Sitzverlegung in die Schweiz - Ein Fall für die Altreservenpraxis? - Zentrum für ...
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ISTR, Unternehmen → Tobias Felix Rohner, Selina Many Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis? Band 2/ 2021 | Artikel 9 Zitiervorschlag: Tobias Felix Rohner, Selina Many, Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?, s. 64 in zsis) 2/2021, A9, N [...] (abrufbar unter: publ.zsis.ch/A9-2021)
24.06.2021 ISTR, Unternehmen QUICK READ Der Aufsatz geht der Frage nach, ob die beim Zuzug vom Ausland in die Schweiz bestehenden Reserven als «Altreserven» gel- ten können, in Bezug auf welche die Verrechnungssteuerentlastung nach einer späteren Umstrukturierung ganz oder teilweise verweigert werden kann. Während die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) dies bei Gewinnreserven zu bejahen scheint, stehen die Autoren diesem Ansatz Tobias Felix ROHNER kritisch gegenüber. Dr. iur, Rechtsanwalt, dipl. Steuerexperte Partner | Baker McKenzie Zürich tobias.rohner@bakermckenzie.com Dabei ist einerseits zu hinterfragen, ob vor Zuzug geschaffene Gewinn- reserven aus steuersystematischen Gründen nicht von Vornherein als verrechnungssteuerfrei rückzahlbare Kapitaleinlagereserven gelten müssten. Doch selbst wenn dem nicht so wäre, zeigt die bisherige Rechts- prechung zu Altreservenfällen, dass die Verrechnungssteuerentlastung nur in Ausnahmefällen verweigert werden darf; dann nämlich, wenn nebst einer vorangegangenen Gewinnthesaurierung zusätzliche Elemente hin- zutreten. Die Autoren kommen daher zum Schluss, dass die Anwen- Selina MANY Rechtsanwältin, dipl. Steuerexpertin dung der Altreservenpraxis durch die Verwaltung deutlich zu weit Associate | Baker McKenzie Zürich geht und namentlich in Bezug auf importierte Reserven in der Regel selina.many@bakermckenzie.com keine Anwendung finden dürfte. s. 65 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen QUICK READ 65 1. Einleitung Die Altreservenproblematik ist heutzutage von der 1 HAUPTTEIL 66 täglichen Steuerberatungspraxis in der Schweiz kaum mehr wegzudenken. Über zahlreichen Umstrukturie- 1. Einleitung 66 rungen, aber auch Verkäufen unter unabhängigen Dritten, hängt stets das Damoklesschwert einer zu- 2. Ein Praxisfall 66 mindest teilweise verweigerten Verrechnungssteuer- rückerstattung. Obwohl ursprünglich im Missbrauchs- 3. Steuersystematische Einordnung 68 gedanken begründet, ist ein Trend hin zu einem von importierten Reserven eigentlichen positivrechtlichen Altreserventatbe- stand (wie auch anderer Missbrauchstatbestände 01 ) 4. Übersicht über die Altreservenproblematik 68 zu beobachten. Die entsprechende Problematik soll im vorliegenden Beitrag anhand einer Sitzverlegung 5. Schlussfolgerungen für den Praxisfall 75 eines ausländischen Unternehmens in die Schweiz untersucht werden. Auch hier ging die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) zunächst davon aus, dass die in die Schweiz gebrachten «Altreserven» unein- geschränkt der schweizerischen Missbrauchspraxis unterlägen 2. Ein Praxisfall 2.1 Sachverhalt Die A-Gruppe hat ihren Konzernhauptsitz in den 2 USA. Geplant war, sämtliche europäischen Gesell- schaften in die niederländische Sub-Holding C Hold- Co einzubringen und in einem zweiten Schritt den Sitz der spanischen Holdinggesellschaft D HoldCo in die Schweiz zu verlegen. Aufgrund zeitlicher Verzögerun- gen bei der Umsetzung der Transaktion wurden die Schritte aber umgestellt: Zuerst verlegte die D Hold- Co ihren Sitz von Spanien in die Schweiz. Rund ein Jahr später wurde sie in die C HoldCo eingebracht. [ → Grafik RZ 3] 01 Hierzu gehören insbesondere die stellvertretende Liquidation sowie die klassische und die erwei- terte internationale Transponierung, deren Einbezug den Umfang des vorliegenden Beitrags sprengen würde. Diesbezüglich sei auf die entsprechende Literatur verwiesen, namentlich: Stefan Oesterhelt, Altreservenpraxis, Internationale Transponierung und stellvertretende Liquidation, FStR 2017 (zit.: Oesterhelt, Altreserven), S. 99 ff.; derselbe, Erweiterte internationale Transponierung, FStR 2020, S. 40 ff. s. 66 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen →3 Ausgangslage Schritt 1: Sitzverlegung Schritt 2: Sacheinlage A A A TopCo TopCo TopCo USA USA USA Sitzverlegung Sacheinlage D HoldCo C HoldCo C HoldCo C HoldCo D HoldCo ES NL NL NL ES CH OpCos OpCos OpCos OpCos OpCos D HoldCo EMEA APAC EMEA APAC APAC CH OpCos EMEA 4 Unmittelbar vor dem Zuzug in die Schweiz präsentierte sich das Bilanzbild der D HoldCo wie folgt: 02 →5 Umlaufvermögen (nicht betriebsnotwendig) 400 Fremdkapital 200 Umlaufvermögen (betriebsnotwendig) 100 Aktienkapital 300 Anlagevermögen (betriebsnotwendig) 500 Kapitaleinlagereserven 200 Übrige Kapitalreserven 300 Gewinn-/Verlustvortrag 0 Total 1000 Total 1000 6 Ihr erstes Geschäftsjahr nach ihrem Zuzug in die lage der Aktien der D HoldCo in die C HoldCo seien Schweiz schloss die D HoldCo mit einer schwarzen die Dividendenausschüttungen gemäss Art. 10 Abs. 3 Null ab. Das Bilanzbild bei Einbringung in die C Hold- lit. a des Doppelbesteuerungsabkommens Schweiz- Co gestaltete sich demnach weiterhin unverändert. 03 Niederlande (DBA-NL) hingegen vollständig von der Quellensteuer befreit, weshalb die vollständige Ver- 2.2 Auffassung der ESTV rechnungssteuerentlastung für die bei Einbringung 7 Im Hinblick auf eine geplante Dividendenaus- bereits bestehenden Reserven nicht gewährt werden schüttung einige Jahre nach der Sitzverlegung stellte könne. Dem Argument, dass die Reserven der D Hold- die D HoldCo bei der ESTV einen Antrag auf Meldung Co grossmehrheitlich im Ausland geäufnet wurden, statt Entrichtung der Verrechnungssteuer. Die ESTV schenkte die ESTV vorerst kein Gehör. Erst als der zweifelte nicht an der Abkommensberechtigung der Nachweis erbracht wurde, dass die im Ausland ent- C HoldCo, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass standenen Reserven durch Kapitaleinlagen entstan- ein Abkommensmissbrauch (Altreservenfall) vorläge. den und diese als solche auch in der Schweiz anzu- Unmittelbar nach der Sitzverlegung der D HoldCo in erkennen seien, konnte das Problem der Altreserven die Schweiz sei Art. 10 Abs. 2 lit. a des Doppelbesteue- massiv entschärft werden. rungsabkommens Schweiz-USA (DBA-USA) anwend- bar gewesen. Diese Bestimmung sehe bei qualifizier- 02 Die Aktiven werden vorliegend konsolidiert dargestellt. ten Beteiligungen für Dividendenausschüttungen 03 Vereinfachende Annahme (sowohl aktiv- als eine Sockelsteuerbelastung von 5 % vor. Nach der Ein- auch passivseitig) für die Zwecke des vorliegenden Beitrags. s. 67 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen 8 Soweit aber die ausländischen Reserven durch Ge- Liquidation behandelt wird, muss der Zuzug ins Inland winnrückbehalte entstanden sind, bleibt gemäss Pra- als eine Neugründung behandelt werden, sodass die xis der ESTV das Altreservenproblem. Die ESTV stellt gesamten (oder zumindest die handelsrechtlich offen sich mithin auf den Standpunkt, dass sich die Altreser- ausgewiesenen) Reserven per se Einlagen der Aktio- venproblematik unabhängig davon stellt, ob die Re- näre darstellen und bei Ausschüttung entsprechend serven im In- oder Ausland sind. Lediglich dann, wenn von der Verrechnungssteuer ausgenommen sind. 06 die im Aus- oder im Inland entstandenen Reserven als Dass der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 bis VStG hier an Kapitaleinlagereserven (KER) gelten, komme die Alt- die separate Verbuchung von KER spezifisch in der reservenpraxis nicht zur Anwendung, da KER nicht Handelsbilanz anknüpft, spricht nach Auffassung der der Verrechnungssteuer unterliegen würden. Diese Autoren nicht gegen diesen Ansatz, da der Wortlaut Ansicht soll in der Folge kritisch beurteilt werden. einer Norm dort zurückzutreten hat, wo er wie hier ein systematisch nicht haltbares Ergebnis bewirkt. Mag das Anknüpfen an die Handelsbilanz im reinen 3. Steuersystematische Einordnung Binnensachverhalt sachgerecht sein, ist dies in einem von importierten Reserven Zuzugsfall, welchen der Gesetzgeber bei Verabschie- dung der Bestimmung kaum in dieser Form im Blick- 9 Die Praxis der ESTV differenziert, ob die im Ausland feld gehabt haben dürfte, unter Umständen da nicht gebildeten Reserven Gewinnreserven oder KER dar- sachgerecht, wo das Handelsrecht eine Verbuchung stellen. 04 Dies hat zur Folge, dass auch die Rückzah- als KER nicht zulassen sollte. In diesem Fall muss die lung von importierten KER nicht von der Verrech- Erstellung einer speziellen Steuerbilanz auch für Ver- nungssteuer erfasst ist. 05 Umgekehrt unterliegen rechnungssteuerzwecke erlaubt sein. die importierten Gewinnreserven aber neu latent der Verrechnungssteuer. Grundlage hierfür ist die Be- Vor diesem Hintergrund dürfte sich die Altreserven- 12 stimmung von Art. 4 Abs. 1 Verrechnungssteuergesetz frage für importierte Reserven von Vornherein nicht (VStG), die nicht danach unterscheidet, ob die Ge- stellen. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, dürfte die winnreserven vor oder nach dem Zuzug entstanden Anwendung der Altreservenpraxis in Fällen wie dem sind. Vorliegenden aber auch anhand ihrer eigenen Voraus- setzungen scheitern. 10 Dies ist bereits insofern problematisch, als das Steuerrecht eines Wegzugsstaats die Sitzverlegung regelmässig einer Liquidation gleichstellt (Liquida- 4. Übersicht über die Altreservenproblematik tionsfiktion) und somit die (offenen und verdeckten) Gewinnreserven besteuert werden. Eine solche Rege- 4.1 Verbesserung der Rückerstattungsposition lung enthält auch die Schweiz in Art. 4 Abs. 2 VStG. So Ausgangspunkt der Altreservenproblematik ist 13 wird die Verlegung des Sitzes einer schweizerischen stets eine Veränderung resp. Verbesserung im Um- Aktiengesellschaft, GmbH oder Genossenschaft ins fang der Rückerstattungsberechtigung (sog. Regime- Ausland steuerlich der Liquidation der Gesellschaft wechsel). gleichgestellt. 04 Kreisschreiben der Eidg. Steuerverwaltung 11 Diese Doppelbesteuerungsproblematik könnte unter (ESTV) Nr. 29b vom 23. Dezember 2019 betreffend Umständen bereits durch eine systematische Ausle- Kapitaleinlageprinzip, Ziff. 8. gung der unilateralen Regelungen vermieden werden. 05 Art. 5 Abs. 1 bis VStG. Zieht man eine Analogie zur steuerlichen Behandlung 06 Markus Weidmann, Immigration von Kapitalge- der Sitzverlegung ins Ausland, die steuerrechtlich als sellschaften in die Schweiz, FStR 2010, S. 20; Jürg Altorfer/Jürg B. Altorfer, Das Kapitaleinlage- prinzip, Ein Systemwechsel mit weitreichenden Folgen (2. Teil), ST 2009, S. 317. s. 68 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen → 16 Ausgangslage Übertragung Zielstruktur M Inc. M Inc. M Inc. USA USA USA Übertragung T AG C BV T AG C BV C BV CH NL CH NL NL T AG CH 14 Traditioneller Anwendungsfall der Altreservenpraxis 4.2 Nichtbetriebsnotwenige, handelsrechtlich ist die Konstellation, in welcher eine Beteiligung kon- ausschüttbare Mittel zernintern von einer nicht oder nur beschränkt rück- Die Altreservenpraxis greift allerdings nur, sofern 17 erstattungsberechtigten Gruppengesellschaft auf und soweit die übertragene Beteiligung zum Übertra- eine Gruppengesellschaft mit einer besseren Rück- gungszeitpunkt resp. gemäss letztem handelsrecht- erstattungsposition übertragen wird. 07 lichem Jahresabschluss über ausschüttungsfähige Reserven verfügt, welchen eindeutig nicht betriebs- 15 Beispiel: Die DBA-berechtigte M Inc. mit Sitz in den notwendige resp. liquide Mittel gegenüberstehen. USA überträgt ihre Schweizer Tochtergesellschaft T AG auf ihre niederländische Tochtergesellschaft C BV. Die ausschüttungsfähigen Reserven müssen dabei la- 18 Art. 10 Abs. 2 lit. a DBA-USA erlaubt in Bezug auf Di- tent verrechnungssteuerbelastet sein. Nicht darunter videndenausschüttungen eine verbleibende Sockel- fallen somit KER. steuerbelastung im Quellenstaat in Höhe von 5 %. Demgegenüber sieht Art. 10 Abs. 3 lit. a DBA-NL eine Im Beispiel der T AG gestaltet sich das Bilanzbild ge- 19 vollständige Quellensteuerentlastung vor. Somit liegt mäss letztem statutarischem Abschluss wie folgt: eine Verbesserung der Rückerstattungsposition vor. [ ↑ Grafik RZ 16] Somit könnten bei der T AG 400 potenziell als Altre- 20 serven qualifizieren. 08 [ ↓ Grafik RZ 21] Umlaufvermögen (nicht betriebsnotwendig) 400 Fremdkapital 200 21 ← Umlaufvermögen (betriebsnotwendig) 100 Aktienkapital 200 Anlagevermögen (betriebsnotwendig) 500 Kapitaleinlagereserven 100 Gewinn-/Verlustvortrag 500 Total 1000 Total 1000 07 Fussnote 07 befindet sich auf Seite 70 08 Fussnote 08 befindet sich auf Seite 70 s. 69 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen 22 Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass eine Ge- Situationen in Frage, wenn eine Rechtsgestaltung vor- sellschaft nicht betriebsnotwendige, handelsrecht- liegt, die – abgesehen von den steuerlichen Aspekten lich ausschüttbare Mittel auszahlen könnte und sollte – jenseits des wirtschaftlich Vernünftigen liegt. Mithin und ein davon abweichendes Verhalten nur dadurch bleibt die Annahme einer Steuerumgehung ausge- erklärt werden kann, dass die Aktionärinnen (resp. schlossen, wenn andere Gründe als blosse Steuerer- deren Mehrheit 09 ) die Verrechnungssteuerbelastung sparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine relevan- vermeiden (umgehen) möchten. te Rolle spielen. 12 4.3 Steuerumgehungsvorbehalt 07 Die ESTV wendet die Altreservenpraxis allerdings als Grundlage der Altreservenpraxis auch auf Übertragungen unter unabhängigen Dritten 4.3.1 Allgemeine Grundlagen an, so namentlich im Urteil des Bundesverwaltungs- 23 Bei der Altreservenpraxis handelt es sich nicht gericht A-1795/2017 vom 1. Dezember 2020 beurteilten um einen gesetzlich normierten Tatbestand. Vielmehr Fall; vgl. auch Praxisfestlegung der ESTV vom gründet er auf dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs 12. März 2008, in: Peter Agner/Maja Bauer-Balmelli/ resp. der Steuerumgehung. Für die Rückerstattungs- Hans-Peter Hochreutener/Markus Küpfer/Kurt Locher/ berechtigung in unilateralen Sachverhalten ist er in Peter Locher/Marco E. Vitali/Roland Weidmann Form des Steuerumgehungsvorbehalts in Art. 21 Abs. 2 (Hrsg.), Die Praxis der Bundessteuern, Art. 21 Abs. 2 VStG explizit erwähnt. Weniger klar und entsprechend VStG, Nr. 32. umstritten ist die Rechtsgrundlage im internationalen 08 Passivseitig wird in der Regel auf den letzten Verhältnis. Aus praktischer Sicht ist die rechtliche handelsrechtlichen Jahresabschluss abgestellt, Grundlage des Steuerumgehungsvorbehalts bei der aktivseitig hingegen regelmässig auf den Zeitpunkt Prüfung der Rückerstattungsberechtigung allerdings der Übertragung: siehe Oesterhelt, Altreserven, S. 109. in der Regel nicht von entscheidender Bedeutung, da Für die Zwecke dieses Beispiels wird davon ausge- gemäss Rechtsprechung die Merkmale einer Steuer- gangen, dass aktivseitig seit dem letzten Abschluss umgehung im internationalen Verhältnis grundsätz- keine Veränderungen eingetreten sind. lich dieselben sind. 10 09 Sofern nur Minderheitsbeteiligte nicht vollständig rückerstattungsberechtigt sind, sieht die ESTV 24 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird nach Erfahrung der Autoren von der Anwendung eine Steuerumgehung bejaht, «wenn (a) eine von der Altreservenpraxis ab. Da diese die den Beteiligten gewählte Rechtsgestaltung als un- Ausschüttungspolitik der Gesellschaft nicht zu gewöhnlich («insolite»), sachwidrig oder absonderlich, beeinflussen vermögen, kann ihnen auch kein miss- jedenfalls den wirtschaftlichen Gegebenheiten völlig bräuchliches Verhalten zum Vorwurf gemacht unangemessen erscheint (objektives Element), wenn werden. zudem (b) anzunehmen ist, dass die gewählte Rechts- 10 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 gestaltung missbräuchlich lediglich deshalb getroffen vom 20. April 2020 E. 4.2.1. m.w.H.; vgl. auch Stefan wurde, um Steuern einzusparen, die bei sachgemäs- Oesterhelt/Raphaël Fellay, La pratique des anciennes ser Ordnung der Verhältnisse geschuldet wären (Um- réserves de l’AFC, RDAF 2021 II, S. 482 ff. gehungsabsicht; subjektives Element), und wenn (c) (zit.: Oesterhelt/Fellay, Anciennes réserves). In der das gewählte Vorgehen tatsächlich zu einer erheb- dort zitierten Lehre wird hingegen oft eine lichen Steuerersparnis führen würde, sofern es von dogmatische und u.E. wichtige Abgrenzung zwischen der Steuerbehörde hingenommen würde (effektives Steuerumgehung und Rechts- resp. Abkommens- Element).» 11 missbrauch vorgenommen. 11 Statt vieler Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 25 Das Vorliegen einer Steuerumgehung ist jeweils einzel- vom 20. April 2020 E. 4.2. fallbezogen zu prüfen. Gemäss Bundesgericht kommt 12 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 eine Steuerumgehung nur in ganz ausserordentlichen vom 20. April 2020 E. 4.2.1. s. 70 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen 4.3.2 Besondere Grundlagen Das Bundesgericht erwog, dass die Übertragung der 29 26 Neben dem generellen Missbrauchsvorbehalt, der Aktien der S. AG an die C. Co vorwiegend zum Zweck gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung jedem der Steuerermässigung erfolgt war, auch wenn nicht DBA immanent ist, ist im Einzelfall sodann jeweils zu allein steuerliche Motive ausschlaggebend waren. Eine prüfen, ob das in Frage stehende DBA eine eigene, Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf den be- speziellere und gegebenenfalls weitergehende Miss- reits bestehenden Reserven sei daher durch den Wort- brauchsregelung kennt. 13 Dies war etwa der Fall im laut der Abkommensbestimmung ausgeschlossen. aDBA-USA in der Fassung von 1951, welches beim ers- ten höchstrichterlich beurteilten Altreservenfall aus Hingegen verneinte das Bundesgericht explizit das 30 dem Jahr 1996 einschlägig war. Dem Urteil 14 lag im Vorliegen einer Steuerumgehung oder eines Miss- Wesentlichen der folgende Sachverhalt zugrunde: brauchs mit der Begründung, ein absonderliches, dem wirtschaftlichen Sachverhalt nicht entsprechendes 27 Die schweizerische S. AG wurde von den in den USA Verhalten könne in der erfolgten Umstrukturierung ansässigen Gesellschaften W. Co und Q. Co gehalten, nicht erblickt werden. wobei die W. Co über 60 % und die Q. Co. über 40 % der Aktien hielten. W. Co und Q. Co waren vollständig Solche spezielleren Missbrauchsbestimmungen wer- 31 im Besitz der in den USA ansässigen C. Co. Nachdem den inskünftig mit Einführung des Principal-Purpose- die S. AG ein Gesuch gegenüber der ESTV stellte, es Tests im Rahmen vieler neuverhandelten DBAs sowie sei auf Dividenden der S. AG der residuale Verrech- durch Umsetzung des BEPS-Übereinkommens häu- nungssteuersatz von 5% anzuwenden, da die S. AG zu figer anzutreffen sein, wobei sich deren tatsächliche 100 % von der C. Co beherrscht werde und dieses Ge- Tragweite in der Praxis noch zeigen müssen wird. 15 such abgelehnt wurde, wurden die Aktien der S. AG an die C. Co übertragen. 4.3.3 Tatsächliche Steuerersparnis (effektives Element) 28 Art. VI Abs. 2 Satz 2 aDBA-USA (1951) lautete damals Auch wenn das effektive Element in der gebets- 32 wie folgt: mühlenartig wiederholten bundesgerichtlichen Steu- erumgehungsformel stets am Schluss genannt wird, «Ist indessen der Aktionär eine Gesellschaft, stellt es eigentlich die «Einstiegsluke» für die Steuer- die unmittelbar oder mittelbar über min- umgehungs- resp. Missbrauchsprüfung dar. destens 95 Prozent der Stimmrechte in der dividendenzahlenden Gesellschaft verfügt, Im Zusammenhang mit der Altreservenproblematik 33 und stammen nicht mehr als 25 Prozent des ist das effektive Element traditionell gegeben, wenn Bruttoeinkommens der dividendenzahlenden Gesellschaft von andern Zinsen und Divi- 13 Vgl. auch Maja Bauer-Balmelli, Altreservenpraxis – denden als den von ihren eigenen Tochter- ein rechtliches Argumentarium, Am Beispiel gesellschafen ausgerichteten, so soll der des Doppelbesteuerungsabkommens mit Österreich, Steuersatz 5 Prozent nicht übersteigen. Die FStR 2014, S. 207. Herabsetzung des Steuersatzes auf 5 Pro- 14 Urteil des Bundesgerichts vom 16. August 1996, in: zent soll jedoch nicht Platz greifen, wenn ASA 66 (1997/98), S. 406 ff. die Verbindung der beiden Gesellschaften 15 Die ESTV scheint ihre heutige Missbrauchspraxis in erster Linie in der Absicht hergestellt unter besagten Neuregelungen weitestgehend worden ist oder beibehalten wird, um sich unverändert fortführen zu wollen; vgl. hierzu Stefan diesen Vorteil zu sichern.» Oesterhelt/Oliver Oppliger, Aktuelle Entwicklungen im Bereich Rückerstattung der Verrechnungssteuer, IFF Seminar vom 19./20. November 2019, Folie 10 ff. s. 71 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen ein Regimewechsel, also eine Verbesserung der Rück- erkläre, weshalb sie sich stark verschuldete, um mit erstattungsposition, sowie das entsprechende latent diesem Fremdkapital letztlich die liquiden, latent ver- verrechnungssteuerbelastete Substrat vorliegt. Ohne rechnungssteuerbelasteten Mittel der F. zu kaufen. Es einen solchen günstigen Regimewechsel erübrigt sich wäre für alle Beteiligten wesentlich einfacher gewesen aus verrechnungssteuerlicher Sicht grundsätzlich die und hätte zum selben wirtschaftlichen Resultat ge- Altreservenprüfung. führt, wenn die F. diese Mittel stattdessen unmittelbar vor der Übertragung der Beteiligung an die bisherige 4.3.4 Absonderliches resp. missbräuchliches Aktionärin ausgeschüttet hätte, die so an Stelle einer Verhalten (objektives Element) Kaufpreiszahlung einen Liquiditätszugang in Form 34 Bislang wurden nicht mehr als eine Handvoll Alt- einer Dividende verzeichnet hätte. Vor diesem Hinter- reservefälle den Gerichten und insbesondere dem grund erscheine der gewählte Weg als absonderlich Bundesgericht zur Prüfung vorgelegt. Entsprechend und die Rechtsgestaltung als künstlich. 17 schwierig gestaltet sich die klare Erfassung des als absonderlich resp. missbräuchlich einzustufenden In der Lehre wurde aus dem zitierten Urteil zuweilen 38 Verhaltens, welches als objektives Element Voraus- der Schluss gezogen, dass das absonderliche resp. setzung einer jeden Steuerumgehung ist. missbräuchliche Verhalten in der Thesaurierung der Gewinne zu erblicken ist. 18 Diese Leseart erscheint 35 Immerhin kann gesagt werden, dass die publizierten aber aus Sicht der Autoren etwas verkürzt. Zwar ist Fälle, bei welchen eine Steuerumgehung bejaht wur- die Gewinnthesaurierung durchaus ein gewichtiges de, stets mehr an sich hatten als bloss die Tatsache, Indiz. Als genauso entscheidend gewertet werden dass eine Verbesserung der Rückerstattungsposition muss aber, dass die Erwerberin erhebliche Fremd- erfolgte. Eine potenzielle Veränderung der Rücker- mittel aufnehmen musste, um die Folgen dieser Ge- stattungsberechtigung ist nämlich jedem Aktionärs- winnthesaurierung stemmen zu können, obwohl in wechsel inhärent. Hier ist eine klare Abgrenzung zur diesem Fall (anders als bei einer Dritttransaktion) Prüfung des «effektiven» Elements der Steuerumge- kaum davon ausgegangen werden konnte, dass die hung erforderlich. veräussernde Gesellschaft im Rahmen einer konzern- internen Umstrukturierung den Verkauf ansonsten 36 Gewisse Schlüsse lassen sich insbesondere aus einem absagen würde. Mithin musste ohne Not eine weite- neueren Urteil des Bundesgerichts vom 20. April 2020 re Partei (nahestehende Darlehensgeberin) involviert ziehen. 16 Der Fall betraf die Rückerstattungsberech- werden, um die Transaktion verwirklichen zu können; tigung einer neuen Aktionärin (A.), welche ihre Be- dies geschah sodann innerhalb desselben Konzerns. teiligung an einer Schweizer Gesellschaft (F.) von einer verbundenen Gesellschaft erworben hatte. Die Dafür, dass die Gewinnthesaurierung für sich alleine 39 F. verfügte zum Zeitpunkt der Übertragung über er- genommen noch nicht per se als absonderliches Ver- hebliche liquide Mittel und handelsrechtlich ausschüt- halten einzustufen ist, spricht auch, dass das Bundes- tungsfähige Reserven. Der Beteiligungserwerb wurde gericht im selben Urteil betont, dass das Vorliegen grossmehrheitlich durch ein Darlehen der Mutterge- sellschaft der A. fremdfinanziert. Als Grund für den 16 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 Beteiligungserwerb führte die A. wirtschaftliche Mo- vom 20. April 2020. tive an, nämlich die Ansiedlung der Forschungs- und 17 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 Entwicklungsfunktionen bei der A, in deren Bereich vom 20. April 2020 E. 4.4.4. auch die F. tätig war. 18 Stefan Oesterhelt, Altreservenpraxis vor Bundes- gericht, StR 75/2020, S. 912 f.; vgl. auch 37 Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das von Stefan Oesterhelt, Steuerfolgen von öffentlichen der A. geltend gemachte wirtschaftliche Ziel nicht Übernahmen, GesKR 1/2021, S. 98. s. 72 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen einer Steuerumgehung immer anhand der konkreten • Im Urteil vom 18. Mai 2016 22 ging es um eine Umstände eines Einzelfalls zu beurteilen und nur in Zielgesellschaft, welche durch eine Käufergesell- Ausnahmesituationen anzunehmen ist. 19 So dürfte es schaft ohne eigene Liquidität erworben wurde. gerade bei im Rahmen privater Vermögensverwaltung Zur Finanzierung des Kaufs gewährte die die gehaltenen Gesellschaften relativ häufig vorgekom- Zielgesellschaft der Käufergesellschaft wenige men sein, dass grössere Liquiditätsreserven aufge- Tage vor der Transaktion ein (unbesichertes) baut wurden, da noch nicht klar war, ob und wie diese Darlehen, welches sich in vergleichbarer Höhe anderswo gerade besser hätten eingesetzt werden zum Kaufpreis bewegte. Das Urteil wurde durch können. Entsprechend wurde mit der «Verschiebung» das Bundesgericht bestätigt. 23 Zu beachten ist, resp. Repatriierung der Mittel lieber zugewartet, da dass die Altreservenfrage im beschriebenen Urteil diese auch mit administrativem Zusatzaufwand ver- nicht abschliessend zu beurteilen war: Streitig bunden gewesen wäre. Generell konnte die leicht- war lediglich die Gewährung des Meldeverfahrens, fertige Repatriierung liquider Mittel aus der Schweiz für dessen Verweigerung bereits Anhaltspunkte sodann auch im Ausland zu von den Verrechnungs- für eine Steuerumgehung resp. einen Abkom- steuerfragen unabhängigen, unerwünschten Steuer- mensmissbrauch ausreichen. Dies hat das Bundes- folgen führen (bspw. im Falle von US-amerikanische verwaltungsgericht bejaht. Ein eigentlicher Nach- Konzernstrukturen, insbesondere vor der US-Steuer- weis der Steuerumgehung war in diesem Verfah- reform). rensstadium hingegen noch nicht erforderlich. • Im Urteil vom 31. August 2016 24 behandelte das 40 In seinem Urteil vom 16. August 1996 hielt das Bun- Bundesverwaltungsgericht einen Fall, in welchem desgericht explizit fest, dass keine Steuerumgehung die zypriotische Aktionärin der Zielgesellschaft resp. kein Missbrauch vorlag. Da das effektive Ele- durch deren im Ausland ansässigen wirtschaft- ment (Steuerersparnis) sowie das subjektive Element lich Berechtigten X. veräussert worden war, wobei (Absicht) gemäss gerichtlichen Feststellungen gege- die besagte zypriotische Aktionärin die Aktien ben waren, kann nur gefolgert werden, dass das Bun- der Zielgesellschaft kurz danach zum Nominal- desgericht in der vorangegangenen Gewinnthesau- wert an eine andere, estnische Gesellschaft von rierung und nachfolgenden Beteiligungsübertragung X. verkaufte. Als die Zielgesellschaft in Bezug auf allein kein absonderliches Verhalten erblickte. Dividenden an die neue estnische Aktionärin das Meldeverfahren beantragte, erwog das Bundes- 41 Zum selben Schluss führt ein Blick in die Rechtspre- chung des Bundesverwaltungsgerichts in mehreren 19 Siehe oben Abschnitt 4.3.1 mit Hinweis auf das Urteil Fällen: des Bundesgerichts 2C_354/2018 vom 20. April 2020 • Das Urteil vom 23. März 2010 20 betraf eine E. 4.2.1. 20 Haltestruktur, welche auf zwei unmittelbar aufei- Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-2744/2008 nanderfolgende Veräusserungen zurückzuführen vom 23. März 2010. 21 war und in welchen eine Steuerumgehung resp. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht dies ein Abkommensmissbrauch letztlich bejaht wurde. nicht explizit thematisiert, handelt es sich aus Sicht In beiden Veräusserungsgeschäften hatte sich der Autoren dabei eher um einen Anwendungsfall die Käuferschaft jeweils verpflichtet, die Zielge- der stellvertretenden Liquidation und weniger um sellschaft in einen liquiden Zustand zu versetzen. einen klassischen Altreservenfall. 22 Sodann hatte die Zielgesellschaft der neuen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5673/2015 Muttergesellschaft kurz nach deren Erwerb ein vom 18. Mai 2016. 23 Darlehen gewährt, welches rund 70 % der Aktiven Urteil des Bundesgerichts 2C_597/2016 der Zielgesellschaft ausmachte. 21 vom 10. August 2017. 24 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5692/2015 vom 31. August 2016. s. 73 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen verwaltungsgericht wiederum, dass zumindest Fraglich erscheint, ob rein aufgrund eines längeren 44 Indizien für eine Steuerumgehung resp. einen Zuwartens mit der Ausschüttung von nicht (unmit- Abkommensmissbrauch bestünden. telbar) betriebsnotwendigen Liquiditätsreserven auf • In einem neueren Urteil vom 1. Dezember 2020 25 eine Steuerumgehungsabsicht geschlossen werden wurde das Vorliegen einer Steuerumgehung resp. darf. Dass ein längeres Zuwarten mit einer Ausschüt- eines Abkommensmissbrauchs trotz vorhande- tung von Liquiditätsreserven durchaus auch wirt- ner Altreserven verneint. Dabei ging es um eine schaftlich gerechtfertigt sein kann, zeigen neben den Gesellschaft, welche eine schweizerische Käufer- voranstehend aufgezeigten Gründen nicht zuletzt die gesellschaft von einem nicht abkommensberech- staatlich verbürgten COVID-Kredite, deren Einfüh- tigten ausländischen Aktionär erworben hatte. rung pandemiebedingt notwendig wurde. Die ESTV Der Kauf wurde fremdfinanziert. Fünf Jahre später scheint in ihrer Praxis (im Rahmen der Prüfung des schüttete die Zielgesellschaft eine Dividende aus, Vorhandenseins von Altreserven) zwar die Berechti- wobei die ESTV die Verrechnungssteuerentlas- gung von Liquiditätsreserven für zukünftige Ausga- tung verweigerte. Das Bundesverwaltungsgericht ben zwar durchaus anzuerkennen. Dem Vernehmen hiess die hiergegen gerichtete Beschwerde gut nach verlangt sie hierfür allerdings die Vorlage kon- und bejahte die Rückerstattungsberechtigung. kreter Planungsdokumentationen. 29 Angesichts der So erkannte es einerseits, dass der Erwerb der verfassungsrechtlich garantierten Wirtschaftsfreiheit schweizerischen Gesellschaft in das Expansions- und nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass modell der neuen Aktionärin passte. Sodann die ESTV für die Annahme einer Steuerumgehung sei eine lange Zeitspanne zwischen Erwerb und resp. eines Missbrauchs beweisbelastet ist, erscheint Dividendenausschüttung vergangen. Schliess- dieser Ansatz jedoch problematisch. lich habe die ESTV auch nicht aufzeigen können, inwiefern die Fremdfinanzierung vorliegend unge- 25 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-1795/2017 wöhnlich sei oder inwiefern bei der (vorliegend vom 1. Dezember 2020. Die ESTV hat gegen unabhängigen Dritt-) Erwerberin eine Absicht der das Urteil Beschwerde beim Bundesgericht erhoben, Steuerersparnis vorliege. 26 dessen Entscheid bei Redaktionsschluss noch ausstand. 42 Zusammengefasst zeigt die Rechtsprechung, dass die 26 Siehe zum Ganzen auch Selina Many, Steuerrecht, Gewinnthesaurierung für sich betrachtet noch kein in: Joachim G. Frick (Hrsg.), Wirtschaftsrecht 2021, absonderliches Verhalten darstellt. Vielmehr gab es Trends & Entwicklungen, Zürich 2021 stets hinzutretende Elemente, welche in ausserge- (in Drucklegung), Ziff. II.2.3 (zit.: Selina Many, wöhnlichen Fällen den Ausschlag zur Annahme eines Steuerrecht). absonderlichen Vorgehens gaben. 27 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 vom 20. April 2020 E. 4.2.1. m.w.H. 4.3.5 Absicht der Steuerersparnis 28 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 (subjektives Element) vom 20. April 2020 E. 4.3.3. mit Verweis auf BGE 110 43 Das subjektive Element erweist sich insofern als Ib 287 E. 5a. entscheidend, als die Annahme einer Steuerumge- 29 Stefan Oesterhelt/Oliver Oppliger, Aktuelle hung ausgeschlossen bleibt, wenn andere als blosse Entwicklungen im Bereich Rückerstattung der Steuerersparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine Verrechnungssteuer, IFF Seminar vom 23./24. relevante Rolle spielen. 27 Ob jemandem eine entspre- November 2020, Folie 34; Oesterhelt/Fellay, chende Absicht vorzuwerfen ist, muss naturgemäss Anciennes réserves, S. 502. anhand objektiver Gegebenheiten (Indizien) ermittelt werden. 28 s. 74 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen 45 Sodann ist nach Auffassung der Autoren stets zu Altreserven nicht nur im Umfang der Satzverbesse- prüfen, wer wirtschaftlich betrachtet von der einge- rung sondern vollständig zu verweigern ist. Die Trag- sparten Verrechnungssteuerbelastung profitieren weite dieses Urteils erstreckt sich aber (zumindest würde. Nur bei einer solchen Partei kann normaler- bisher) lediglich auf Fälle unter dem AIA-A EU. In Be- weise überhaupt von einer Absicht der Steuererspar- zug auf DBA-Sachverhalte bleibt die Entlastungsver- nis gesprochen werden. Insbesondere in Zusammen- weigerung durch die ESTV auf die tatsächliche Satz- hang mit Dritttransaktionen dürfte daher die von der verbesserung beschränkt. 35 Dasselbe dürfte auch auf ESTV sehr extensiv angewandte Altreservenpraxis in internrechtliche Konstellationen (Art. 21 Abs. 2 VStG) der Regel nicht greifen, sofern nicht zusätzliche ein- zutreffen. deutige Indizien dafür sprechen, dass die erwerbende Partei gerade auch zu Steuerersparniszwecken der veräussernden Partei an einer absonderlichen Gestal- 5. Schlussfolgerungen für den Praxisfall tung teilgenommen hat. Dass zum Beteiligungserwerb allenfalls auch eine (externe) Fremdfinanzierung ein- Wie bereits in Abschnitt 3 vorstehend ausgeführt, 48 geholt werden muss, ist in dieser Konstellation für dürfte es bei Immigrationen mangels steuerlicher Er- sich genommen nicht ausreichend, wie das Bundes- fassung der importierten Reserven von Vornherein verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. Dezember keine Altreservenfälle geben. 2020 festgehalten hat. 30 Für den unabhängigen Dritt- erwerber bietet sich nämlich weder individuell noch 30 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-1795/2017 innerhalb des Konzerns ein steuerlicher Vorteil durch vom 1. Dezember 2020. ein solches Vorgehen. Es ist insofern nicht ersichtlich, 31 Vgl. Selina Many, Steuerrecht, Ziff. II.2.3. wieso ein aussenstehender Dritterwerber letztlich im 32 Bei Altreservenfällen, in welchen es nicht um eine Verhältnis zur ESTV eine Verrechnungssteuerbelas- Verbesserung von 35 % auf 0 % geht, besteht teils tung tragen soll, die er weder verursacht noch selbst auch die Möglichkeit der Abrechnung über zu vermeiden beabsichtigt hat. 31 eine Art «fast track». Geht es beispielsweise um eine Verbesserung von einem Residualsatz von 5 % 4.4 Folge der Altreservenpraxis auf 0 % bei bestehenden Altreserven von CHF 100, 46 Sofern tatsächlich eine Steuerumgehung resp. ein so ist unter Umständen auch eine Abrechnung Abkommensmissbrauch aufgrund vorhandener Alt- nach dem folgenden Schema möglich: Die reserven vorliegt, verweigert die ESTV traditionell so betreffende Schweizer Gesellschaft beschliesst eine lange die Verrechnungssteuerrückerstattung im Um- Dividendenausschüttung von CHF 14.30, wobei die fang der Satzverbesserung, bis die bestehenden Alt- Verrechnungssteuer in voller Höhe von 35% reserven ausgeschüttet sind. 32 Danach gewährt sie (d.h. CHF 5) abgeführt und deren Rückerstattung die angestrebte Rückerstattung, sofern die üblichen gänzlich verweigert wird. Voraussetzungen erfüllt sind. 33 Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der 47 In Bezug auf Entlastungsanträge basierend auf Art. 9 Europäischen Union über den automatischen des Abkommens über den automatischen Informa- Informationsaustausch über Finanzkonten zur tionsaustausch über Finanzkonten zur Förderung der Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten Sachverhalten, SR 0.641.926.81; bis Ende 2016 mit der EU (AIA-A EU) 33 hat das Bundesgericht in Art. 15 des Zinsbesteuerungsabkommens mit der seinem Urteil vom 20. April 2020 34 in Anlehnung an EU (ZBStA). die Rechtsprechung des EuGH allerdings entschieden, 34 Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018 dass diesbezüglich die Entlastung auf bestehenden vom 20. April 2020. 35 Oesterhelt/Fellay, Anciennes réserves, S. 509 f. s. 75 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021 ISTR, Unternehmen 49 Doch selbst wenn man der hier vertretenen steuer- systematischen Auslegeordnung nicht folgen wollte, 36 Dasselbe müsste schliesslich in vergleichbaren darf der Sinn und Zweck von Missbrauchsvorbehalten Konstellationen auch für Reserven gelten, die kurz- jeglicher Art nicht aus den Augen verloren werden: Sie fristig in der Schweiz neu geschaffen wurden. stellen lediglich einen «last resort» dar, um den ein- Es kann keinem Unternehmen ein absonderliches, deutig nicht vom Gesetzgeber beabsichtigten Entzug steuerlich motiviertes Vorgehen vorgeworfen werden, von Steuersubstrat zu verhindern. Die Rechtspre- bloss weil es in einer Übergangsphase erfolgreich chung zeigt eindrücklich, dass eine Steuerumgehung wirtschaftet, bevor es seinen Umstrukturierungsplan resp. ein Rechtsmissbrauch in Zusammenhang mit vollenden kann. Altreserven nur in Ausnahmesituationen angenom- men werden darf. Entsprechend geht die Ausweitung der Steuerumgehungsdoktrin auf importierte Reser- ven entschieden zu weit. 50 Dies gilt umso mehr für Fälle wie den Vorliegenden, bei dem der Sitz der Gesellschaft im Rahmen einer grösseren Umstrukturierung in die Schweiz verlegt wurde. Ziel dieser war, die europäischen Gesellschaf- ten unter eine in den Niederlanden ansässige Zwi- schenholding zu bringen. Dass zunächst überhaupt eine (finale) latente Verrechnungssteuerbelastung geschaffen wurde, indem zuerst eine Sitzverlegung in die Schweiz beschlossen wurde, war eher zufällig bzw. transaktional bedingt. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern bewusst (d.h. absichtlich) zuerst Gewinne thesauriert und sodann der schweizerischen Verrechnungssteuer in missbräuchlicher Weise entzogen worden wären. 36 Sodann kam hier auch kein weiteres Element hinzu, welches auf eine Steuerumgehung hindeuten könnte, wie etwa eine kurzfristige Ausschüttung oder eine un- gewöhnliche Fremdfinanzierung der Transaktion. Eine Verweigerung der vollständigen Verrechnungssteuer- entlastung wäre damit ausgeschlossen. s. 76 Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
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