"Souveränität der EU" - Äußere und innere Gefahren eines unerfüllbaren Versprechens - Konrad-Adenauer-Stiftung
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Quelle: © Henry Nicholls, Reuters. „Souveränität der EU“ Äußere und innere Gefahren eines unerfüllbaren Versprechens Peter Fischer-Bollin Auslandsinformationen online
Souveränität – oft durch Attribute wie „strategische“ oder „europäische“ ergänzt – ist ein Ziel, das derzeit von vielen Seiten in Europa gefordert wird. Wer das wie die deutsche Verteidigungs ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer differenziert oder zurückhaltend betrachtet, muss mit Kritik von höchsten Stellen rechnen – etwa vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Gleichzeitig ist Souveränität der Schlüsselbegriff nationa- listischer Bewegungen, die in Macron sicher kein Vorbild sehen. Worum geht es hier also? Ist „europäische Souveränität“ in ver- schiedenen Politikfeldern überhaupt erreichbar? Und gibt es eine „gute“ (europäische) und „schlechte“ (nationale) Souveränität? Erosion westlicher Macht und Fähigkeit, den politischen und gesellschaftli- Aufstieg Chinas chen Diskurs in anderen – gerade auch demo- kratischen – Staaten zu verzerren.1 Worum es geht: Deutschland und die Europä ische Union befinden sich in einem wachsenden 3. Die innere Schwächung westlicher Gesell- globalen Wettbewerb um Werte, Wohlstand, Ein- schaften und Ordnungsmodelle, die sich ihrer fluss und Sicherheit. Der Wettbewerbsdruck hat Werte nicht mehr sicher sind und von Populis- in den letzten Jahren zugenommen, wofür drei mus und Nationalismus sowie gewaltbereitem wesentliche Triebkräfte zu identifizieren sind: Extremismus im Innern gefordert werden. 1. Die Erosion globaler US-amerikanischer Der beschriebene Wettbewerbsdruck hat in Macht, gespeist vor allem aus schwindender Deutschland und Europa zu einer Debatte darü- innenpolitischer Unterstützung aufgrund einer ber geführt, wie wir unsere Widerstandsfähig- Überdehnung der eigenen ökonomischen, keit stärken und unsere Position als Raum der politischen und militärischen Kapazitäten Freiheit, des Wohlstands und der Sicherheit hal- (imperial overstretch). Der Höhepunkt dieser ten oder gar ausbauen können. Als roter Faden Entwicklung war die Wahl und die Präsident- zieht sich die Erkenntnis durch die Debatte, schaft Donald Trumps mit dem faktischen dass mehr eigene Beiträge unumgänglich sind. Rückzug der USA aus sicherheitspolitischen Sie hat sich – nicht zuletzt befeuert durch den Abkommen und Konflikten, multilateralen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Organisationen (WTO, W HO), dem Freihan- Macron – auf Begriffe wie „strategische Autono- del und der politischen Führung des Westens. mie“ und „europäische oder strategische Souve- ränität” als Ziele konzentriert. „Autonomie“ war 2. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas mit der schon so missverständlich, dass der Schaden bei Machtkonzentration bei der Kommunistischen den transatlantischen Partnern nicht nur im Partei, der angestrebten globalen Führung bei Trump-Lager trotz vielfältiger Erklärungsversu- Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, che groß war.2 Inzwischen ist der Begriff etwas der weltweiten Einflussnahme zugunsten der in den Hintergrund getreten.3 Nun wird intensiv eigenen wirtschaftlichen Interessen sowie über die „Souveränität“ diskutiert, die Europa für dem sowohl in der analogen wie auch der digi- seine Sicherheit, den digitalen Raum oder seine talen Welt betriebenen aggressiven Ausbau Wirtschaft anstreben solle, um „unabhängig“ zu von hard und soft power hin zu sharp power: der werden.4 „Strategische europäische Souveränität“ Nr. 26 (Januar 2021) 2
soll beispielsweise zum Leitbild grüner Euro- und Zukunftstechnologien zu investieren, die papolitik werden.5 Die COVID-19-Pandemie dann national entfallen müssten, und vor allem hat mit den unterbrochenen Lieferketten v. a. eine sicherheitspolitische Willensbildung zu für medizinische Geräte sowie Medikamente die einer gemeinsamen Position und gemeinsamem Forderung nach einer „souveränen europäischen Handeln zu führen. Das würde helfen, europä- Gesundheitspolitik“ sogar zu einem Leitmotiv ische Interessen im transatlantischen Bündnis der deutschen EU-R atspräsidentschaft 2020 und erst recht gegenüber äußeren Bedrohungen werden lassen.6 zu stärken. „Souveränität“ wäre damit allerdings nicht zu erreichen. Für Europas Sicherheitsinte- Wie „souverän“ kann und soll Europa sein? ressen werden weiterhin die USA unverzichtbar sein, aber auch Mächte wie Kanada, Australien, Es stellt sich die Frage, ob das Streben nach „Sou- Japan oder Indien spielen eine wichtige Rolle veränität“ das richtige Mittel europäischer Politik als demokratische Partner zur Sicherung des zur Erreichung ihrer Ziele von Freiheit, Sicher- freiheitlichen Modells und eines fairen globalen heit und Wohlstand für die EU-Bürger sein kann. Wettbewerbs. Sie brauchen eine starke, hand- lungsfähige und handelnde EU. Souveränität bezieht sich historisch auf den Nationalstaat und dessen Anspruch, unabhän- Im digitalen Bereich stellt sich die Lage ähnlich gig und nur dem eigenen Willen unterworfen zu dar: Europa muss mehr in Innovation und Umset- sein.7 Diesen Anspruch nun auf „Europa“, was zung investieren,8 seine Gesellschaften müssen mehrheitlich die in der Europäischen Union für das digitale Zeitalter befähigt werden, um bei zusammengeschlossenen europäischen Staaten der Gestaltung der digitalen Zukunft seine wirt- meint, zu übertragen, klingt moderner als es die schaftliche, aber auch seine politische Position zu Herkunft des Konzepts aus dem 17. Jahrhundert wahren bzw. sogar zu verbessern.9 Dies schließt und seine Bedeutung bei der Herausbildung der die Fähigkeit Europas ein, einerseits weltweit Nationalstaaten vermuten lassen. Ihm liegt die anerkannte Standards für das digitale Zeitalter Vorstellung einer umfassenden Unabhängigkeit zu setzen, die sowohl für vertrauenswürdige nach außen und nach innen zugrunde. Ist eine Innovationen wie auch für eine freiheitliche solche Souveränität der Europäischen Union Entwicklung unerlässlich sind. Anderseits muss erreich- und erwartbar, wenn ihre Grundlage Europa aber auch in der Lage sein, seine Werte seit Anbeginn der europäischen Integration die in kommerziell erfolgreiche Geschäftsmodelle begrenzte Übertragung von nationalstaatlicher und Produkte zu übersetzen, um ihnen Geltung Souveränität auf gemeinschaftliche Institutionen zu verschaffen. gewesen ist? Neben der Vorbildwirkung der Datenschutz- Das scheint angesichts der Realitäten doch mehr Grundverordnung (DSGVO) war es die Größe als unsicher: Gerade der Bereich der Außen- und des EU-Binnenmarktes, die überall auf der Sicherheitspolitik wird nach wie vor von allen Welt Prozesse zur Neugestaltung des Daten- EU-Mitgliedstaaten als Kernbereich ihrer nati- schutzes im digitalen Zeitalter angestoßen hat. onalen Souveränität begriffen, der zwar Koope- So konnte nicht nur ein europäischer Standard ration erlaubt und ausdrücklich will, aber die (mit allen praktischen Mängeln, die hoffentlich Letztentscheidung bei den Staaten lässt. Frank- noch behoben werden) gesetzt werden, dessen reich hat beispielsweise bei der Frage, ob es bereit Durchsetzung in der Zukunft sicher noch ver- wäre, seinen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat bessert werden muss. Es wurde eine internatio- als EU-Sitz zu begreifen, immer wieder deutlich nal bedeutende Norm für das digitale Zeitalter gemacht, wo hier die Grenzen liegen: nämlich in etabliert. Der starke EU-Binnenmarkt und die der nationalen Souveränität. Hingegen scheint gemeinsame Handelspolitik sind Erfolgsfakto- doch für die Sicherheit Europas entscheidend ren sowohl für die europäische Wirtschaft als zu sein, in gemeinsame militärische Fähigkeiten auch die Werte Europas. In China und anderen 3 Auslandsinformationen online
autoritären Staaten wird „digitale Souveränität“ werden. Emotionen bis hin zu Wut können dage- als staatliche Herrschaft und Kontrolle über die gen mobilisiert werden. Andererseits werden digitale Sphäre verstanden. Erwartungen an Souveränität und damit eigene Entscheidungsgewalt geweckt, die realistischer- Für die Befürworter des Konzepts der strategi- weise nur enttäuscht werden können. Wut und schen Souveränität Europas ist sie hingegen die Enttäuschung bei größeren Bevölkerungsteilen Antwort auf die Vulnerabilität Europas gegen in der EU haben in den letzten Jahren schon viel über externem Druck bei gleichzeitig abnehmen- Schaden angerichtet. Das sollten wir vermeiden. der Unterstützung durch die USA. Sie erkennen durchaus die Abhängigkeiten und Interdependen- Deshalb sollten die politischen, kommunikati- zen sowie die Bedeutung der transatlantischen ven und wirtschaftlichen Energien der Europäer Allianz an.10 Dennoch wünschen sie sich eine in auf die Stärkung der eigenen Machtressourcen vielen Bereichen souveräne EU. Dagegen werden Verteidigungsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, zunehmend Stimmen laut, die die Begrifflichkeit Binnenmarkt und nicht zuletzt demokratische für „toxisch“ halten und statt solcher Debatten um Handlungsfähigkeit gerichtet werden. Das wäre Begriffe eine „Agenda des Handelns“ fordern.11 auch das beste Angebot an die USA mit einer kooperationswilligen Führung für eine erfolg- Die Risiken der Souveränitätsdebatte reichere Partnerschaft zum beiderseitigen Vor- teil. Das ist realistisch, dient unseren Interessen Die Welt wird sich trotz und gerade nach der und kann die erforderliche Unterstützung der Coronapandemie weiter zunehmend als vernetzt Bürgerinnen und Bürger gewinnen, die letz- und damit verletzlich präsentieren. Konzepte wie ten Endes die zentrale Machtressource in einer „Unabhängigkeit“, „Autonomie” oder „Souverä- freiheitlichen Demokratie ist.14 Die von EU- nität“ lassen sich daher weniger denn je umset- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zen. Entsprechend irritiert schaut man gerade bei vorgeschlagene Konferenz zur Zukunft Europas den außereuropäischen Partnern auf die europä- sollte neben den Parlamenten der EU und ihrer ischen Debatten und wartet auf Taten. Mitgliedstaaten ein Ort für die erforderliche Posi- tionsbestimmung sein. Das wäre ein Beitrag zum Es gibt jedoch zusätzliche innereuropäische Aufbau eben jener Mittel und Fähigkeiten, die es Gefahren: Gerade die populistischen und natio- erlauben, europäische Werte- und Ordnungsvor- nalistischen Bewegungen und Parteien in Europa stellungen zu bewahren und diese erfolgreich zur haben die vermeintliche „Wieder“-erlangung der Stärkung der liberalen Ordnung und unserer Inte- nationalen Souveränität und das Ende der „Brüs- ressen auf internationaler Ebene einzubringen. seler Herrschaft” zu ihrem Ziel erkoren und zur Mobilisierung auf den Straßen und an den Wahl- urnen genutzt.12 „Take back control“ ist nicht Dr. Peter Fischer-Bollin ist Leiter der Hauptabteilung nur der Schlachtruf der erfolgreichen Brexit- Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Kampagne13 gewesen, sondern wird in der Sache von linken wie rechten Nationalisten in Europa genutzt. Es ist unübersehbar, dass gerade in den Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuro- pas der Widerwille gegen die Übertragung von erst seit 1990 gewonnener Souveränität hin zur europäischen Ebene ausgeprägt ist. Insofern liegen in der Souveränitätsdebatte zwei Gefah- ren im Innern Europas: Einerseits kann damit durch Gegner der europäischen Integration die Gefahr eines europäischen Superstaats und damit des Endes des Nationalstaats beschworen Nr. 26 (Januar 2021) 4
1 Walker, Christopher / Ludwig, Jessica 2017: The 11 Major, Claudia / Mölling, Christian 2020: Toxische Meaning of Sharp Power. How Authoritarian States Wortklauberei, Spiegel Politik, 29.11.2020, in: Project Influence, Foreign Affairs, 16.11.2017, in: https://bit.ly/3peWqCi [22.12.2020]. https://fam.ag/3mAfcCg [22.12.2020]. 12 Fischer-Bollin, Peter / Ernst, Oliver 2020: Nationa 2 Drent, Margriet 2018: European strategic autonomy: lismus in Europa – Einheit in Vielfalt?, Konrad- Going it alone?, Clingendael, Policy Brief, 08/2018, Adenauer-Stiftung, S. 132, in: https://bit.ly/37DV0uY in: https://bit.ly/3hae5Z5 [22.12.2020]; Kempin, [22.12.2020]. Ronja / Kunz, Barbara 2018: Washington should help 13 Die Autorin zeigt den Missbrauch des Begriffs Sou- Europe achieve „Strategic Autonomy,“ not fight it, veränität nicht zuletzt am Beispiel der Parlaments- War on the Rocks, 12.04.2018, in: https://bit.ly/ souveränität auf, die wiedergewonnen werden 34zqznH [22.12.2020]. sollte: Ringeisen-Biardeaud, Juliette 2017: „Let’s 3 Kaim und Kempin sprechen von einem „deutsch- take back control“: Brexit and the Debate in Sover- französischem Missverständnis“. Sie meinen jedoch, eignty, Revue française de civilisation britannique dass ein gemeinsames Verständnis beider Länder XXII-2 2017, in: https://doi.org/10.4000/rfcb.1319 angestrebt werden sollte, denn „eine souveräne EU [22.12.2020]. Die Regierung führte dazu in ihrem kann nur auf Kosten der Souveränität ihrer Mitglie- Whitepaper vom Februar 2017 mit Blick auf Fakten der entstehen“. Kaim, Markus / Kempin, Ronja 2020: und Gefühle Folgendes aus: „Whilst Parliament has Strategische Autonomie Europas: Das deutsch-fran- remained sovereign throughout our membership of zösische Missverständnis, Stiftung Wissenschaft und the EU, it has not always felt like that.“ HM Govern Politik (SWP), 30.11.2020, in: https://bit.ly/3axyeqw ment 2017: The United Kingdom’s exit from, and [22.12.2020]. new partnership with, the European Union, Policy 4 Leonard und Shapiro stellen fünf Agenden für Paper, 02.02.2017, S. 13, in: https://bit.ly/2KuSWwH europäische Souveränität vor: Gesundheit, Wirt- [22.12.2020]. schaft, Digitales, Klimawandel und „traditionelle“ 14 Zur Bedeutung der Demokratie in dieser Debatte: Sicherheit. Leonard, Mark / Shapiro, Jeremy 2020: Kundnani, Hans 2020: Anmerkungen zu europä Sovereign Europe, dangerous world: Five Agendas ischer Souveränität. Ein Kommentar, in: Internatio- to protect Europe’s capacity to act, European nale Politik 4/2020, S. 108 – 109, in: https://bit.ly/ Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief, 3nG37wB [22.12.2020]. 11/2020, in: https://bit.ly/2KLUF0i [22.12.2020]. 5 Kommer, Florian 2020: Für ein souveränes Europa! Warum das Konzept der strategischen europäischen Souveränität zum Leitbild grüner Europapolitik werden sollte, Heinrich-Böll-Stiftung, Forum Neue Sicherheitspolitik, Impulspapier 4, 05/2020, in: https://bit.ly/3mBqExn [22.12.2020]. 6 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020: Was wollen wir im Bereich Gesundheit errei- chen, Deutsche EU-Ratspräsidentschaft, 16.07.2020, in: https://bit.ly/3h8H2V7 [22.12.2020]. 7 Seidelmann, Reimund 2008: Souveränität, in: Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 11. Auflage, S. 467. Interessanterweise ist der Begriff nicht mehr als eigener Artikel in der neuesten, der 13. Auflage von 2016 geführt. 8 Skierka, Isabel 2020: Die 5G-Debatte: Ein Test für die „digitale Souveränität“ Europas, Analysen und Argumente 397, Konrad-Adenauer-Stiftung, 10.07.2020, S. 6 f., in: https://bit.ly/34A8XIw [22.12.2020]. 9 Thiel, Thorsten 2020: Gewollte Kontrolle?, Internati onale Politik Special 3/2020, S. 68 – 72, in: https://bit.ly/ 2KsztMX [22.12.2020]. 10 Leonard / Shapiro 2020, N. 4; dies. 2019: Empow ering EU member states with strategic sovereignty, ECFR, 06/2019, in: https://bit.ly/2Kpyc9q [22.12.2020]. 5 Auslandsinformationen online
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