Sicherheitspolitische Ziele der französischen EU-Ratspräsidentschaft - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 82 DEZEMBER 2021 Einleitung Sicherheitspolitische Ziele der französischen EU-Ratspräsidentschaft Paris benötigt die Unterstützung der neuen Bundesregierung Sven Arnold Am 1. Januar 2022 wird Frankreich turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft über- nehmen. Wie erwartet, hat sich Paris dafür ambitionierte Ziele gesetzt. Fraglich ist jedoch, in welchem Maße diese umgesetzt werden können, denn der europäische Kontext ist schwierig und die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich verkürzen den Zeitraum für entsprechende Aktivitäten. Ein Misserfolg würde sich nicht nur negativ auf Europa, sondern auch auf Deutschland und die deutsch- französischen Beziehungen auswirken. Es liegt daher im Interesse der neuen Bundes- regierung, Frankreich beim Ratsvorsitz zu unterstützen. Auf diese Weise könnte sie dem Koalitionsvertrag Taten folgen lassen, in dem als Ziel formuliert ist, die EU handlungsfähiger zu machen, Europas strategische Souveränität zu erhöhen und die deutsch-französische Partnerschaft zu stärken. Frankreich misst seiner Ratspräsidentschaft Motto »Relance, Puissance, Appartenance« einen hohen Stellenwert zu. Erstens ist (Aufschwung, Kraft, Zugehörigkeit) ein Präsident Emmanuel Macron überzeugt, umfangreiches Programm für die EU- dass dies vielleicht eine letzte günstige Ratspräsidentschaft vorgenommen, vor Gelegenheit sei, trotz vieler Hindernisse allem im Bereich Sicherheits- und Verteidi- Weichenstellungen für ein stärkeres, gungspolitik. Bis Ende März sollen ein handlungsfähigeres Europa vorzunehmen. Verteidigungs- und Außenministertreffen, Zweitens sieht sich Frankreich als führen- ein Verteidigungsgipfel, ein EU-Afrika- des Land Europas – vor allem in der Gipfel, ein G5-Sahel-Meeting und ein Indo- Domäne Sicherheit – und damit in der Pazifik-Forum stattfinden. Pflicht, Impulse für die europäische Ver- Mit der Betonung europäischer Hand- teidigungspolitik zu geben. Drittens erhofft lungsfähigkeit verstärkt Macron ein Leit- sich Macron von einer erfolgreichen EU- motiv, das er schon im September 2017 als Politik positive Effekte für den kommenden frisch gewählter Präsident setzte. Damals Wahlkampf, denn bereits im April 2022 hielt er an der Sorbonne-Universität eine findet die französische Präsidentschafts- vielbeachtete Rede, in der er seine »Initia- wahl statt. Daher hat sich Paris unter dem tive für Europa« vorstellte. Unter anderem
forderte Macron für den Kontinent eine anstehenden Ratspräsidentschaft. Er soll als
»autonome Handlungsfähigkeit«, die durch Fahrplan bis 2030 dienen und es der EU
Herausbildung einer »gemeinsamen stra- erlauben, so die französische Verteidigungs-
tegischen Kultur« entstehen solle. Seit- ministerin Florence Parly, »neue Arbeits-
dem hat der französische Staatschef immer weisen zwischen Europäern zu entwickeln,
wieder für die »strategische Autonomie« in allen Bereichen, ob Weltraum, Cyber oder
Europas geworben. Erreichen will Frank- natürlich auch ›konventionelleren Kampf-
reich diese Autonomie durch eine Kombi- feldern‹«. Zudem soll er helfen, eine klare
nation verschiedener Mittel. Dazu gehören europäische Vision zu entwickeln. Diese
die Erhöhung der Verteidigungsetats der wiederum soll zur Debatte über das Strate-
EU-Mitgliedstaaten; die Umsetzung der gische Konzept der Nato beitragen, das auf
europäischen Verteidigungsinitiativen – dem für Juni 2022 vorgesehenen Gipfel der
Ständige Strukturierte Zusammenarbeit Allianz in Madrid angenommen werden soll.
(PESCO) und Europäischer Verteidigungs- Die Verabschiedung des Kompasses wird für
fonds (EDF) –; der Ausbau einer gemein- Frankreich also der erste große diplomati-
samen strategischen Kultur unter anderem sche Test sein; hier wird sich zeigen, ob Paris
durch die Europäische Interventionsinitia- die Europäer vereinigen kann. Noch müssen
tive (EI2); die Konsolidierung der verteidi- einige Streitpunkte beseitigt werden, etwa
gungstechnologischen und -industriellen in den Bereichen Krisenmanagement oder
Basis Europas (European Defence Techno- Verteidigungsausgaben. Viele Mitgliedstaa-
logy and Industrial Base, EDTIB). ten halten daher den Plan, das Dokument
Die französische Ratspräsidentschaft ist Ende März zu verabschieden, für allzu opti-
für Macron also von höchster Bedeutung, mistisch und rechnen mit einer späteren
da sie ein wesentlicher Gradmesser seiner Annahme.
Europa-Bilanz sein wird. Die Ziele der Rats- Die Elemente des Mottos »Aufschwung,
präsidentschaft hat er am 9. Dezember Kraft, Zugehörigkeit« ziehen sich durch das
2021 bekannt gegeben, also erst kurz vor gesamte Präsidentschaftsprogramm. Zum
Beginn des Vorsitzes. Einige EU-Mitglied- Thema »Aufschwung« gehören Bereiche wie
staaten hätten sich eine solche Wortmel- Innovation, Fähigkeiten und Verteidigungs-
dung früher gewünscht. budget. Hier geht es Paris hauptsächlich
darum, Abhängigkeiten in Schlüsselberei-
chen zu verringern und die industrielle
Eine (zu?) anspruchsvolle Agenda Strategie der EU zu stärken, damit sich Kon-
kurrenzfähigkeit und Innovationskapazität
Ziel der Ratspräsidentschaft ist laut Macron, der EDTIB erhöhen lassen. Angesichts des
von einem innerhalb der eigenen Grenzen beschleunigten Wettbewerbs um neue
kooperierenden Europa zu einem »starken Technologien und der Gefahr einer »irrever-
Europa in der Welt« zu gelangen, das siblen strategischen Herabstufung« der EU
»völlig souverän, frei in seinen Entschei- will Frankreich nachdrücklich auf Innova-
dungen und Herr des eigenen Schicksals tionen im Verteidigungsbereich setzen. Um
ist«. Im Bereich Sicherheitspolitik hat es für Fähigkeitslücken sinnvoll zu schließen
Macron höchste Priorität, den Strategischen und sich gleichzeitig auf die Konflikte der
Kompass – eine Art EU-Militärstrategie – Zukunft vorzubereiten, muss die EU nach
zu verabschieden. Anfang November hat Ansicht Frankreichs viel mehr in Erfor-
der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) schung und Entwicklung neuer Schlüssel-
den Mitgliedstaaten dazu einen ersten technologien, wie etwa künstlicher Intel-
Entwurf präsentiert. Dieser muss nun auf ligenz, und in Kernbereiche wie Cyber-
verschiedenen Ebenen diskutiert und ver- sicherheit investieren. Dafür sollen vor
handelt werden, bevor er Ende März 2022 allem die Europäische Verteidigungs-
vom Europäischen Rat angenommen wer- agentur (EDA) gestärkt und die zahlreichen
den könnte. Der Kompass gilt als Kern der PESCO-Projekte ausgebaut werden. Auf-
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2grund der anhaltenden Corona-Pandemie senz und Reichweite in den Meeresgebieten
und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind von Interesse zu gewährleisten sowie die
allerdings Kürzungen in den Verteidigungs- internationale Zusammenarbeit und Part-
etats zu erwarten. Für massive Investitionen nerschaft auf See zu fördern«. Privilegierte
im Verteidigungsbereich, zumal in Schlüs- Ansprechpartner wären nun wahrschein-
seltechnologien, bestehen daher keine lich Länder, die zusammen mit Frankreich
optimalen Voraussetzungen. bereits an der CMP im Golf von Guinea oder
Ein konkreter Bereich, der dem Thema an der europäischen maritimen Überwa-
»Kraft« zugewiesen wird, ist das Krisen- chungsmission in der Straße von Hormus
management. Hier will Paris die Einsatz- (EMASOH) beteiligt sind und Interesse für
fähigkeit der EU erhöhen, damit sie schnel- den Indo-Pazifik zeigen – also Spanien,
ler und selbständiger auf Krisen reagieren Portugal, Italien oder die Niederlande. Auch
kann und letztlich in der Lage ist, eigene Deutschland, das dieser Region wachsende
Interessen weltweit zu verteidigen. Zu Aufmerksamkeit widmet, wie es der aktu-
diesem Zweck will Paris unter anderem für elle Einsatz der Fregatte »Bayern« dort ver-
eine Konsolidierung des »Command and anschaulicht, gehört zu den bevorzugten
Control« (C2)-Systems – also der militäri- Partnern.
schen Führung – werben. Fraglich ist je- Bevor es jedoch zu ersten konkreten
doch, ob Länder wie Deutschland oder Schritten kommt, müsste der Bewertungs-
Schweden, die beim Krisenmanagement prozess für die CMP im Golf von Guinea
militärische und zivile Komponenten stär- abgeschlossen und dabei der operative
ker verknüpfen wollen, die französischen Mehrwert dieses Instruments klar bestätigt
Vorschläge unterstützen werden. Ein wei- werden. Zu beantworten wäre zunächst
teres Ziel ist, die Effizienz von EU-Operatio- auch die Frage nach einer Koordinierung
nen und -Missionen durch eine erhöhte mit den vorhandenen maritimen Missionen
und schnellere Einsatzbereitschaft zu ver- Atalanta (am Horn von Afrika) und EMASOH
bessern. Auch soll die EU die Fähigkeit – an Letzterer beteiligen sich unter ande-
erwerben, Anfangsoperationen zu führen. rem der Nicht-EU-Staat Norwegen und der
Vorgesehen ist zudem, dass die Mitglied- Opt-out-Staat Dänemark. Viele Europäer
staaten gemeinsame Übungen durchführen. betrachten maritime Räume als relevanter,
Die Instrumente der Gemeinsamen Sicher- die wie Mittelmeer oder Ostsee geogra-
heits- und Verteidigungspolitik (GSVP) phisch näher liegen. Einige Mitgliedstaaten
sollen flexibler implementiert werden. Ein könnten Zurückhaltung üben, weil sie
Beispiel dafür wäre eine optimierte Euro- argwöhnen, Frankreich verfolge hier seine
päische Friedensfazilität (EPF), die es ermög- nationale Agenda und reagiere mit der
lichen würde, Partner besonders in Afrika CMP-Initiative auf das im September ge-
effizienter auszurüsten und auszubilden. schlossene AUKUS-Abkommen zwischen
Hier ist jedoch eine schwierige Debatte mit den USA, Großbritannien und Australien.
Mitgliedstaaten wie Irland oder Österreich Was den Weltraum angeht, möchte Paris
zu erwarten, die sich ursprünglich gegen eine Debatte über Normen verantwortungs-
die EPF ausgesprochen hatten. vollen Verhaltens einleiten. Dafür warb
Auch die »umstrittenen Räume« See, der Leiter des französischen Weltraum-
Cyber und Weltraum sind dem Thema kommandos bereits im Juli. Dieses Thema
»Kraft« zugeordnet. So erwägt Paris, im Indi- scheint in der EU auf mehr Einvernehmen
schen Ozean eine koordinierte maritime zu stoßen. Allerdings wäre Widerstand zu
Präsenz (CMP) auf den Weg zu bringen. Ziel erwarten, wenn Frankreich eine europäi-
dieses Mechanismus ist es, so der Rat der sche Sicherheitsstrategie für den Weltraum
Europäischen Union im Januar 2021, »die initiieren wollte.
Kapazitäten der EU zu verbessern, ein ver- Die Bedeutung der Räume See und Welt-
stärktes operatives Engagement Europas zu all spiegelt sich symbolisch in der Auswahl
ermöglichen, eine ständige maritime Prä- der Städte für geplante Großveranstaltun-
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3gen. Das Treffen der Außen- und Verteidi- Stabilität und Wohlstand in Europas
gungsminister soll in der bretonischen Nachbarschaft seien. Frankreich will eine
Hafenstadt Brest stattfinden, wo zudem »Sicherheitspartnerschaft zwischen Afrika
schon Anfang Januar der »One Ocean«- und Europa« etablieren sowie »Interferen-
Gipfel abgehalten wird. Der EU-Verteidi- zen und Manipulationen regionaler
gungsgipfel soll in Toulouse zusammen- Mächte« gegenüber den Westbalkan-Staaten
kommen, dem Zentrum der europäischen bekämpfen. Letzteres zielt auf Russland,
Weltraum-Industrie. China und die Türkei, die laut Macron die
Das Thema »Zugehörigkeit« umfasst die Staaten des Balkans benutzen, um Europa
Bereiche Resilienz und strategische Kultur. zu destabilisieren. Ferner ist der Indo-
Jüngste Krisen wie die Covid-19-Pandemie Pazifik, wie schon ausgeführt, für Frank-
oder die Migrationskrise haben verdeut- reich eine geographische Priorität. Zu
licht, dass die EU auf hybride Bedrohungen erwarten ist, dass Paris die Gelegenheit der
und Desinformationskampagnen anderer Ratspräsidentschaft nutzt, um eine zuneh-
Staaten immer noch schlecht vorbereitet mende – auch militärische – Präsenz der
ist, auch was Wahlkämpfe betrifft. Aus EU und ihrer Mitglieder in der afrikani-
diesem Grund möchte Paris die Reaktions- schen Sahelzone und im Indo-Pazifik zu
mittel Europas stärken. Die strategische fordern. Aus französischer Sicht müssen
Kommunikation (Stratcom) und Instrumen- sich die Europäer dort stärker für die Terro-
te öffentlicher Diplomatie sollen neu orga- rismusbekämpfung bzw. für die globale
nisiert werden, damit sich Informations- Sicherheit einsetzen.
manipulation und Destabilisierung effizien- Allerdings wird sich Frankreich voraus-
ter bekämpfen lassen. sichtlich mit politischer Unterstützung
Dazu kommt als viertes Hauptthema begnügen müssen. Die im Sahel engagierte
»Globaler Akteur«, das Bereiche wie Multi- Ad-hoc-Taskforce Takuba, die aus europäi-
lateralismus und EU-Partnerschaftspolitik schen (nicht ausschließlich EU-) Spezial-
abdeckt. Für Letztere sind die EU-Nato- kräften besteht, ist zwar sehr erfolgreich.
Kooperation und die Beziehungen der Doch sollten sich Berichte bestätigen, dass
Union zu den USA von höchster Bedeutung. in Mali auf Regierungsseite die russische
Mitte November vereinbarten die Außen- Söldnerfirma »Wagner« zum Einsatz
und Verteidigungsminister der EU und kommt – die wegen Menschenrechtsver-
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, in letzungen etwa in Syrien mit EU-Sanktio-
den kommenden Monaten an einer neuen nen belegt wurde –, könnte dies erheb-
Gemeinsamen Erklärung zur Zusammen- liche Auswirkungen auf das europäische
arbeit zwischen EU und Bündnis zu arbei- Engagement haben und die positive Ent-
ten. Diese Erklärung könnte also während wicklung der Initiative dämpfen. Im Indo-
des französischen Ratsvorsitzes verabschie- Pazifik bleibt der militärische Einsatz der
det werden. Der strategische Dialog zwi- Europäer, abgesehen von Frankreich,
schen EU und USA könnte im Januar 2021 bislang begrenzt. Deutschland und die Nie-
starten, ebenso die Verhandlungen über die derlande haben in diesem Jahr jeweils eine
Verwaltungsvereinbarung zwischen den Fregatte in den Pazifik entsandt, und die
USA und der Europäischen Verteidigungs- Nachhaltigkeit dieser Beteiligung ist nicht
agentur. Ziel ist hier ein direkter Austausch garantiert.
zwischen Washington und EDA; dies könn-
te die Basis legen für eine bessere Zusam-
menarbeit bei Projekten von gemeinsamem Hindernisse für die Umsetzung
Interesse wie etwa militärische Mobilität,
Emerging and Disruptive Technologies Einer zügigen Umsetzung des Programms
(EDT) oder Single European Sky (SES). für die Ratspräsidentschaft stehen einige
In seiner Rede vom 9. Dezember hat bekannte Hindernisse im Weg. So ist es
Macron nachdrücklich betont, wie wichtig keineswegs gesichert, dass die Nato und die
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4europäischen Verbündeten die Überzeu- triellen Souveränität Europas zuwiderläuft.
gung Frankreichs teilen, eine größere Hand- Außerdem wird im September 2022 das
lungsfähigkeit der EU sei auch für die schwedische Parlament neu gewählt. Sollte
Allianz und folglich für die EU-Nato-Zusam- es zu einem Regierungswechsel kommen,
menarbeit von Gewinn. könnten sich die Prioritäten für Stockholms
Dieses umfassende Programm, das sich Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
in »typisch französischer« Art der strategi- 2023 verändern. Es steht also zu befürch-
schen Vision eines mächtigen Europas ten, dass nur wenige EU-Länder den politi-
nähert, wäre bereits unter normalen Um- schen Ehrgeiz des französischen Vorsitzes
ständen eine große Herausforderung. teilen werden.
Fraglich ist, ob die anderen Mitgliedstaaten
dem Rhythmus und den Schwerpunkten
Macrons folgen können – und wollen. Eine doppelte Herausforderung
Einige von ihnen, vor allem in Mittel- und
Osteuropa, könnten die skizzierten Priori- Bei alledem hätte die französische Ratsprä-
täten als Konkurrenz zur Nato betrachten. sidentschaft kaum zu einem ungünstigeren
Auch Deutschland wird sich dazu positio- Zeitpunkt kommen können. Paris steht
nieren müssen. Andere Mitgliedstaaten sind sowohl auf nationaler als auch auf euro-
irritiert angesichts der französischen Un- päischer Ebene vor außerordentlichen Her-
geduld und einer zu hohen Zahl an Priori- ausforderungen. Zunächst einmal kollidiert
täten. Unklar ist zudem, welche konkreten der EU-Vorsitz mit den französischen Präsi-
Ergebnisse die geplanten Großveranstal- dentschafts- und Parlamentswahlen Mitte
tungen, etwa der EU-Verteidigungsgipfel, April bzw. Mitte Juni 2022. Der Premier-
bringen sollen. Dabei könnte die neue minister verfügt üblicherweise eine »Karenz-
Covid-19-Welle bewirken, dass geplante zeit« (période de réserve), in der die fran-
Konferenzen kurzfristig abgesagt oder in zösische Regierung keinen Einfluss auf die
hybride bzw. digitale Treffen umgewandelt Wahl nehmen darf, womit Großveranstal-
werden müssen. tungen ausfallen. Traditionell beginnt diese
Damit das Programm auch nach Ende Phase etwa vier Wochen vor dem Wahl-
des französischen Ratsvorsitzes fortbesteht termin, in diesem Fall also Mitte März so-
und auf Dauer wirkt, müssten die beiden wie abermals Mitte Mai. In der Karenzzeit
anderen Länder der Trio-Präsidentschaft, wird außerdem aus republikanischer Tradi-
die Tschechische Republik und Schweden, tion im Sinne staatlicher Neutralität allen
die entsprechenden Ambitionen ebenfalls Beamten untersagt, an »öffentlichen Ver-
mittragen. Ob dies geschehen wird, ist frag- anstaltungen oder Zeremonien mit Wahl-
lich, auch wenn es seit Ende 2020 regel- kampfcharakter« teilzunehmen. Dies
mäßige Konsultationen im Trio-Format gibt schränkt den effektiven Zeitraum der fran-
und das französische Generalsekretariat für zösischen EU-Präsidentschaft stark ein; die
Europa-Angelegenheiten für Kohärenz und politischen Bemühungen werden sich auf
Kontinuität sorgen soll. Tschechien teilt die zweieinhalb Monate von Anfang Januar
zwar allgemein die Positionen Frankreichs bis Mitte März 2022 fokussieren.
in den Bereichen Krisenmanagement und Auf europäischer Ebene muss Frankreich
Weltraum, bleibt aber vorsichtig, wenn es mit einer intern fragmentierten EU um-
um europäische Souveränität geht. Schwe- gehen. Noch immer virulent ist der Rechts-
den betrachtet das bilaterale Verhältnis zu staatlichkeitskonflikt zwischen Brüssel und
den USA als wesentlichen Bestandteil seiner der polnischen Regierung, die dabei von
Sicherheitspolitik und beschafft amerikani- Ungarn unterstützt wird. Der Europäische
sches Rüstungsmaterial – darunter F-35- Gerichtshof hat Rekordstrafen gegen
Kampfjets und bodengestützte Luftvertei- Warschau verhängt, die Kommission mit
digungssysteme vom Typ Patriot –, was aus Sanktionen und einer Sperre von EU-Zah-
Pariser Sicht dem Ziel einer größeren indus- lungen gedroht. Noch nie waren die Bezie-
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5hungen zwischen Polen und der EU so be- Der Strategische Kompass, der unter deut-
lastet. scher Ratspräsidentschaft eingeleitet wurde
Was Europas Nachbarschaft angeht, und unter französischer angenommen wer-
bleiben die Beziehungen der EU zur Türkei den soll, gilt als Symbol dieser Verknüp-
angespannt, und es gibt eine ernsthafte fung. Damit einher geht eine gegenseitige
Auseinandersetzung mit Belarus, da Minsk Unterstützung von Initiativen. Hier gibt es
– vermutlich mit Moskauer Unterstützung eine frühe Gelegenheit für die neue Bun-
– die an der polnischen Grenze angekom- desregierung, die im Koalitionsvertrag
menen Migranten als Erpressungsmittel formulierten Ziele einer handlungsfähigen,
gegenüber der EU benutzt. In seiner Rede strategisch souveränen EU, der Stärkung
hat Macron übrigens die Wichtigkeit des Europas und der Festigung deutsch-franzö-
Schutzes der EU-Außengrenzen betont sischer Kooperation praktisch zu unter-
und dafür geworben, einen »Notfallunter- mauern.
stützungsmechanismus im Krisenfall« zu Erstens bietet Frankreichs Ratspräsident-
schaffen. schaft für Europa die Chance, einen Schritt
Russland verstärkt zudem durch Macht- weiter zu gehen und aus der EU einen star-
demonstrationen und hybride Bedrohun- ken, globalen Akteur zu machen. Dies kann
gen gegenüber der Ukraine seine Destabili- aber nur mit Unterstützung der wichtigsten
sierungsstrategie und seinen Einfluss in Mitgliedstaaten, allen voran Deutschlands,
unmittelbarer Nachbarschaft der EU. Die geschehen. Hilfreich wäre Berlins Überzeu-
Lage an der ukrainischen Ostgrenze, wo gungskraft insbesondere gegenüber den
massive russische Truppenbewegungen zu baltischen Staaten und den Visegrád-
beobachten sind, bleibt extrem angespannt. Ländern. Die Stärkung europäischer Hand-
Die innenpolitischen wie internationalen lungsfähigkeit ist eine Priorität des franzö-
Anspannungen und Krisen, verschärft von sischen Vorsitzes, die mittlerweile auch von
der neuen Corona-Welle, werden die Rats- Washington begrüßt wird, wie das fran-
präsidentschaft unter Druck setzen und zösisch-amerikanische G20-Gipfelkommu-
könnten Paris zwingen, das Programm an- niqué vom 29. Oktober 2021 unterstrichen
zupassen. Sollte es beispielsweise zu einer hat. Der U-Boot-Deal im Rahmen von
Eskalation an der Grenze zwischen Belarus AUKUS mag ein Affront für Frankreich ge-
und Polen oder zu einer Konfrontation wesen sein, dennoch bietet die Biden-
zwischen Russland und der Ukraine kom- Administration aus Sicht Macrons ein Gele-
men, wären Prioritäten zu verschieben. Die genheitsfenster, das die Europäer nutzen
Krisenbewältigung würde vorrangig, was zu sollten, um ihre Verteidigungsprojekte
Lasten anderer Hauptthemen ginge. Das voranzutreiben. Die Vertiefung der GSVP
vorgesehene Programm könnte also nicht wiederum ist ein Mittel, um die europäi-
vollständig ausgeführt werden, was die an- sche Integration fortzusetzen.
gestrebten Ziele abschwächen würde. Dies Zweitens würde auch Deutschland von
wäre kein Novum: Kurz vor Übernahme der einer erfolgreichen Ratspräsidentschaft
deutschen Ratspräsidentschaft im Sommer profitieren. »Unser Ziel ist eine souveräne
2020 musste Berlin aufgrund der Covid-19- EU als starker Akteur in einer von Unsicher-
Pandemie die geplante Agenda neu definie- heit und Systemkonkurrenz geprägten
ren und andere Schwerpunkte setzen. Welt«, heißt es im Berliner Koalitionsver-
trag. Dort werden auch weitere Prioritäten
genannt, die anknüpfungsfähig gegenüber
Deutschland sollte Frankreich Paris sind, so etwa »eine verstärkte Zusam-
unterstützen menarbeit nationaler Armeen integrations-
bereiter EU-Mitglieder«. Die Ziele der neuen
Bereits vor der deutschen EU-Ratspräsident- Bundesregierung scheinen also mit den
schaft 2020 hatten sich Paris und Berlin französischen grundsätzlich übereinzustim-
geeinigt, ihre beiden Vorsitze zu verbinden.
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6men. Nun bedarf es auch derselben Auffas- Gelingen könnte dies durch eine erfolg-
sungen, wie diese Ziele zu erreichen sind. reiche und produktive Koordinierung wäh-
Drittens wäre eine Unterstützung durch rend der Ratspräsidentschaft. Frankreich
Berlin ein positiver Impuls für die deutsch- und Deutschland könnten etwa Themen
französischen Beziehungen. So steht im von gemeinsamem Interesse wie Cyber-
Koalitionsvertrag: »Uns leitet eine starke sicherheit, Innovation im Verteidigungs-
deutsch-französische Partnerschaft, die den bereich oder EU-Partnerschaftspolitik
Vertrag von Aachen und die Deutsch- zusammen vorantreiben. Erforderlich sein
Französische Parlamentarische Versamm- könnte auch, rechtzeitig über Fragen zu
lung mit Leben füllt, z. B. durch einen diskutieren, in denen die beiden Seiten
neuen strategischen Dialog.« Die französi- divergierende Vorstellungen haben, etwa © Stiftung Wissenschaft
sche Ratspräsidentschaft bietet eine opti- beim Krisenmanagement, damit Unter- und Politik, 2021
male Gelegenheit, diese Ambition umzu- schiede reduziert und Kompromisslinien Alle Rechte vorbehalten
setzen. Wünschenswert wäre eine frühe gefördert werden können. Dies ist Voraus-
Das Aktuell gibt die Auf-
thematische wie operative Koordinierung setzung, um eine breite Zustimmung der
fassung des Autors wieder.
zwischen Paris und Berlin, ebenso (im Mitgliedstaaten zu garantieren. Gemeinsa-
informellen »PESCO 4«-Format) mit Madrid me Überzeugungsarbeit wird auch notwen- In der Online-Version dieser
und Rom. Die Bereitschaft Frankreichs, sich dig sein, um das hohe Anspruchsniveau Publikation sind Verweise
mit den anderen »großen« Europäern im beim Strategischen Kompass aufrechtzu- auf SWP-Schriften und
wichtige Quellen anklickbar.
Voraus abzustimmen, ist jedoch nicht erhalten.
garantiert, weshalb zu befürchten steht, Deutsche Unterstützung für Frankreichs SWP-Aktuells werden intern
dass der Spielraum für die Partner gering Initiativen wäre jedenfalls eine starke Bot- einem Begutachtungsverfah-
bleibt. Trotzdem sollte sich die neue Bun- schaft: Die deutsch-französische Partner- ren, einem Faktencheck und
desregierung bemühen, schnell Kontakte schaft ist und bleibt eine Hauptpriorität für einem Lektorat unterzogen.
zu knüpfen und eine neue Arbeitsdynamik Berlin und Paris, und beide setzen sich Weitere Informationen
zur Qualitätssicherung der
mit Paris aufzubauen. Es geht darum, bi- gemeinsam und entschlossen für ein stärke-
SWP finden Sie auf der SWP-
laterale, europäische und internationale res, handlungsfähigeres und selbstbewuss- Website unter https://www.
Themen produktiv zu besprechen sowie teres Europa ein. swp-berlin.org/ueber-uns/
Divergenzen möglichst früh zu erkennen qualitaetssicherung/
und zu mindern. Sinnvoll wäre in diesem
SWP
Zusammenhang, den Deutsch-Französi-
Stiftung Wissenschaft und
schen Verteidigungs- und Sicherheitsrat Politik
(DFVSR) schon bald tagen zu lassen. Deutsches Institut für
Am 26. November 2021 hat Frankreich Internationale Politik und
mit Italien den sogenannten Quirinal- Sicherheit
Vertrag unterzeichnet. Dies könnte ein
Ludwigkirchplatz 3–4
Hinweis sein, dass Paris nach Alternativen
10719 Berlin
zum besonderen deutsch-französischen Telefon +49 30 880 07-0
Verhältnis sucht und neben Berlin verstärkt Fax +49 30 880 07-100
auch auf andere Partner setzt. Die persön- www.swp-berlin.org
liche Beziehung zwischen Präsident Emma- swp@swp-berlin.org
nuel Macron und Premierminister Mario
ISSN (Print) 1611-6364
Draghi, zwei starken Führungsfiguren, ISSN (Online) 2747-5018
könnte dazu beitragen, die französisch- doi: 10.18449/2021A82
italienische Kooperation voranzutreiben,
auch im Verteidigungsbereich.
Umso wichtiger ist es für die Bundes-
regierung, der bilateralen Zusammenarbeit
mit Paris rasch neuen Schwung zu geben.
Sven Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
SWP-Aktuell 82
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