Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation
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Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen- Intensivstation Inga Wermuth und Andreas Schulze Perinatalzentrum Großhadern Fachtagung „Wie viel Tod verträgt ein Berufsleben?“ am 9. November 2013 in München Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister München e.V.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation EINLEITUNG 2 Ilse Schütze-Schur. Ohne Titel (um 1919)
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Historische Entwicklung im Umgang mit perinatalen kindlichen Todesfällen Bis ca. Beginn der 1970er Jahre: Tendenz zur (gutgemeinten) „Schonung“ der Eltern vor Anblick und Körperkontakt mit dem versterbenden Neugeborenen und Details seiner Erkrankung 70er & 80er Jahre: Deskriptive Publikationen zum Trauerverlauf, Konzept der „Notwendigkeit der Trauerarbeit“, Notwendigkeit des „Begreifens des Verlustes“ Danach steigende Anzahl an publizierten Untersuchungen und Handlungsempfehlungen Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 3
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Veränderte Umstände neonataler Sterblichkeit im zeitlichen Verlauf Deutliche Verminderung der neonatalen Sterblichkeit (Walther 2005) Veränderung der Todesursachen (Wilkonson et al 2006) Hoher Anteil von neugeborenen Kindern, die nach Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen versterben (Angaben variieren zwischen 42 und 90 Prozent) (Singh et al 2004, Berger et al 2009) Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 4
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Palliativmedizinische Versorgung schwerkranker Neugeborener Verhinderung oder Linderung von Schmerz und Leiden des nicht lebensfähigen oder sterbenden Kindes Unterstützung bzw. Eingehen auf die Bedürfnisse der Familie Wärme, Würde, menschlicher Kontakt und Schmerzlinderung als Basiselemente palliativer Versorgung (Walther 2005) Umfassende Betreuung von der der Diagnosestellung bis in den Trauerprozess Interdisziplinäre Zusammensetzung des betreuenden Teams (Sumner et al 2006) Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 5
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation DIE PERSPEKTIVE DER ELTERN – ERGEBNISSE AUS EINER INTERVIEWSTUDIE
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Semi-strukturierte Interviews mit Eltern nach dem Tod ihres neugeborenen Kindes auf der Neugeborenen-Intensivstation Wie erleben Eltern den Tod ihres neugeborenen Kindes auf einer Intensivstation? Gibt es Faktoren, die die Trauerreaktion beeinflussen, insbesondere die Miteinbeziehung in eine Entscheidung zur Beendigung der lebenserhaltenden Therapie? Welche speziellen Bedürfnisse haben Familien in einer solchen Situation? Wie beurteilen Eltern die bestehenden Strukturen und Hilfsangebote? Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 7
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Studiendesign Befragung betroffener Eltern eines Fünf-Jahres-Zeitraums (1999-2003) Fragebogen mit 242 Fragen Fünf Themenbereiche, u.a. intensivmedizinische Behandlung des Kindes und Entscheidung zur Therapiezieländerung, Betreuung und Unterstützung der Eltern, Trauerprozess Integration eines etablierten Messinstruments (PGS) zur Erfassung der Trauerintensität nach perinatalem Verlust Quantitative und qualitative Auswertung Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 8
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Studiendesign: Interviews 50 Eltern nahmen an der Befragung teil 26 Interviews Zeitpunkt: im Median 37 Monate nach dem Tod des Kindes Gesprächsdauer 1.5 - 4.5 Stunden 73% der Interviews bei den Eltern zu Hause Audioaufnahme und Monate Transkription aller Interviews Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 9
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Umfeld Neugeborenenintensivstation Ausstattung und Abläufe auf einer Neugeborenen- Intensivstation können Angst und Unsicherheit bei den Eltern verstärken. Fachtagung am 9.11.2013 in München 10
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Vater: Aber interessant, am Anfang bin ich schon, das erste Mal habe ich mich sehr, sehr überwinden müssen, Umfeld dass ichNeugeborenenintensivstation da reingehe, obwohl es das eigene Kind ist. […] Mutter: Aber auch diese Pflege, ich weiß, beim allerersten Mal, da wäre ich fast umgefallen, weil mich das so gestresst hat, also da rein zu langen und vielleicht was falsch zu machen, das war ganz komisch. Also für mich die ersten Tage, du hast mich ja jeden Tag besucht, das war dann schon komisch, ich hab mich kaum getraut, alleine rüber [auf die Intensivstation] zu gehen, weil ich wusste nicht, was ich tun sollte, […] das habe ich damals dem Prof. S. auch gesagt, der kam ja immer oft vorbei und hat auch gefragt wie es geht und so, […] und zwar habe ich gesagt „Das ist komisch, sie haben jetzt ein Kind und haben es doch nicht“, weil auf der einen Seite ist es nicht mehr im Bauch, es ist jetzt wirklich da, aber ich weiß ja gar nicht, was damit ist, ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, er liegt im Inkubator, ich darf ihn nicht anfassen, am Anfang ist es ja schwierig, er ist sehr feucht, sehr warm, man durfte auch nichts machen, erst nach zwei Wochen, oder nach einer Woche vielleicht schon durften wir langsam füttern auch so ein bisschen, aber das war etwas ganz Komisches, […], nur daneben sitzen, ich hab mich da so fremd gefühlt, also es war ganz komisch, ein beklemmendes Gefühl, ich hab dann immer auf ihn [meinen Mann] gewartet, und dann sind wir zusammen rüber gegangen. Zitat eines Elternpaares, dessen Sohn 16 Wochen zu früh auf die Welt kam. Die lebenserhaltenden Maßnahmen wurden nach dem Auftreten einer hochgradigen Hirnblutung in gemeinsamer Entscheidung mit den Eltern beendet.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Informationen und Gespräche Komplikationen werden je nach Situation und Einstellung der Eltern unterschiedlich schwerwiegend beurteilt - insbesondere mittel- und langfristige Folgen werden zu einem früheren Zeitpunkt oft noch nicht wahrgenommen oder unterschätzt. Es kann für Eltern hilfreich sein, wenn trotz verschiedener fachlicher Meinungen auf Behandlungsseite ein Konsens erarbeitet wird, um den Eltern einen möglichen oder präferierten Weg aufzuzeigen Durch eine Koordinierung und den Austausch von Informationen innerhalb des Behandlungsteams können Missverständnisse und Konfliktsituationen oftmals vermieden werden. In einer Zeit großer Anspannung und Angst können selbst vermeintlich eindeutig formulierte Aussagen anderes aufgenommen oder gar nicht wahrgenommen werden. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 12
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Informationen und Gespräche Komplikationen werden je nach Situation und Einstellung der Eltern unterschiedlich schwerwiegend beurteilt - insbesondere mittel- und langfristige Folgen werden zu einem früheren Zeitpunkt oft noch nicht wahrgenommen oder unterschätzt. Es kann für Eltern hilfreich sein, wenn trotz verschiedener fachlicher Meinungen auf Behandlungsseite ein Konsens erarbeitet wird, um den Eltern einen möglichen oder präferierten Weg aufzuzeigen Durch eine Koordinierung und den Austausch von Informationen innerhalb des Behandlungsteams können Missverständnisse und Konfliktsituationen oftmals vermieden werden. In einer Zeit großer Anspannung und Angst können selbst vermeintlich eindeutig formulierte Aussagen anderes aufgenommen oder gar nicht wahrgenommen werden. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 13
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Und dann wurde auch immer ein Doppler gemacht, und dann hat man mir schon gesagt, dass es irgendwann soUmfeld sein wird, dass das Kind eben außerhalb des Mutterleibs besser aufgehoben ist als Neugeborenenintensivstation innen und, ja, ich hab das nicht ernst genommen, da bin ich ganz ehrlich, ich hab immer gesagt, ach Gott ihr Ärzte, was redet ihr alle, wir schaffen das schon noch […] das ist wahrscheinlich nur, ich hatte auch hier an der Arbeit viel Stress und hab das alles auf den Stress geschoben […] meine Eltern sind auch nicht groß, seine Eltern sind auch nicht groß, mei, das Kind ist halt nicht ganz so groß, es war mir damals einfach nicht bewusst, was die Größenverhältnisse, dass er wirklich so klein war, dass der unterhalb von dieser Normkurve lag, das war mir einfach wirklich nicht bewusst, dass das so gravierend ist, für mich war das einfach nur ein bisschen, ja, mein Gott, es gibt auch kleine Kinder, dachte ich halt, ja, und kleine Menschen … Ich hab das damals glaube ich alles gar nicht so registriert, ich hab mir immer gedacht, mei, was erzählt ihr alles, das glaube ich einfach nicht […] dann leg ich mich halt ein paar Monate ins Krankenhaus, stört mich alles nicht, ja, mir war das alles einfach nicht bewusst. Zitat einer Mutter, deren Sohn in der 26. Schwangerschaftswoche mit 350g Geburtsgewicht zur Welt kam. Der Junge verstarb mit sechs Monaten im Herz-Kreislauf-Versagen.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Faktoren mit Einfluss auf die Trauerintensität Geschlecht Mütter hatten einen signifikant höheren Trauerscore als Väter Vorhandensein älterer Familien mit vorgeborenen Geschwisterkindern hatten Geschwisterkinder einen signifikant höheren Trauerscore Vorhandensein jüngerer Familien mit nachgeborenen Geschwisterkindern hatten Geschwisterkinder einen signifikant niedrigeren Trauerscore Zeit, die seit dem Tod Je länger der Abstand zum Tod des Kindes war, desto vergangen war geringer war der Trauerscore Eine Miteinbeziehung in eine Entscheidung zur Therapiezieländerung hatte keinen negativen Einfluss auf den Trauerverlauf! 15
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Ich muss sagen, von dem Gespräch her, ich hab eigentlich jetzt auch nicht damit gerechnet, dass das dann auf das hinauf läuft, dass eben der Todesfall eintreten könnte … […] vielleicht erklärt der Professor das Ganze von den Geräten her, man weiß es ja nicht, und ich war eigentlich zu dem Zeitpunkt ja seit zehn Minuten oder seit fünfzehn Minuten in dem Zimmer oder auf der Station, man rechnet mit allem, dass man sagt „Gut, vielleicht gibt es doch irgendwo Komplikationen“, oder, also man muss auf alles gefasst sein. […], wie gesagt, von dem Gespräch habe ich nur mitgekriegt, ich weiß bloß noch, dass der Professor in dem Sinn gesagt hat, dass die J. eine Gehirnblutung hat, oder dass sie eingetreten ist, und dann ist eigentlich von mir die Frage gekommen, ob sie Schmerzen hat, und da weiß ich bloß noch, dass der Professor gesagt hat „Vermutlich ja“. Und dann habe ich gesagt „Abschalten“, das war, und was dann gekommen ist, weiß ich eigentlich in dem Sinn nicht mehr, das war dann irgendwo ziemlich weit weg. Zitat einer Mutter, deren Zwillingsmädchen 16 Wochen zu früh geboren wurden. Bei dem verstorbenen Mädchen waren am zweiten Lebenstag nach der Diagnose einer hochgradigen Hirnblutung die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet worden.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Ich war eigentlich froh […] dass ich auch mal entscheiden konnte, vorher war man immer so machtlos, man hat das Kind immer nur gesehen, und ich hab immer nur gewusst, dem geht es, also irgendwie das Gefühl gehabt, ihm geht es nicht gut, und mir geht es damit auch nicht gut, und ich hatte ja von Anfang an dieses Gefühl, leider, dass er stirbt, dass er nicht lebensfähig ist, ja, für mich waren eben diese sechs Wochen Qual, immer dieses Warten auf den nächsten Befund und immer, irgendwie hatte ich auch das Gefühl, da findet keiner was, ja, so war es ja dann auch, Experten haben nur immer gesagt, das könnte was sein, dann wurde das untersucht, dann war es das wieder nicht, das war einfach eine Belastung für mich. Zitat einer Mutter, deren Sohn nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt am 60. Lebenstag an den Folgen einer seltenen Nervenerkrankung verstarb.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Mütter und Väter trauern anders! .10 in Monaten (Median (Minimum; Maximum)) * Mütter trauerten * 15 14 150 32 intensiver als 13 Väter 12 p = 0.01 p= PGS-Score 11 120 10 9 8 0.03 90 7 6 5 60 4 Mütter trauerten 3 2 30 länger als Väter 1 0 männlich weiblich Väter Mütter Mütter Väter 18
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Mütter und Väter trauern anders! * 80 70 Signifikant mehr Mütter als Väter gaben an, 60 p < 0.05 dass der Trauerprozess negative 50 Auswirkungen auf die Beziehungen 40 zum sozialen Umfeld hatte 30 20 10 Prozent, 95% KI 0 Mütter Väter 19
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Subjektiv empfundene Unterstützung 100% 80% * p < 0.05 Eltern, die die subjektiv empfundene Unterstützung als nicht ausreichend 60% einschätzten, Negative Auswirkungen gaben häufiger an, 40% dass sich der Trauerprozess negativ auf das soziale 20% Umfeld ausgewirkt habe. 0% ja nein Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 20 Unterstützung als ausreichend empfunden
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Bedürfnisse betroffener Eltern: Gespräche und Entscheidung zur Therapiezieländerung 95% der befragten Eltern, deren Kind nach einer Entscheidung zur Beendigung oder dem Nicht-Beginnen lebenserhaltender Maßnahmen verstarb, waren der Meinung, dass die Miteinbeziehung in die Entscheidungsfindung adäquat war. 92% dieser Eltern gab an, dass sie die Miteinbeziehung in die Entscheidungsfindung nicht bedauern würden. 85% dieser Eltern sagten, dass sie keine Schuldgefühle bezüglich der Entscheidung empfanden. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 21
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Bedürfnisse betroffener Eltern: Gespräche und Entscheidung zur Therapiezieländerung 45% der Eltern sagten, dass sie sich in der Situation der Entscheidung zur Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen überfordert fühlten. 17% der Mütter und 6% der Väter gaben an, dass sie sich generell am Tod des Kindes schuldig fühlten. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 22
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Du kannst nicht irgendwie in einer Traumwelt leben, sondern du hast ja immer die Realität, jeden Tag, und wenn er dir das so direkt sagt, dann hebst du gar nicht erst ab, […], normalerweise ist jeder Vater, der ein Kind kriegt, glücklich, und jede Mutter, aber ich war nicht glücklich da, sondern das war immer irgendwie eingesperrt in mir und das habe ich nicht raus gelassen, weil ich einfach immer Angst gehabt hab, dass irgendwas passiert, und […] auf der einen Seite ist das schon richtig, dass er das gesagt hat, auf der anderen Seite ist das brutal schwierig für einen zum Verarbeiten. Zitat eines Vaters, dessen Tochter als Zwillingsfrühgeborenes in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kam. Das Mädchen entwickelte aufgrund der extremen Frühgeburtlichkeit schwerwiegende Komplikationen und verstarb am 8. Lebenstag nach Beendigung der intensivmedizinischen Maßnahmen.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Bedürfnisse betroffener Eltern: Situation des Versterbens / Zeit nach dem Tod des Kindes Anwesenheit bei ihrem versterbenden Kind Körperkontakt zu ihrem versterbenden Kind Vorhandensein von Erinnerungsgegenständen an ihr verstorbenes Kind Paul Klee. Es weint. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 24
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Also wenn es nach mir ganz am Anfang gegangen wäre, hätte ich sie wahrscheinlich auch gar nicht unbedingt erst mal sehen wollen, weil es für mich einfach so, also ich hab da lang mit mir gekämpft, ich hab mich am Anfang total dagegen verweigert, es war gut, dass ich es gemacht habe, also im Nachhinein Gott sei Dank, aber am Anfang habe ich schon gesagt, warum muss ich mir das auch noch geben, wenn ich ja eh schon weiß, dass es eigentlich keine Chance hat. Zitat einer Mutter, deren Tochter durch einen Unfall 12 Wochen zu früh auf die Welt kam und an den Folgen des Unfalls und der Frühgeburtlichkeit verstarb.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Was ich gut gefunden hab, dass sie mich im Prinzip ja fast gezwungen haben, mit auf die Intensivstation zu kommen, weil ich wäre, also freiwillig, wie gesagt, ich wäre nur weggelaufen […] Ich hab immer noch gehofft, dass sie es irgendwie nicht schaffen, einen Rollstuhl aufzutreiben für mich, aber ich meine, im Nachhinein, war ich unheimlich froh drüber, aber in der Situation, das war halt für mich was völlig Neues, ich war der Situation halt absolut nicht gewachsen, ich wusste halt überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll, und ich hab mich so auch, ja körperlich, wirklich nicht gut gefühlt, und hab mich da wahrscheinlich auch ein bisschen dahinter versteckt. Zitat einer Mutter, deren Sohn nach unauffälliger Schwangerschaft am ersten Lebenstag an den Folgen einer fulminanten B-Streptokokkensepsis starb.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Also es war, ich hab selber gefragt, ob ich das, ob das möglich ist, aber […] es war schon schwer, also es ist nicht so, dass ich sage, das war jetzt mein Wunsch und das war toll und das war super, es war schon schwer, aber es war wichtig, und ich habe es auch währenddessen als sehr gut empfunden, erstens mal ihn überhaupt mal zu berühren, ohne jetzt, so komisch wie das klingt, ohne jetzt Angst zu haben, dass gleich irgendwas passiert, sondern auch mal unbedarft da ihn zu berühren … Zitat einer Mutter, deren Sohn 16 Wochen zu früh auf die Welt kam. Die lebenserhaltenden Maßnahmen wurden nach dem Auftreten einer hochgradigen Hirnblutung in gemeinsamer Entscheidung mit den Eltern beendet.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Ich fand auch sehr nett, dass die uns noch die Gelegenheit gegeben haben, den R. zu fotografieren. Weil wir, also komischerweise ist mir aufgefallen, dass wir die ganze Zeit kein einziges Foto gemacht haben, irgendwie so als Erinnerung an seine Gesichtszüge, an seine Augen, wir hatten eigentlich gar nichts, und dann hat es mich schon richtig geärgert, dass man da, wo er noch gelebt hat, auch mit den ganzen Schläuchen, ich mein, das gehört ja dazu, dass wir da nichts hatten, und das ist mir da erst zum Schluss so richtig gedämmert, und als ich dann da angesprochen worden bin, ob ich das verkraften würde, ein Foto zu haben, da habe ich gesagt, ja sicher, das ist ja für mich dann, das habe ich ja heute noch, das ist ja ganz egal, weil es geht ja eigentlich bloß um den Körper, um das Leben, das Wesen an und für sich, man sieht die Gesichtszüge, man sieht die Augen, so hätte es sein können, so war es aber nicht, deswegen quält man sich ja nicht ein Leben lang, dass man das da, sondern man sieht, dass dieses Kind eine Persönlichkeit war, wenn man das dann irgendwann mal vergessen hat, wenn man nicht mehr weiß, wie das Kind ausgeschaut hat, dann sagt man „Was, hatten wir mal ein Kind“ oder so, und ich finde, das ist sehr schade, also man muss das schon so nüchtern betrachten, das ist zwar schmerzvoll, in dem Moment ein Foto zu machen, oder auch wenn es lebt, aber es ist auch doch eine schöne Erinnerung. Zitat einer Mutter, deren Sohn mit einer Trisomie 18 geboren wurde. Das Kind verstarb am 6. Lebenstag, nachdem die lebenserhaltenden Maßnahmen aufgrund der zunehmend belastenden Symptomatik beendet wurden.
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation … und das war wie ein anderes Kind, unheimlich friedlich und die haben dann auch zwei Fotos wieder für uns gemacht, wo er schon tot war, und das sind eigentlich meine Lieblingsfotos. Zitat einer Mutter, deren Sohn nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt am 60. Lebenstag an den Folgen einer seltenen Nervenerkrankung verstarb. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 29
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Der Einfluss des Trauerprozesses auf die Paarbeziehung der Eltern 78% der befragten Eltern fühlten, dass sich die Paarbeziehung zwischen den Eltern seit dem Tod des Kindes verändert hatte. Dies gaben mehr Mütter als Väter an. Die meisten dieser Eltern meinten, dass das Ereignis sie einander näher gebracht habe. 6 Befragte gaben an, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung eine größere Distanz zum Partner empfanden. Zwei Elternpaare hatten sich in der Zeit nach dem Tod des Kindes getrennt. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 30
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Einige Schlussfolgerungen aus der Studie Eine Befragung trauernder Eltern im Rahmen einer Studie ist möglich und wird von der Mehrzahl der Eltern positiv aufgenommen. Die Miteinbeziehung in eine Entscheidung zur Therapiezieländerung ist nicht verbunden mit einer höheren Trauerintensität nach dem Tod des Kindes. Aber Eltern brauchen unsere Unterstützung in dieser Situation. Es bestehen bedeutende Unterschiede in der Trauerreaktion zwischen Müttern und Vätern. Eltern sollten über diesen Umstand informiert und beraten werden, sodass unterschiedliche Trauerverläufe als potentielles Problem antizipiert werden können. Die meisten Eltern schätzen die Anwesenheit bei und den Körperkontakt zu ihrem versterbenden Kind sowie das Vorhandensein von Erinnerungsgegenständen an die kurze Lebenszeit des Kindes als wertvoll ein. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 31
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation DIE PERSPEKTIVE DES TEAMS
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Betroffenheit Eltern zeigen eine extreme Sensitivität gegenüber den Reaktionen von Ärzten und Pflegenden (Cullberg 1972; Lovell 1983) Aber: Infauster Verlauf und Sterben eines Neugeborenen stellen eine schwieriger Konfrontation dar und bedeuten eigene Betroffenheit Trauer und Trauerarbeit „inmitten der Intensivstation“ Bewusstwerden eigener schmerzlicher Verlust, Reaktivierung von (ungelöster) Trauer Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 34
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Potenzielle Ängste unter dem medizinischen Personal Berufliches „Versagenserlebnis“ (Kowalski 1980) Vorwurf der „unterlassenen Hilfeleistung“ Eltern könnten in der palliativen Betreuungssituation allgemein negative Emotionen und Vorwürfe auf ärztliches und pflegerisches Personal fokussieren (Gold 2007) Vermeidung schwieriger Gespräche wegen unerreichbar hoher Ansprüche an die eigene Kommunikationsfähigkeit (Glaser 1995) Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 35
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Potenzielle Ängste unter dem medizinischen Personal Berufliches „Versagenserlebnis“ (Kowalski 1980) Vorwurf der „unterlassenen Hilfeleistung“ Eltern könnten in der palliativen Betreuungssituation allgemein negative Emotionen und Vorwürfe auf ärztliches und pflegerisches Personal fokussieren (Gold 2007) Vermeidung schwieriger Gespräche wegen unerreichbar hoher Ansprüche an die eigene Kommunikationsfähigkeit (Glaser 1995) Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 36
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Synposis Spezielles Wissen, Fähigkeiten und Verständnis in der Begleitung und Unterstützung trauernder Eltern notwendig Mangel hieran wird (insbesondere vom Pflegepersonal) oft empfunden, aber selten offen eingefordert! Leitlinien können eine Unterstützung sein, reichen aber für eine suffiziente Betreuung betroffener Familien nicht aus. Wünschenswert wäre eine tiefgreifende Schulung und Ausbildung des medizinischen Personals Hilfe und Unterstützung durch Fallkonferenzen, Supervision und individuelle psychologische Betreuung Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 38
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Individuelle Herangehensweisen und Ressourcen Eigene Erfahrungen und Grenzen reflektieren Bewusste Entscheidung darüber, ob eine Begleitung zum aktuellen Zeitpunkt möglich ist Nicht jeder „Fall“ berührt gleich Eigene Gefühle und Traurigkeit zulassen Aktives Trauern Ressourcen emotionaler Unterstützung Supervisionen, Fallbesprechungen Offenheit und Toleranz im Team Aus: Christ-Steckhan „Elternberatung in der Neonatologie“, 2005 Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 39
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Individuelle Herangehensweisen und Ressourcen Eigene Erfahrungen und Grenzen reflektieren Bewusste Entscheidung darüber, ob eine Begleitung zum aktuellen Zeitpunkt möglich ist Nicht jeder „Fall“ berührt gleich Eigene Gefühle und Traurigkeit zulassen Aktives Trauern Ressourcen emotionaler Unterstützung Supervisionen, Fallbesprechungen Offenheit und Toleranz im Team Aus: Christ-Steckhan „Elternberatung in der Neonatologie“, 2005 Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 40
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Hospice- oder Palliative-Care-Programme in der Perinatologie Möglichkeit der Implementierung palliativmedizinischer Elemente in die Versorgung schwerstkranker Neugeborener Ziele: – Sensitiver und individueller Umgang mit dem sterbenden Kind und seiner Familie – Vermeidung von komplizierten Trauerverläufen – Bewältigung des Ereignisses durch das medizinische Personal Kritik: Gefahr der Institutionalisierung und Homogenisierung von Trauer (Roy 2007, Leon 1992) Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 41
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Belastung I: Okay. In wie weit belastet es dich, oder was ist das belastende an solchen Situationen, wo so eine Entscheidung ansteht oder getroffen werden muss? B: Ich finde es oft sehr belastend, dass man natürlich als Oberarzt, und das wird dem Leiter genauso gehen, eigentlich der Exekutor ist. Das ist sehr belastend oft. Ja. Das ist aber auf der anderen Seite auch bewusst so gewählt, weil wir, zumindestens die Oberärzte, eigentlich, glaube ich, einen erfahrenen Blick darauf haben, und das kann man nicht einfach dem Assistenten überlassen. Aus dem Interview mit einem Oberarzt Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 42
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Coping I: Wenn du, oder sprichst du im privaten Bereich mit Partner, Freunden, Familie über solche Situationen? B: Ähm, mit meiner Mutter, ja. Und mit Leuten von außen, wie ich ja vorhin auch gesagt habe, weil die Leute schon ziemlich schnell dann auf sowas zu sprechen kommen. Wenn du sagst, wo du arbeitest sagen die immer: Ja, das muss doch sehr schlimm sein. Dann sage ich meistens: Eigentlich ist es so schlimm nicht. Und ich versuche es immer zu vergleichen. Also bei uns im Haus gibt es eine andere Station, wo größere Kinder, herzkranke Kinder sind, Kinder nach Operationen am ZNS und so Sachen, die ich eigentlich schlimmer finde, wo ich irgendwie denke: Das ist belastender, so ein Kind was, was, was schon gelebt hat. Also versuche ich das immer, so ein bisschen zu relativieren. Aus dem Interview mit einer Assistenzärztin Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 43
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Einleitung > Die Perspektive der Eltern > Die Perspektive des Behandlungsteams Kraft und Ausgleich? B: Vom Sport auf jeden Fall, (lacht)finde ich, irgendwie. Weiß ich nicht, wenn es ziemlich stressig ist, dann mache ich gern Sport irgendwie als Ausgleich. Aber auch wenn ich jetzt wieder keine Ahnung, ein, zwei Wochen später oder was ein Kind habe, wo der Verlauf dann gut ist, was auch ein intensives Kind war, aber man das sieht halt, irgendwie man hat doch mit gepflegt und irgendwie ist es dann auch gut gelaufen. Das freut einen dann auch immer als Ausgleich, finde ich irgendwie. Ja, doch. Das schon auch, ja. I: Gibt es was, woraus du Kraft schöpfst in so einer Situation oder das dir Mut macht oder Zuversicht? B: (stottert) Eigentlich wie, also das einzige, was mir immer hilft ist, dass ich es halt erzähle (lacht) irgend jemandem. I: Mmh. B: Ja. Also auch nach, nach außen, Leuten die jetzt nicht in der Arbeit sind. Ich erzähle, was gerade passiert. Aus dem Interview mit einer Pflegefachkraft. Fachtagung am 9.11.2013 in München I. Wermuth & A. Schulze | Perinatalzentrum Großhadern 44
Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation Mein Dank gilt insbesondere den teilnehmenden Familien, die den Mut und die Kraft aufgebracht haben, ihre Erinnerungen und Erfahrungen zum Tod ihres neugeborenen Kindes mit mir zu teilen. A. Schulze. Nach dem Waldbrand.
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