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Selbstverwaltung                                                                                             145

Soziale Selbstverwaltung – unzeitgemäß?1
Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Berlin

 Der Beitrag geht den Einwänden gegen die soziale Selbstverwaltung nach – Zweifel
 an ihrer Repräsentativität, dem Vorwurf von zu geringem Einfuss ihrer Vertretungen
 oder der Kritik an ihrer angeblich weitreichenden Macht – und ergründet, ob diese
 Einwände überzeugen oder Fehlwahrnehmungen sind. Insgesamt wird die soziale
 Selbstverwaltung in Verbindung mit dem Tarifrecht und betrieblicher und wirtschaft-
 licher Mitbestimmung als Teil „sozialer Demokratie“ veranschaulicht. Selbstverwaltung
 dient nicht primär der Selbstdarstellung und Interessensbekundung ihrer Vertreterin-
 nen und Vertreter, sondern bezweckt umgekehrt deren Teilnahme an der im Allgemein-
 interesse liegenden Verantwortung von Institutionen. Vertreterinnen wie Vertreter neh-
 men durch die Selbstverwaltung an dem Wirken der Selbstverwaltungskörperschaft
 unmittelbar teil. Die Selbstverwaltung gefährdet nicht die Demokratie. Denn diese
 formt jene und umgekehrt stützt jene diese. Selbstverwaltung ist keine Alternative zur
 Demokratie, sondern vielmehr unmittelbarer Ausdruck von Demokratie.

1.   Sozialversicherung heißt Selbst-             1. Schließt soziale Selbstverwaltung noch
     verwaltung                                      heute an die realen Kräfte des Volksle-
                                                     bens an und geschieht dies so, dass die
Selbstverwaltung bestimmt die Sozialver-             Vertretenen durch ihre Vertreter repräsen-
sicherung seit ihrem Bestehen. Die Kaiser-           tiert sind?
liche Botschaft vom 17. November 1881 –           2. Haben die gewählten Vertreter in den Gre-
den Ausbau der Kranken- und den Aufbau               mien der Sozialversicherung genug zu
von Unfall- und Rentenversicherung in Aus-           sagen – oder ist ihr Mitwirken eher sym-
sicht stellend und damit zum Gründungsdo-            bolisch und damit eine demokratische
kument der deutschen Sozialversicherung              Zierde?
geworden – verhieß: Wenn die Sozialver-           3. Üben nicht umgekehrt die selbstverwalte-
sicherung den „engeren Anschluss an die              ten Sozialversicherungen einen zu großen
realen Kräfte des Volkslebens“ suche und             Einfuss aus, woraus ein demokratischer
„in Form korporativer Genossenschaften               Kontrollverlust erwächst?
unter staatlichem Schutz und Einfuss“ er-
richtet sei, könne sie die „Lösung von Auf-       Diesen drei in der Öffentlichkeit der Selbst-
gaben“ ermöglichen, „denen die Staatsge-          verwaltung der Sozialversicherung oft ent-
walt in gleichem Umfange nicht gewachsen          gegengehaltenen und miteinander nicht in
sein würde“. Seither lebt die Sozialversi-        Einklang stehenden Einwänden soll im Fol-
cherung aus der Überzeugung, dass sozia-          genden nachgegangen werden. Die Frage
le Selbstverwaltung den sozialen Ausgleich        nach der Repräsentativität wendet sich
ermögliche, den selbst der demokratische          gegen die Mitwirkung von Arbeitgeberver-
Staat nicht gleichwertig hervorzubringen
vermag.                                           1 Ein um Fußnoten und nähere Begründungen erweiterter Impuls-
Diese Rechtfertigung der Selbstverwaltung           vortrag – gehalten auf einer von der Bundeswahlbeauftragten
erlaubt, einige Zweifelsfragen an deren An-         für Sozialversicherungswahlen und dem Bundesministerium
                                                    für Arbeit und Soziales am 27. April 2021 veranstalteten Video-
gemessenheit in der Gegenwart abzuleiten:           konferenz.
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bänden und Gewerkschaften in der Sozial-          Grundkonfikt von Kapital und Arbeit und hie-
versicherung und die Sozialwahlen (Ab-            raus erwächst ein Gegensatz von Arbeitge-
schnitt 2). Die Frage nach dem Einfuss der        bern und Arbeitnehmern. Dieser wird durch
Vertreter zielt auf die Befugnisse von Selbst-    die nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete
verwaltung (Abschnitt 3). Schließlich be-         Koalitionsfreiheit in den Rechtsformen des
handelt das Verhältnis von demokratischer         Tarifvertragsrechts überwunden. Koalitions-
Kontrolle und selbstverwalteten Sozialversi-      freiheit und Tarifautonomie erlauben Arbeit-
cherungen deren Verhältnis zur Demokratie         gebern und Arbeitnehmern die selbstständi-
(Abschnitt 4).                                    ge Setzung von Normen für Arbeitsverträge.
                                                  Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden damit
                                                  zum sozialen Ausgleich angehalten.
2.    Repräsentativität                           Die Sozialversicherung beruht auf der „ver-
                                                  bandlichen Selbstverwaltung“5 und auch
2.1 Arbeitgeber- und Versichertenver-             sie wird von den Koalitionen getragen.6
    treter tragen die Selbstverwaltung            Diese erlangen damit über ihre Befugnisse
                                                  im Arbeitsleben hinaus auch bestimmenden
Die Selbstverwaltung in der Sozialversiche-       Einfuss auf die Sozialversicherung.7
rung ruht auf der Beteiligung von Arbeitge-       Die soziale Selbstverwaltung folgt nicht aus
ber- und Versichertenvertretern (§ 29 SGB IV)     der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG),8
an deren Verwaltung. Die Vertreter sind Mit-      fndet in der Tarifautonomie aber eine Ent-
glieder von Arbeitgebern und Versicherten         sprechung. Gemeinsam mit der betriebli-
und werden als solche aufgrund von Wah-           chen und wirtschaftlichen Mitbestimmung
len in die Vertreterversammlung der Sozial-       und der Tarifautonomie bildet die soziale
versicherungsträger entsandt (§ 44 SGB IV).       Selbstverwaltung die „Sozialpartnerschaft“.
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften            Dadurch kann das wirtschaftliche und ge-
nehmen diese Aufgaben in der Selbstverwal-        sellschaftliche Leben umfassend durch Zu-
tung als „Vertreter der Großgruppen der Wirt-     sammenwirken von Wirtschaft und Beschäf-
schaftsgesellschaft“2 wahr. Dort werden sie       tigten gestaltet werden. Zuweilen wird diese
miteinander zu „partnerschaftlichem Zusam-        heute weltweit entwickelte Mitbestimmung
menwirken“3 verbunden. Selbstverwaltung           Beschäftigter am Wirtschafts-, Sozial- und
in der Sozialversicherung bedeutet die „kon-      Arbeitsleben auch „soziale Demokratie“ ge-
zentrierte Teilhabe organisierter Interessen“4.   nannt.
Die soziale Sicherheit baut auf der formellen
und formalen Arbeit, für die ihrerseits die or-   2 Reiter, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Selbstverwal-
ganisierte Arbeiterschaft und Unternehmer-          tung in der Sozialversicherung, Wiesbaden 1991, 17, 20.
schaft eine tragende Rolle spielt. Dieser Ein-    3 Ebd.
                                                  4 Hufen, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), 43, 49;
fuss wird auch in der Selbstverwaltung der          Stourzh, in: ders. und Grandner (Hrsg.), Historische Wurzeln der
Sozialversicherung sichtbar, wenn und weil          Sozialpartnerschaft, Wien 1986, 29 f.
                                                  5 Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im
sie – wie regelmäßig und üblich – von den           modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1.
Sozialpartnern getragen wird. Dieser Zusam-       6 Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin
                                                    1973, 122.
menhang ist nach § 48 SGB IV zwar wegen           7 Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Berlin
des weiten Begriffs von beteiligungsfähigen         2001, 150; Hofmeister, in: Stourzh und Grandner (Hrsg.), 278:
                                                    „Kein zweites Rechtsgebiet weist eine so enge Nahebeziehung
Organisationen nicht normativ vorgegeben,           zum Phänomen der Sozialpartnerschaft auf wie das Sozialver-
hat sich aber praktisch so entwickelt. Es sind      sicherungsrecht kontinentaleuropäischer Prägung“; Wannagat,
                                                    Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Deutscher
dessen ungeachtet durchaus Defzite in der           Sozialgerichtsverband, 1. Bundestagung, 1966, 9 ff.; Collective
Vertretung zu notieren – etwa im Hinblick auf       bargaining – heute eine Kernnorm des internationalen Arbeits-
                                                    rechts – überwindet für die Arbeitnehmerschaft das ihr 1791
Studierende und Schüler.                            in Frankreich durch die Loi Le Chapelier auferlegte Verbot der
Die arbeitsteiliges Wirtschaften ermöglichen-       Freiheit zum Zusammenschluss.
                                                  8 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung,
de bürgerliche Gesellschaft beruht auf dem          Tübingen 2000, 291.
Selbstverwaltung                                                                                             147

2.2 Kritik an der sozialpartnerschaft-           sucht. Wird bei Sozialwahlen das Gegen-
    lichen Grundlage der Selbstver-              teil angestrebt? Auch wenn es zu Urwahlen
    waltung                                      kommt – und die jüngste Reform des Wahl-
                                                 rechts15 erleichtert diese –, bewies die in der
Seit Bestehen der Selbstverwaltung war die       Vergangenheit geringe Wahlbeteiligung die
Kritik daran zentrale Wegbegleiterin.9 Sie       niedrige Anziehungskraft der Wahl.
wandte sich gegen die Annahme, Arbeitge-         Zu Zeiten von Demoskopie und elektroni-
berverbände und Gewerkschaften repräsen-         scher Kommunikation sind spontane, aus der
tierten Wirtschaft und Beschäftigte. In Zeiten   Mitte der Gesellschaft – Bottum-up – kom-
sinkender Tarifbindung und nachlassender         mende Meinungsbildungsprozesse, die von
Prägekraft von Großbetrieben scheint diese       den internetaffnen gerne als Ausdruck von
Annahme in der Tat zweifelhaft. Es fragt sich    „Schwarmintelligenz“ idealisiert werden, üb-
weiter: Kommen die Nichterwerbstätigen,          lich, und setzen Maßstäbe. Vor diesem Hin-
Rentner oder Patienten mit speziellen Be-        tergrund mutet die soziale Selbstverwaltung
dürfnissen in den Vertretungen hinreichend       anscheinend als nicht mehr zeitgemäße Form
vor? Mit Reform der Sozialwahlen10 sollen        demokratischer Teilhabe an, weil der Einfuss
vermehrt Frauen für die Selbstverwaltung         des nicht in Gewerkschaften oder Arbeitge-
gewonnen werden – gewiss ein Schritt zu          berverbänden organisierten Einzelnen nicht
mehr Repräsentativität!                          besteht. Repräsentation baut auf der Orga-
Die „Sozialwahlen“11 erlauben nach § 46 II       nisation der organisierten Gruppen auf und
SGB IV „Friedenswahlen“: „Wird aus einer         nicht auf der spontanen Akklamation der sich
Gruppe nur eine Vorschlagsliste zugelassen       als ungebunden wähnenden Vertretenen.
oder werden auf mehrere Vorschlagslisten
nicht mehrere Bewerber benannt, als Mitglie-
der zu wählen sind, gelten die vorgeschlage-     2.3 Rechtfertigung der Selbstverwaltung
nen als gewählt“. Damit können die Gruppen-
mitglieder die Wahl ihrer Vertreter durch den    Die von Art. 161 WRV16 geforderte Selbst-
Personalvorschlag der sie repräsentierenden      verwaltung in der Sozialversicherung kenn-
Organisationen – namentlich der Arbeitgeber-     zeichnet nach heutigem Verständnis zwei
verbände und Gewerkschaften – ersetzen. Die
Rechtsprechung billigte die „Friedenswah-
len“, weil das zu Wahlen und Abstimmungen
des Volkes verpfichtende Demokratiegebot         9 Kohl und Mecke, Selbstverwaltung, in: Eichenhofer/Rische
                                                    und Schmähl (Hrsg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenver-
(Art. 20 GG) auf Arbeitgeber und Versicher-         sicherung, SGB VI, Köln 2012 (2. Aufage), Rn. 70 ff.; Ruland,
te nicht zu erstrecken sei: Diese seien nicht       Funktion und Tradition sozialer Selbstverwaltung am Beispiel
                                                    der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1993, 684 ff.
das „Volk“, das in Wahlen und Abstimmungen       10 Pawelski, Die historische Reform des Sozialwahlrechts, WzS
seinen Willen äußern muss. Außerdem seien           2021, 35.
                                                 11 Ayaß, Zur Geschichte der Sozialwahlen, SozSich 12/2013, 422ff.;
„Friedenswahlen“12 kostengünstiger und si-          Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier und Welti, Modernisierung der
cherten dennoch ein Ergebnis, das auch in           Sozialversicherungswahlen, 2009; Der Bundeswahlbeauftragte
                                                    für die Sozialversicherungswahlen, Schlussbericht des Bun-
Wahlen erzielt würde.13 Sie nähmen „Wahlen“         deswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen zu den
ohne Wahl auch ihre Anstößigkeit. Die Be-           Sozialwahlen 2011, 2012.
                                                 12 BSGE 36, 242; 39, 244.
stimmung verstärkt also die Beobachtung,         13 Jung, in: Eichenhofer und Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 46
dass die Sozialversicherung „eine von den           Rn. 6 ff.
                                                 14 Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin
Organisationen der Sozialpartner gelenkte           1973, 113.
Institution unseres Staatsganzen“14 darstellt.   15 Pawelski, Die historische Reform des Sozialwahlrechts, WzS
                                                    2021, 35.
In vielen Kommunalwahlgesetzen wird da-          16 „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum
gegen durch Kumulieren und Panaschieren             Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaft-
                                                    lichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des
der Einfuss der Wähler auf die Zusammen-            Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswe-
setzung der Vertretungen zu erhöhen ver-            sen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“
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Dimensionen,17 die gegenüber dem Staat            schaftlich-partizipatorischen Legitimation,
selbstständige Wahrnehmung öffentlicher           die stets partikulär und damit auch gegenüber
Aufgaben (§ 29 SGB IV) und die Beteiligung        dem allgemeinen Gesetz nachrangig ist und
der von Maßnahmen der Träger Betroffenen          bleiben muss.28
an deren Organisation und Verwaltung.18 Die       Allerdings ist die sozialstaatlich organisierte
Sozialversicherung ist keine „direkte Unter-      Gesellschaft ohne Organisationen nicht zu
gliederung des Staates“,19 sondern gegen-         haben. So wenig die Demokratie ohne Par-
über dem Staat selbstständig.20 Das gelangt       teien29 auskommt, weil sie das Führungs-
in der Selbstverwaltung zum Ausdruck.             personal heranbilden und auswählen und
Nach Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG sind die So-        die politische Programmatik formulieren, ist
zialversicherungsträger Körperschaften des        auch die Vertretung wirtschaftlicher und so-
öffentlichen Rechts. Jede Körperschaft –          zialer Belange durch gleichartig Betroffene
Personenverband mit eigener Rechtsper-            ohne Organisationen dauerhaft nicht mög-
sönlichkeit und damit juristische Person          lich. Beides wird von Art. 21, 9 Abs. 3 GG
– verlangt die Selbstverwaltung durch ihre        verfassungsrechtlich anerkannt. Parteien
Mitglieder. Weil die Mitglieder der Körper-       wie Verbände sind zur Interessenvertretung
schaft durch Gesetz den einzelnen Trägern         durch Ausgleich und Kompromiss verpfich-
zugewiesen sind und darin zwangsweise             tet. Sie gewinnen ihre Durchsetzungskraft
vergemeinschaftet werden, liegt in jedem          durch Einigkeit: Einigkeit macht stark: L‘uni-
Einschluss in eine Sozialversicherung zu-         on fait la force (Flora Tristan)! Und das einige
gleich ein Freiheitseingriff, und dieser ver-     Volk kann nicht besiegt werden (spanisch: El
langt als Ausgleich die Selbstverwaltung.         pueblo unido namàs sarà vincido)!
Trotz ihrer rechtlichen Unabhängigkeit sind
die Sozialversicherungsträger ein Teil öf-
fentlicher Verwaltung. Deshalb sind sie nicht
Träger, sondern Adressaten der Grundrech-
te, die sie verpfichten und nicht berechti-
                                                  17 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial-
gen.21 Die Unabhängigkeit der Sozialver-             rechtshandbuch (SRH), 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 4; Seewald,
sicherungsträger begründet die Pficht zu             Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der Unfallversicherung?,
                                                     SGb 2006, 569; Breuer, Das (Erfolgs)Modell „Soziale Selbstver-
eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung              waltung“, Festschrift Fuchs, 2020, 389.
gegenüber staatlicher Einzelvorgabe. In die-      18 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial-
                                                     rechtshandbuch, 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 35 ff.; Schnapp,
ser rechtlichen Eigenständigkeit22 ist die Per-      Probleme der Selbstverwaltung, SGb 1996, 621, 624 unter-
sonal-, Haushalts- und Satzungsautonomie             scheidet danach die „äußere“ von der „inneren“ Selbstverwal-
                                                     tung; vgl. auch Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversicherungs-
angelegt.23 „Die Selbstverwaltung dezentra-          recht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 66 f.
lisiert die staatliche Verwaltung und die poli-   19 BT-Drs. 17/14779, 2.
                                                  20 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial-
tische Macht“.24                                     rechtshandbuch, 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 5.
Die Satzungsgewalt der Sozialversicherungs-       21 BVerfGE 21, 362, 369; 39, 302; 77, 340; anders Salzwedel, Zur
                                                     rechtlichen Struktur der modernen Selbstverwaltung, ZfS 1963,
träger besteht aufgrund staatlichen Gesetzes         203.
und begründet keine originäre Autonomie,25        22 Ebd., 65 ff.
                                                  23 Hendler, Die Funktion der Selbstverwaltung im gegenwärtigen
deren Kern staatlich unveränderlich garan-           Sozialrecht, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Selbst-
tiert wäre. Die Sozialversicherung und ihre          verwaltung in der Sozialversicherung, 1991, 65, 68.
                                                  24 Rische, RVaktuell 2011, 2; vgl. auch Ipsen, Stichwort „Autono-
Struktur sind gesetzgeberischer Veränderung          mie“, in: Heun (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart
nicht entzogen.26 Das Bundesverfassungs-             2006, 159.
                                                  25 Anders Ebsen, Autonome Rechtssetzung in der Sozialversiche-
gericht hielt statt der Selbstverwaltung sogar       rung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR
ein Bundesamt für Krankenversicherung für            1990, 57; Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversiche-
                                                     rungsrecht – Krankenversicherungsrecht, § 7 Rn. 14 ff.
möglich.27 Denn die Selbstverwaltung wird         26 BVerfGE 39, 302, 314; 36, 383, 393.
durch Gesetzgebungsakte begründet. Darin          27 BVerfGE 39, 302, 314 f.
                                                  28 BVerfGE 79, 127, 150; 82, 310, 314; 107, 1, 12.
äußert sich die Differenz zwischen der all-       29 Ipsen, in: Sachs, Kommentar zum GG, 2011 (4. Aufage), Art. 21
gemein-demokratischen und der mitglied-              Rn. 2 ff.
Selbstverwaltung                                                                                               149

Selbstverwaltung wird daher vom „Interes-       tionsformen auch öffnen. Repräsentativität
senverbandsprinzip“30 getragen, von der         steht unter den Bedingungen der jeweiligen
„Gruppenparität“31 beherrscht und ist darü-     Zeit und ist jeweils in deren Formen zeitge-
ber zur „Sache der Koalitionen des Arbeits-     mäß einzulösen. Wird die Gesellschaft viel-
lebens geworden“32. Soziale Gegensätze          fältiger und verlangt nach direkter Mitspra-
anzuerkennen und durch Kompromiss aus-          che, muss die Selbstverwaltung dafür neue
zugleichen, entsprach der in das 19. Jahr-      Wege nicht nur suchen, sondern auch fnden
hundert zurückreichenden bürgerlichen So-       und schließlich öffnen.
zialreformbewegung33, der auf Überwindung
von Klassengegensätzen und Solidarität
bedachten katholischen Sozialethik34 sowie      3.       Befugnisse der Selbstverwaltung
dem Gesellschaftsbild der deutschen Sozial-
demokratie – spätestens nach Godesberg35.       3.1 Was vermag die Selbstverwaltung?
In solchen Institutionen gelangt eine bis in
das Mittelalter zurückreichende Tradition       Wie steht es um die Befugnisse sozialer
genossenschaftlicher Selbstorganisation         Selbstverwaltung? Deren Vertreter bestim-
der Gesellschaft zum Ausdruck. Seit jeher       men die Führung der Sozialversicherungs-
gründen soziale Rechte in Gemeinschaften,       träger, beschließen deren Haushalt, nehmen
Kirchen, Städten, Zünften, Berufsverbänden
oder der staatlich organisierten Wirtschafts-   30   Ebd., 119.
gesellschaft, weil in ihnen Solidarität ange-   31   Ebd., 120.
legt und ausgeformt ist.36                      32
                                                33
                                                     Ebd., 121.
                                                     Gestützt auf den nach dem Weberaufstand 1844 gegründe-
Diese „verbandliche Selbstverwaltung“37              ten Centralverein für das Wohl der Arbeitenden Klassen, dem
ist konzeptionell eigenwillig und basiert auf        1872 begründeten Verein für Sozialpolitik und die ihn ablösende
                                                     Gesellschaft für soziale Reform, dazu Reuleder, Frieden zwi-
einer eigenständigen Legitimation. Die von           schen Kapital und Arbeit, in: Stourzh und Grandner (Hrsg.), His-
Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften         34
                                                     torische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, 1986, 38 ff.
                                                     Klose, Geistige Grundlagen der Sozialpartnerschaft im katholi-
wahrgenommenen Selbstverwaltungsbe-                  schen Sozialdenken, in: Stourzh und Grandner, ebd., 53 ff.
fugnisse in der Sozialversicherung standen      35   Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 2007,
                                                     154: „Das Gesellschafts- und Menschenbild des Godesberger
historisch am Anfang einer wirtschaftlichen          Programms ist pluralistisch: die Gesellschaft wird verstanden
und sozialen Transformation der bürger-              als ein Gebilde unterschiedlicher organisierter Interessen. Die
                                                     Konkurrenz der gesellschaftlichen Interessen führt unter den
lichen Gesellschaft Deutschlands, welche             Bedingungen gleicher Aktionsbedingungen zu einem Über-
nach dem 1. Weltkrieg entstandenem kol-              und Unterprivilegierungen eindämmenden Ausgleich. Mithin
                                                     wird die Klassenspaltung als überwindbar angesehen, nicht
lektiven Arbeitsrecht historisch vorausging          durch die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft durch den
und ihm erst den Boden bereitete.38 1918             Befreiungskampf der unterdrückten Klassen, sondern durch
                                                     die gleichrangige Partizipation aller gesellschaftlichen Kräfte
wurde die Tarifautonomie mit Arbeitskampf-           im Gemeinwesen“ – Übergang von der Klassen- zur offenen
freiheit und 1920 die Betriebsverfassung mit    36
                                                     Gesellschaft.
                                                     Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität
betrieblicher und Ansätzen zu wirtschaftli-          und Gleichheit, Frankfurt am Main 1992, 65: „Das Konzept
cher Mitbestimmung begründet, die ab den             der distributiven Gerechtigkeit setzt eine Welt voraus, inner-
                                                     halb derer die Güter zur Verteilung gelangen: Eine Gruppe von
1950er-Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre             Menschen, die gewillt und bereit sind soziale Güter zu vertei-
zur paritätischen Mitbestimmung fortentwi-           len, auszutauschen miteinander gemein zu haben und dies vor
                                                     allem und in erster Linie im eigenen Kreis zu Ende.“
ckelt werden konnte. Sie alle leitet das Be-    37   Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im
mühen, den Konfikt zwischen Kapital und         38
                                                     modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1, 7.
                                                     Eichenhofer, Sozialrecht, 2021 (12. Aufage), Rn. 287.
Arbeit durch Kompromiss zu überwinden.39        39   Priddat, Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft und in der
Was folgt nun aus der vielfältigen Kritik an         sozialen Marktwirtschaft, Mitbestimmung und Kooperation,
                                                     Marburg 2011; Ritter, Der Sozialstaat. Entscheidung und Ent-
der Selbstverwaltung? Wird die Gesellschaft          wicklung im internationalen Vergleich, München 1991, 87; Wan-
offener und gewinnt sie an Vielfalt, müssen          nagat, Anm. 53, 9: „Die gleichwertige Partnerschaft zwischen
                                                     Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Sozialversicherung
sich die Organisationen, welche die Selbst-          wurde in einer Zeit täglich und standhaft praktiziert und gelebt,
verwaltung seit alters tragen, für neue The-         als sich diese Gleichberechtigung sowohl im arbeitsrechtlichen
                                                     Raum […], als auch im politischen Raum […] noch lange nicht
men, Gruppen, Belange und Kommunika-                 durchgesetzt hatte, ja weitgehend unbekannt war.“
150                                                      Deutsche Rentenversicherung 2/2021

die Satzungsautonomie wahr und wirken an        Interessen und Betroffenheiten Ausdruck zu
der Verwaltung der Träger unmittelbar mit.      geben?
Die ehrenamtlichen Vertreterversammlun-         In den Sozialversicherungen sorgt oft kluge
gen der Träger sozialer Selbstverwaltung        Personalpolitik für die Auswahl der Füh-
bestimmen ihre Führung mittels Wahl des         rungsgremien. Die Vertreterversammlungen
hauptamtlichen Vorstands, fnanzieren deren      vollziehen im Wahlakt die von den Trägern
Auf- und Ausgaben und genießen Satzungs-        vorgezeichneten Personalvorschläge regel-
autonomie. Die praktische Bedeutung von         mäßig und ohne Murren anstandslos nach.
Selbstverwaltung liegt in der Rentenversi-      Wird freilich kluge Personalpolitik ohne
cherung bei der Rehabilitation, in der Un-      Rücksicht auf die Selbstverwaltung gelingen
fallversicherung bei der Prävention und der     können? Die Verabschiedung des Haushalts
Arbeitsförderung in der Integration Arbeitsu-   beruht auf der Grundannahme, dass die
chender in den Arbeitsmarkt. In der Kranken-    Träger ihre Ausgaben von Gesetzes wegen
versicherung regeln die Träger neben Prä-       erbringen müssen. Würden die Vertreterver-
vention und Rehabilitation40 gemeinsam mit      sammlungen dem Haushalt eines Trägers die
den Leistungserbringern beträchtliche Teile     Zustimmung versagen, so müsste zur Siche-
des Leistungsgeschehens eigenverantwort-        rung der Funktionsfähigkeit der Träger die
lich, sodass angesichts dieser Befugnisse       fehlende Zustimmung durch den Vorstand
Zweifel laut werden, ob ihre Autonomie nicht    und dessen Beschluss zur vorläufgen Haus-
zu weit reiche.41                               haltsführung ersetzt werden (§ 72 SGB IV).
In der gemeinsamen Selbstverwaltung be-         Bei den von der Selbstverwaltung zu schaf-
stimmen Krankenversicherung und Ärzte,          fenden Satzungsregeln ist stets auch überge-
Krankenhäuser, Apotheken oder Heil- und         ordnetes Recht der Länder, des Bundes oder
Hilfsmittelhersteller das Leistungsprogramm     auch der EU zu beachten, sodass dem Sat-
qualitativ und quantitativ eingehend selbst,    zungsgeber selten ein eigenständiger Spiel-
ohne jede Intervention durch die staatli-       raum verbleibt. Und die Mitwirkung als Versi-
che Gesetzgebung.42 Solche „Staatsferne“        chertenältester ist oft undankbar in einer Zeit,
ist jedenfalls – verglichen mit den (weltweit   in der gerne über „die da oben“ gelästert wird.
zahlreichen) nationalen Gesundheitsdiens-       Die Mitwirkung in der Sozialverwaltung ist
ten – beträchtlich. Im Gesundheitswesen         jedenfalls zeitintensiv und oftmals persönlich
hat die Selbstverwaltung fast alles zu be-      belastend, wenn – was oft vorkommt – die an
stimmen. Die Unabhängigkeit der Sozialver-      sie gerichteten Begehren aus Rechts- oder
sicherungsträger geht dort mit beträchtlicher   faktischen Gründen abzuweisen sind. Die
Handlungskompetenz einher.                      Selbstverwalter können deshalb aus eigener
Außerdem wirken Versicherte als Versiche-       Erfahrung davon berichten, dass die Nach-
rungsälteste und Vertreter von Arbeitneh-
mern und Arbeitgebern in der Sozialverwal-
tung – etwa Widerspruchs-, Zulassungs-,         40 Rische, Prävention und Rehabilitation, in: Deutscher Sozial-
Wirtschaftlichkeits- oder Berufungsaus-            rechtsverband (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Sozialversiche-
schüssen – als ehrenamtliche Repräsentan-          rung, 1991, 81 ff.
                                                41 BSGE 78, 70; 81, 54; Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarzt-
ten an Entscheidungen mit.                         recht, NZS 1997, 497; di Fabio, Verlust der Steuerungskraft
                                                   klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449; Engelmann, Unter-
                                                   gesetzliche Normsetzung im Recht der gesetzlichen Kranken-
                                                   versicherung durch Verträge und Richtlinien, NZS 2000, 1, 76.
3.2 Persönliche Betroffenheit als Legi-         42 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, München
                                                   2003; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversiche-
    timation für Selbstverwaltung?                 rung, Tübingen, 2000; Welti, Soziale Selbstverwaltung und Bür-
                                                   gerbeteiligung im sozialen Gesundheitswesen, in: Mende/Ram-
                                                   sauer und Seckelmann (Hrsg.), Staat, Verwaltung, Information,
Alle diese Aufgaben sind für die Träger ele-       Festschrift für Hans-Peter Bull zum 75. Geburtstag, 2011, 903;
mentar wichtig. Erlauben sie aber gleicher-        Axer, Die Aufsicht über die Selbstverwaltung im Wandel,
                                                   VSSAR 2020,129; Spieker/Wallrabenstein und Hofmann (Hrsg.),
maßen Versicherten und Arbeitgebern, ihren         Mehrwert der Selbstverwaltung?, 2020.
Selbstverwaltung                                                                                               151

wuchsgewinnung Mühe bereitet. Immerhin            ihre Mitwirkung am allgemeinen Geschehen
hat die jüngste Reform des Wahlrechts die         selbstständig und selbstverantwortlich teil.
Rechte von Vertretern ausgeweitet, nament-        Selbstverwaltung erschöpft sich nicht in
lich ihnen bis zu fünf Tagen jährlich Anspruch    formalen Abläufen und befissener Wahr-
auf Fortbildung zuerkannt.                        nehmung von Zuständigkeiten. Soll sie die
                                                  Abstraktheit und Anonymität der Körper-
                                                  schaft überwinden, muss diese von den sie
3.3 Vom Gemeinsinn der Selbstver-                 bildenden Gruppen getragen werden. Dies
    waltung                                       geschieht durch Dialog, der sich auf alle ein-
                                                  schlägigen Themen erstrecken muss – von
Selbstverwalter müssen Gemeinsinn aufbrin-        der Leistungsfähigkeit der Körperschaft bis
gen. Das wusste schon Georg Friedrich Wil-        hin zu deren Zukunftsperspektiven –, und
helm Hegel in seiner vor zweihundert Jahren       zwar im Alltag und an Ort und Stelle. Genau
veröffentlichten Rechtsphilosophie (RPh), die     darin fndet Selbstverwaltung ihren Sinn.
übrigens die an der Berliner Universität ge-
haltenen Vorlesungen dokumentiert. Hegel
betonte darin (vgl. § 255 RPh): In einer Korpo-   4.     Selbstverwaltung und demokra-
ration mitzuwirken sei wichtig, um „dem sitt-            tischer Staat
lichen Menschen außer seinem Privatzwecke
eine allgemeine Thätigkeit zu gewähren“. Das      4.1 Haben die selbstverwalteten Träger
Mittun in der Selbstverwaltung mag oft be-            zu viel – unkontrollierte – Macht?
lastend und bedrückend sein, jedenfalls nicht
nur Freude bereiten, schafft aber ihren Vertre-   Der Wahrnehmung geringen Einfusses der
tern Befriedigung durch unmittelbare Teilhabe     Selbstverwalter auf die Träger steht die öf-
am Allgemeinwohl.                                 fentliche Wahrnehmung gegenüber, die So-
Der Sozialstaat lebt aus dem Geist der Ge-        zialversicherung verfüge über demokratisch
meinschaft, den der Vordenker des Kommu-          nicht hinreichend kontrollierte Macht. In der
nitarismus Philip Selznick dahin umschreibt:      Krankenversicherung regeln die Träger mit
„A community is not a special purpose or or-      den Leistungserbringern beträchtliche Teile
ganization. It is a comprehensive framework       des Leistungsgeschehens eigenverantwort-
for social life […] Communities are, ideally,     lich, sodass angesichts dieser Befugnisse
settings within which mediated participation      Zweifel laut werden, ob die Autonomie nicht
takes place […] The community is a locus of       viel zu weit reiche.44
commitment, to be sure, but within it is pre-     In der gemeinsamen Selbstverwaltung be-
served a substantial degree of autonomy and       stimmen Krankenversicherung und Ärzte,
rationality.”43                                   Krankenhäuser, Apotheken oder Heil- und
In der Selbstverwaltung leben deshalb Ver-        Hilfsmittelhersteller das Leistungsprogramm
treter nicht ihre Vorlieben, Neigungen und        qualitativ und quantitativ eingehend selbst,
besonderen, mitunter auch sonderbaren,            ohne jede Intervention durch die staatliche
Erwartungen an ihre Mitmenschen. Selbst-          Gesetzgebung.45 Die gemeinsame Selbst-
verwaltung ist nicht ein Ort von Selbstdar-       verwaltung im Gemeinsamen Bundesaus-
stellung und bietet kein Forum für die Artiku-
lation von höchstpersönlicher Betroffenheit,      43 Ders., The Idea of a Communication Morality, 75 (1987), Califor-
                                                     nia Law Review, 445, 449.
sondern ermöglicht – im Gegenteil – die Teil-     44 BSGE 78, 70; 81, 54; Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarzt-
habe Einzelner an der Wahrnehmung einer              recht, NZS 1997, 497; di Fabio, Verlust der Steuerungskraft
                                                     klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449; Engelmann, Unter-
im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe.             gesetzliche Normsetzung im Recht der gesetzlichen Kranken-
Nicht das Private wird Gegenstand öffent-            versicherung durch Verträge und Richtlinien, NZS 2000, 1, 76.
                                                  45 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, München
lichen Handelns und Räsonnements, son-               2003; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversiche-
dern umgekehrt nehmen die Einzelnen durch            rung, Tübingen, 2000.
152                                                          Deutsche Rentenversicherung 2/2021

schuss hat nicht stimmberechtigte Mitglieder        als Surrogat für die aus der Zwangsmitglied-
der Patienten- und Selbsthilfevertreter. Sol-       schaft resultierenden Autonomieverluste für
che „Staatsferne“ ist jedenfalls – verglichen       die Versicherten?
mit den (weltweit zahlreichen) nationalen           Arbeitgeber und Versicherte sind von der So-
Gesundheitsdiensten – beträchtlich. Im Ge-          zialversicherung zwar gleichermaßen, aber
sundheitswesen hat die Selbstverwaltung fast        nicht gleich „betroffen“. Die Sozialversiche-
alles zu bestimmen. Die Unabhängigkeit der          rung berührt die Arbeitgeber nicht persön-
Sozialversicherungsträger geht dort mit deren       lich, sondern als Beitragszahler und damit
beträchtlicher Handlungskompetenz einher.           deren fnanzieller Garant.52 Das Lohnabzugs-
Aber alle Satzungsgewalt der Sozialversi-           verfahren verpfichtet sie zur Erhebung von
cherungsträger besteht aufgrund staatlicher         Sozialversicherungsbeiträgen – die Arbeit-
Gesetze und begründet keine Eigenständig-           nehmerbeiträge eingeschlossen. Die Ver-
keit46 für die Träger, die sie dadurch der staat-   sicherten werden durch die Sozialversiche-
lichen Kontrolle entrücken könnte. Weder die        rung dagegen primär als Berechtigte sozialer
Sozialversicherung, noch ihre innere Struktur       Leistungen „betroffen“.
sind gesetzgeberischer Veränderung entzo-           Für die Beteiligung an der Selbstverwaltung
gen.47 In der gemeinsamen Selbstverwaltung          ist es nicht einerlei, in welcher Stellung sich
äußert sich statt der allgemein demokrati-          die zur Teilhabe befugte Gruppe befndet.
schen die mitgliedschaftlich-partizipatori-         Die Teilhaberechte beruhen auf der sozial-
sche Legitimation von Rechtssetzung. Sie ist        ökonomischen Unterscheidung zwischen
partikulär, weil sie sich auf die Versicherten      Arbeitgebern und Versicherten als zwei
beschränkt, und damit gegenüber dem all-            gleichberechtigte Gruppen. Dies entspricht
gemeinen Gesetz nachrangig.48                       auch internationalen Geboten. Nach Art. 72
Aber die mitgliedschaftlich-partizipatorische       IAO-Übereinkommen Nr. 102 (1952) über die
Legitimation erwächst aus der Vertrautheit          Mindestnormen sozialer Sicherheit zählt die
und besonderen Sachkenntnis, welche die             Beteiligung der Versicherten an der Verwal-
davon unmittelbar Betroffenen eher aufbrin-         tung zur Mindestausstattung für die Sozial-
gen als Repräsentanten der Allgemeinheit.           versicherungsträger.53
Daher verbürgt soziale Selbstverwaltung
Sachnähe, Sachverstand und Sachlichkeit
bei Verwaltung und Normsetzung.                     46 Ebsen, Autonome Rechtssetzung in der Sozialversicherung und
                                                       der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR 1990, 57;
                                                       Ebsen, in: Schulin (Hrsg.)., Handbuch Sozialversicherungsrecht
                                                       – Krankenversicherungsrecht, § 7 Rn. 14 ff.
                                                    47 BVerfGE 39, 302, 314; 36, 383, 393.
4.2 Selbstverwaltung und staatliche                 48 BVerfGE 79, 127, 150; 82, 310, 314; 107, 1, 12.
    Willensbildung                                  49 So Schnapp, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversiche-
                                                       rungsrecht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 74;
                                                       Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung,
Ist Selbstverwaltung deswegen als Teilhabe             Tübingen 2000, 298 ff.; das Argument steht in der Tradition des
                                                       liberal-republikanischen Ansatzes der Selbstregierung, dazu
an staatlicher Willensbildung zu verstehen?49          Cancik, „Selbst ist das Volk“. Der Ruf nach der volkstümlichen
Das tragende Element der Selbstverwaltung              Verwaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Der Staat
                                                       2004, 298.
in der Sozialversicherung liegt in der Beteili-     50 Hufen, Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Rechts-
gung von Arbeitgeber- und Versichertenver-             staat, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), 1991, 43, 49,
                                                       Stourzh, 29 f.
tretern (§ 29 SGB IV). Die Sozialversicherung       51 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial-
bezieht also ihre Legitimation durch die sie           rechtshandbuch, § 13 Rn. 38, 59; Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier
                                                       und Welti, Modernisierung der Sozialversicherungswahlen,
tragenden sozialen Gruppen und der „kon-               2009, 62 ff.; BVerfGE 115, 25, 100, 1; 58, 81; Rische, RVaktuell
zentrierten Teilhabe organisierter Interes-            2011, 2, 3.
                                                    52 Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversi-
sen“.50                                                cherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 90, der in Arbeitgeberanteil Lohn-
Ist sie damit durch die „Betroffenenpartizi-           anteil sieht.
                                                    53 IAO, Übereinkommen und Empfehlungen, 1993, Bd. 1, 1919–
pation“ zu rechtfertigen?51 Erfüllt Selbstver-         1991, 920, jedenfalls der Träger, die nicht eine Behörde sind und
waltung eine kompensatorische Funktion                 parlamentarischer Kontrolle unterliegen.
Selbstverwaltung                                                                                                153

Läge einzig in persönlicher „Betroffenheit“       schuss (Art. 301 AEUV) und im sozialen Dia-
das Motiv der Beteiligung, dürften nur die        log (Art. 154f AEUV)60 sowie weltweit in der
Versicherten in der Selbstverwaltung ver-         dreiseitigen Struktur der IAO ausgeformt. Ihr
treten sein; dagegen wäre nicht zu erklären,      geht es beileibe nicht um den volksnahen
weshalb auch die Arbeitgeber paritätisch an       Staat, sondern um die vor staatlicher Be-
der Selbstverwaltung mitwirken. Die Selbst-       vormundung freie gesellschaftliche Selbst-
verwaltung im Sozialrecht überwindet des-         bestimmung.
wegen vor allem auch den Gegensatz von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern und be-            4.3 Sozialpartnerschaft und demokra-
arbeitet damit den in der bürgerlichen Ge-            tische Gesellschaft
sellschaft angelegten Grundkonfikt von Ka-
pital und Arbeit.                                 Die gesellschaftliche Selbstbestimmung er-
In der Selbstverwaltung der Sozialversiche-       klärt sich aus den in der Gesellschaft ange-
rung wird jene Differenz sichtbar, die Tho-       legten sozialen Konfikten. Arbeitnehmer und
mas Mann als den Unterschied „zwischen            Arbeitgeber stehen in einer Marktwirtschaft
der kulturellen und der demokratischen Form       aber weder in konträrem, noch kontradikto-
der Sozialität“ bestimmte.54 Anders formu-        rischem, wohl aber in einem subkonträren
liert: Demokratie bezeichnet die Selbstorga-      Gegensatz zueinander – nicht in konträrem
nisation der Gesellschaft, Selbstverwaltung       oder kontradiktorischem Gegensatz, weil der
dagegen ist Ausdruck von Gemeinschaft.55          Vorteil der einen nicht notwendig auf Kosten
Mit ihrer Begründung suchte sie den „An-          der anderen Gruppe gezogen wird, sondern
schluss an die realen Kräfte des Volkslebens“     beide Gruppen aus der Kooperation Vorteile
– nicht durch Repräsentation56 des „Volkes“,      ziehen. Sie stehen aber auch nicht in einem
sondern durch die Einbeziehung von dessen         harmonischen Verhältnis zueinander.
real gewordenen Kräften. Denn diese haben         Denn Löhne und sonstige Zuwendungen
sich in der Selbstorganisation der Gesell-        an die Beschäftigten stellen für die Arbeit-
schaft als fähig und willig erwiesen, die öko-    geber Kosten dar. Löhne, Sozialleistungen
nomischen und sozialen Belange der arbei-         für die mit der Erwerbsarbeit eng verbunde-
tenden und wirtschaftenden Individuen und         nen sozialen Risiken und Arbeitsbedingun-
Institutionen nicht nur zur Geltung, sondern      gen bestimmen die Lebensbedingungen der
zugleich auch zum Ausgleich zu bringen. Die       Beschäftigten und prägen zugleich entschei-
Selbstverwaltung in der Sozialversicherung
ist damit Ausdruck von Korporatismus: Die
rechtsförmige Organisation von Menschen           54 Mann, Kultur und Sozialismus (1928), in: ders., Von Deutscher
und Institutionen, die eine gegensätzliche           Republik, Frankfurt am Main, 1984, 259, 265; ders., Gedanken
                                                     im Kriege (1914), ebd., 1, 16: „Was ist, was heißt noch ‚Zivi-
Stellung auf dem Arbeitsmarkt innehaben.57           lisation‘, ist es mehr als eine leere Worthülse, wenn man sich
Die Selbstverwaltung beruht folglich nicht           erinnert, daß Deutschland mit seiner jungen und starken Orga-
                                                     nisation, seiner Arbeiterversicherung, der Fortgeschrittenheit
auf Interessenhomogenität,58 sondern auf             aller seiner sozialen Einrichtungen ja in Wahrheit ein viel moder-
Interessendivergenz von Arbeitgebern und             nerer Staat ist als etwa die unsauber plutokratische Bourgeois
                                                     Republik […] – daß unser soziales Kaisertum eine zukünftigere
Versicherten, welche so durch die Sozialver-         Staatsform darstellt als irgendein Advokaten-Parlamentaris-
sicherung überwunden werden. Dies kann               mus, […]“.
                                                  55 Vgl. dazu eingehend Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft,
autoritär in der Tradition des stato corporati-      1935, Darmstadt, Nachdruck 1979.
vo berufsständischer Verfassungen einseitig       56 BSGE 36, 242; 39, 244.
                                                  57 Gusy, Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981.
staatlich verordnet oder im Einklang mit dem      58 Dafür aber Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht –
auf autonomen Gemeinschaften aufbauen-               Krankenversicherungsrecht, § 6 Rn. 93.
                                                  59 Lehmbruch, Sozialpartnerschaft in der vergleichenden Politik-
den liberalen Korporatismus durch Verhand-           forschung, in: Gerlich/Grande und Müller (Hrsg.), Sozialpartner-
lungen und Arbeitskampf ausgehandelt und             schaft in der Krise, Leistungen und Grenzen des Neokorporatis-
                                                     mus in Österreich, 1985, 84, 86 ff.
erstritten werden.59 Die letztgenannte Form       60 Streinz und Eichenhofer, EUV, AEUV, 2012, (2. Aufage), Art. 154
ist in der EU im Wirtschafts- und Sozialaus-         AEUV Rn. 2 ff.
154                                                        Deutsche Rentenversicherung 2/2021

dend die auch die Arbeitgeber – paritätisch       „Vorreiter“ im Aufbau eines öffentlichen So-
– treffenden Kosten. Der Grundkonfikt zwi-        zialleistungssystems, aber als Nachzügler in
schen Arbeit und Kapital setzt sich also auch     den gesellschaftlichen Kämpfen um politi-
bei der durch Sozialversicherung realisierten     sche Teilhaberechte.
Ausgestaltung der ebenfalls an den Arbeits-       Die Brüderlichkeit in der Sozialpolitik war im
markt gebundenen sozialen Risiken fort und        Zweifelsfall wichtiger als die „Gewährleis-
fndet in deren Institutionen eine dem Tarif-      tung rechtlicher Gleichheit oder politischer
vertragssystem entsprechende Ausgestal-           Freiheit für den einzelnen“.66 Selbstverwal-
tung.                                             tung in der Sozialversicherung gilt dem Teil,
Soziale Konfikte fnden sich in jeder priva-       nicht dem Ganzen, und widmet sich Wichti-
ten Wirtschaftsordnung, werden jedoch im          gem, aber Partikulärem. Denn sie betrifft die
Zeichen von Sozialpartnerschaft in ihrem          versicherten Personen und die Versicherung.
Austrag gemäßigt und so in ein für Kapital        Als Körperschaften dürfen Sozialversiche-
und Arbeit beiderseitig vorteilhaftes Koope-      rungen machen, was sie machen müssen.
rationsverhältnis eingefügt. Die Sozialreform     Statt am Gängelband staatlicher Kontrolle
– die so in Sozial- und Arbeitsrecht Gestalt      geführt zu werden, wirken sie an der langen
annahm – ersetzte die „entstaatlichte Wa-         Leine organisatorischer Autonomie. Dafür
renproduktion“ durch die „organisierte Ge-        ist die Selbstverwaltung mehr als ein prakti-
sellschaft“.61 Walther Rathenau bezeichnete       sches Mittel und für deren Legitimation des-
das „Ziel der solidarischen Demokratie“ als       halb schlechthin zentral.
die „Herrschaft des Volkes über sich selbst,      Verwaltung und Gestaltung verlangen nach
nicht vermöge der Verhältniszahlen seiner In-     Vertrautheit mit den Institutionen. Das fordert
teressen, sondern vermöge des Geistes und         Kenntnisse und Einblicke in Lebenswelten.
Willens, den es befreit“.62                       Menschen wollen nicht nur verwaltet, son-
Sie lässt sich als Ausdruck der kollektiv         dern gut verwaltet werden. Zur guten Ver-
wahrgenommenen Vertragsautonomie den-             waltung (Art. 41 GRCh) gehört nicht nur seit
ken, welche die atomisierte Gesellschaft          heute zwingend, Betroffene zu hören. Parti-
zur Überwindung und zum Ausgleich der ihr         zipation der Betroffenen ist die zentrale Res-
innewohnenden und darin angelegten Inte-          source der Steuerung. Die soziale Selbstver-
ressensgegensätze hervorgebracht hat und          waltung verbürgt dezentrale Entscheidungen
sie so verpfichtend dazu anhält, sozial – das     und führt Zuständigkeit mit Verantwortung
heißt auf Gemeinschaft angelegt und aus-          zusammen und steht damit gegen einen
gerichtet – zu werden. Dieses Arrangement         Staat, der sich für alles zuständig hält, aber
wurde in der Sozialversicherung vorbereitet,      am Ende für nichts verantwortlich ist.
begründet und durch sie entscheidend ge-          Wie angestammt die Gemeinden als Verband
fördert. Sie verband erstmalig und anfangs        genossenschaftlicher Selbstverwaltung und
einmalig Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu          Ort der Vermittlung von Markt und Öffentlich-
einer Solidargemeinschaft zum Schutz der          keit, Landwirtschaft, Handwerk und Handel,
Arbeitnehmer vor den elementaren Daseins-         Arm und Reich, Erwerbstätigen und Nicht-
risiken der Krankheit, des Unfalls, der Invali-
dität und des Alters wie der Arbeitslosigkeit.
Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung       61 Renner, Probleme des Marxismus, in: Sandkühler und de la
symbolisiert die Arbeitgeber und Arbeitneh-          Vega (Hrsg.), Austromarxismus, Frankfurt am Main, 1970, 263,
mer verbindende Solidargemeinschaft.63               266, 278.
                                                  62 Rathenau, Die neue Gesellschaft, 1919, in: ders., Schriften und
Die Verbände werden zu Stützen der mit-              Reden 1964, 278, 352.
telbaren Staatsverwaltung,64 ohne zugleich        63 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, Tübingen 1997, 239; Gusy,
                                                     Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981, 28 ff.
staatlicher Fachaufsicht ausgesetzt oder          64 Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 351 ff.
parlamentarischer Kontrolle unterworfen zu        65 Bogs, RdA 1956, 7.
                                                  66 Bude, Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Ham-
sein.65 Deutschland erscheint insoweit als           burg 1999, 21.
Selbstverwaltung                                                                                               155

erwerbstätigen Privates und Öffentliches          dewegs zentral zu ermöglichen.73 Demokra-
miteinander verband und zum wirtschaftli-         tie schafft deswegen den Raum zu autono-
chen wie sozialen Ausgleich führte,67 steht       mer Gestaltung des gesellschaftlichen und
die Sozialversicherung für den Versuch, die       wirtschaftlichen Lebens. Die Selbstverwal-
Akteure wirtschaftlichen Austausches und          tung der Sozialversicherung verbürgt vor
des Arbeitsmarktes zum Vorteil beider auf öf-     allem die Nähe in ihrer ganzen Fülle des Wor-
fentliche Belange zu verpfichten. Die Selbst-     tes: Sachnähe, Fachnähe, räumliche Nähe,
verwaltung in der sozialen Sicherung steht        Wirtschaftsnähe, Problemnähe, Lebensnä-
für die „mittelbare Demokratie“, sie ist nicht    he. Selbstverwaltung heißt, Recht konkret
gegen die parlamentarische Demokratie68           wahrnehmen und als Artefakt begreifen, das
gerichtet, sondern deren Ausdruck.69              politisch gemacht und daher auch politisch
Sie ist allerdings nicht aus der allgemeinen      geändert werden kann.
Staatsgewalt abgeleitet, sondern gründet          Selbstverwaltung muss Demokratie achten
in einer originären, von Art. 87 Abs. 2 GG        wie umgekehrt Demokratie Selbstverwaltung
vorausgesetzten Legitimation mittelbarer          weder gängeln, noch bevormunden darf. Die
Staatsverwaltung durch die sozialen Gruppen       Belange der Sozialversicherten und der All-
als Nutznießer sozialer Sicherheit. Zu ihr ge-    gemeinheit sind nicht gleich und schon gar
hört zwingend – wie schon von Art. 161 WRV        nicht identisch, sie sind aber andererseits
bestimmt – die Selbstverwaltung und gesell-       auch nicht prinzipiell voneinander verschie-
schaftliche Gewährleistung.70 Sie formt die       den. Die Selbstverwaltung steht deshalb
Verbandsautonomie als eine gegenüber dem          nicht gegen die Demokratie, wie umgekehrt
Staat gerichtete Autonomie der Träger der         diese jene nicht verdrängen darf.
kollektiven Ordnung des Arbeitslebens aus.        Selbstverwaltung braucht autonome Ge-
Die Tarifvertragsparteien können so über die      staltungsbefugnisse in einem demokratisch
Ordnung des Arbeitslebens hinaus auch die         gesetzten Rahmen. Die Demokratie hat
die Arbeitsbedingungen prägende soziale           deshalb die Sozialversicherung in Selbst-
Sicherheit maßgeblich beeinfussen.71 Par-         verwaltung zu ermöglichen und nicht zu er-
tizipation wird zur zentralen Steuerungs-         übrigen!
ressource staatlicher Sozialpolitik. Dies ver-
bürgt Effzienz und Legitimation, weil sie der
Pluralität wie Divergenz gesellschaftlicher In-
teressen Raum gibt, um sie gerade dadurch         67 Müthling, Die Geschichte der deutschen Selbstverwaltung,
zum Ausgleich zu bringen.72                          Stuttgart 1966, 9 ff.
                                                  68 BVerfGE 11, 310, 321.
Die Selbstverwaltung ist mit der Demokra-         69 BVerfGE 33, 125, 157 ff.; 39, 302, 313 f.; Willy Brandt sah in
tie verträglich. Denn diese fordert nicht die        der Demokratie ein Prinzip, „das alles gesellschaftliche Sein der
                                                     Menschen beeinfussen und durchdringen muss, weil es ohne
Beseitigung sämtlicher zwischen dem Ein-             Mitbestimmung und Mitverantwortung keine ‚stabile Demokra-
zelnen und dem Staat stehenden Gewalten              tie‘ gibt“; Grebing, Anm. 71, 176.
                                                  70 Salzwedel, Zur rechtlichen Struktur moderner Selbstverwal-
durch die unumschränkte, das gesamte ge-             tung, ZfS 1963, 202 f.
sellschaftliche Leben durchdringende Herr-        71 Vgl. dazu eingehend Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Auf-
                                                     gaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen
schaft des aufgrund des Mehrheitsprinzips            1981, 65 ff., 116 ff.
tendenziell allmächtigen Staates über die         72 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965.
                                                  73 Vgl. dazu näher Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völ-
ihm umfassend unterworfenen Individuen.              ker-, europäischen und deutschen Recht, 2012, 60 ff.; ders.,
Demokratie ist vielmehr durch die Grund- und         Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, 2013, 65 ff.; vgl.
                                                     aber auch ganz in diesem Sinne Ipsen, Grundzüge einer Grund-
Menschenrechte begrenzt und gebunden.                rechtsdogmatik, Der Staat, 2013, 286 ff.; ders., Grundrechte als
Sie muss der Gesellschaft deswegen nicht             Gewährleistungen von Handlungsmöglichkeiten, in Sachs und
                                                     Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat,
nur Raum zur autonomen Entfaltung ihrer              Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, Berlin 2012,
selbst belassen, sondern sie hat im Sinne            369, vgl. auch die préambule der Französischen Constitution
                                                     vom 19. April 1946: „La République garantit à tous les hommes
des „enabling“ und „empowering state“ die            et a toutes les femmes vivant dans l‘Union Française l‘exercice
größtmögliche Entfaltungsfreiheit aller gera-        individuel ou collectif des libertés et droits ci-après“.
156                                                      Deutsche Rentenversicherung 2/2021

5.    Fazit                                       sammen und steht damit gegen einen
                                                  Staat, der sich für alles zuständig hält, aber
Die Selbstverwaltung in der Sozialversiche-       am Ende für nichts verantwortet.
rung gilt dem Teil, nicht dem Ganzen. Sie         Einer jeden Solidargemeinschaft ist die
widmet sich Wichtigem, aber Partikulärem.         Selbstverwaltung deshalb mitzugeben, weil
Sie betrifft die versicherten Personen, die sie   die Verwaltung auf gesellschaftliche Institu-
beschäftigenden Arbeitgeber und die Versi-        tionen und Mentalitäten aufbaut, um diese
cherung. Sozialversicherungen dürfen ma-          zu verstärken, und weil der Staat sie braucht
chen, was sie machen müssen.                      und sie selbst nicht aus eigner Machtvoll-
Statt am Gängelband staatlicher Steue-            kommenheit hervorbringen könnte. Die so-
rung sollen und müssen sie an der langen          ziale Selbstverwaltung folgt daher aus der
Leine organisatorischer Autonomie geführt         sozialen Struktur der Sozialversicherung.
werden. Verwaltung und Gestaltung ver-            Sie gibt der Sozialpartnerschaft Ausdruck
langen nach Vertrautheit mit den Institutio-      und bringt Wirtschaft und Soziales zum Aus-
nen. Das fordert Kenntnisse und Einblicke         gleich. Deshalb ist die soziale Selbstverwal-
in Lebenswelten. Menschen wollen nicht            tung nicht und durch nichts zu ersetzen.
nur verwaltet, sondern gut verwaltet wer-
den. Zur guten Verwaltung gehört nicht nur
seit heute zwingend, Betroffene zu hören.
Partizipation der Betroffenen ist heute die       Anschrift des Verfassers:
zentrale Ressource der organisatorischen
Steuerung. Die soziale Selbstverwaltung           Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer
verbürgt dezentrale Entscheidungen und            Friedrich-Engels-Straße 150
führt Zuständigkeit mit Verantwortung zu-         13158 Berlin
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