Südafrikas gesellschaftliche und politische Herausforderungen - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 75 DEZEMBER 2021 Einleitung Südafrikas gesellschaftliche und politische Herausforderungen Covid verschärft sozioökonomische Ungleichheit und trifft auf einen zerstrittenen ANC Melanie Müller In den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Südafrikas finden derzeit Erosionsprozesse statt. Sie sind das Resultat struktureller Veränderungen und paral- lel ablaufender Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Die Hoffnungen auf Einnahmen aus dem Tourismus in den Monaten November 2021 bis Februar 2022 haben sich zerschlagen, seitdem nach Entdeckung der Corona-Variante Omikron internationale Reisebeschränkungen erlassen worden sind. Hinzu kommt, dass die Spannungen innerhalb der Regierungspartei African National Congress (ANC) den Präsidenten Cyril Ramaphosa in seiner Handlungsfähigkeit einschränken. Aller- dings sind langsame Fortschritte bei Reformen und positive Tendenzen einer Weiter- entwicklung jenseits des dominierenden ANC erkennbar. So hat sich das Parteien- system nach den Kommunalwahlen im Anfang November zusehends ausdifferenziert. Deutschland und die EU können positive Entwicklungen durch gut ausgerichtete und sensible Hilfe unterstützen, müssen dabei aber stets insbesondere sozioökonomische Faktoren im Blick behalten. Noch kurz bevor die Entdeckung der neuen gen Befreiungsbewegung ANC nicht mehr Virusmutation die Diskussion in den Medien zu, dass sie ihr proklamiertes Ziel erreichen Südafrikas bestimmte, standen die Ergebnisse können: die Verwirklichung von Demokra- der Lokalwahlen am 1. November 2021 im tie und Wohlstand für die gesamte Bevöl- Fokus. Zum ersten Mal in der Geschichte kerung – insbesondere für schwarze Süd- des demokratischen Südafrikas fiel die bis afrikanerinnen und Südafrikaner. dahin dominierende Partei, der African National Congress (ANC), unter die Marke von 50 Prozent der aggregierten Stimmen Neue Pfade im Parteiensystem und verlor in ehemaligen Hochburgen die Mehrheit. Nach über 25 Regierungsjahren Auf den ersten Blick könnte man vermu- und zahlreichen nicht eingehaltenen poli- ten, dass die massiven Verluste des ANC die tischen Versprechen trauen viele Südafri- Chance auf einen Wettbewerb im südafri- kanerinnen und Südafrikaner der ehemali- kanischen Parteiensystem eröffnen, das bis-
lang vom ANC dominiert wurde. Doch Gründe. Zum einen zweifeln sie daran, dass gelang es bis jetzt keiner der Oppositions- ihnen die mächtige – und dabei häufig parteien, mit Stimmenzuwächsen von den auch kompromissunwillige – Partei bei Verlusten des ANC zu profitieren und sich der Gestaltung südafrikanischer Politik ein als dessen politische Alternative zu positio- hinreichendes Maß an Mitsprache zubilligt. nieren. Viele Wahlberechtigte registrierten Abschreckend wirken in diesem Zusam- sich erst gar nicht für die Wahl oder blie- menhang viele publik gewordene Korrup- ben ihr fern. Die größte Oppositionspartei tionsskandale des ANC auf lokaler Ebene. Democratic Alliance (DA) erzielte schlechtere Zum anderen ergaben sich in einigen zen- Ergebnisse als bei den Kommunalwahlen tralen Städten teilweise unerwartete Kon- 2016 und kam auf knapp 22 Prozent der stellationen, die wohl vor allem darauf aggregierten Stimmen. Die Economic Free- abzielen, den ANC zu schwächen. In den dom Fighters (EFF), die mit ihrer radikalen Metropolen Johannesburg oder Ekurhuleni, Rhetorik als klassische Protestpartei gelten, etwa stimmte die linksradikale EFF, die legten um 2 Prozentpunkte auf 10,3 Prozent sich unter anderem für entschädigungslose zu – weniger, als manche erwartet hatten. Enteignungen einsetzt, gemeinsam mit Erfolge konnten – regional verteilt – ActionSA für die Bürgermeisterkandidaten verschiedene kleinere Parteien verbuchen. der liberal orientierten DA. Solche Allian- Hierzu gehören die Inkatha Freedom Party zen sind möglicherweise nicht langfristig (IFP), Freedom Front Plus (FF+) oder die neu angelegt. Denn die Duldung durch andere gegründete Partei des ehemaligen Johan- Parteien bleibt ein wackeliges Konstrukt – nesburger Bürgermeisters und früheren DA- insbesondere angesichts der Tatsache, dass Mitglieds Herman Mashaba, ActionSA. 2024 die nächsten Parlaments- und Präsi- Bis zum 23. November hatten die Par- dentschaftswahlen anstehen und die Par- teien Zeit, Koalitionen zu bilden. Damit hat teien spätestens Mitte 2023 wieder in den Südafrika insofern neue Pfade beschritten, Wahlkampfmodus umschalten werden. als nun Parteien miteinander sprechen oder Dennoch bietet ein solches Duldungs- gar kooperieren mussten, die bis dahin nur verhalten den Konkurrenten die Chance, gegeneinander gearbeitet haben. Die große den ANC durch das Aufbrechen der bis- Überraschung der Lokalwahlen – die in herigen Machtkonstellation auf lokaler Südafrika immer zeitgleich in allen neun Ebene auch langfristig zu schwächen. Provinzen stattfinden – ist letztendlich nicht das Wahlergebnis, sondern die Tat- sache, dass es dem ANC in vielen wichtigen Der ANC: so gespalten wie nie Zentren nicht gelungen ist, Allianzen mit anderen, kleinen Parteien zu schmieden Der ANC war bereits vor den jüngsten Wah- und sie als »Königsmacher« zu nutzen. len intern in hohem Maße fragmentiert. Der ANC konnte auf nationaler Ebene Zwar kam es in der Geschichte der Partei bis zur letzten Parlamentswahl 2019 fast immer wieder zu politischen Abspaltungen, zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen wie zuletzt im Jahr 2013, nachdem der und auf Provinz- und lokaler Ebene meist ehemalige Vorsitzende der ANC Youth alleine regieren. Im südafrikanischen Par- League, Julius Malema, seinen Austritt teiensystem gibt es daher nur wenig Erfah- erklärt und die EFF gegründet hatte. Doch rungen mit der Formierung von Koalitionen werden die Konflikte innerhalb der Partei oder Unterstützungsvereinbarungen und momentan sehr offen ausgetragen – und der dafür erforderlichen Kompromissfähig- mit der Bereitschaft, politische Gewalt an- keit. Seit den Lokalwahlen 2016 werden zuwenden. Diese interne Spaltung schwächt auf lokaler Ebene lediglich vereinzelt Bünd- nicht nur den innerparteilichen Zusam- nisse erprobt. menhalt, sondern auch die Handlungs- Dass kleinere Parteien dem ANC ihre fähigkeit des amtierenden Präsidenten Cyril Unterstützung versagen, hat verschiedene Ramaphosa. SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 2
Zwischen dem 9. und dem 18. Juli 2021 und Analysen belegt, dass Zuma-Anhänger flammten in zwei Provinzen – Gauteng Drahtzieher der Unruhen waren. Demnach und KwaZulu-Natal – Proteste auf, die mit wollten sie vor den Kommunalwahlen massiver Gewaltanwendung, der Zerstörung zur Destabilisierung der Lage in Südafrika zentraler Infrastrukturen wie Fabriken beitragen und außerdem die amtierende oder Lagerhäusern und mit Plünderungen Regierung und Präsident Cyril Ramaphosa einhergingen. 342 Menschen kamen ums schwächen, Jacob Zumas Widersacher im Leben, mehr als 3.400 Personen wurden im ANC. Zusammenhang mit den Unruhen verhaf- Auch wenn Ramaphosa und seine Frak- tet. Die dabei verursachten wirtschaftlichen tion dabei nicht gestürzt wurden, haben die Schäden schätzte die südafrikanische Regie- Ausschreitungen das Vertrauen der Bevöl- rung auf 35 bis 50 Milliarden Rand, um- kerung in die Fähigkeit der amtierenden gerechnet etwa 1,9 bis 2,7 Milliarden Euro. Regierung, Sicherheit zu gewährleisten, Das ökonomisch ohnehin angeschlagene nachhaltig erschüttert. Die südafrikani- Land wird von diesen finanziellen Mehr- schen Sicherheitskräfte bekamen die Un- belastungen zusätzlich getroffen. ruhen zunächst nicht unter Kontrolle und Die Unruhen eskalierten unmittelbar wurden vielerorts regelrecht überrannt. nach der Verhaftung des ehemaligen Präsi- Während der Zuma-Präsidentschaft ist denten Jacob Zuma, der sich seit 2018 vor ohnehin ein Teil der Sicherheitsbehörden südafrikanischen Gerichten wegen »State durch Personen unterwandert worden, die Capture« verantworten muss, der Unter- von Beziehungen zu Zuma profitierten, was wanderung des Staates mit dem Ziel, sich die Strafverfolgung zusätzlich schwächt. persönlich zu bereichern. Zuma war im Die Juli-Ereignisse haben die Hoffnungen Februar 2018 nach einem angesetzten stark gedämpft, dass Cyril Ramaphosa Misstrauensvotum des südafrikanischen Erfolg haben kann mit seiner Strategie, Parlaments zurückgetreten und wird seit- mittels zivilrechtlicher Verfahren gegen dem strafrechtlich verfolgt. Die südafrika- Jacob Zuma und der damit verbundenen nische Regierung setzte in diesem Kontext Aufarbeitung der »State Capture« den ANC die sogenannte Zondo-Kommission ein – zu reformieren. Das Netzwerk seiner Unter- benannt nach ihrem Vorsitzenden Ray- stützer im ANC und in anderen politischen mond Zondo –, deren Aufgabe es ist, die Institutionen ist weiterhin stark. Nach wie schweren Vorwürfe gegen Jacob Zuma vor gilt es als eher unwahrscheinlich, dass aufzuarbeiten. Unmittelbarer Anlass seiner Ramaphosa eine Abspaltung von der Zuma- Verhaftung war Zumas wiederholte Weige- Fraktion innerhalb des ANC riskieren würde. rung, vor Gericht zu erscheinen. Er hatte Davon hält ihn die Angst zurück, politische immer wieder die Rechtmäßigkeit der Macht zu verlieren. Trotz der handfesten Untersuchung und die Unabhängigkeit Skandale sichert das Netzwerk um Zuma der Gerichte angezweifelt. dem ANC noch immer eine breite Basis von Die zeitgleich angestachelten Unruhen Unterstützern, insbesondere in der Provinz lassen eine gezielte politische Orchestrie- KwaZulu-Natal, wo Zuma nicht nur bedeut- rung vermuten. Dabei könnte es darum same Verbindungen zu den Zulu-Gruppen gegangen sein, die strategischen Zentren zu unterhält, sondern sich auch stets volksnah blockieren und so die Wirtschaft des Landes inszenierte. Ungeachtet dessen erlitt der zu schädigen. Besonders gravierend sind die ANC auch in dieser Provinz bei den Kommu- Auswirkungen der gewaltsamen Proteste nalwahlen herbe Verluste – ein klarer Hin- in KwaZulu-Natal, der Heimatprovinz Jacob weis darauf, dass auch hier die Basis lang- Zumas, wo die Zerstörungen zentraler sam bröckelt. Infrastrukturknotenpunkte dazu führten, dass Lieferketten unterbrochen wurden und es zu wirtschaftlichen Ausfällen kam. Es ist mittlerweile durch verschiedene Berichte SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 3
Die Einschränkungen durch Die Regierung setzte als Gegenmittel auf »Omikron« verstärken die Allianzen mit der Wirtschaft, beispielsweise sozioökonomische Ungleichheit im Bergbausektor, wo durch groß angelegte Impfaktionen und Änderungen von Erzeu- Ob die Menschen, die sich an den Juli- gungsbedingungen länger anhaltende Pro- Unruhen beteiligten, aus hauptsächlich duktionseinbrüche vermieden werden politischen Gründen den Ramaphosa-ANC konnten. Dennoch ließen sich die negati- schwächen und die Zuma-Netzwerke stär- ven wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ken wollten, ist eine Frage, die nicht nur auf diese Weise nur bedingt abmildern. Seit die südafrikanischen Medien beschäftigte. 2020 stiegen die Preise für einige Rohstoffe Die meisten Beobachterinnen und Beobach- auf den internationalen Märkten, was Süd- ter gehen mittlerweile davon aus, dass die afrika höhere Einnahmen bescherte und es Drahtzieher der Unruhen durchaus poli- der Regierung ermöglichte, fiskalisch die tische Motive hatten. Die Beteiligung derart schlimmsten Folgen abzufedern. vieler Menschen beruht aber vor allem auf Das gesamte Land hatte nicht nur an die der massiven Unzufriedenheit mit den Öffnung nach der langen Phase der Lock- sozioökomischen Verhältnissen. Den Draht- downs Hoffnungen geknüpft, dass die Wirt- ziehern gelang es folglich, große Teile der schaft im Oktober 2021 nach der dritten lokalen Bevölkerung zu instrumentalisie- Corona-Welle langsam Fahrt aufnehmen ren, indem sie ihnen ein Ventil boten. würde. Auch mit dem Start der Tourismus- Südafrika, das bereits vor Ausbreitung saison im südafrikanischen Sommer (von der Covid-19-Pandemie in einer wirtschaft- November bis Februar) wurde eine Dyna- lichen Krise steckte, wurde 2020 mit am misierung dieses Sektors erwartet, der für härtesten von der Pandemie getroffen. Die die Ökonomie des Landes zentrale Bedeu- Regierung in Pretoria reagierte mit einem tung hat. Nach Schätzungen aus der Zeit der im weltweiten Vergleich härtesten vor Corona (2018) hatte der Tourismus- Lockdowns. Er traf vor allem Menschen in sektor einen direkten Anteil am Brutto- informellen oder prekären Beschäftigungs- inlandsprodukt von 2,9 Prozent und einen verhältnissen, die über keine oder nur indirekten Anteil von 8,6 Prozent, außer- geringe Ersparnisse verfügen und lock- dem war er für 8,2 Prozent der Investitio- down-bedingte Einkommenseinbrüche nen verantwortlich. nicht kompensieren konnten. Zwischen Viele Länder – darunter Deutschland – Anfang 2019 und Ende 2021 ist die Arbeits- hatten im September die Einstufung Süd- losenquote weiter angestiegen: Sie wuchs afrikas als Virusvariantengebiet zurück- von 29,1 Prozent im vierten Quartal 2019 genommen, nachdem die Delta-Mutante auf 34,4 Prozent im vierten Quartal 2021 – in Indien entdeckt worden war und die in die Statistik einbezogen werden dabei Corona-Fallzahlen in Südafrika im Oktober nur Menschen, die als beschäftigungsfähig und November relativ niedrig waren. Nun gelten. Besonders stark betroffen sind junge sollten die Einnahmen aus dem Tourismus Menschen: 63 Prozent der 15- bis 24-Jäh- dazu beitragen, wenigstens einige Arbeits- rigen sind ohne Arbeit. plätze zu sichern. Die Ende November 2021 Die soziale Ungleichheit hat sich im erfolgte Entdeckung einer neuen Corona- Zuge der Corona-Pandemie stärker aus- Variante, als »Omikron« bezeichnet, macht geprägt. Gleichzeitig stieg die Inflation, was derlei Hoffnungen sehr wahrscheinlich zu- die südafrikanische Regierung im Septem- nichte. Großbritannien und Israel reagier- ber dazu veranlasste, die für die Definition ten binnen eines Tages, nachdem Südafrika von Nahrungsmittelunsicherheit geltende die Informationen über die neue Variante Berechnungsgrenze bei Monatseinkommen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anzuheben – von 585 auf 624 Rand im weitergeleitet hatte, und schränkten den Monat, also von knapp 32 auf knapp 34 Flugverkehr ein. Die EU zog daraufhin nach Euro. und empfahl Einreiseverbote, Deutschland SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 4
stufte Südafrika einen Tag später als Virus- den Strombedarf zu decken. Daher kommt variantengebiet ein. es teilweise mehrfach am Tag zu Strom- Die restriktiven Reisebeschränkungen abschaltungen. Geplante Abschaltungen – kritisiert die südafrikanische Regierung, »load shedding« genannt – werden der Be- aber auch die Afrikanische Union (AU) und völkerung frühzeitig angekündigt. Immer die WHO als vorschnell, zumal die Omi- häufiger sind aber auch ungeplante, kurz- kron-Variante auch in anderen Ländern der fristige Stromausfälle. Welt aufgetreten ist und – wie inzwischen Neben dem Stromsektor gelten auch bekannt wurde – bereits in den Nieder- andere Infrastrukturbereiche in Südafrika landen aufgetaucht sein soll, bevor sie in als dysfunktional, etwa die Wasserversor- Südafrika entdeckt wurde. Südafrika fühlt gung oder das Schienennetz. Im Zuge der sich für sein schnelles Handeln und sein Aufarbeitung der »State Capture« wird »Early Warning« bestraft, zumal zunächst deutlich, dass die Schwierigkeiten bei der keine hinreichenden Erkenntnisse darüber Bereitstellung funktionierender Infrastruk- vorlagen, wie gefährlich die neue Virusva- tur maßgeblich auf Missmanagement und riante Omikron wirklich ist. Unabhängig Korruption zurückzuführen sind. Zuma davon, wie lange die Reisebeschränkungen und sein breites Unterstützernetzwerk, aufrechterhalten werden, ist derzeit nicht dessen Mitglieder er auch aus dem ANC damit zu rechnen, dass sich der südafrika- rekrutiert hat, haben Strukturen demokra- nische Tourismussektor in der Saison tischer Institutionen umgebaut, um Kor- 2021/2022 von den zu erwartenden Ein- ruption zu verschleiern und Geld vom Staat brüchen erholen wird. abzuschöpfen. Die Verluste, die Südafrika alleine durch Allianzen Zumas mit den Unternehmerbrüdern Gupta erlitten hat, Grassierende gesellschaftliche schätzte die Zondo-Kommission im Mai Unzufriedenheit 2021 auf 50 Milliarden Rand, also 2,7 Mil- liarden Euro. Es sind diese Gelder, die heute Land und Wirtschaft haben zusätzlich mit in zentralen Infrastrukturbereichen des massiven Schwierigkeiten bei der Strom- Landes fehlen, und dies wiederum hat versorgung zu kämpfen, die mit der Krise unmittelbare Auswirkungen auf die Bevöl- des staatlichen Energieversorgers Eskom kerung – deren nachvollziehbare Unzu- verbunden sind. Dessen Krise ist eine Folge friedenheit insofern weiter wächst. von »State Capture« sowie Korruption und Die Tatsache, dass sich viele Wählerin- damit zusammenhängenden Fehlentschei- nen und Wähler gar nicht erst für die Wahl dungen bei der Planung der Energie- registrierten, verdeutlicht ihren Unmut. infrastruktur Südafrikas, die noch immer Selbst wenn man die Effekte von Corona- vorrangig auf Kohleverstromung basiert. Beschränkungen mit in Rechnung stellt, Ramaphosa hat im Januar 2020 mit André verweist ein solches Verhalten darauf, dass de Ruyter einen neuen CEO eingesetzt, Südafrikanerinnen und Südafrikaner in der der die Korruptionsbekämpfung bei Eskom derzeitigen Parteienlandschaft keine ver- voranbringt und auf transparentere Pro- trauenswürdige politische Alternative zum zesse setzt. Außerdem steht de Ruyter einer ANC finden und ihre Verdrossenheit immer Diversifizierung der Energieversorgung im seltener durch den Gang zur Wahlurne Sinne einer Verringerung der großen Ab- ausdrücken. hängigkeit von Kohle offener gegenüber als Die ANC-Regierung hat klar die Priori- das vorherige Eskom-Management. Doch tät gesetzt, in erster Linie die tiefgreifende lassen sich die massiven Schwierigkeiten Wirtschafts- und Finanzkrise durch Austeri- des Energieriesen so nur mittelfristig bewäl- tätspolitik anzugehen, ohne jedoch die tigen. sozialen Folgen hinreichend zu kompensie- Derzeit ist Eskom nicht in der Lage, die ren. Das hat die massive Unzufriedenheit Grundlast im Land zu gewährleisten und mit der Regierungspolitik zusätzlich ver- SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 5
stärkt. Am größten ist die Enttäuschung Südafrika braucht Unterstützung bei jenen Teilen der Bevölkerung, die sich von der ehemaligen Befreiungsbewegung Trotz seiner innenpolitischen Probleme ANC ökonomische Gleichberechtigung, Um- und der Folgen der »State Capture« gehört verteilung und Wohlstand erhofft hatten. Südafrika sowohl auf dem afrikanischen Die gravierenden Versäumnisse der letz- Kontinent als auch im Rahmen der BRICS- ten Jahre und die prekären sozioökonomi- Gruppe (bestehend aus Brasilien, Russland, schen Zustände in Südafrika, die sich un- Indien, China und Südafrika) zu den weni- mittelbar auf die Bevölkerung auswirken, gen Staaten, die nach wie vor über stabile haben deren Vertrauen in die demokrati- demokratische Strukturen verfügen. Das schen Institutionen zusehends erschüttert. Land hat starke, solide demokratische Fun- Im August 2021 veröffentlichte das Afro- damente, die zwar ins Wanken geraten barometer erschreckende Daten: Danach sind, aber noch abgesichert werden kön- ist dieses Vertrauen so gering wie noch nie nen. Alle Wahlen seit 1994 gelten als »frei seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2006. und fair«, auch bei den Kommunalwahlen Nur 38 Prozent der Befragten vertrauen im November gab es keine Beanstandun- dem Präsidenten, 27 Prozent dem Parla- gen. In internationalen Foren gilt die Rama- ment. 46 Prozent der Befragten gaben an, phosa-Regierung als Unterstützerin von sie seien »sehr bereit«, ihr Wahlrecht auf- Demokratie und Multilateralismus. Die zugeben, wenn eine nicht-gewählte Regie- Regierung in Pretoria hat die immensen rung Arbeitsplätze schaffen oder für Sicher- Herausforderungen der Pandemie bislang heit und angemessene Wohnbedingungen souverän und verantwortungsvoll bewäl- sorgen würde. tigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse Das ohnehin große Misstrauen der Bevöl- des Landes mit der Weltgesundheitsorgani- kerung wurde noch dadurch verstärkt, dass sation geteilt und somit zur Frühwarnung es auch unter der Ramaphosa-Regierung zu beigetragen. Skandalen kam, zuletzt ging es um Korrup- Südafrikas Frühwarnrolle ist internatio- tionsvorwürfe im Gesundheitsbereich wäh- nal beispielhaft und sollte gewürdigt wer- rend der Corona-Pandemie; in der Folge den. Es wäre fatal, wenn die schnelle Ent- musste Zweli Mkhize als Gesundheitsminis- scheidung über Reisebeschränkungen durch ter zurücktreten. Wut und Enttäuschung westliche Staaten dazu führen würde, dass kamen in den Juli-Unruhen zum Ausdruck. Südafrika mit der Bewältigung der sozio- Regelmäßig kommt es darüber hinaus zu ökonomischen Folgen dieser Beschränkun- kleineren Protesten in verschiedenen Ge- gen alleine gelassen wird – denn schließ- meinden Südafrikas, bei denen die Grenze lich ist die Omikron-Variante auch in ande- zwischen zivilem Ungehorsam und Van- ren Ländern der Welt aufgetaucht, die nicht dalismus regelmäßig überschritten wird. mit Reisebeschränkungen belegt wurden. Immer wieder werden Migrantinnen und Deutschland und die EU sollten gründlich Migranten aus anderen afrikanischen Staa- abwägen, ob Einschränkungen des Reise- ten Opfer gewaltsamer Attacken. Die xeno- verkehrs im Kontext der epidemiologischen phobe Gewalt wird in Südafrika vor allem Herausforderungen notwendig sind. Außer- mit der großen Unzufriedenheit und dem dem sollten sie Restriktionen – sofern ver- Wettbewerb um die wenigen vorhandenen antwortbar – lockern, um Nachteile für Ressourcen erklärt, sie wird von politischen Südafrika zu vermeiden und keinen Prä- Gruppen jedoch teilweise auch angestachelt. zedenzfall zu schaffen, der andere Staaten Sollte sich die sozioökonomische Lage wei- von der Frühwarnung der Weltgemein- ter verschlechtern, wird auch das Risiko schaft abschrecken könnte. von Unruhen und gewaltsamen Übergriffen Darüber hinaus sollten Deutschland und gegen Menschen größer werden. die EU kurzfristig alle Möglichkeiten aus- schöpfen, um die südafrikanische Regie- rung dabei zu unterstützen, die sozioöko- SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 6
nomischen Folgen der vierten Corona-Welle Parteien gelegt werden, vor allem mit Blick abzufedern, die durch die rasch erlassenen auf die im Jahr 2024 anstehenden Präsi- Reiseeinschränkungen besonders gravie- dentschafts- und Parlamentswahlen. rend sein könnten. Hierzu gehören auch Unabhängige zivilgesellschaftliche Orga- Bemühungen, die Nachbarländer und den nisationen, Whistleblower und Journalisten afrikanischen Kontinent insgesamt mit haben in den letzten Jahren auf beeindru- ausreichend Impfstoff zu versorgen – Süd- ckende Weise zur Vertretung der Interessen afrika setzt sich dafür bereits auf internatio- jener beigetragen, die kein Vertrauen mehr naler Ebene ein, um die Wahrscheinlich- in Parteien haben, oder auch zur Aufarbei- keit der Ausbreitung des Virus zu reduzie- tung von Korruption und »State Capture«. ren und die Folgen für die Bevölkerungen Die enorme Resilienz der südafrikanischen © Stiftung Wissenschaft zu mildern. Südafrika selbst braucht Unter- Gesellschaft, die auf starken zivilgesell- und Politik, 2021 stützung, damit es seine Impfkampagne schaftlichen Strukturen beruht, gehört zu Alle Rechte vorbehalten ausweiten kann. Über ein Drittel der Süd- den großen Stabilisierungsfaktoren in Süd- Das Aktuell gibt die Auf- afrikanerinnen und Südafrikaner sind mitt- afrika. Dennoch kann die Zivilgesellschaft fassung der Autorin wieder. lerweile doppelt geimpft. Das Land verfügt durch Selbstorganisation auf lokaler Ebene derzeit über genug Impfstoff und kämpft das Fehlen guter Regierungsführung nicht In der Online-Version dieser vor allem damit, die Impfbereitschaft zu wettmachen. Um die hochgradige soziale Publikation sind Verweise steigern. Ungleichheit und die damit verbundene auf SWP-Schriften und wichtige Quellen anklickbar. Mittelfristig wird es darüber hinaus wich- berechtigte Unzufriedenheit der Bevölke- tig sein, die demokratischen Kräfte in Süd- rung noch stärker abzufedern, muss Süd- SWP-Aktuells werden intern afrika zu unterstützen. Der Austausch deut- afrika die Infrastruktur weiter ausbauen einem Begutachtungsverfah- scher und südafrikanischer Parteien über und jenen Menschen besseren Zugang zu ren, einem Faktencheck und die Erfahrungen mit Koalitionsregierungen Dienstleistungen verschaffen, die davon einem Lektorat unterzogen. ist ein richtiger Ansatz, der weiterverfolgt bislang ausgeschlossen sind. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der und ausgebaut werden sollte. Die etablier- Die Entscheidung der deutschen Bundes- SWP finden Sie auf der SWP- ten politischen Parteien Südafrikas – regierung unter Kanzlerin Angela Merkel, Website unter https://www. selbst radikale wie die EFF – eint die Unter- die südafrikanische Regierung beim Ausbau swp-berlin.org/ueber-uns/ stützung eines demokratischen Parteien- der Nutzung erneuerbarer Energien finan- qualitaetssicherung/ wettbewerbs und demokratischer Wahlen, ziell zu unterstützen und somit kurzfristig SWP auch wenn es ihnen bislang nicht gelungen bei der Diversifizierung der Energieversor- Stiftung Wissenschaft und ist, die Macht des ANC zu brechen. gung und einem mittelfristigen Kohle- Politik Ungeachtet dessen haben alle politischen ausstieg zu helfen, ist ein Schritt in die rich- Deutsches Institut für Parteien – auch die als liberal geltende tige Richtung. Die neue Bundesregierung Internationale Politik und DA – schwache interne demokratische sollte darauf achten, dass die Verwendung Sicherheit Strukturen und neigen vermehrt zu Popu- der Gelder und die Umsetzung möglicher Ludwigkirchplatz 3–4 lismus. Die Gefährdung der demokrati- weiterer Initiativen, die auf die Förderung 10719 Berlin schen Kultur dürfte zunehmen, wenn sich der Energietransformation abzielen, zu Telefon +49 30 880 07-0 diese Tendenz im Zuge gesellschaftlicher positiver und gerechterer Verteilung Fax +49 30 880 07-100 Polarisierung noch einmal verstärkt und beitragen. www.swp-berlin.org die etablierten politischen Parteien durch swp@swp-berlin.org populistische Rhetorik negative Stimmun- ISSN (Print) 1611-6364 gen in der Bevölkerung anheizen, statt sie ISSN (Online) 2747-5018 politisch zu kanalisieren. In der bilateralen doi: 10.18449/2021A75 zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit – dies gilt insbesondere für die Parteienförde- rung durch die politischen Stiftungen – sollte daher ein Fokus auf die Stärkung ihrer demokratischen Strukturen in den Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. SWP-Aktuell 75 Dezember 2021 7
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