Sitzverlegung in die Schweiz - Ein Fall für die Altreservenpraxis? - Zentrum für ...

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Sitzverlegung in die Schweiz - Ein Fall für die Altreservenpraxis? - Zentrum für ...
ISTR, Unternehmen                                                       → Tobias Felix Rohner,  Selina Many

        Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall
        für die Altreservenpraxis?

Band 2/ 2021 | Artikel 9
        Zitiervorschlag: Tobias Felix Rohner, Selina Many, Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?,
s. 64   in zsis) 2/2021, A9, N [...] (abrufbar unter: publ.zsis.ch/A9-2021)
24.06.2021                                                                         ISTR, Unternehmen

QUICK READ Der Aufsatz geht der Frage nach, ob die beim Zuzug
vom Ausland in die Schweiz bestehenden Reserven als «Altreserven» gel-
ten können, in Bezug auf welche die Verrechnungssteuerentlastung nach
einer späteren Umstrukturierung ganz oder teilweise verweigert werden
kann. Während die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) dies bei
Gewinnreserven zu bejahen scheint, stehen die Autoren diesem Ansatz           Tobias Felix ROHNER
kritisch gegenüber.                                                           Dr. iur, Rechtsanwalt, dipl. Steuerexperte
                                                                              Partner | Baker McKenzie Zürich
                                                                              tobias.rohner@bakermckenzie.com
Dabei ist einerseits zu hinterfragen, ob vor Zuzug geschaffene Gewinn-
reserven aus steuersystematischen Gründen nicht von Vornherein
als verrechnungssteuerfrei rückzahlbare Kapitaleinlagereserven gelten
müssten. Doch selbst wenn dem nicht so wäre, zeigt die bisherige Rechts-
prechung zu Altreservenfällen, dass die Verrechnungssteuerentlastung
nur in Ausnahmefällen verweigert werden darf; dann nämlich, wenn nebst
einer vorangegangenen Gewinnthesaurierung zusätzliche Elemente hin-
zutreten. Die Autoren kommen daher zum Schluss, dass die Anwen-               Selina MANY
                                                                              Rechtsanwältin, dipl. Steuerexpertin
dung der Altreservenpraxis durch die Verwaltung deutlich zu weit              Associate | Baker McKenzie Zürich
geht und namentlich in Bezug auf importierte Reserven in der Regel            selina.many@bakermckenzie.com
keine Anwendung finden dürfte.

s. 65    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                      ISTR, Unternehmen

QUICK READ                                                       65      1. Einleitung

                                                                         Die Altreservenproblematik ist heutzutage von der             1
HAUPTTEIL                                                        66      täglichen Steuerberatungspraxis in der Schweiz kaum
                                                                         mehr wegzudenken. Über zahlreichen Umstrukturie-
1. Einleitung                                                    66      rungen, aber auch Verkäufen unter unabhängigen
                                                                         Dritten, hängt stets das Damoklesschwert einer zu-
2. Ein Praxisfall                                                66      mindest teilweise verweigerten Verrechnungssteuer-
                                                                         rückerstattung. Obwohl ursprünglich im Missbrauchs-
3. Steuersystematische Einordnung                                68      gedanken begründet, ist ein Trend hin zu einem
von importierten Reserven                                                eigentlichen positivrechtlichen Altreserventatbe-
                                                                         stand (wie auch anderer Missbrauchstatbestände 01 )
4. Übersicht über die Altreservenproblematik                     68      zu beobachten. Die entsprechende Problematik soll
                                                                         im vorliegenden Beitrag anhand einer Sitzverlegung
5. Schlussfolgerungen für den Praxisfall                         75      eines ausländischen Unternehmens in die Schweiz
                                                                         untersucht werden. Auch hier ging die Eidgenössische
                                                                         Steuerverwaltung (ESTV) zunächst davon aus, dass
                                                                         die in die Schweiz gebrachten «Altreserven» unein-
                                                                         geschränkt der schweizerischen Missbrauchspraxis
                                                                         unterlägen

                                                                         2. Ein Praxisfall

                                                                         2.1 Sachverhalt
                                                                             Die A-Gruppe hat ihren Konzernhauptsitz in den            2
                                                                         USA. Geplant war, sämtliche europäischen Gesell-
                                                                         schaften in die niederländische Sub-Holding C Hold-
                                                                         Co einzubringen und in einem zweiten Schritt den Sitz
                                                                         der spanischen Holdinggesellschaft D HoldCo in die
                                                                         Schweiz zu verlegen. Aufgrund zeitlicher Verzögerun-
                                                                         gen bei der Umsetzung der Transaktion wurden die
                                                                         Schritte aber umgestellt: Zuerst verlegte die D Hold-
                                                                         Co ihren Sitz von Spanien in die Schweiz. Rund ein
                                                                         Jahr später wurde sie in die C HoldCo eingebracht.
                                                                         [ → Grafik RZ 3]

                                                                         01
                                                                               Hierzu gehören insbesondere die stellvertretende
                                                                               Liquidation sowie die klassische und die erwei-
                                                                               terte internationale Transponierung, deren Einbezug
                                                                               den Umfang des vorliegenden Beitrags sprengen
                                                                               würde. Diesbezüglich sei auf die entsprechende
                                                                               Literatur verwiesen, namentlich: Stefan Oesterhelt,
                                                                               Altreservenpraxis, Internationale Transponierung
                                                                               und stellvertretende Liquidation, FStR 2017
                                                                               (zit.: Oesterhelt, Altreserven), S. 99 ff.; derselbe,
                                                                               Erweiterte internationale Transponierung, FStR
                                                                               2020, S. 40 ff.

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→3               Ausgangslage                               Schritt 1: Sitzverlegung                       Schritt 2: Sacheinlage

                          A                                               A                                  A
                        TopCo                                           TopCo                              TopCo
                         USA                                             USA                                USA

                                                        Sitzverlegung                                                    Sacheinlage
             D HoldCo           C HoldCo                                            C HoldCo             C HoldCo
                                                           D HoldCo
                ES                 NL                                                  NL                   NL
                                                            ES CH

              OpCos               OpCos                      OpCos                   OpCos                 OpCos           D HoldCo
              EMEA                APAC                       EMEA                    APAC                  APAC               CH

                                                                                                                            OpCos
                                                                                                                            EMEA

 4   Unmittelbar vor dem Zuzug in die Schweiz präsentierte sich das Bilanzbild der D HoldCo wie folgt: 02

→5    Umlaufvermögen (nicht betriebsnotwendig)                    400           Fremdkapital                                          200
      Umlaufvermögen (betriebsnotwendig)                          100           Aktienkapital                                         300
      Anlagevermögen (betriebsnotwendig)                          500           Kapitaleinlagereserven                                200
                                                                                Übrige Kapitalreserven                                300
                                                                                Gewinn-/Verlustvortrag                                  0
      Total                                                     1000            Total                                               1000

 6   Ihr erstes Geschäftsjahr nach ihrem Zuzug in die                         lage der Aktien der D HoldCo in die C HoldCo seien
     Schweiz schloss die D HoldCo mit einer schwarzen                         die Dividendenausschüttungen gemäss Art. 10 Abs. 3
     Null ab. Das Bilanzbild bei Einbringung in die C Hold-                   lit. a des Doppelbesteuerungsabkommens Schweiz-
     Co gestaltete sich demnach weiterhin unverändert. 03                     Niederlande (DBA-NL) hingegen vollständig von der
                                                                              Quellensteuer befreit, weshalb die vollständige Ver-
     2.2 Auffassung der ESTV                                                  rechnungssteuerentlastung für die bei Einbringung
 7       Im Hinblick auf eine geplante Dividendenaus-                         bereits bestehenden Reserven nicht gewährt werden
     schüttung einige Jahre nach der Sitzverlegung stellte                    könne. Dem Argument, dass die Reserven der D Hold-
     die D HoldCo bei der ESTV einen Antrag auf Meldung                       Co grossmehrheitlich im Ausland geäufnet wurden,
     statt Entrichtung der Verrechnungssteuer. Die ESTV                       schenkte die ESTV vorerst kein Gehör. Erst als der
     zweifelte nicht an der Abkommensberechtigung der                         Nachweis erbracht wurde, dass die im Ausland ent-
     C HoldCo, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass                     standenen Reserven durch Kapitaleinlagen entstan-
     ein Abkommensmissbrauch (Altreservenfall) vorläge.                       den und diese als solche auch in der Schweiz anzu-
     Unmittelbar nach der Sitzverlegung der D HoldCo in                       erkennen seien, konnte das Problem der Altreserven
     die Schweiz sei Art. 10 Abs. 2 lit. a des Doppelbesteue-                 massiv entschärft werden.
     rungsabkommens Schweiz-USA (DBA-USA) anwend-
     bar gewesen. Diese Bestimmung sehe bei qualifizier-                      02
                                                                                     Die Aktiven werden vorliegend konsolidiert dargestellt.
     ten Beteiligungen für Dividendenausschüttungen                           03
                                                                                     Vereinfachende Annahme (sowohl aktiv- als
     eine Sockelsteuerbelastung von 5 % vor. Nach der Ein-                           auch passivseitig) für die Zwecke des vorliegenden
                                                                                     Beitrags.

     s. 67     Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

8    Soweit aber die ausländischen Reserven durch Ge-                        Liquidation behandelt wird, muss der Zuzug ins Inland
     winnrückbehalte entstanden sind, bleibt gemäss Pra-                     als eine Neugründung behandelt werden, sodass die
     xis der ESTV das Altreservenproblem. Die ESTV stellt                    gesamten (oder zumindest die handelsrechtlich offen
     sich mithin auf den Standpunkt, dass sich die Altreser-                 ausgewiesenen) Reserven per se Einlagen der Aktio-
     venproblematik unabhängig davon stellt, ob die Re-                      näre darstellen und bei Ausschüttung entsprechend
     serven im In- oder Ausland sind. Lediglich dann, wenn                   von der Verrechnungssteuer ausgenommen sind. 06
     die im Aus- oder im Inland entstandenen Reserven als                    Dass der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 bis VStG hier an
     Kapitaleinlagereserven (KER) gelten, komme die Alt-                     die separate Verbuchung von KER spezifisch in der
     reservenpraxis nicht zur Anwendung, da KER nicht                        Handelsbilanz anknüpft, spricht nach Auffassung der
     der Verrechnungssteuer unterliegen würden. Diese                        Autoren nicht gegen diesen Ansatz, da der Wortlaut
     Ansicht soll in der Folge kritisch beurteilt werden.                    einer Norm dort zurückzutreten hat, wo er wie hier
                                                                             ein systematisch nicht haltbares Ergebnis bewirkt.
                                                                             Mag das Anknüpfen an die Handelsbilanz im reinen
     3. Steuersystematische Einordnung                                       Binnensachverhalt sachgerecht sein, ist dies in einem
     von importierten Reserven                                               Zuzugsfall, welchen der Gesetzgeber bei Verabschie-
                                                                             dung der Bestimmung kaum in dieser Form im Blick-
9    Die Praxis der ESTV differenziert, ob die im Ausland                    feld gehabt haben dürfte, unter Umständen da nicht
     gebildeten Reserven Gewinnreserven oder KER dar-                        sachgerecht, wo das Handelsrecht eine Verbuchung
     stellen. 04 Dies hat zur Folge, dass auch die Rückzah-                  als KER nicht zulassen sollte. In diesem Fall muss die
     lung von importierten KER nicht von der Verrech-                        Erstellung einer speziellen Steuerbilanz auch für Ver-
     nungssteuer erfasst ist. 05 Umgekehrt unterliegen                       rechnungssteuerzwecke erlaubt sein.
     die importierten Gewinnreserven aber neu latent der
     Verrechnungssteuer. Grundlage hierfür ist die Be-                       Vor diesem Hintergrund dürfte sich die Altreserven-         12
     stimmung von Art. 4 Abs. 1 Verrechnungssteuergesetz                     frage für importierte Reserven von Vornherein nicht
     (VStG), die nicht danach unterscheidet, ob die Ge-                      stellen. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, dürfte die
     winnreserven vor oder nach dem Zuzug entstanden                         Anwendung der Altreservenpraxis in Fällen wie dem
     sind.                                                                   Vorliegenden aber auch anhand ihrer eigenen Voraus-
                                                                             setzungen scheitern.
10   Dies ist bereits insofern problematisch, als das
     Steuerrecht eines Wegzugsstaats die Sitzverlegung
     regelmässig einer Liquidation gleichstellt (Liquida-                    4. Übersicht über die Altreservenproblematik
     tionsfiktion) und somit die (offenen und verdeckten)
     Gewinnreserven besteuert werden. Eine solche Rege-                      4.1 Verbesserung der Rückerstattungsposition
     lung enthält auch die Schweiz in Art. 4 Abs. 2 VStG. So                     Ausgangspunkt der Altreservenproblematik ist            13
     wird die Verlegung des Sitzes einer schweizerischen                     stets eine Veränderung resp. Verbesserung im Um-
     Aktiengesellschaft, GmbH oder Genossenschaft ins                        fang der Rückerstattungsberechtigung (sog. Regime-
     Ausland steuerlich der Liquidation der Gesellschaft                     wechsel).
     gleichgestellt.
                                                                             04
                                                                                   Kreisschreiben der Eidg. Steuerverwaltung
11   Diese Doppelbesteuerungsproblematik könnte unter                              (ESTV) Nr. 29b vom 23. Dezember 2019 betreffend
     Umständen bereits durch eine systematische Ausle-                             Kapitaleinlageprinzip, Ziff. 8.
     gung der unilateralen Regelungen vermieden werden.                      05
                                                                                   Art. 5 Abs. 1 bis VStG.
     Zieht man eine Analogie zur steuerlichen Behandlung                     06
                                                                                   Markus Weidmann, Immigration von Kapitalge-
     der Sitzverlegung ins Ausland, die steuerrechtlich als                        sellschaften in die Schweiz, FStR 2010, S. 20;
                                                                                   Jürg Altorfer/Jürg B. Altorfer, Das Kapitaleinlage-
                                                                                   prinzip, Ein Systemwechsel mit weitreichenden
                                                                                   Folgen (2. Teil), ST 2009, S. 317.

     s. 68    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

→ 16                Ausgangslage                                      Übertragung                                 Zielstruktur

                          M Inc.                                           M Inc.                                     M Inc.
                          USA                                              USA                                        USA

                                                                        Übertragung

                T AG                   C BV                   T AG                       C BV                         C BV
                 CH                     NL                     CH                         NL                           NL

                                                                                                                      T AG
                                                                                                                       CH

  14   Traditioneller Anwendungsfall der Altreservenpraxis                       4.2 Nichtbetriebsnotwenige, handelsrechtlich
       ist die Konstellation, in welcher eine Beteiligung kon-                   ausschüttbare Mittel
       zernintern von einer nicht oder nur beschränkt rück-                          Die Altreservenpraxis greift allerdings nur, sofern   17
       erstattungsberechtigten Gruppengesellschaft auf                           und soweit die übertragene Beteiligung zum Übertra-
       eine Gruppengesellschaft mit einer besseren Rück-                         gungszeitpunkt resp. gemäss letztem handelsrecht-
       erstattungsposition übertragen wird. 07                                   lichem Jahresabschluss über ausschüttungsfähige
                                                                                 Reserven verfügt, welchen eindeutig nicht betriebs-
  15   Beispiel: Die DBA-berechtigte M Inc. mit Sitz in den                      notwendige resp. liquide Mittel gegenüberstehen.
       USA überträgt ihre Schweizer Tochtergesellschaft T
       AG auf ihre niederländische Tochtergesellschaft C BV.                     Die ausschüttungsfähigen Reserven müssen dabei la-        18
       Art. 10 Abs. 2 lit. a DBA-USA erlaubt in Bezug auf Di-                    tent verrechnungssteuerbelastet sein. Nicht darunter
       videndenausschüttungen eine verbleibende Sockel-                          fallen somit KER.
       steuerbelastung im Quellenstaat in Höhe von 5 %.
       Demgegenüber sieht Art. 10 Abs. 3 lit. a DBA-NL eine                      Im Beispiel der T AG gestaltet sich das Bilanzbild ge-    19
       vollständige Quellensteuerentlastung vor. Somit liegt                     mäss letztem statutarischem Abschluss wie folgt:
       eine Verbesserung der Rückerstattungsposition vor.
       [ ↑ Grafik RZ 16]                                                         Somit könnten bei der T AG 400 potenziell als Altre-      20
                                                                                 serven qualifizieren. 08 [ ↓ Grafik RZ 21]

        Umlaufvermögen (nicht betriebsnotwendig)                     400            Fremdkapital                                  200      21 ←
        Umlaufvermögen (betriebsnotwendig)                           100            Aktienkapital                                 200
        Anlagevermögen (betriebsnotwendig)                           500            Kapitaleinlagereserven                        100
                                                                                    Gewinn-/Verlustvortrag                        500

        Total                                                      1000             Total                                        1000

                                                                                 07
                                                                                       Fussnote 07 befindet sich auf Seite 70
                                                                                 08
                                                                                       Fussnote 08 befindet sich auf Seite 70

       s. 69      Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

22   Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass eine Ge-                       Situationen in Frage, wenn eine Rechtsgestaltung vor-
     sellschaft nicht betriebsnotwendige, handelsrecht-                      liegt, die – abgesehen von den steuerlichen Aspekten
     lich ausschüttbare Mittel auszahlen könnte und sollte                   – jenseits des wirtschaftlich Vernünftigen liegt. Mithin
     und ein davon abweichendes Verhalten nur dadurch                        bleibt die Annahme einer Steuerumgehung ausge-
     erklärt werden kann, dass die Aktionärinnen (resp.                      schlossen, wenn andere Gründe als blosse Steuerer-
     deren Mehrheit 09 ) die Verrechnungssteuerbelastung                     sparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine relevan-
     vermeiden (umgehen) möchten.                                            te Rolle spielen. 12

     4.3 Steuerumgehungsvorbehalt                                            07
                                                                                   Die ESTV wendet die Altreservenpraxis allerdings
     als Grundlage der Altreservenpraxis                                           auch auf Übertragungen unter unabhängigen Dritten
     4.3.1 Allgemeine Grundlagen                                                   an, so namentlich im Urteil des Bundesverwaltungs-
23       Bei der Altreservenpraxis handelt es sich nicht                           gericht A-1795/2017 vom 1. Dezember 2020 beurteilten
     um einen gesetzlich normierten Tatbestand. Vielmehr                           Fall; vgl. auch Praxisfestlegung der ESTV vom
     gründet er auf dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs                            12. März 2008, in: Peter Agner/Maja Bauer-Balmelli/
     resp. der Steuerumgehung. Für die Rückerstattungs-                            Hans-Peter Hochreutener/Markus Küpfer/Kurt Locher/
     berechtigung in unilateralen Sachverhalten ist er in                          Peter Locher/Marco E. Vitali/Roland Weidmann
     Form des Steuerumgehungsvorbehalts in Art. 21 Abs. 2                          (Hrsg.), Die Praxis der Bundessteuern, Art. 21 Abs. 2
     VStG explizit erwähnt. Weniger klar und entsprechend                          VStG, Nr. 32.
     umstritten ist die Rechtsgrundlage im internationalen                   08
                                                                                   Passivseitig wird in der Regel auf den letzten
     Verhältnis. Aus praktischer Sicht ist die rechtliche                          handelsrechtlichen Jahresabschluss abgestellt,
     Grundlage des Steuerumgehungsvorbehalts bei der                               aktivseitig hingegen regelmässig auf den Zeitpunkt
     Prüfung der Rückerstattungsberechtigung allerdings                            der Übertragung: siehe Oesterhelt, Altreserven, S. 109.
     in der Regel nicht von entscheidender Bedeutung, da                           Für die Zwecke dieses Beispiels wird davon ausge-
     gemäss Rechtsprechung die Merkmale einer Steuer-                              gangen, dass aktivseitig seit dem letzten Abschluss
     umgehung im internationalen Verhältnis grundsätz-                             keine Veränderungen eingetreten sind.
     lich dieselben sind. 10                                                 09
                                                                                   Sofern nur Minderheitsbeteiligte nicht vollständig
                                                                                   rückerstattungsberechtigt sind, sieht die ESTV
24   Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird                              nach Erfahrung der Autoren von der Anwendung
     eine Steuerumgehung bejaht, «wenn (a) eine von                                der Altreservenpraxis ab. Da diese die
     den Beteiligten gewählte Rechtsgestaltung als un-                             Ausschüttungspolitik der Gesellschaft nicht zu
     gewöhnlich («insolite»), sachwidrig oder absonderlich,                        beeinflussen vermögen, kann ihnen auch kein miss-
     jedenfalls den wirtschaftlichen Gegebenheiten völlig                          bräuchliches Verhalten zum Vorwurf gemacht
     unangemessen erscheint (objektives Element), wenn                             werden.
     zudem (b) anzunehmen ist, dass die gewählte Rechts-                     10
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     gestaltung missbräuchlich lediglich deshalb getroffen                         vom 20. April 2020 E. 4.2.1. m.w.H.; vgl. auch Stefan
     wurde, um Steuern einzusparen, die bei sachgemäs-                             Oesterhelt/Raphaël Fellay, La pratique des anciennes
     ser Ordnung der Verhältnisse geschuldet wären (Um-                            réserves de l’AFC, RDAF 2021 II, S. 482 ff.
     gehungsabsicht; subjektives Element), und wenn (c)                            (zit.: Oesterhelt/Fellay, Anciennes réserves). In der
     das gewählte Vorgehen tatsächlich zu einer erheb-                             dort zitierten Lehre wird hingegen oft eine
     lichen Steuerersparnis führen würde, sofern es von                            dogmatische und u.E. wichtige Abgrenzung zwischen
     der Steuerbehörde hingenommen würde (effektives                               Steuerumgehung und Rechts- resp. Abkommens-
     Element).» 11                                                                 missbrauch vorgenommen.
                                                                             11
                                                                                   Statt vieler Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
25   Das Vorliegen einer Steuerumgehung ist jeweils einzel-                        vom 20. April 2020 E. 4.2.
     fallbezogen zu prüfen. Gemäss Bundesgericht kommt                       12
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     eine Steuerumgehung nur in ganz ausserordentlichen                            vom 20. April 2020 E. 4.2.1.

     s. 70    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

     4.3.2 Besondere Grundlagen                                              Das Bundesgericht erwog, dass die Übertragung der            29
26       Neben dem generellen Missbrauchsvorbehalt, der                      Aktien der S. AG an die C. Co vorwiegend zum Zweck
     gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung jedem                         der Steuerermässigung erfolgt war, auch wenn nicht
     DBA immanent ist, ist im Einzelfall sodann jeweils zu                   allein steuerliche Motive ausschlaggebend waren. Eine
     prüfen, ob das in Frage stehende DBA eine eigene,                       Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf den be-
     speziellere und gegebenenfalls weitergehende Miss-                      reits bestehenden Reserven sei daher durch den Wort-
     brauchsregelung kennt. 13 Dies war etwa der Fall im                     laut der Abkommensbestimmung ausgeschlossen.
     aDBA-USA in der Fassung von 1951, welches beim ers-
     ten höchstrichterlich beurteilten Altreservenfall aus                   Hingegen verneinte das Bundesgericht explizit das            30
     dem Jahr 1996 einschlägig war. Dem Urteil 14 lag im                     Vorliegen einer Steuerumgehung oder eines Miss-
     Wesentlichen der folgende Sachverhalt zugrunde:                         brauchs mit der Begründung, ein absonderliches, dem
                                                                             wirtschaftlichen Sachverhalt nicht entsprechendes
27   Die schweizerische S. AG wurde von den in den USA                       Verhalten könne in der erfolgten Umstrukturierung
     ansässigen Gesellschaften W. Co und Q. Co gehalten,                     nicht erblickt werden.
     wobei die W. Co über 60 % und die Q. Co. über 40 %
     der Aktien hielten. W. Co und Q. Co waren vollständig                   Solche spezielleren Missbrauchsbestimmungen wer-             31
     im Besitz der in den USA ansässigen C. Co. Nachdem                      den inskünftig mit Einführung des Principal-Purpose-
     die S. AG ein Gesuch gegenüber der ESTV stellte, es                     Tests im Rahmen vieler neuverhandelten DBAs sowie
     sei auf Dividenden der S. AG der residuale Verrech-                     durch Umsetzung des BEPS-Übereinkommens häu-
     nungssteuersatz von 5% anzuwenden, da die S. AG zu                      figer anzutreffen sein, wobei sich deren tatsächliche
     100 % von der C. Co beherrscht werde und dieses Ge-                     Tragweite in der Praxis noch zeigen müssen wird. 15
     such abgelehnt wurde, wurden die Aktien der S. AG an
     die C. Co übertragen.                                                   4.3.3 Tatsächliche Steuerersparnis
                                                                             (effektives Element)
28   Art. VI Abs. 2 Satz 2 aDBA-USA (1951) lautete damals                        Auch wenn das effektive Element in der gebets-           32
     wie folgt:                                                              mühlenartig wiederholten bundesgerichtlichen Steu-
                                                                             erumgehungsformel stets am Schluss genannt wird,
         «Ist indessen der Aktionär eine Gesellschaft,                       stellt es eigentlich die «Einstiegsluke» für die Steuer-
         die unmittelbar oder mittelbar über min-                            umgehungs- resp. Missbrauchsprüfung dar.
         destens 95 Prozent der Stimmrechte in der
         dividendenzahlenden Gesellschaft verfügt,                           Im Zusammenhang mit der Altreservenproblematik               33
         und stammen nicht mehr als 25 Prozent des                           ist das effektive Element traditionell gegeben, wenn
         Bruttoeinkommens der dividendenzahlenden
         Gesellschaft von andern Zinsen und Divi-                            13
                                                                                   Vgl. auch Maja Bauer-Balmelli, Altreservenpraxis –
         denden als den von ihren eigenen Tochter-                                 ein rechtliches Argumentarium, Am Beispiel
         gesellschafen ausgerichteten, so soll der                                 des Doppelbesteuerungsabkommens mit Österreich,
         Steuersatz 5 Prozent nicht übersteigen. Die                               FStR 2014, S. 207.
         Herabsetzung des Steuersatzes auf 5  Pro-                           14
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts vom 16. August 1996, in:
         zent soll jedoch nicht Platz greifen, wenn                                ASA 66 (1997/98), S. 406 ff.
         die Verbindung der beiden Gesellschaften                            15
                                                                                   Die ESTV scheint ihre heutige Missbrauchspraxis
         in erster Linie in der Absicht hergestellt                                unter besagten Neuregelungen weitestgehend
         worden ist oder beibehalten wird, um sich                                 unverändert fortführen zu wollen; vgl. hierzu Stefan
         diesen Vorteil zu sichern.»                                               Oesterhelt/Oliver Oppliger, Aktuelle Entwicklungen
                                                                                   im Bereich Rückerstattung der Verrechnungssteuer,
                                                                                   IFF Seminar vom 19./20. November 2019, Folie 10 ff.

     s. 71    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                      ISTR, Unternehmen

     ein Regimewechsel, also eine Verbesserung der Rück-                     erkläre, weshalb sie sich stark verschuldete, um mit
     erstattungsposition, sowie das entsprechende latent                     diesem Fremdkapital letztlich die liquiden, latent ver-
     verrechnungssteuerbelastete Substrat vorliegt. Ohne                     rechnungssteuerbelasteten Mittel der F. zu kaufen. Es
     einen solchen günstigen Regimewechsel erübrigt sich                     wäre für alle Beteiligten wesentlich einfacher gewesen
     aus verrechnungssteuerlicher Sicht grundsätzlich die                    und hätte zum selben wirtschaftlichen Resultat ge-
     Altreservenprüfung.                                                     führt, wenn die F. diese Mittel stattdessen unmittelbar
                                                                             vor der Übertragung der Beteiligung an die bisherige
     4.3.4 Absonderliches resp. missbräuchliches                             Aktionärin ausgeschüttet hätte, die so an Stelle einer
     Verhalten (objektives Element)                                          Kaufpreiszahlung einen Liquiditätszugang in Form
34       Bislang wurden nicht mehr als eine Handvoll Alt-                    einer Dividende verzeichnet hätte. Vor diesem Hinter-
     reservefälle den Gerichten und insbesondere dem                         grund erscheine der gewählte Weg als absonderlich
     Bundesgericht zur Prüfung vorgelegt. Entsprechend                       und die Rechtsgestaltung als künstlich. 17
     schwierig gestaltet sich die klare Erfassung des als
     absonderlich resp. missbräuchlich einzustufenden                        In der Lehre wurde aus dem zitierten Urteil zuweilen      38
     Verhaltens, welches als objektives Element Voraus-                      der Schluss gezogen, dass das absonderliche resp.
     setzung einer jeden Steuerumgehung ist.                                 missbräuchliche Verhalten in der Thesaurierung der
                                                                             Gewinne zu erblicken ist. 18 Diese Leseart erscheint
35   Immerhin kann gesagt werden, dass die publizierten                      aber aus Sicht der Autoren etwas verkürzt. Zwar ist
     Fälle, bei welchen eine Steuerumgehung bejaht wur-                      die Gewinnthesaurierung durchaus ein gewichtiges
     de, stets mehr an sich hatten als bloss die Tatsache,                   Indiz. Als genauso entscheidend gewertet werden
     dass eine Verbesserung der Rückerstattungsposition                      muss aber, dass die Erwerberin erhebliche Fremd-
     erfolgte. Eine potenzielle Veränderung der Rücker-                      mittel aufnehmen musste, um die Folgen dieser Ge-
     stattungsberechtigung ist nämlich jedem Aktionärs-                      winnthesaurierung stemmen zu können, obwohl in
     wechsel inhärent. Hier ist eine klare Abgrenzung zur                    diesem Fall (anders als bei einer Dritttransaktion)
     Prüfung des «effektiven» Elements der Steuerumge-                       kaum davon ausgegangen werden konnte, dass die
     hung erforderlich.                                                      veräussernde Gesellschaft im Rahmen einer konzern-
                                                                             internen Umstrukturierung den Verkauf ansonsten
36   Gewisse Schlüsse lassen sich insbesondere aus einem                     absagen würde. Mithin musste ohne Not eine weite-
     neueren Urteil des Bundesgerichts vom 20. April 2020                    re Partei (nahestehende Darlehensgeberin) involviert
     ziehen. 16 Der Fall betraf die Rückerstattungsberech-                   werden, um die Transaktion verwirklichen zu können;
     tigung einer neuen Aktionärin (A.), welche ihre Be-                     dies geschah sodann innerhalb desselben Konzerns.
     teiligung an einer Schweizer Gesellschaft (F.) von
     einer verbundenen Gesellschaft erworben hatte. Die                      Dafür, dass die Gewinnthesaurierung für sich alleine      39
     F. verfügte zum Zeitpunkt der Übertragung über er-                      genommen noch nicht per se als absonderliches Ver-
     hebliche liquide Mittel und handelsrechtlich ausschüt-                  halten einzustufen ist, spricht auch, dass das Bundes-
     tungsfähige Reserven. Der Beteiligungserwerb wurde                      gericht im selben Urteil betont, dass das Vorliegen
     grossmehrheitlich durch ein Darlehen der Mutterge-
     sellschaft der A. fremdfinanziert. Als Grund für den                    16
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     Beteiligungserwerb führte die A. wirtschaftliche Mo-                          vom 20. April 2020.
     tive an, nämlich die Ansiedlung der Forschungs- und                     17
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     Entwicklungsfunktionen bei der A, in deren Bereich                            vom 20. April 2020 E. 4.4.4.
     auch die F. tätig war.                                                  18
                                                                                   Stefan Oesterhelt, Altreservenpraxis vor Bundes-
                                                                                   gericht, StR 75/2020, S. 912 f.; vgl. auch
37   Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das von                               Stefan Oesterhelt, Steuerfolgen von öffentlichen
     der A. geltend gemachte wirtschaftliche Ziel nicht                            Übernahmen, GesKR 1/2021, S. 98.

     s. 72    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

     einer Steuerumgehung immer anhand der konkreten                         • Im Urteil vom 18. Mai 2016 22 ging es um eine
     Umstände eines Einzelfalls zu beurteilen und nur in                       Zielgesellschaft, welche durch eine Käufergesell-
     Ausnahmesituationen anzunehmen ist. 19 So dürfte es                       schaft ohne eigene Liquidität erworben wurde.
     gerade bei im Rahmen privater Vermögensverwaltung                         Zur Finanzierung des Kaufs gewährte die die
     gehaltenen Gesellschaften relativ häufig vorgekom-                        Zielgesellschaft der Käufergesellschaft wenige
     men sein, dass grössere Liquiditätsreserven aufge-                        Tage vor der Transaktion ein (unbesichertes)
     baut wurden, da noch nicht klar war, ob und wie diese                     Darlehen, welches sich in vergleichbarer Höhe
     anderswo gerade besser hätten eingesetzt werden                           zum Kaufpreis bewegte. Das Urteil wurde durch
     können. Entsprechend wurde mit der «Verschiebung»                         das Bundesgericht bestätigt. 23 Zu beachten ist,
     resp. Repatriierung der Mittel lieber zugewartet, da                      dass die Altreservenfrage im beschriebenen Urteil
     diese auch mit administrativem Zusatzaufwand ver-                         nicht abschliessend zu beurteilen war: Streitig
     bunden gewesen wäre. Generell konnte die leicht-                          war lediglich die Gewährung des Meldeverfahrens,
     fertige Repatriierung liquider Mittel aus der Schweiz                     für dessen Verweigerung bereits Anhaltspunkte
     sodann auch im Ausland zu von den Verrechnungs-                           für eine Steuerumgehung resp. einen Abkom-
     steuerfragen unabhängigen, unerwünschten Steuer-                          mensmissbrauch ausreichen. Dies hat das Bundes-
     folgen führen (bspw. im Falle von US-amerikanische                        verwaltungsgericht bejaht. Ein eigentlicher Nach-
     Konzernstrukturen, insbesondere vor der US-Steuer-                        weis der Steuerumgehung war in diesem Verfah-
     reform).                                                                  rensstadium hingegen noch nicht erforderlich.
                                                                             • Im Urteil vom 31. August 2016 24 behandelte das
40   In seinem Urteil vom 16. August 1996 hielt das Bun-                       Bundesverwaltungsgericht einen Fall, in welchem
     desgericht explizit fest, dass keine Steuerumgehung                       die zypriotische Aktionärin der Zielgesellschaft
     resp. kein Missbrauch vorlag. Da das effektive Ele-                       durch deren im Ausland ansässigen wirtschaft-
     ment (Steuerersparnis) sowie das subjektive Element                       lich Berechtigten X. veräussert worden war, wobei
     (Absicht) gemäss gerichtlichen Feststellungen gege-                       die besagte zypriotische Aktionärin die Aktien
     ben waren, kann nur gefolgert werden, dass das Bun-                       der Zielgesellschaft kurz danach zum Nominal-
     desgericht in der vorangegangenen Gewinnthesau-                           wert an eine andere, estnische Gesellschaft von
     rierung und nachfolgenden Beteiligungsübertragung                         X. verkaufte. Als die Zielgesellschaft in Bezug auf
     allein kein absonderliches Verhalten erblickte.                           Dividenden an die neue estnische Aktionärin das
                                                                               Meldeverfahren beantragte, erwog das Bundes-
41   Zum selben Schluss führt ein Blick in die Rechtspre-
     chung des Bundesverwaltungsgerichts in mehreren                         19
                                                                                   Siehe oben Abschnitt 4.3.1 mit Hinweis auf das Urteil
     Fällen:                                                                       des Bundesgerichts 2C_354/2018 vom 20. April 2020
     • Das Urteil vom 23. März 2010 20 betraf eine                                 E. 4.2.1.
                                                                             20
         Haltestruktur, welche auf zwei unmittelbar aufei-                         Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-2744/2008
         nanderfolgende Veräusserungen zurückzuführen                              vom 23. März 2010.
                                                                             21
         war und in welchen eine Steuerumgehung resp.                              Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht dies
         ein Abkommensmissbrauch letztlich bejaht wurde.                           nicht explizit thematisiert, handelt es sich aus Sicht
         In beiden Veräusserungsgeschäften hatte sich                              der Autoren dabei eher um einen Anwendungsfall
         die Käuferschaft jeweils verpflichtet, die Zielge-                        der stellvertretenden Liquidation und weniger um
         sellschaft in einen liquiden Zustand zu versetzen.                        einen klassischen Altreservenfall.
                                                                             22
         Sodann hatte die Zielgesellschaft der neuen                               Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5673/2015
         Muttergesellschaft kurz nach deren Erwerb ein                             vom 18. Mai 2016.
                                                                             23
         Darlehen gewährt, welches rund 70 % der Aktiven                           Urteil des Bundesgerichts 2C_597/2016
         der Zielgesellschaft ausmachte. 21                                        vom 10. August 2017.
                                                                             24
                                                                                   Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5692/2015
                                                                                   vom 31. August 2016.

     s. 73    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                      ISTR, Unternehmen

       verwaltungsgericht wiederum, dass zumindest                           Fraglich erscheint, ob rein aufgrund eines längeren          44
       Indizien für eine Steuerumgehung resp. einen                          Zuwartens mit der Ausschüttung von nicht (unmit-
       Abkommensmissbrauch bestünden.                                        telbar) betriebsnotwendigen Liquiditätsreserven auf
     • In einem neueren Urteil vom 1. Dezember 2020 25                       eine Steuerumgehungsabsicht geschlossen werden
       wurde das Vorliegen einer Steuerumgehung resp.                        darf. Dass ein längeres Zuwarten mit einer Ausschüt-
       eines Abkommensmissbrauchs trotz vorhande-                            tung von Liquiditätsreserven durchaus auch wirt-
       ner Altreserven verneint. Dabei ging es um eine                       schaftlich gerechtfertigt sein kann, zeigen neben den
       Gesellschaft, welche eine schweizerische Käufer-                      voranstehend aufgezeigten Gründen nicht zuletzt die
       gesellschaft von einem nicht abkommensberech-                         staatlich verbürgten COVID-Kredite, deren Einfüh-
       tigten ausländischen Aktionär erworben hatte.                         rung pandemiebedingt notwendig wurde. Die ESTV
       Der Kauf wurde fremdfinanziert. Fünf Jahre später                     scheint in ihrer Praxis (im Rahmen der Prüfung des
       schüttete die Zielgesellschaft eine Dividende aus,                    Vorhandenseins von Altreserven) zwar die Berechti-
       wobei die ESTV die Verrechnungssteuerentlas-                          gung von Liquiditätsreserven für zukünftige Ausga-
       tung verweigerte. Das Bundesverwaltungsgericht                        ben zwar durchaus anzuerkennen. Dem Vernehmen
       hiess die hiergegen gerichtete Beschwerde gut                         nach verlangt sie hierfür allerdings die Vorlage kon-
       und bejahte die Rückerstattungsberechtigung.                          kreter Planungsdokumentationen. 29 Angesichts der
       So erkannte es einerseits, dass der Erwerb der                        verfassungsrechtlich garantierten Wirtschaftsfreiheit
       schweizerischen Gesellschaft in das Expansions-                       und nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass
       modell der neuen Aktionärin passte. Sodann                            die ESTV für die Annahme einer Steuerumgehung
       sei eine lange Zeitspanne zwischen Erwerb und                         resp. eines Missbrauchs beweisbelastet ist, erscheint
       Dividendenausschüttung vergangen. Schliess-                           dieser Ansatz jedoch problematisch.
       lich habe die ESTV auch nicht aufzeigen können,
       inwiefern die Fremdfinanzierung vorliegend unge-                      25
                                                                                   Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-1795/2017
       wöhnlich sei oder inwiefern bei der (vorliegend                             vom 1. Dezember 2020. Die ESTV hat gegen
       unabhängigen Dritt-) Erwerberin eine Absicht der                            das Urteil Beschwerde beim Bundesgericht erhoben,
       Steuerersparnis vorliege. 26                                                dessen Entscheid bei Redaktionsschluss noch
                                                                                   ausstand.
42   Zusammengefasst zeigt die Rechtsprechung, dass die                      26
                                                                                   Siehe zum Ganzen auch Selina Many, Steuerrecht,
     Gewinnthesaurierung für sich betrachtet noch kein                             in: Joachim G. Frick (Hrsg.), Wirtschaftsrecht 2021,
     absonderliches Verhalten darstellt. Vielmehr gab es                           Trends & Entwicklungen, Zürich 2021
     stets hinzutretende Elemente, welche in ausserge-                             (in Drucklegung), Ziff. II.2.3 (zit.: Selina Many,
     wöhnlichen Fällen den Ausschlag zur Annahme eines                             Steuerrecht).
     absonderlichen Vorgehens gaben.                                         27
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
                                                                                   vom 20. April 2020 E. 4.2.1. m.w.H.
     4.3.5 Absicht der Steuerersparnis                                       28
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     (subjektives Element)                                                         vom 20. April 2020 E. 4.3.3. mit Verweis auf BGE 110
43       Das subjektive Element erweist sich insofern als                          Ib 287 E. 5a.
     entscheidend, als die Annahme einer Steuerumge-                         29
                                                                                   Stefan Oesterhelt/Oliver Oppliger, Aktuelle
     hung ausgeschlossen bleibt, wenn andere als blosse                            Entwicklungen im Bereich Rückerstattung der
     Steuerersparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine                           Verrechnungssteuer, IFF Seminar vom 23./24.
     relevante Rolle spielen. 27 Ob jemandem eine entspre-                         November 2020, Folie 34; Oesterhelt/Fellay,
     chende Absicht vorzuwerfen ist, muss naturgemäss                              Anciennes réserves, S. 502.
     anhand objektiver Gegebenheiten (Indizien) ermittelt
     werden. 28

     s. 74    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                       ISTR, Unternehmen

45   Sodann ist nach Auffassung der Autoren stets zu                         Altreserven nicht nur im Umfang der Satzverbesse-
     prüfen, wer wirtschaftlich betrachtet von der einge-                    rung sondern vollständig zu verweigern ist. Die Trag-
     sparten Verrechnungssteuerbelastung profitieren                         weite dieses Urteils erstreckt sich aber (zumindest
     würde. Nur bei einer solchen Partei kann normaler-                      bisher) lediglich auf Fälle unter dem AIA-A EU. In Be-
     weise überhaupt von einer Absicht der Steuererspar-                     zug auf DBA-Sachverhalte bleibt die Entlastungsver-
     nis gesprochen werden. Insbesondere in Zusammen-                        weigerung durch die ESTV auf die tatsächliche Satz-
     hang mit Dritttransaktionen dürfte daher die von der                    verbesserung beschränkt. 35 Dasselbe dürfte auch auf
     ESTV sehr extensiv angewandte Altreservenpraxis in                      internrechtliche Konstellationen (Art. 21 Abs. 2 VStG)
     der Regel nicht greifen, sofern nicht zusätzliche ein-                  zutreffen.
     deutige Indizien dafür sprechen, dass die erwerbende
     Partei gerade auch zu Steuerersparniszwecken der
     veräussernden Partei an einer absonderlichen Gestal-                    5. Schlussfolgerungen für den Praxisfall
     tung teilgenommen hat. Dass zum Beteiligungserwerb
     allenfalls auch eine (externe) Fremdfinanzierung ein-                   Wie bereits in Abschnitt 3 vorstehend ausgeführt,             48
     geholt werden muss, ist in dieser Konstellation für                     dürfte es bei Immigrationen mangels steuerlicher Er-
     sich genommen nicht ausreichend, wie das Bundes-                        fassung der importierten Reserven von Vornherein
     verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. Dezember                     keine Altreservenfälle geben.
     2020 festgehalten hat. 30 Für den unabhängigen Dritt-
     erwerber bietet sich nämlich weder individuell noch                     30
                                                                                   Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-1795/2017
     innerhalb des Konzerns ein steuerlicher Vorteil durch                         vom 1. Dezember 2020.
     ein solches Vorgehen. Es ist insofern nicht ersichtlich,                31
                                                                                   Vgl. Selina Many, Steuerrecht, Ziff. II.2.3.
     wieso ein aussenstehender Dritterwerber letztlich im                    32
                                                                                   Bei Altreservenfällen, in welchen es nicht um eine
     Verhältnis zur ESTV eine Verrechnungssteuerbelas-                             Verbesserung von 35 % auf 0 % geht, besteht teils
     tung tragen soll, die er weder verursacht noch selbst                         auch die Möglichkeit der Abrechnung über
     zu vermeiden beabsichtigt hat. 31                                             eine Art «fast track». Geht es beispielsweise um eine
                                                                                   Verbesserung von einem Residualsatz von 5 %
     4.4 Folge der Altreservenpraxis                                               auf 0 % bei bestehenden Altreserven von CHF 100,
46      Sofern tatsächlich eine Steuerumgehung resp. ein                           so ist unter Umständen auch eine Abrechnung
     Abkommensmissbrauch aufgrund vorhandener Alt-                                 nach dem folgenden Schema möglich: Die
     reserven vorliegt, verweigert die ESTV traditionell so                        betreffende Schweizer Gesellschaft beschliesst eine
     lange die Verrechnungssteuerrückerstattung im Um-                             Dividendenausschüttung von CHF 14.30, wobei die
     fang der Satzverbesserung, bis die bestehenden Alt-                           Verrechnungssteuer in voller Höhe von 35%
     reserven ausgeschüttet sind. 32 Danach gewährt sie                            (d.h. CHF 5) abgeführt und deren Rückerstattung
     die angestrebte Rückerstattung, sofern die üblichen                           gänzlich verweigert wird.
     Voraussetzungen erfüllt sind.                                           33
                                                                                   Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen
                                                                                   der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
47   In Bezug auf Entlastungsanträge basierend auf Art. 9                          Europäischen Union über den automatischen
     des Abkommens über den automatischen Informa-                                 Informationsaustausch über Finanzkonten zur
     tionsaustausch über Finanzkonten zur Förderung der                            Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen
     Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten                           Sachverhalten, SR 0.641.926.81; bis Ende 2016
     mit der EU (AIA-A EU) 33 hat das Bundesgericht in                             Art. 15 des Zinsbesteuerungsabkommens mit der
     seinem Urteil vom 20. April 2020 34 in Anlehnung an                           EU (ZBStA).
     die Rechtsprechung des EuGH allerdings entschieden,                     34
                                                                                   Urteil des Bundesgerichts 2C_354/2018
     dass diesbezüglich die Entlastung auf bestehenden                             vom 20. April 2020.
                                                                             35
                                                                                   Oesterhelt/Fellay, Anciennes réserves, S. 509 f.

     s. 75    Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
24.06.2021                                                                                     ISTR, Unternehmen

49   Doch selbst wenn man der hier vertretenen steuer-
     systematischen Auslegeordnung nicht folgen wollte,                       36
                                                                                    Dasselbe müsste schliesslich in vergleichbaren
     darf der Sinn und Zweck von Missbrauchsvorbehalten                             Konstellationen auch für Reserven gelten, die kurz-
     jeglicher Art nicht aus den Augen verloren werden: Sie                         fristig in der Schweiz neu geschaffen wurden.
     stellen lediglich einen «last resort» dar, um den ein-                         Es kann keinem Unternehmen ein absonderliches,
     deutig nicht vom Gesetzgeber beabsichtigten Entzug                             steuerlich motiviertes Vorgehen vorgeworfen werden,
     von Steuersubstrat zu verhindern. Die Rechtspre-                               bloss weil es in einer Übergangsphase erfolgreich
     chung zeigt eindrücklich, dass eine Steuerumgehung                             wirtschaftet, bevor es seinen Umstrukturierungsplan
     resp. ein Rechtsmissbrauch in Zusammenhang mit                                 vollenden kann.
     Altreserven nur in Ausnahmesituationen angenom-
     men werden darf. Entsprechend geht die Ausweitung
     der Steuerumgehungsdoktrin auf importierte Reser-
     ven entschieden zu weit.

50   Dies gilt umso mehr für Fälle wie den Vorliegenden,
     bei dem der Sitz der Gesellschaft im Rahmen einer
     grösseren Umstrukturierung in die Schweiz verlegt
     wurde. Ziel dieser war, die europäischen Gesellschaf-
     ten unter eine in den Niederlanden ansässige Zwi-
     schenholding zu bringen. Dass zunächst überhaupt
     eine (finale) latente Verrechnungssteuerbelastung
     geschaffen wurde, indem zuerst eine Sitzverlegung in
     die Schweiz beschlossen wurde, war eher zufällig bzw.
     transaktional bedingt. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern
     bewusst (d.h. absichtlich) zuerst Gewinne thesauriert
     und sodann der schweizerischen Verrechnungssteuer
     in missbräuchlicher Weise entzogen worden wären. 36
     Sodann kam hier auch kein weiteres Element hinzu,
     welches auf eine Steuerumgehung hindeuten könnte,
     wie etwa eine kurzfristige Ausschüttung oder eine un-
     gewöhnliche Fremdfinanzierung der Transaktion. Eine
     Verweigerung der vollständigen Verrechnungssteuer-
     entlastung wäre damit ausgeschlossen.

     s. 76     Sitzverlegung in die Schweiz – Ein Fall für die Altreservenpraxis?
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