, das am
zwischen Selbstbestimmungsrecht,             nen Moment lang, der Sieg sei auf ih-      17. September abstimmte, grenzt nicht
Identitätsfragen und Ethno-Nationa-          rer Seite. Dann brachen viele in Trä-      an Moutier. Abgestimmt wurde, weil
lismus.                                      nen aus. Und die Enttäuschung der          die Mehrheit des Gemeinderates pro­
      Und auch wenn der Kanton Jura          Verlierer machte dem pro-jurassi-          jurassisch ist – der Gemeindepräsi-
kaum je bis zum Bielersee hinunter           schen Bürgermeister von Moutier,           dent allerdings ist Pro-Berner. Wie
reichen und der Konflikt dereinst Ge-        Marcel Winistoerfer (CVP), «ein biss-      viele Dorfbewohner hat François
schichte sein wird, wird es in der           chen Angst», wie er trotz der Freude       Romy, der Präsident der neutralen
«Rauracienne», der offiziellen Hymne         über seinen Abstimmungssieg ein-           Burgergemeinde, zwei Seelen in seiner
des Kantons Jura, wohl weiterhin             räumte. Es sei jetzt eine grosse Her­      Brust. «Im Herzen bin ich Jurassier»,
heissen: «Vom Bielersee bis zu den Toren     ausforderung für die Stadtbehörden,        sagt er. «Doch ich bin auch ein vehe-
Frankreichs / Reift die Hoffnung im Dun-     auch jene von der jurassischen Zu-         menter Verteidiger der Zweisprachig-
kel der Städte / Aus unseren Herzen er-      kunft zu überzeugen, die diese abge-       keit» – also des Zusammenlebens von
klingt ein Gesang der Erlösung / Unsere      lehnt hatten.                              Frankofonen und Deutschsprachigen
Fahne hat auf den Bergen geweht / Ihr, die      In Moutier sind die Würfel gefal-       im Kanton Bern.
um das Los des Vaterlands euch sorgt /       len. In den Jahrzehnten zuvor war der
Brecht die Ketten eines ungerechten          Streit heftig, weil die Stadt an der       SIMON THÖNEN IST JOURNALIST
Schicksals!»                                 Grenze zwischen Nord- und Südjura          BEI DER TAGESZEITUNG DER BUND

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
10     Politik

Linke trauert Burkhalter mehr nach als die eigene Partei
Der Rücktritt von Aussenminister Didier Burkhalter kam sogar für seine Partei FDP überraschend.
Ob der Neuenburger Bundesrat aus privaten oder politischen Gründen geht, bleibt unklar.

MARKUS BROTSCHI
Auf den Tag genau acht Jahre nach seinem Amtsantritt wird Didier
Burkhalter am 31. Oktober das Departement für auswärtige Angele-
genheiten (EDA) seinem Nachfolger übergeben. Ob er damit den völ-
ligen Rückzug ins Private antritt oder später doch noch ein Amt in ei-
                                                                                                                                     Auf dem internatio­
ner internationalen Organisation übernimmt, bleibt offen. In seiner
                                                                                                                                     nalen Parkett zu
Rücktrittserklärung drückte Burkhalter den Wunsch aus, nach fast                                                                     Hause: Bundesrat
30 Jahren in der Politik ein Stück Freiheit wieder zu gewinnen. Das                                                                  Didier Burkhalter
Amt als Bundesrat nehme einen so stark in Anspruch, dass es sich wie                                                                 mit dem chinesi­
eine zweite Haut anfühle, sagte der 57-Jährige.                                                                                      schen Aussen­
                                                                                                                                     minister Wang Yi
     Die meisten Parlamentarier, auch aus Burkhalters FDP, interpre-
                                                                                                                                     im Dezember 2016
tierten den Rücktritt allerdings anders. Der Bundesrat sei mit dem                                                                   in Neuenburg.
Europa-Dossier in eine Sackgasse geraten. Denn Burkhalter verfolgt                                                                   Foto Keystone
seit Jahren hartnäckig das Ziel, mit der Europäischen Union ein Rah-
menabkommen über die institutionelle Anbindung der Schweiz zu
erreichen. Angetrieben vom Widerstand der SVP, hat ein solches Rah-      weltoffenen Schweiz. Schuld an seinem Rücktritt seien die CVP und
menabkommen jedoch in der FDP und der CVP an Rückhalt verloren.          FDP, die Burkhalter in der Europapolitik im Stich gelassen hätten.
Burkhalter wurde immer lauter vorgeworfen, er verkenne die Reali-           Mit Burkhalter tritt ein Bundesrat zurück, der sich auf dem inter-
tät, dass ein solches Abkommen in einer Volksabstimmung scheitern        nationalen Parkett wohler fühlte als in der Innenpolitik. Internatio-
werde. «Man hat Didier Burkhalter seinen Weg in Richtung eines in-       nale Anerkennung erreichte er 2014 als Vorsitzender der Organisa-
stitutionellen Rahmenabkommens weiterverfolgen lassen, obwohl            tion für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Als
diese Richtung seit einiger Zeit nicht mehr mehrheitsfähig ist», sagte   Vermittler im Ukraine-Krim-Konflikt verschaffte er sich weitherum
FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis, Burkhalters möglicher Nachfolger       Respekt und rang den Konfliktparteien Zugeständnisse ab. Zeitweise
im Bundesrat, am Tag des Rücktritts. Den Fehler sah Cassis vor allem     wurde Burkhalter gar als künftiger UNO-Generalsekretär gehandelt.
beim Bundesrat und Burkhalters Rücktritt als «Ausdruck einer staats-
männischen Haltung».                                                     Die geerbte Zweite Säule
Der erfolgreiche Konsens-Politiker                                       Weniger geschickt und mit weniger Elan agierte Burkhalter in seinen
                                                                         ersten zwei Amtsjahren als Vorsteher des Innendepartements (EDI).
Burkhalter dementierte vehement, dass er aus dem fehlenden Rück-         So musste er vier Monate nach seinem Amtsantritt gleich eine Abstim-
halt für seine Politik die Konsequenzen ziehe. Eine Genugtuung muss      mungsniederlage verdauen. Das Volk verwarf mit 73 Prozent Nein die
es für ihn gewesen sein, dass der Gesamtbundesrat an einer euro-         Senkung des Umwandlungssatzes in der Zweiten Säule. Für diese Vor-
papolitischen Klausur kurz nach der Rücktrittsankündigung weit-          lage konnte Burkhalter zwar nichts, da er sie von seinem Vorgänger
gehend am bisherigen europapolitischen Kurs festhielt. Es war dies       Pascal Couchepin geerbt hatte. Aber statt die nötige grosse Reform der
ein Ausdruck jener Politik, die Burkhalter während seiner ganzen         Altersvorsorge zügig anzupacken, startete Burkhalter einen wenig
Amtszeit verfolgte. Der Bundesrat soll als Kollegialbehörde auftre-      zielführenden Dialog mit allen interessierten Kreisen.
ten. Alle sollen bemüht sein, im Gremium den Konsens zu suchen              Bereits nach zwei Jahren im EDI, nach dem Rücktritt von Aussen-
und nicht einzelne Mitglieder in ihren Vorhaben bremsen. Doch            ministerin Micheline Calmy-Rey, packte er die erste Gelegenheit zum
manche Deutschschweizer Parteikollegen hätten sich von Burkhal-          Wechsel ins EDA. Dies wurde ihm zuweilen als Fahnenflucht vorge-
ter gewünscht, im Bundesrat öfter für eine «bürgerliche» Politik zu      worfen. Zweifellos entsprach aber das Aussendepartement dem welt-
sorgen. Burkhalter wird vorgeworfen, zu häufig mit Doris Leuthard        gewandten Neuenburger Freisinnigen besser als das zähe innenpoli-
(CVP) und den beiden SP-Vertretern für Mitte-Links-Mehrheiten            tische Ringen um Reformen in der Gesundheits- und Rentenpolitik.
­gesorgt zu haben.
     Mit grossem Bedauern reagierten denn auch Vertreter von SP und
Grünen auf den Rücktritt. Sie lobten Burkhalter als Vertreter einer      MARKUS BROTSCHI IST BUNDESHAUSREDAKTOR DES TAGES-ANZEIGERS UND DES BUND

                                                                                                                            Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
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Ein teures Seeabenteuer
Die Schweiz liegt nicht am Meer und hat keine Marine. Und doch ist sie eine Seefahrernation –
was dem Bund nun einen Verlust von 215 Millionen Franken einbringt.

CHRISTOPH LENZ                                                         Helfer im Bundesamt für wirtschaft­       stark überschuldeten Schiffe abzu­
Seit dem Zweiten Weltkrieg fördert                                     liche Landesversorgung, die die           stossen – auch wenn damit erstmals
der Bund den Erhalt einer Schweizer                                    Schiffskäufe mit grosszügigen Bundes­     seit den 50er-Jahren Bundesbürg­
Hochseeflotte. Die Schiffe, die priva­                                 bürgschaften erleichterten. Besonders     schaften effektiv fällig wurden. Unter
ten Besitzern gehören, sollen im Kri­                                  offensiv ging der Berner Reeder Hans­     dem Strich dürfte der Verlust für die
senfall der Landesversorgung dienen.                                   jürg Grunder vor. Ursprünglich ein Fi­    Bundeskasse nun rund 215 Millionen
Die Idee: Die Schiffe würden in einem                                  nanzfachmann, spezialisierte er sich      Franken betragen. «Ungern, verdammt
westeuropäischen Meerhafen ausge­                                      auf den Bau und Handel von neuen          ungern!» verteidige er diesen Kredit­
laden, ihre Ladung würde dann auf                                      Schiffen. Zeitweilig besass er über ein   antrag, sagte der FDP-Bundesrat im
dem Landweg in die Schweiz befördert –                                 Dutzend Schiffe mit Staatsgarantie,       Juni im Nationalrat.
dank Duldung des Transitstaates.                                       die Bürgschaftssumme belief sich auf
      Jahrzehntelang war die Förderung                                 weit über 100 Millionen Franken.          500 Millionen sind noch offen
der Hochseeflotte ein aufregungs­                                         Wegen des Expansionsdrangs der
armes Geschäft, mit dem sich nur eine                                  Schweizer Reeder waren die Mittel,        Das Parlament stimmte dem Kredit
Handvoll Beamte befasste. Seit diesem                                  die der Bund für Bürgschaften zur Ver­    zwar zähneknirschend zu. Doch die
Frühling ist das anders. Die Schweizer                                 fügung stellte, rasch erschöpft. Zwi­     Hochsee-Affäre wird ein politisches
Flotte steht sinnbildlich für ein Loch                                 schen 2002 und 2008 weitete das Par­      Nachspiel haben. Die Geschäftsprü­
von 215 Millionen Franken in der                                       lament den Kreditrahmen zweimal           fungskommissionen wollen den Fall
­Bundeskasse und für Misswirtschaft                                    aus – von 400 Millionen auf 1,1 Milli­    unter die Lupe nehmen. Einerseits,
im Bundesamt für wirtschaftliche                                       arden Franken. Das Risiko sei «mini­      weil interne Untersuchungen Hin­
Landesversorgung.                                                      mal und vertretbar», sagte die dama­      weise auf Misswirtschaft und sogar
                                                                       lige Volkswirtschaftsministerin Doris     strafbare Handlungen im zuständigen
Reeder an der Bonanza                                                  Leuthard im Nationalrat.                  Bundesamt ergaben. Andererseits,
                                                                          Schon bald zeigte sich, wie sehr       weil die Risiken der Hochseebürg­
Was ist geschehen? Der Aufstieg der                                    sich Bundesbern irrte. Als 2008 die       schaften durch den 215-Millionen­
BRICS-Staaten Brasilien, Russland,                                     ­Finanzkrise die globalen Boomjahre       Franken-Abschreiber keineswegs ge­
                                           Die Schweizer
­Indien, Südafrika und insbesondere        ­Hochseeflotte steht        abrupt beendete, fielen auch die Preise   tilgt sind. Bürgschaften im Umfang
China in den Nullerjahren befeuerte        sinnbildlich für ein        im Frachtgeschäft in den Keller. Seit­    von über 500 Millionen Franken sind
den globalen Handel und führte zu           Loch von 215               her befindet sich die Handelsschiff­      bei anderen Schweizer Reedereien
­einem Boom in der Handelsschifffahrt.      Mil­lionen Franken in      fahrt in einer einmaligen Krise. Zahl­    noch offen. 30 Schiffe sind weiterhin
                                           der Bundeskasse.
Auch Schweizer Reeder wollten an der                                   reiche Werften und Grossreedereien        mit Staatsgarantie unterwegs.
                                           Im Bild: der Frachter
Bonanza teilhaben und begannen,            «SCL Bern».                 mussten in den letzten Jahren Insol­          Doch die Abwicklung der Schwei­
ihre Flotte auszubauen. Sie fanden         Foto Stiftung Swiss-Ships   venz anmelden. Auch die mit Staats­       zer Flotte hat begonnen. Mehrere
                                                                       garantien gesicherten Schweizer           Schiffe von Hansjürg Grunder sind
                                                                       Schiffe kamen in Schwierigkeiten.         verkauft. Unter anderem die «SCL
                                                                       Und ganz besonders jene von Reeder        Bern», ein stattlicher Frachter von 140
                                                                       Hansjürg Grunder. Seit Ende 2014          Metern Länge und einer Ladekapazi­
                                                                       kämpfte seine Swiss-Cargo-Line­           tät von 12 500 Tonnen. Neuerdings
                                                                       Grup­pe ums Überleben, seit 2015 hielt    heisst sie «Angelo Maria». Ihr Heck
                                                                       das Wirtschaftsdepartement von Jo­        ziert nicht mehr das Schweizerkreuz.
                                                                       hann Schneider-Ammann die Schiffe         Dort flattert jetzt die Flagge von Bar­
                                                                       mit Finanzspritzen über Wasser – ver­     bados.
                                                                       geblich, wie sich Ende 2016 zeigte.
                                                                          Der Bundesrat entschied, die zwölf     CHRISTOPH LENZ IST BUNDESHAUSREDAKTOR DES
                                                                       mit Bundesbürgschaften gesicherten,       TAGES-ANZEIGERS UND DES BUND

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
12     Gesellschaft

Basel und Genf: These und Antithese
der grenzüberschreitenden Mobilität
Der westlichste Kanton der Schweiz kämpft mit Überlastungsproblemen. Es gibt aber einen
kleinen Lichtblick: die Verbindungslinie CEVA. In Basel dagegen sind Staus zwar nicht
unbekannt, doch verfügt man dort über ein modernes trinationales Mobilitätssystem.

STÉPHANE HERZOG                                                         Die französische Verkehrsinfrastruktur – und die von Genf selbst –
«Es ist ein Wunder, dass zwischen den Strassen Frankreichs und de­      hatte jedoch auch einmal einen wahrhaften Rückbau erdulden müs­
nen des Kantons eine Verbindung besteht.» So lautet ein in Genf auf­    sen: Zwischen 1969 und 1995 etwa verkehrte in Genf ein einziges Tram.
geschnappter Witz über die bauliche Verbundenheit der beiden            Basel seinerseits wird «oftmals als gelungenes Beispiel in Bezug auf
Grenzstädte. Zum Vergleich: Die Region Basel, die ebenfalls Zehn­       öffentliche Verkehrsmittel angesehen», schreibt Yves Dubois. «Diese
tausende von Grenzgängern kennt, «wird häufig als Erfolgsbeispiel       Aussage trifft aufgrund der dichten Vernetzung, der grenzüberschrei­
für grenzüberschreitende Zusammenarbeit genannt, und zwar               tenden Verbindungen, aber auch aufgrund der Pionierrolle der Stadt
ebenso in politischer Hinsicht wie auf Mobilitätsmanagementsebene»,     bei der Einführung verschiedener Verkehrsmittel zu.»
so Geograf Yann Dubois von der ETH Lausanne. Zu betonen seien die          In Genf ist das Tramnetz im Laufe der ersten zehn Jahre nach der
dortigen grenz­überschreitenden Regiobahnen, Trams und Busse.           Jahrtausendwende spürbar gewachsen, doch verlor der Ausbau all­
     Der Grossraum Genf, der geografisch auf zwei französischen         mählich an Schwung. Der (Wieder-)Aufbau der Linien nach Anne­
­Departements sowie den Kantonen Waadt und Genf liegt, vermittelt       masse und Saint-Julien wird für 2021 und 2023 erwartet. Des Weite­
beizeiten den Eindruck, sich ohne Beachtung seines Status als Region    ren verkleinerte der Staat das Angebot der Genfer Verkehrsbetriebe
entwickelt zu haben. Der Wirtschaftsraum mit mehr als einer Million     (Transports Public Genevois, TPG) nach einer Reihe von Abstimmun­
Einwohnern leidet unter erheblichem Kraftfahrzeugverkehr und            gen zugunsten günstigerer Verkehrsmittel. Ihre Beförderungsge­
­einer Leerstandsquote von Wohnraum im Zentrum von gegen null           schwindigkeit? Die Beförderungsgeschwindigkeit lag 2016 bei 16,5
(0,45 Prozent in Genf). «Mehr als 90 Prozent des Wohnungsbaus der       km/h (+0,09 km/h), gegenüber 19,7 km/h in Basel. Das Gesetz schreibt
Agglomeration Frankreich-Waadt-Genf wird in Frankreich realisiert,      auf Hauptverbindungsstrecken allerdings eine Geschwindigkeit von
da Bauen dort einfacher ist. Obwohl in der Stadt 54 Prozent der Ar­     mindestens 18 km/h vor.
beitsplätze liegen, wohnen nur 42 Prozent der Kantonsbevölkerung           Dennoch baut die Region Genf ihren öffentlichen Nahverkehr aus.
in der Stadt Genf», gab 2012 der französische Geograf Jean-Baptiste     Das Angebot der TPG beinhaltet 13 grenzüberschreitende Verbindun­
Delaugerre an. 2017 kritisierten mehrere politische Verantwortliche     gen, die 66 Kilometer französisches Gebiet abdecken. 2016 waren 5,5
Frankreichs den neuen kantonalen Richtplan und warfen Genf vor,         Millionen Fahrten auf den französischen Busstrecken zu verzeichnen.
seiner Verantwortung nicht nachzukommen. 2015 wurde mit 2000            In Basel legen die zwei grenzüberschreitenden Verbindungen der BVB
Wohnungen ein Rekord erreicht, bei einem Durchschnitt von 1500 in       (Basel-Stadt), nämlich die Tramlinie 8 (1,5 Millionen Passagiere 2016)
zehn Jahren. Die Franzosen schätzen den Bedarf jedoch auf 3500 Ein­     sowie die Buslinie 38 insgesamt 8 km Wegstrecke auf deutschem Bo­
heiten jährlich.                                                        den zurück.
                                                                           Die Hoffnung der Region ruht auf einer Zugverbindung: der CEVA.
Der Dienstleistungsbereich zieht Grenzgänger an                         Die 16 Kilometer lange Bahnstrecke ist für 2019 vorgesehen und wird
                                                                        den französischen Ort Annemasse mit dem Genfer Hauptbahnhof
In Basel und Genf zieht der Bereich Dienstleistungen noch vor der In­   Cornavin verbinden. Sie bedient vor allem den Stadtteil Champel in
dustrie eine rekordverdächtige Anzahl an Grenzgängern an: 60 000        der Nähe des Kantonsspitals, dessen Pflegepersonal zu zwei Dritteln
Ausweise G im industriellen, 86 000 im Dienstleistungsbereich, wobei    aus Franzosen besteht. Die CEVA soll den Grenzgängern, von denen
hier noch etwa 20 000 Schweizer Grenzgänger sowie 8000 interna­         mehr als 80 Prozent mit dem Auto zur Arbeit fahren, eine Alternative
tionale Beamte hinzu addiert werden müssen. Am Ende des Sees be­        bieten. Mit ihrer Einführung wird ein neues Netz einschliesslich
anspruchen die Grenzgänger circa 30 Prozent der Arbeitsplätze. Die      Bahnhöfen in Betrieb genommen. Zwischen 4 und 5 Millionen Fahr­
Mittelklasse zieht auf der Suche nach günstigerem Wohnraum nach         gäste werden über Annemasse anreisen, versprach Christian Dupres­
Frankreich. Diese Abwanderung ist heute verstärkt zu beobachten in      sey, Mitglied des französischen Regionalrates, in den Medien.
einem Kanton, der seine Grünflächen und Häuser im städtischen              Lisa Mazzone, Vorsitzende der Association Transports et Environ­
­Umland bewahren wollte und nicht genug neuen Wohnraum für die          nement Genf (ATE) und grüne Nationalrätin, befürwortet die Einfüh­
dort entstehenden Arbeitsplätze schafft.                                rung der CEVA, befürchtet jedoch auch, dass diese in einem Kontext

                                                                                                                       Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
13

                                                                                                                               Viele Grenzgänger
                                                                                                                               aus Deutschland
                                                                                                                               kommen mit dem
                                                                                                                               Auto nach Basel zur
                                                                                                                               Arbeit. Foto Keystone

stattfindet, der öffentliche Verkehrsmittel nicht ausreichend fördert.   neralabonnement ausserhalb der Schweiz keine Gültigkeit hat. Sie
Sie beklagt «die mangelnde politische Bereitschaft des Regierungs­       verweist ausserdem auf die schlechte Lesbarkeit der Informationen
rates in einem Kanton, in dem die Auto-Tradition erhalten wird und       hinsichtlich der internationalen Gültigkeit der Billette. Ferner spricht
dessen Emblem die Mont-Blanc-Brücke ist, die einer Autobahn mit­         Fuchs von einer erzwungenen Änderung in Basel auf der S-Bahn-Ver­
ten im Zentrum gleichkommt». Die Bereitschaft Basels beschreibt sie      bindung Rheinfelden (CH) – Mülhausen (FR) und von einer schlech­
als positiver. «Dort wurden bereits Massnahmen beschlossen. Das          ten Verbindung zwischen den beiden Basler Bahnhöfen. Der VCS freut
System funktioniert, und die Menschen sind zufrieden», so Mazzone.       sich hingegen über das Inverkehrbringen der neuen Tramlinie 3 und
                                                                         über die guten Taktungen der Busse und Bahnen.
Auch Basel kennt Schwachstellen                                             Die Agglomeration Basel ist dennoch einer Verkehrsüberlastung
                                                                         ausgesetzt, stellt Geograf Yann Dubois fest. 42 Prozent der Einwoh­
Der Stadtkanton in der Deutschschweiz kann sich seiner Fussgän­          ner der Region nutzen seiner Studie zufolge ihr Auto täglich. In Basel
gerzonen rühmen, die in Genf quasi nicht existent sind. Doch nicht       liegt der Anteil der tagtäglichen Nutzer bei 11 Prozent, gegenüber 80
alles ist ebenso rosig. Chemieingenieur Jérôme Giovannoni, der im        Prozent im französischen Umland. Dubois Forschungen haben erge­
französischen Village-Neuf lebt, arbeitet auf dem Novartis-Campus.       ben, dass die Basler Bemühungen, eine vermehrte Nutzung der öf­
Er weist auf einen Verkehr hin, der «in der Stadt und auf der Autobahn   fentlichen Verkehrsmittel zu erreichen, bei den Pendlern auf wenig
dicht ist, insbesondere aufgrund des Transit-Schwerverkehrs» und         Gegenliebe stossen. Auf Schweizer Seite geht das «Zurückgreifen auf
beschreibt einen «äusserst zuverlässigen Bahnverkehr auf Schweizer       das Auto als einzigem Verkehrsmittel praktisch gegen null, da die öf­
Seite sowie einen weniger verlässlichen auf französischer Seite, be­     fentlichen Verkehrsmittel einen hohen Stellenwert im Leben der Bas­
dingt durch Verspätungen und Streiks». Der Grenzgänger erachtet das      ler einnehmen».
Tram als äusserst praktisches regionales Fortbewegungsmittel, da            Der Kanton Genf, in dessen Verfassung die Gleichstellung der Ver­
das Hauptproblem darin besteht, sein Auto nahe der Grenze zu par­        kehrsmittel festgehalten ist, verzeichnet täglich 180 000 motorisierte
kieren. «Dies wird sich mit der Inbetriebnahme der Tramlinie 3 und       Einreisen an den Grenzen. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz sieht
­ihrer Verbindung zwischen Saint-Louis (FR) und Basel ändern, da ein     die Einräumung prioritärer Zonen für öffentliche Verkehrsmittel vor,
­Park-and-ride-System in der Nähe des Bahnhofs existiert», freut sich    doch der Regierungsrat «beschliesst eine Entlastung des motorisier­
Giovannoni.                                                              ten Verkehrs durch grüne Wellen, was noch mehr Autos bedeutet», so
      Die Basler Sektion des VCS hält das grenzüberschreitende Ver­      Grünen-Mitglied Lisa Mazzone. Der Kanton will ausserdem die Bus­
kehrsnetz weiterhin für «unzureichend». Stephanie Fuchs, Geschäfts­      spuren für motorisierte Zweiräder freigeben. Dieses Vorhaben wurde
führerin der VCS-Sektion beider Basel, beklagt unter anderem das         jedoch durch eine Klage der Stadt Genf «zum Schutze ihrer Einwoh­
Fehlen eines trinationalen Tarifs sowie die Tatsache, dass ein SBB-Ge­   ner vor Luftverschmutzung und Lärmbelästigung» ­blockiert.

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
14     Gesellschaft

Einmal Held, einmal Nobody
Ein Schweizer Büezer wandert aus. Er wird in der Ferne zum Helden. Ein Heldensohn – sein
Sohn – wandert zurück in die Schweiz. Er bleibt aber unwillkommen und wird zum Büezer.
Eine kleine Schweizergeschichte übers Auswandern und Zurückwandern.

MARC LETTAU                                                                                                 ten auf die neue Heimat ab, so sehr,
Der 2. September 1916 endete für ihn                                                                        dass der Turnerbund in der Donau­
schrecklich. Er, der kräftige Schweizer                                                                     stadt Lom einen Steinstösser im Ban-
Turner, hörte im griechisch-bulgari-                                                                        ner führte.
schen Grenzgebiet – mitten in den                                                                              Der Zweijahresvertrag der Schwei-
Wirren des 1. Weltkrieges – das Don-                                                                        zer Turner endete. Doch Eyer blieb.
nergrollen der Kanonen und Peit-                                                                            Rastlos brachte er landauf, landab die
schen der Gewehrsalven. Doch er                                                                             Jugend ins Schwitzen. Er war mit da-
hörte es aus der Ferne. Denn Louis­                                                                         bei, als ein landesweiter turnerischer
Emil Eyer aus Vevey, einziger Offizier                                                                      Jugendbund aufgebaut wurde. Er
in der königlich-bulgarischen Armee                                                                         führte in Varna 1900 ein erstes «Fête
mit Schweizer Pass, lag nicht im Schüt-                                                                     Fédéral» nach schweizerischem Vor-
zengraben. Er lag im Lazarett. Er war                                                                       bild durch. Kurz: Er katalysierte tur-
von keinem Projektil getroffen, von                                                                         nerische Massenbewegungen. Und er
keinem Bajonett niedergestochen                                                                             griff für seine Wahlheimat wiederholt
worden. Tödlich geschwächt war er                                                                           zur Waffe.
wegen einer inneren Infektion. Er                                                                              Kein Zweifel: Eyer stand nicht für
schaffte es am Ende nicht. In Eile                                                                          behutsame Pädagogik. Der Jugend be-
wurde ein Denkmal errichtet. Andere                                                                         gegnete er mit der Weidenrute. Sein
Gefallene wurden daraufhin im offe-                                                                         Hang zu Disziplin trug ihm zusätzli-
nen Sarg vor dem Eyer-Denkmal für                                                                           che Achtung bei. Und er überdauerte
die Hinterbliebenen fotografiert. Ihr                                                                       jede Korrektur der Geschichtsschrei-
Tod sollte so einen Hauch von histori-                                                                      bung. Er erntete das Lob der Royalis-
schem Sinn erhalten. Denn Eyer war                                                                          ten, weil er das Land westlichen Wer-
ein Held, dessen Glanz selbst post                                                                          ten näherbrachte. Später lobten ihn
mortem abfärbte.                                                                                            die Sozialisten, weil er der echte, frühe
     Doch wer war dieser Eyer? Er ist                                                                       Internationalist war, der ehrliche Ar-
eine der in der Schweiz konsequent                                                                          beiter- und Bauernsöhne bildete.
unerwähnten historischen Figuren.          Boxhandschuhe, Säbel, Fachbücher          Frühe Version der      Auch das demokratische Bulgarien der
Louis-Emil Eyer (1865–1916) war Gies-      und lederne Bälle, für das aufstre-       Autogrammkarte:        Nachwendezeit zählt den Schweizer
sereiarbeiter und leidenschaftlicher       bende Spiel, das die Engländer erfun-
                                                                                     eine von Louis-Emil    zum soliden historischen Personal,
                                                                                     Eyer signierte Foto­
Turner. Er war es in einer Zeit, als die   den hatten.                                                      weil der Abkömmling der selbstbe-
                                                                                     grafie.
Turnerbewegung in der Schweiz so                                                                            stimmungsfreudigen Turnernation in
sehr in Hochblüte stand, dass dies         Marschieren im Kreis                                             den Alpen bestens als Vorbild taugt.
selbst fremden Regierungen aufgefal-
len war. Das Königreich Bulgarien bat      Sport war damals zunächst ein Inst-                              Zurück in die «Heimat»
deshalb die Schweiz, den Aufbau des        rument zur Stählung des Volkskör-
eben erst unabhängig gewordenen            pers und zur Hebung des Wehrwillens.                             Hier könnte die Schilderung im Prin-
Staates mit der Entsendung von Turn-       Auch Eyer liess dem militärisch An-                              zip enden. Doch die Auswandererge-
lehrern zu unterstützen. Zehn Recken       mutenden viel Raum: disziplinierte                               schichte mündet in eine Rückwande-
aus der Deutsch- und Westschweiz,          Marschübungen, Marschieren in Rei-                               rergeschichte. Zwar gewährte Bulga-
unter ihnen Eyer, machten sich 1894        hen, in Kolonnen, im Kreis. Aber zu-                             rien Eyers Witwe Pauline eine üppige
per Zug auf den Weg – im Gepäck            gleich färbten seine alten Leidenschaf-                          Rente. Aber den Hinterbliebenen

                                                                                                                            Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
15

                                                                                              Von Eyer eingeführt      als Last und permanente Entfrem-
                                                                                              und in der bulgari-      dung. Marcel Eyers Sohn Louis Kosta
                                                                                              schen Stadt Russe        erinnert sich: «Die Verehrung meines
                                                                                              erprobt: Anleitungen
                                                                                                                       Grossvaters durch meinen Vater hatte
                                                                                              für die Bildung einer
                                                                                              Menschenpyramide.        etwas Furchtbares. Selbst mein Vater
                                                                                                                       kannte ihn ja vor allem aus Distanz.»
                                                                                                                       Bulgariens Oberturner war nämlich
                                                                                                                       immer auf Achse. Seine Mission trieb
                                                                                                                       ihn an. Für seine Familie war er stets
                                                                                                                       ein Abwesender.
                                                                                                                          Die Enkel schrieben schliesslich
                                                                                                                       ein kleines Zusatzkapitel über die
                                                                                                                       Emanzipation von einem «Zuviel an
                                                                                                                       Geschichte»: Sie übergaben alle Erin-
                                                                                                                       nerungsstücke dem bulgarischen
                                                                                                                       Staat. Louis Kosta Eyers: «Louis-Emils
                                                                                                                       ‹grosse› Geschichte begann in Bulga-
fehlte die Perspektive. «Der Schweizer             hundert steht, illustriert die Ge-                                  rien. Und sie endete in Bulgarien.» Zu-
mit bulgarischem Herzen» – so ein                  schichte von Sohn Marcel den reser-                                 rück bleibe bloss die Erkenntnis, dass
bulgarischer Filmtitel – war tot und               vierten Umgang der Schweiz mit                                      es zu nichts tauge, sich mit den Ver-
seine Nachfahren waren sehr mit der                Auslandschweizern: Der perfekt fran-                                diensten von Vorfahren zu schmü-
Schweiz verbunden. Insbesondere                    kofone Rückkehrer galt schlicht nicht
Eyers in Bulgarien aufgewachsener                  als Schweizer. Die Bittschreiben des
Sohn Marcel drängte auf die Heim-                  von einem Studium träumenden jun-
reise. 1920, vier Jahre nach dem Tod               gen Mannes an den Regierungsrat der
des ordensgeschmückten Offiziers                   Waadt blieben folgenlos. Es gab nach
und verehrten Sportpädagogen, trat                 damaligem Verständnis der Behörde
er an der Seite seiner Mutter die Rück-            keinen Anlass, ihm eine Brücke in den
reise in «sein Land» an. Ein Land, das             schweizerischen Alltag zu bauen. Der
er nicht kannte. Ein Land, das nicht               Heldensohn, der noch den Geruch
auf ihn wartete.                                   frisch polierter Offiziersstiefel in der
      Der damals 18-Jährige dachte, es             Nase trug, fiel zurück in die staubige
werde für ihn höchstens schwierig                  Fabrikwelt, der sein Vater seinerzeit
werden, aus allen ihm in der Schweiz               entkommen war. Er, faktisch ein
offenstehenden Türen die allerbeste                Flüchtling, hauste in den Räumlich-
zu wählen. Doch während die Ge-                    keiten einer abgetakelten Zigarrenfa-      Louis Eyer mit seinen    cken: «Ich lese Louis-Emils Geschichte,
schichte von Turnvater Louis-Emil für              brik in Vevey. Für Jahre blieb er gefan-   turnerischen Mitstrei-   wie ich in den Büchern die Geschich-
die Auswanderungswelle im 19. Jahr-                gen im enormen Spannungsfeld
                                                                                              tern in Bulgarien.       ten anderer historischer Persönlich-
                                                   zwischen Selbstbild (schweizerischer                                keiten lese: mit Interesse, aber im Be-
                                                   Heldensohn) und Aussenwahrneh-                                      wusstsein, dass das seine und nicht
  Spurensuche                                      mung (bulgarischer Wirtschafts-                                     meine Geschichte ist. Jeder ist für
  Über zwei Jahre hinweg war Marc Lettau,          flüchtling). In der ärmlichen Fabrik-                               seine eigene Geschichte verantwort-
  Redaktor der Schweizer Revue, zusammen mit       wohnung richtete er sich einen Schrein                              lich.» Beim Blick zurück lässt der En-
  zwei bulgarischen Historikern auf Spurensuche.   der eigenen Geschichte ein – ein po-                                kel immerhin einen positiven Gedan-
  Das dabei entstandene Sachbuch «Die drei         liertes Hausmuseum mit dem Ölbild                                   ken zu: «Wir sehen heute ein Europa
  Leben des Louis Eyer» (ISBN 978-619-01-0041-6)   des Helden, dem Offizierssäbel des Ge-                              der erstarkenden Nationalismen.
  ist sowohl in deutscher wie bulgarischer         fallenen, den Orden. Es waren seine                                 Heute nehmen immer mehr Men-
  Sprache («Трите живота на Луи Айер») im          «Beweise» dafür, wie sehr die Schweiz                               schen die Welt aus ihrer nationalen
  Buchhandel erhältlich. Es kann auch bei          die «wahre Geschichte» ignorierte.                                  Perspektive war. Louis-Emil erinnert
  Variant 5 bestellt werden (info@variant5.ch,        Die Kinder des Glücklosen, also                                  uns zumindest an ein Europa, das
  ogy.de/buchtipp).                                die Enkel des Helden, erlebten die Do-                              ­offener und durchlässiger war, als es
                                                   minanz der Geschichte zunehmend                                     heute ist.»

Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
16      Literaturserie

Wien und die Sehnsucht nach erotischer Erfüllung
Max Pulver liess «Himmelpfortgasse», seinen einzigen Roman, in Wien spielen und fiel bei der Kritik gründlich durch.

CHARLES LINSMAYER                                                   Psychologe, der er ist, an der Grenze zwischen Lebenswille
Kaum je ist ein Schweizer Roman derart verkannt worden              und Todessehnsucht selbst herausarbeitet. Bei aller Trieb­
wie die 1927 erschienene «Himmelpfortgasse» des damals              haftigkeit seines Charakters will er in faustischer Attitüde
38-jährigen Berner Dramatikers und Psychologen Max                  dem Leben sein Geheimnis, seinen Sinn abtrotzen. Und auf
­Pulver. Als abstossendes Beispiel für einen «schranken­losen       dieser Suche nach dem Sinn gibt es kein Tabu, nichts, was
Sensualismus» verhöhnte ihn die Kritik, und noch 1968               er ausschliesst, bis er schliesslich wieder auf sich selbst, auf
sprach der Germanist Werner Günther davon, dass Pulver              die Begegnung mit dem eigenen Ich, zurückgeworfen wird.
«seine Stilkraft an einen hoffnungslosen Gegenstand ver­            «Das ist Gesundung: Begegnung mit mir selbst. Mein ältes­
geudet» habe.                                                       ter und weiss Gott recht unbekannter Freund.»
     Der Roman entstand 1924 in Zürich und wurde in
grosser seelischer Bedrängnis in einem Zug niedergeschrie­          Kokain als Stimulanz
ben. Pulver hatte sich von seiner Frau, der er längst entfrem­
det war, endgültig getrennt. Und er muss kurz zuvor in              Und das Kokain, das die Kritik 1927 offenbar noch mehr als
München eine Begegnung mit einer jungen Frau gehabt                 die offen dargestellte Erotik verstört hat? Es dient im
haben, die ihn erst in eine himmelhochjauchzende Eupho­             ­Roman weder der Lustgewinnung noch der Wirklichkeits­
rie und dann in eine tödliche Niedergeschlagenheit ver­             verdrängung. Gleich am Anfang stellt Pulver klar, «Vergnü­
setzte. In einen Zustand jedenfalls, in dem ­Pulver, der als        gungsreisenden» empfehle er es nicht. «Es allein zu nehmen,
Schüler Hofmannsthals galt und den Oskar Walzel zu den              ist Selbstmord.» Für die Liebesbegegnung aber spiele die
«neuen Erfüllern klassischer Stilabsichten» rechnete, allen         Droge eine stimulierende Rolle, ist sie es doch, die sie zur
Bildungsballast fallen liess und zu dem wurde, was man              überwirklichen Ekstase transzendiert: «Blutwellen stürm­
­einen Expressionisten nannte: ein Ge­triebener, der das            ten aus dem Herzen jubelnd unter einem Wirbel, die sie mit
­Erlebte unmittelbar und ungefiltert in Sprache umsetzte.           fremdem Antrieb peitschte; dieser erste Anprall zersprengt
     Pulver tritt in dem Roman, nur notdürftig getarnt, als         alle Schlösser, keine Verschwiegenheit hält diesem Dietrich
ein holländischer Psychologe und Schriftsteller namens              stand, der, wirksamer als alle Schlüs­
Alexander Mooenboom in Erscheinung, lässt seine Frau                sel, Brecheisen und Lötflamme, Behü­
Berta Feldmann als Ruth auftreten und bringt eine junge             tetes unwiderstehlich sanft entrie­
Malerin namens Mariquita ins Spiel, deren Liebreiz Mooen­           gelt.»
boom mit Haut und Haar verfällt. Er begegnet ihr in Mün­                Pulver schrieb nach «Himmel­
chen, reist ihr nach Wien nach und erlebt mit ihr in jener          pfortgasse», dem Buch, das er selbst
Stadt, die für Pulver ohnehin «zu Gestalt geronnene Sehn­           später als sein schlechtestes qualifi­
sucht nach erotischer Erlösung» war, eine Ekstase, bei der          zierte, wieder brave klassizistische
das Kokain eine wichtige Rolle spielt.                              Gedichte, wurde mit der «Symbolik
                                                                    der Handschrift» zum Begründer der
                                                                                                                  «Nebeneinander gelagert sausen
Ekstase und Ernüchterung                                            wissenschaftlichen Grafologie und
                                                                                                                  wir auseinander wie Sterne,
                                                                    starb 1952 in Zürich als hoch angese­
Zentrale Schauplätze sind die Wiener Hotels und Gaststät­           hener Handschriftfachmann und Ge­             deren Bahn sich tödlich nah
ten Klomser, Ronacher und Kobenzl und vor allem die enge            lehrter. 1981 aber, anlässlich der Wie­       gestreift. Die Zeit steht still und
Himmelpfortgasse, wo sich Mariquitas Atelier befindet und           derausgabe von «Himmelpfortgasse»             lauscht. Leises Knistern in den
die der Roman indirekt zu einem Vagina-Symbol stilisiert:           nach 55 Jahren, schrieb der New Yor­
                                                                                                                  Wänden. Nichts zerschlägt die
«Mein Reich. Das Himmelreich. Das Paradies. Eine dunkle             ker Aufbau, es sei damit «ein Meister­
Haarflamme schlägt vor dem inneren Auge hoch. Wollust               werk des schweizerischen Expressio­           Spannung.»
überfällt mich. Die Tür zum Paradies muss eng sein.» Die            nismus wieder zugänglich geworden,
Ekstase endet in Ernüchterung, Mariquita gibt ihre Heirat           das als solches in seiner Bedeutung
                                                                                                                  (Aus Max Pulver, «Himmel­
mit einem biederen Wiener bekannt, und am Ende stellt               erst noch zu entdecken ist.»                 pfortgasse». Roman, Frühling
sich heraus, was in dem Roman von allem Anfang an ange­                                                           der Gegenwart Bd. 13,
legt ist: dass die Wiener Ekstase die letzte Phase einer t­ iefen   CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN-        Ex Libris, Zürich, 1981)
Lebenskrise ist, aus welcher sich Mooenboom, brillanter             SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH

                                                                                                                                  Schweizer Revue / September 2017 / Nr. 5
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