Soziale Selbstverwaltung - unzeitgemäß?1 - Deutsche ...
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Selbstverwaltung 145 Soziale Selbstverwaltung – unzeitgemäß?1 Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Berlin Der Beitrag geht den Einwänden gegen die soziale Selbstverwaltung nach – Zweifel an ihrer Repräsentativität, dem Vorwurf von zu geringem Einfuss ihrer Vertretungen oder der Kritik an ihrer angeblich weitreichenden Macht – und ergründet, ob diese Einwände überzeugen oder Fehlwahrnehmungen sind. Insgesamt wird die soziale Selbstverwaltung in Verbindung mit dem Tarifrecht und betrieblicher und wirtschaft- licher Mitbestimmung als Teil „sozialer Demokratie“ veranschaulicht. Selbstverwaltung dient nicht primär der Selbstdarstellung und Interessensbekundung ihrer Vertreterin- nen und Vertreter, sondern bezweckt umgekehrt deren Teilnahme an der im Allgemein- interesse liegenden Verantwortung von Institutionen. Vertreterinnen wie Vertreter neh- men durch die Selbstverwaltung an dem Wirken der Selbstverwaltungskörperschaft unmittelbar teil. Die Selbstverwaltung gefährdet nicht die Demokratie. Denn diese formt jene und umgekehrt stützt jene diese. Selbstverwaltung ist keine Alternative zur Demokratie, sondern vielmehr unmittelbarer Ausdruck von Demokratie. 1. Sozialversicherung heißt Selbst- 1. Schließt soziale Selbstverwaltung noch verwaltung heute an die realen Kräfte des Volksle- bens an und geschieht dies so, dass die Selbstverwaltung bestimmt die Sozialver- Vertretenen durch ihre Vertreter repräsen- sicherung seit ihrem Bestehen. Die Kaiser- tiert sind? liche Botschaft vom 17. November 1881 – 2. Haben die gewählten Vertreter in den Gre- den Ausbau der Kranken- und den Aufbau mien der Sozialversicherung genug zu von Unfall- und Rentenversicherung in Aus- sagen – oder ist ihr Mitwirken eher sym- sicht stellend und damit zum Gründungsdo- bolisch und damit eine demokratische kument der deutschen Sozialversicherung Zierde? geworden – verhieß: Wenn die Sozialver- 3. Üben nicht umgekehrt die selbstverwalte- sicherung den „engeren Anschluss an die ten Sozialversicherungen einen zu großen realen Kräfte des Volkslebens“ suche und Einfuss aus, woraus ein demokratischer „in Form korporativer Genossenschaften Kontrollverlust erwächst? unter staatlichem Schutz und Einfuss“ er- richtet sei, könne sie die „Lösung von Auf- Diesen drei in der Öffentlichkeit der Selbst- gaben“ ermöglichen, „denen die Staatsge- verwaltung der Sozialversicherung oft ent- walt in gleichem Umfange nicht gewachsen gegengehaltenen und miteinander nicht in sein würde“. Seither lebt die Sozialversi- Einklang stehenden Einwänden soll im Fol- cherung aus der Überzeugung, dass sozia- genden nachgegangen werden. Die Frage le Selbstverwaltung den sozialen Ausgleich nach der Repräsentativität wendet sich ermögliche, den selbst der demokratische gegen die Mitwirkung von Arbeitgeberver- Staat nicht gleichwertig hervorzubringen vermag. 1 Ein um Fußnoten und nähere Begründungen erweiterter Impuls- Diese Rechtfertigung der Selbstverwaltung vortrag – gehalten auf einer von der Bundeswahlbeauftragten erlaubt, einige Zweifelsfragen an deren An- für Sozialversicherungswahlen und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 27. April 2021 veranstalteten Video- gemessenheit in der Gegenwart abzuleiten: konferenz.
146 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 bänden und Gewerkschaften in der Sozial- Grundkonfikt von Kapital und Arbeit und hie- versicherung und die Sozialwahlen (Ab- raus erwächst ein Gegensatz von Arbeitge- schnitt 2). Die Frage nach dem Einfuss der bern und Arbeitnehmern. Dieser wird durch Vertreter zielt auf die Befugnisse von Selbst- die nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete verwaltung (Abschnitt 3). Schließlich be- Koalitionsfreiheit in den Rechtsformen des handelt das Verhältnis von demokratischer Tarifvertragsrechts überwunden. Koalitions- Kontrolle und selbstverwalteten Sozialversi- freiheit und Tarifautonomie erlauben Arbeit- cherungen deren Verhältnis zur Demokratie gebern und Arbeitnehmern die selbstständi- (Abschnitt 4). ge Setzung von Normen für Arbeitsverträge. Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden damit zum sozialen Ausgleich angehalten. 2. Repräsentativität Die Sozialversicherung beruht auf der „ver- bandlichen Selbstverwaltung“5 und auch 2.1 Arbeitgeber- und Versichertenver- sie wird von den Koalitionen getragen.6 treter tragen die Selbstverwaltung Diese erlangen damit über ihre Befugnisse im Arbeitsleben hinaus auch bestimmenden Die Selbstverwaltung in der Sozialversiche- Einfuss auf die Sozialversicherung.7 rung ruht auf der Beteiligung von Arbeitge- Die soziale Selbstverwaltung folgt nicht aus ber- und Versichertenvertretern (§ 29 SGB IV) der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG),8 an deren Verwaltung. Die Vertreter sind Mit- fndet in der Tarifautonomie aber eine Ent- glieder von Arbeitgebern und Versicherten sprechung. Gemeinsam mit der betriebli- und werden als solche aufgrund von Wah- chen und wirtschaftlichen Mitbestimmung len in die Vertreterversammlung der Sozial- und der Tarifautonomie bildet die soziale versicherungsträger entsandt (§ 44 SGB IV). Selbstverwaltung die „Sozialpartnerschaft“. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften Dadurch kann das wirtschaftliche und ge- nehmen diese Aufgaben in der Selbstverwal- sellschaftliche Leben umfassend durch Zu- tung als „Vertreter der Großgruppen der Wirt- sammenwirken von Wirtschaft und Beschäf- schaftsgesellschaft“2 wahr. Dort werden sie tigten gestaltet werden. Zuweilen wird diese miteinander zu „partnerschaftlichem Zusam- heute weltweit entwickelte Mitbestimmung menwirken“3 verbunden. Selbstverwaltung Beschäftigter am Wirtschafts-, Sozial- und in der Sozialversicherung bedeutet die „kon- Arbeitsleben auch „soziale Demokratie“ ge- zentrierte Teilhabe organisierter Interessen“4. nannt. Die soziale Sicherheit baut auf der formellen und formalen Arbeit, für die ihrerseits die or- 2 Reiter, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Selbstverwal- ganisierte Arbeiterschaft und Unternehmer- tung in der Sozialversicherung, Wiesbaden 1991, 17, 20. schaft eine tragende Rolle spielt. Dieser Ein- 3 Ebd. 4 Hufen, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), 43, 49; fuss wird auch in der Selbstverwaltung der Stourzh, in: ders. und Grandner (Hrsg.), Historische Wurzeln der Sozialversicherung sichtbar, wenn und weil Sozialpartnerschaft, Wien 1986, 29 f. 5 Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im sie – wie regelmäßig und üblich – von den modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1. Sozialpartnern getragen wird. Dieser Zusam- 6 Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin 1973, 122. menhang ist nach § 48 SGB IV zwar wegen 7 Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Berlin des weiten Begriffs von beteiligungsfähigen 2001, 150; Hofmeister, in: Stourzh und Grandner (Hrsg.), 278: „Kein zweites Rechtsgebiet weist eine so enge Nahebeziehung Organisationen nicht normativ vorgegeben, zum Phänomen der Sozialpartnerschaft auf wie das Sozialver- hat sich aber praktisch so entwickelt. Es sind sicherungsrecht kontinentaleuropäischer Prägung“; Wannagat, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Deutscher dessen ungeachtet durchaus Defzite in der Sozialgerichtsverband, 1. Bundestagung, 1966, 9 ff.; Collective Vertretung zu notieren – etwa im Hinblick auf bargaining – heute eine Kernnorm des internationalen Arbeits- rechts – überwindet für die Arbeitnehmerschaft das ihr 1791 Studierende und Schüler. in Frankreich durch die Loi Le Chapelier auferlegte Verbot der Die arbeitsteiliges Wirtschaften ermöglichen- Freiheit zum Zusammenschluss. 8 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, de bürgerliche Gesellschaft beruht auf dem Tübingen 2000, 291.
Selbstverwaltung 147 2.2 Kritik an der sozialpartnerschaft- sucht. Wird bei Sozialwahlen das Gegen- lichen Grundlage der Selbstver- teil angestrebt? Auch wenn es zu Urwahlen waltung kommt – und die jüngste Reform des Wahl- rechts15 erleichtert diese –, bewies die in der Seit Bestehen der Selbstverwaltung war die Vergangenheit geringe Wahlbeteiligung die Kritik daran zentrale Wegbegleiterin.9 Sie niedrige Anziehungskraft der Wahl. wandte sich gegen die Annahme, Arbeitge- Zu Zeiten von Demoskopie und elektroni- berverbände und Gewerkschaften repräsen- scher Kommunikation sind spontane, aus der tierten Wirtschaft und Beschäftigte. In Zeiten Mitte der Gesellschaft – Bottum-up – kom- sinkender Tarifbindung und nachlassender mende Meinungsbildungsprozesse, die von Prägekraft von Großbetrieben scheint diese den internetaffnen gerne als Ausdruck von Annahme in der Tat zweifelhaft. Es fragt sich „Schwarmintelligenz“ idealisiert werden, üb- weiter: Kommen die Nichterwerbstätigen, lich, und setzen Maßstäbe. Vor diesem Hin- Rentner oder Patienten mit speziellen Be- tergrund mutet die soziale Selbstverwaltung dürfnissen in den Vertretungen hinreichend anscheinend als nicht mehr zeitgemäße Form vor? Mit Reform der Sozialwahlen10 sollen demokratischer Teilhabe an, weil der Einfuss vermehrt Frauen für die Selbstverwaltung des nicht in Gewerkschaften oder Arbeitge- gewonnen werden – gewiss ein Schritt zu berverbänden organisierten Einzelnen nicht mehr Repräsentativität! besteht. Repräsentation baut auf der Orga- Die „Sozialwahlen“11 erlauben nach § 46 II nisation der organisierten Gruppen auf und SGB IV „Friedenswahlen“: „Wird aus einer nicht auf der spontanen Akklamation der sich Gruppe nur eine Vorschlagsliste zugelassen als ungebunden wähnenden Vertretenen. oder werden auf mehrere Vorschlagslisten nicht mehrere Bewerber benannt, als Mitglie- der zu wählen sind, gelten die vorgeschlage- 2.3 Rechtfertigung der Selbstverwaltung nen als gewählt“. Damit können die Gruppen- mitglieder die Wahl ihrer Vertreter durch den Die von Art. 161 WRV16 geforderte Selbst- Personalvorschlag der sie repräsentierenden verwaltung in der Sozialversicherung kenn- Organisationen – namentlich der Arbeitgeber- zeichnet nach heutigem Verständnis zwei verbände und Gewerkschaften – ersetzen. Die Rechtsprechung billigte die „Friedenswah- len“, weil das zu Wahlen und Abstimmungen des Volkes verpfichtende Demokratiegebot 9 Kohl und Mecke, Selbstverwaltung, in: Eichenhofer/Rische und Schmähl (Hrsg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenver- (Art. 20 GG) auf Arbeitgeber und Versicher- sicherung, SGB VI, Köln 2012 (2. Aufage), Rn. 70 ff.; Ruland, te nicht zu erstrecken sei: Diese seien nicht Funktion und Tradition sozialer Selbstverwaltung am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1993, 684 ff. das „Volk“, das in Wahlen und Abstimmungen 10 Pawelski, Die historische Reform des Sozialwahlrechts, WzS seinen Willen äußern muss. Außerdem seien 2021, 35. 11 Ayaß, Zur Geschichte der Sozialwahlen, SozSich 12/2013, 422ff.; „Friedenswahlen“12 kostengünstiger und si- Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier und Welti, Modernisierung der cherten dennoch ein Ergebnis, das auch in Sozialversicherungswahlen, 2009; Der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Schlussbericht des Bun- Wahlen erzielt würde.13 Sie nähmen „Wahlen“ deswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen zu den ohne Wahl auch ihre Anstößigkeit. Die Be- Sozialwahlen 2011, 2012. 12 BSGE 36, 242; 39, 244. stimmung verstärkt also die Beobachtung, 13 Jung, in: Eichenhofer und Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 46 dass die Sozialversicherung „eine von den Rn. 6 ff. 14 Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin Organisationen der Sozialpartner gelenkte 1973, 113. Institution unseres Staatsganzen“14 darstellt. 15 Pawelski, Die historische Reform des Sozialwahlrechts, WzS 2021, 35. In vielen Kommunalwahlgesetzen wird da- 16 „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum gegen durch Kumulieren und Panaschieren Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaft- lichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des der Einfuss der Wähler auf die Zusammen- Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswe- setzung der Vertretungen zu erhöhen ver- sen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“
148 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 Dimensionen,17 die gegenüber dem Staat schaftlich-partizipatorischen Legitimation, selbstständige Wahrnehmung öffentlicher die stets partikulär und damit auch gegenüber Aufgaben (§ 29 SGB IV) und die Beteiligung dem allgemeinen Gesetz nachrangig ist und der von Maßnahmen der Träger Betroffenen bleiben muss.28 an deren Organisation und Verwaltung.18 Die Allerdings ist die sozialstaatlich organisierte Sozialversicherung ist keine „direkte Unter- Gesellschaft ohne Organisationen nicht zu gliederung des Staates“,19 sondern gegen- haben. So wenig die Demokratie ohne Par- über dem Staat selbstständig.20 Das gelangt teien29 auskommt, weil sie das Führungs- in der Selbstverwaltung zum Ausdruck. personal heranbilden und auswählen und Nach Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG sind die So- die politische Programmatik formulieren, ist zialversicherungsträger Körperschaften des auch die Vertretung wirtschaftlicher und so- öffentlichen Rechts. Jede Körperschaft – zialer Belange durch gleichartig Betroffene Personenverband mit eigener Rechtsper- ohne Organisationen dauerhaft nicht mög- sönlichkeit und damit juristische Person lich. Beides wird von Art. 21, 9 Abs. 3 GG – verlangt die Selbstverwaltung durch ihre verfassungsrechtlich anerkannt. Parteien Mitglieder. Weil die Mitglieder der Körper- wie Verbände sind zur Interessenvertretung schaft durch Gesetz den einzelnen Trägern durch Ausgleich und Kompromiss verpfich- zugewiesen sind und darin zwangsweise tet. Sie gewinnen ihre Durchsetzungskraft vergemeinschaftet werden, liegt in jedem durch Einigkeit: Einigkeit macht stark: L‘uni- Einschluss in eine Sozialversicherung zu- on fait la force (Flora Tristan)! Und das einige gleich ein Freiheitseingriff, und dieser ver- Volk kann nicht besiegt werden (spanisch: El langt als Ausgleich die Selbstverwaltung. pueblo unido namàs sarà vincido)! Trotz ihrer rechtlichen Unabhängigkeit sind die Sozialversicherungsträger ein Teil öf- fentlicher Verwaltung. Deshalb sind sie nicht Träger, sondern Adressaten der Grundrech- te, die sie verpfichten und nicht berechti- 17 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial- gen.21 Die Unabhängigkeit der Sozialver- rechtshandbuch (SRH), 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 4; Seewald, sicherungsträger begründet die Pficht zu Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der Unfallversicherung?, SGb 2006, 569; Breuer, Das (Erfolgs)Modell „Soziale Selbstver- eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung waltung“, Festschrift Fuchs, 2020, 389. gegenüber staatlicher Einzelvorgabe. In die- 18 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial- rechtshandbuch, 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 35 ff.; Schnapp, ser rechtlichen Eigenständigkeit22 ist die Per- Probleme der Selbstverwaltung, SGb 1996, 621, 624 unter- sonal-, Haushalts- und Satzungsautonomie scheidet danach die „äußere“ von der „inneren“ Selbstverwal- tung; vgl. auch Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversicherungs- angelegt.23 „Die Selbstverwaltung dezentra- recht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 66 f. lisiert die staatliche Verwaltung und die poli- 19 BT-Drs. 17/14779, 2. 20 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial- tische Macht“.24 rechtshandbuch, 2018, 6. Aufage, § 13 Rn. 5. Die Satzungsgewalt der Sozialversicherungs- 21 BVerfGE 21, 362, 369; 39, 302; 77, 340; anders Salzwedel, Zur rechtlichen Struktur der modernen Selbstverwaltung, ZfS 1963, träger besteht aufgrund staatlichen Gesetzes 203. und begründet keine originäre Autonomie,25 22 Ebd., 65 ff. 23 Hendler, Die Funktion der Selbstverwaltung im gegenwärtigen deren Kern staatlich unveränderlich garan- Sozialrecht, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Selbst- tiert wäre. Die Sozialversicherung und ihre verwaltung in der Sozialversicherung, 1991, 65, 68. 24 Rische, RVaktuell 2011, 2; vgl. auch Ipsen, Stichwort „Autono- Struktur sind gesetzgeberischer Veränderung mie“, in: Heun (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart nicht entzogen.26 Das Bundesverfassungs- 2006, 159. 25 Anders Ebsen, Autonome Rechtssetzung in der Sozialversiche- gericht hielt statt der Selbstverwaltung sogar rung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR ein Bundesamt für Krankenversicherung für 1990, 57; Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversiche- rungsrecht – Krankenversicherungsrecht, § 7 Rn. 14 ff. möglich.27 Denn die Selbstverwaltung wird 26 BVerfGE 39, 302, 314; 36, 383, 393. durch Gesetzgebungsakte begründet. Darin 27 BVerfGE 39, 302, 314 f. 28 BVerfGE 79, 127, 150; 82, 310, 314; 107, 1, 12. äußert sich die Differenz zwischen der all- 29 Ipsen, in: Sachs, Kommentar zum GG, 2011 (4. Aufage), Art. 21 gemein-demokratischen und der mitglied- Rn. 2 ff.
Selbstverwaltung 149 Selbstverwaltung wird daher vom „Interes- tionsformen auch öffnen. Repräsentativität senverbandsprinzip“30 getragen, von der steht unter den Bedingungen der jeweiligen „Gruppenparität“31 beherrscht und ist darü- Zeit und ist jeweils in deren Formen zeitge- ber zur „Sache der Koalitionen des Arbeits- mäß einzulösen. Wird die Gesellschaft viel- lebens geworden“32. Soziale Gegensätze fältiger und verlangt nach direkter Mitspra- anzuerkennen und durch Kompromiss aus- che, muss die Selbstverwaltung dafür neue zugleichen, entsprach der in das 19. Jahr- Wege nicht nur suchen, sondern auch fnden hundert zurückreichenden bürgerlichen So- und schließlich öffnen. zialreformbewegung33, der auf Überwindung von Klassengegensätzen und Solidarität bedachten katholischen Sozialethik34 sowie 3. Befugnisse der Selbstverwaltung dem Gesellschaftsbild der deutschen Sozial- demokratie – spätestens nach Godesberg35. 3.1 Was vermag die Selbstverwaltung? In solchen Institutionen gelangt eine bis in das Mittelalter zurückreichende Tradition Wie steht es um die Befugnisse sozialer genossenschaftlicher Selbstorganisation Selbstverwaltung? Deren Vertreter bestim- der Gesellschaft zum Ausdruck. Seit jeher men die Führung der Sozialversicherungs- gründen soziale Rechte in Gemeinschaften, träger, beschließen deren Haushalt, nehmen Kirchen, Städten, Zünften, Berufsverbänden oder der staatlich organisierten Wirtschafts- 30 Ebd., 119. gesellschaft, weil in ihnen Solidarität ange- 31 Ebd., 120. legt und ausgeformt ist.36 32 33 Ebd., 121. Gestützt auf den nach dem Weberaufstand 1844 gegründe- Diese „verbandliche Selbstverwaltung“37 ten Centralverein für das Wohl der Arbeitenden Klassen, dem ist konzeptionell eigenwillig und basiert auf 1872 begründeten Verein für Sozialpolitik und die ihn ablösende Gesellschaft für soziale Reform, dazu Reuleder, Frieden zwi- einer eigenständigen Legitimation. Die von schen Kapital und Arbeit, in: Stourzh und Grandner (Hrsg.), His- Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften 34 torische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, 1986, 38 ff. Klose, Geistige Grundlagen der Sozialpartnerschaft im katholi- wahrgenommenen Selbstverwaltungsbe- schen Sozialdenken, in: Stourzh und Grandner, ebd., 53 ff. fugnisse in der Sozialversicherung standen 35 Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 2007, 154: „Das Gesellschafts- und Menschenbild des Godesberger historisch am Anfang einer wirtschaftlichen Programms ist pluralistisch: die Gesellschaft wird verstanden und sozialen Transformation der bürger- als ein Gebilde unterschiedlicher organisierter Interessen. Die Konkurrenz der gesellschaftlichen Interessen führt unter den lichen Gesellschaft Deutschlands, welche Bedingungen gleicher Aktionsbedingungen zu einem Über- nach dem 1. Weltkrieg entstandenem kol- und Unterprivilegierungen eindämmenden Ausgleich. Mithin wird die Klassenspaltung als überwindbar angesehen, nicht lektiven Arbeitsrecht historisch vorausging durch die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft durch den und ihm erst den Boden bereitete.38 1918 Befreiungskampf der unterdrückten Klassen, sondern durch die gleichrangige Partizipation aller gesellschaftlichen Kräfte wurde die Tarifautonomie mit Arbeitskampf- im Gemeinwesen“ – Übergang von der Klassen- zur offenen freiheit und 1920 die Betriebsverfassung mit 36 Gesellschaft. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität betrieblicher und Ansätzen zu wirtschaftli- und Gleichheit, Frankfurt am Main 1992, 65: „Das Konzept cher Mitbestimmung begründet, die ab den der distributiven Gerechtigkeit setzt eine Welt voraus, inner- halb derer die Güter zur Verteilung gelangen: Eine Gruppe von 1950er-Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre Menschen, die gewillt und bereit sind soziale Güter zu vertei- zur paritätischen Mitbestimmung fortentwi- len, auszutauschen miteinander gemein zu haben und dies vor allem und in erster Linie im eigenen Kreis zu Ende.“ ckelt werden konnte. Sie alle leitet das Be- 37 Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im mühen, den Konfikt zwischen Kapital und 38 modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1, 7. Eichenhofer, Sozialrecht, 2021 (12. Aufage), Rn. 287. Arbeit durch Kompromiss zu überwinden.39 39 Priddat, Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft und in der Was folgt nun aus der vielfältigen Kritik an sozialen Marktwirtschaft, Mitbestimmung und Kooperation, Marburg 2011; Ritter, Der Sozialstaat. Entscheidung und Ent- der Selbstverwaltung? Wird die Gesellschaft wicklung im internationalen Vergleich, München 1991, 87; Wan- offener und gewinnt sie an Vielfalt, müssen nagat, Anm. 53, 9: „Die gleichwertige Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Sozialversicherung sich die Organisationen, welche die Selbst- wurde in einer Zeit täglich und standhaft praktiziert und gelebt, verwaltung seit alters tragen, für neue The- als sich diese Gleichberechtigung sowohl im arbeitsrechtlichen Raum […], als auch im politischen Raum […] noch lange nicht men, Gruppen, Belange und Kommunika- durchgesetzt hatte, ja weitgehend unbekannt war.“
150 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 die Satzungsautonomie wahr und wirken an Interessen und Betroffenheiten Ausdruck zu der Verwaltung der Träger unmittelbar mit. geben? Die ehrenamtlichen Vertreterversammlun- In den Sozialversicherungen sorgt oft kluge gen der Träger sozialer Selbstverwaltung Personalpolitik für die Auswahl der Füh- bestimmen ihre Führung mittels Wahl des rungsgremien. Die Vertreterversammlungen hauptamtlichen Vorstands, fnanzieren deren vollziehen im Wahlakt die von den Trägern Auf- und Ausgaben und genießen Satzungs- vorgezeichneten Personalvorschläge regel- autonomie. Die praktische Bedeutung von mäßig und ohne Murren anstandslos nach. Selbstverwaltung liegt in der Rentenversi- Wird freilich kluge Personalpolitik ohne cherung bei der Rehabilitation, in der Un- Rücksicht auf die Selbstverwaltung gelingen fallversicherung bei der Prävention und der können? Die Verabschiedung des Haushalts Arbeitsförderung in der Integration Arbeitsu- beruht auf der Grundannahme, dass die chender in den Arbeitsmarkt. In der Kranken- Träger ihre Ausgaben von Gesetzes wegen versicherung regeln die Träger neben Prä- erbringen müssen. Würden die Vertreterver- vention und Rehabilitation40 gemeinsam mit sammlungen dem Haushalt eines Trägers die den Leistungserbringern beträchtliche Teile Zustimmung versagen, so müsste zur Siche- des Leistungsgeschehens eigenverantwort- rung der Funktionsfähigkeit der Träger die lich, sodass angesichts dieser Befugnisse fehlende Zustimmung durch den Vorstand Zweifel laut werden, ob ihre Autonomie nicht und dessen Beschluss zur vorläufgen Haus- zu weit reiche.41 haltsführung ersetzt werden (§ 72 SGB IV). In der gemeinsamen Selbstverwaltung be- Bei den von der Selbstverwaltung zu schaf- stimmen Krankenversicherung und Ärzte, fenden Satzungsregeln ist stets auch überge- Krankenhäuser, Apotheken oder Heil- und ordnetes Recht der Länder, des Bundes oder Hilfsmittelhersteller das Leistungsprogramm auch der EU zu beachten, sodass dem Sat- qualitativ und quantitativ eingehend selbst, zungsgeber selten ein eigenständiger Spiel- ohne jede Intervention durch die staatli- raum verbleibt. Und die Mitwirkung als Versi- che Gesetzgebung.42 Solche „Staatsferne“ chertenältester ist oft undankbar in einer Zeit, ist jedenfalls – verglichen mit den (weltweit in der gerne über „die da oben“ gelästert wird. zahlreichen) nationalen Gesundheitsdiens- Die Mitwirkung in der Sozialverwaltung ist ten – beträchtlich. Im Gesundheitswesen jedenfalls zeitintensiv und oftmals persönlich hat die Selbstverwaltung fast alles zu be- belastend, wenn – was oft vorkommt – die an stimmen. Die Unabhängigkeit der Sozialver- sie gerichteten Begehren aus Rechts- oder sicherungsträger geht dort mit beträchtlicher faktischen Gründen abzuweisen sind. Die Handlungskompetenz einher. Selbstverwalter können deshalb aus eigener Außerdem wirken Versicherte als Versiche- Erfahrung davon berichten, dass die Nach- rungsälteste und Vertreter von Arbeitneh- mern und Arbeitgebern in der Sozialverwal- tung – etwa Widerspruchs-, Zulassungs-, 40 Rische, Prävention und Rehabilitation, in: Deutscher Sozial- Wirtschaftlichkeits- oder Berufungsaus- rechtsverband (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Sozialversiche- schüssen – als ehrenamtliche Repräsentan- rung, 1991, 81 ff. 41 BSGE 78, 70; 81, 54; Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarzt- ten an Entscheidungen mit. recht, NZS 1997, 497; di Fabio, Verlust der Steuerungskraft klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449; Engelmann, Unter- gesetzliche Normsetzung im Recht der gesetzlichen Kranken- versicherung durch Verträge und Richtlinien, NZS 2000, 1, 76. 3.2 Persönliche Betroffenheit als Legi- 42 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, München 2003; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversiche- timation für Selbstverwaltung? rung, Tübingen, 2000; Welti, Soziale Selbstverwaltung und Bür- gerbeteiligung im sozialen Gesundheitswesen, in: Mende/Ram- sauer und Seckelmann (Hrsg.), Staat, Verwaltung, Information, Alle diese Aufgaben sind für die Träger ele- Festschrift für Hans-Peter Bull zum 75. Geburtstag, 2011, 903; mentar wichtig. Erlauben sie aber gleicher- Axer, Die Aufsicht über die Selbstverwaltung im Wandel, VSSAR 2020,129; Spieker/Wallrabenstein und Hofmann (Hrsg.), maßen Versicherten und Arbeitgebern, ihren Mehrwert der Selbstverwaltung?, 2020.
Selbstverwaltung 151 wuchsgewinnung Mühe bereitet. Immerhin ihre Mitwirkung am allgemeinen Geschehen hat die jüngste Reform des Wahlrechts die selbstständig und selbstverantwortlich teil. Rechte von Vertretern ausgeweitet, nament- Selbstverwaltung erschöpft sich nicht in lich ihnen bis zu fünf Tagen jährlich Anspruch formalen Abläufen und befissener Wahr- auf Fortbildung zuerkannt. nehmung von Zuständigkeiten. Soll sie die Abstraktheit und Anonymität der Körper- schaft überwinden, muss diese von den sie 3.3 Vom Gemeinsinn der Selbstver- bildenden Gruppen getragen werden. Dies waltung geschieht durch Dialog, der sich auf alle ein- schlägigen Themen erstrecken muss – von Selbstverwalter müssen Gemeinsinn aufbrin- der Leistungsfähigkeit der Körperschaft bis gen. Das wusste schon Georg Friedrich Wil- hin zu deren Zukunftsperspektiven –, und helm Hegel in seiner vor zweihundert Jahren zwar im Alltag und an Ort und Stelle. Genau veröffentlichten Rechtsphilosophie (RPh), die darin fndet Selbstverwaltung ihren Sinn. übrigens die an der Berliner Universität ge- haltenen Vorlesungen dokumentiert. Hegel betonte darin (vgl. § 255 RPh): In einer Korpo- 4. Selbstverwaltung und demokra- ration mitzuwirken sei wichtig, um „dem sitt- tischer Staat lichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Thätigkeit zu gewähren“. Das 4.1 Haben die selbstverwalteten Träger Mittun in der Selbstverwaltung mag oft be- zu viel – unkontrollierte – Macht? lastend und bedrückend sein, jedenfalls nicht nur Freude bereiten, schafft aber ihren Vertre- Der Wahrnehmung geringen Einfusses der tern Befriedigung durch unmittelbare Teilhabe Selbstverwalter auf die Träger steht die öf- am Allgemeinwohl. fentliche Wahrnehmung gegenüber, die So- Der Sozialstaat lebt aus dem Geist der Ge- zialversicherung verfüge über demokratisch meinschaft, den der Vordenker des Kommu- nicht hinreichend kontrollierte Macht. In der nitarismus Philip Selznick dahin umschreibt: Krankenversicherung regeln die Träger mit „A community is not a special purpose or or- den Leistungserbringern beträchtliche Teile ganization. It is a comprehensive framework des Leistungsgeschehens eigenverantwort- for social life […] Communities are, ideally, lich, sodass angesichts dieser Befugnisse settings within which mediated participation Zweifel laut werden, ob die Autonomie nicht takes place […] The community is a locus of viel zu weit reiche.44 commitment, to be sure, but within it is pre- In der gemeinsamen Selbstverwaltung be- served a substantial degree of autonomy and stimmen Krankenversicherung und Ärzte, rationality.”43 Krankenhäuser, Apotheken oder Heil- und In der Selbstverwaltung leben deshalb Ver- Hilfsmittelhersteller das Leistungsprogramm treter nicht ihre Vorlieben, Neigungen und qualitativ und quantitativ eingehend selbst, besonderen, mitunter auch sonderbaren, ohne jede Intervention durch die staatliche Erwartungen an ihre Mitmenschen. Selbst- Gesetzgebung.45 Die gemeinsame Selbst- verwaltung ist nicht ein Ort von Selbstdar- verwaltung im Gemeinsamen Bundesaus- stellung und bietet kein Forum für die Artiku- lation von höchstpersönlicher Betroffenheit, 43 Ders., The Idea of a Communication Morality, 75 (1987), Califor- nia Law Review, 445, 449. sondern ermöglicht – im Gegenteil – die Teil- 44 BSGE 78, 70; 81, 54; Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarzt- habe Einzelner an der Wahrnehmung einer recht, NZS 1997, 497; di Fabio, Verlust der Steuerungskraft klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449; Engelmann, Unter- im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe. gesetzliche Normsetzung im Recht der gesetzlichen Kranken- Nicht das Private wird Gegenstand öffent- versicherung durch Verträge und Richtlinien, NZS 2000, 1, 76. 45 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, München lichen Handelns und Räsonnements, son- 2003; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversiche- dern umgekehrt nehmen die Einzelnen durch rung, Tübingen, 2000.
152 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 schuss hat nicht stimmberechtigte Mitglieder als Surrogat für die aus der Zwangsmitglied- der Patienten- und Selbsthilfevertreter. Sol- schaft resultierenden Autonomieverluste für che „Staatsferne“ ist jedenfalls – verglichen die Versicherten? mit den (weltweit zahlreichen) nationalen Arbeitgeber und Versicherte sind von der So- Gesundheitsdiensten – beträchtlich. Im Ge- zialversicherung zwar gleichermaßen, aber sundheitswesen hat die Selbstverwaltung fast nicht gleich „betroffen“. Die Sozialversiche- alles zu bestimmen. Die Unabhängigkeit der rung berührt die Arbeitgeber nicht persön- Sozialversicherungsträger geht dort mit deren lich, sondern als Beitragszahler und damit beträchtlicher Handlungskompetenz einher. deren fnanzieller Garant.52 Das Lohnabzugs- Aber alle Satzungsgewalt der Sozialversi- verfahren verpfichtet sie zur Erhebung von cherungsträger besteht aufgrund staatlicher Sozialversicherungsbeiträgen – die Arbeit- Gesetze und begründet keine Eigenständig- nehmerbeiträge eingeschlossen. Die Ver- keit46 für die Träger, die sie dadurch der staat- sicherten werden durch die Sozialversiche- lichen Kontrolle entrücken könnte. Weder die rung dagegen primär als Berechtigte sozialer Sozialversicherung, noch ihre innere Struktur Leistungen „betroffen“. sind gesetzgeberischer Veränderung entzo- Für die Beteiligung an der Selbstverwaltung gen.47 In der gemeinsamen Selbstverwaltung ist es nicht einerlei, in welcher Stellung sich äußert sich statt der allgemein demokrati- die zur Teilhabe befugte Gruppe befndet. schen die mitgliedschaftlich-partizipatori- Die Teilhaberechte beruhen auf der sozial- sche Legitimation von Rechtssetzung. Sie ist ökonomischen Unterscheidung zwischen partikulär, weil sie sich auf die Versicherten Arbeitgebern und Versicherten als zwei beschränkt, und damit gegenüber dem all- gleichberechtigte Gruppen. Dies entspricht gemeinen Gesetz nachrangig.48 auch internationalen Geboten. Nach Art. 72 Aber die mitgliedschaftlich-partizipatorische IAO-Übereinkommen Nr. 102 (1952) über die Legitimation erwächst aus der Vertrautheit Mindestnormen sozialer Sicherheit zählt die und besonderen Sachkenntnis, welche die Beteiligung der Versicherten an der Verwal- davon unmittelbar Betroffenen eher aufbrin- tung zur Mindestausstattung für die Sozial- gen als Repräsentanten der Allgemeinheit. versicherungsträger.53 Daher verbürgt soziale Selbstverwaltung Sachnähe, Sachverstand und Sachlichkeit bei Verwaltung und Normsetzung. 46 Ebsen, Autonome Rechtssetzung in der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR 1990, 57; Ebsen, in: Schulin (Hrsg.)., Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, § 7 Rn. 14 ff. 47 BVerfGE 39, 302, 314; 36, 383, 393. 4.2 Selbstverwaltung und staatliche 48 BVerfGE 79, 127, 150; 82, 310, 314; 107, 1, 12. Willensbildung 49 So Schnapp, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch Sozialversiche- rungsrecht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 74; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Ist Selbstverwaltung deswegen als Teilhabe Tübingen 2000, 298 ff.; das Argument steht in der Tradition des liberal-republikanischen Ansatzes der Selbstregierung, dazu an staatlicher Willensbildung zu verstehen?49 Cancik, „Selbst ist das Volk“. Der Ruf nach der volkstümlichen Das tragende Element der Selbstverwaltung Verwaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Der Staat 2004, 298. in der Sozialversicherung liegt in der Beteili- 50 Hufen, Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Rechts- gung von Arbeitgeber- und Versichertenver- staat, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), 1991, 43, 49, Stourzh, 29 f. tretern (§ 29 SGB IV). Die Sozialversicherung 51 Becker, in: von Maydell/Ruland und Becker (Hrsg.), Sozial- bezieht also ihre Legitimation durch die sie rechtshandbuch, § 13 Rn. 38, 59; Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier und Welti, Modernisierung der Sozialversicherungswahlen, tragenden sozialen Gruppen und der „kon- 2009, 62 ff.; BVerfGE 115, 25, 100, 1; 58, 81; Rische, RVaktuell zentrierten Teilhabe organisierter Interes- 2011, 2, 3. 52 Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversi- sen“.50 cherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 90, der in Arbeitgeberanteil Lohn- Ist sie damit durch die „Betroffenenpartizi- anteil sieht. 53 IAO, Übereinkommen und Empfehlungen, 1993, Bd. 1, 1919– pation“ zu rechtfertigen?51 Erfüllt Selbstver- 1991, 920, jedenfalls der Träger, die nicht eine Behörde sind und waltung eine kompensatorische Funktion parlamentarischer Kontrolle unterliegen.
Selbstverwaltung 153 Läge einzig in persönlicher „Betroffenheit“ schuss (Art. 301 AEUV) und im sozialen Dia- das Motiv der Beteiligung, dürften nur die log (Art. 154f AEUV)60 sowie weltweit in der Versicherten in der Selbstverwaltung ver- dreiseitigen Struktur der IAO ausgeformt. Ihr treten sein; dagegen wäre nicht zu erklären, geht es beileibe nicht um den volksnahen weshalb auch die Arbeitgeber paritätisch an Staat, sondern um die vor staatlicher Be- der Selbstverwaltung mitwirken. Die Selbst- vormundung freie gesellschaftliche Selbst- verwaltung im Sozialrecht überwindet des- bestimmung. wegen vor allem auch den Gegensatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und be- 4.3 Sozialpartnerschaft und demokra- arbeitet damit den in der bürgerlichen Ge- tische Gesellschaft sellschaft angelegten Grundkonfikt von Ka- pital und Arbeit. Die gesellschaftliche Selbstbestimmung er- In der Selbstverwaltung der Sozialversiche- klärt sich aus den in der Gesellschaft ange- rung wird jene Differenz sichtbar, die Tho- legten sozialen Konfikten. Arbeitnehmer und mas Mann als den Unterschied „zwischen Arbeitgeber stehen in einer Marktwirtschaft der kulturellen und der demokratischen Form aber weder in konträrem, noch kontradikto- der Sozialität“ bestimmte.54 Anders formu- rischem, wohl aber in einem subkonträren liert: Demokratie bezeichnet die Selbstorga- Gegensatz zueinander – nicht in konträrem nisation der Gesellschaft, Selbstverwaltung oder kontradiktorischem Gegensatz, weil der dagegen ist Ausdruck von Gemeinschaft.55 Vorteil der einen nicht notwendig auf Kosten Mit ihrer Begründung suchte sie den „An- der anderen Gruppe gezogen wird, sondern schluss an die realen Kräfte des Volkslebens“ beide Gruppen aus der Kooperation Vorteile – nicht durch Repräsentation56 des „Volkes“, ziehen. Sie stehen aber auch nicht in einem sondern durch die Einbeziehung von dessen harmonischen Verhältnis zueinander. real gewordenen Kräften. Denn diese haben Denn Löhne und sonstige Zuwendungen sich in der Selbstorganisation der Gesell- an die Beschäftigten stellen für die Arbeit- schaft als fähig und willig erwiesen, die öko- geber Kosten dar. Löhne, Sozialleistungen nomischen und sozialen Belange der arbei- für die mit der Erwerbsarbeit eng verbunde- tenden und wirtschaftenden Individuen und nen sozialen Risiken und Arbeitsbedingun- Institutionen nicht nur zur Geltung, sondern gen bestimmen die Lebensbedingungen der zugleich auch zum Ausgleich zu bringen. Die Beschäftigten und prägen zugleich entschei- Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist damit Ausdruck von Korporatismus: Die rechtsförmige Organisation von Menschen 54 Mann, Kultur und Sozialismus (1928), in: ders., Von Deutscher und Institutionen, die eine gegensätzliche Republik, Frankfurt am Main, 1984, 259, 265; ders., Gedanken im Kriege (1914), ebd., 1, 16: „Was ist, was heißt noch ‚Zivi- Stellung auf dem Arbeitsmarkt innehaben.57 lisation‘, ist es mehr als eine leere Worthülse, wenn man sich Die Selbstverwaltung beruht folglich nicht erinnert, daß Deutschland mit seiner jungen und starken Orga- nisation, seiner Arbeiterversicherung, der Fortgeschrittenheit auf Interessenhomogenität,58 sondern auf aller seiner sozialen Einrichtungen ja in Wahrheit ein viel moder- Interessendivergenz von Arbeitgebern und nerer Staat ist als etwa die unsauber plutokratische Bourgeois Republik […] – daß unser soziales Kaisertum eine zukünftigere Versicherten, welche so durch die Sozialver- Staatsform darstellt als irgendein Advokaten-Parlamentaris- sicherung überwunden werden. Dies kann mus, […]“. 55 Vgl. dazu eingehend Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, autoritär in der Tradition des stato corporati- 1935, Darmstadt, Nachdruck 1979. vo berufsständischer Verfassungen einseitig 56 BSGE 36, 242; 39, 244. 57 Gusy, Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981. staatlich verordnet oder im Einklang mit dem 58 Dafür aber Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – auf autonomen Gemeinschaften aufbauen- Krankenversicherungsrecht, § 6 Rn. 93. 59 Lehmbruch, Sozialpartnerschaft in der vergleichenden Politik- den liberalen Korporatismus durch Verhand- forschung, in: Gerlich/Grande und Müller (Hrsg.), Sozialpartner- lungen und Arbeitskampf ausgehandelt und schaft in der Krise, Leistungen und Grenzen des Neokorporatis- mus in Österreich, 1985, 84, 86 ff. erstritten werden.59 Die letztgenannte Form 60 Streinz und Eichenhofer, EUV, AEUV, 2012, (2. Aufage), Art. 154 ist in der EU im Wirtschafts- und Sozialaus- AEUV Rn. 2 ff.
154 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 dend die auch die Arbeitgeber – paritätisch „Vorreiter“ im Aufbau eines öffentlichen So- – treffenden Kosten. Der Grundkonfikt zwi- zialleistungssystems, aber als Nachzügler in schen Arbeit und Kapital setzt sich also auch den gesellschaftlichen Kämpfen um politi- bei der durch Sozialversicherung realisierten sche Teilhaberechte. Ausgestaltung der ebenfalls an den Arbeits- Die Brüderlichkeit in der Sozialpolitik war im markt gebundenen sozialen Risiken fort und Zweifelsfall wichtiger als die „Gewährleis- fndet in deren Institutionen eine dem Tarif- tung rechtlicher Gleichheit oder politischer vertragssystem entsprechende Ausgestal- Freiheit für den einzelnen“.66 Selbstverwal- tung. tung in der Sozialversicherung gilt dem Teil, Soziale Konfikte fnden sich in jeder priva- nicht dem Ganzen, und widmet sich Wichti- ten Wirtschaftsordnung, werden jedoch im gem, aber Partikulärem. Denn sie betrifft die Zeichen von Sozialpartnerschaft in ihrem versicherten Personen und die Versicherung. Austrag gemäßigt und so in ein für Kapital Als Körperschaften dürfen Sozialversiche- und Arbeit beiderseitig vorteilhaftes Koope- rungen machen, was sie machen müssen. rationsverhältnis eingefügt. Die Sozialreform Statt am Gängelband staatlicher Kontrolle – die so in Sozial- und Arbeitsrecht Gestalt geführt zu werden, wirken sie an der langen annahm – ersetzte die „entstaatlichte Wa- Leine organisatorischer Autonomie. Dafür renproduktion“ durch die „organisierte Ge- ist die Selbstverwaltung mehr als ein prakti- sellschaft“.61 Walther Rathenau bezeichnete sches Mittel und für deren Legitimation des- das „Ziel der solidarischen Demokratie“ als halb schlechthin zentral. die „Herrschaft des Volkes über sich selbst, Verwaltung und Gestaltung verlangen nach nicht vermöge der Verhältniszahlen seiner In- Vertrautheit mit den Institutionen. Das fordert teressen, sondern vermöge des Geistes und Kenntnisse und Einblicke in Lebenswelten. Willens, den es befreit“.62 Menschen wollen nicht nur verwaltet, son- Sie lässt sich als Ausdruck der kollektiv dern gut verwaltet werden. Zur guten Ver- wahrgenommenen Vertragsautonomie den- waltung (Art. 41 GRCh) gehört nicht nur seit ken, welche die atomisierte Gesellschaft heute zwingend, Betroffene zu hören. Parti- zur Überwindung und zum Ausgleich der ihr zipation der Betroffenen ist die zentrale Res- innewohnenden und darin angelegten Inte- source der Steuerung. Die soziale Selbstver- ressensgegensätze hervorgebracht hat und waltung verbürgt dezentrale Entscheidungen sie so verpfichtend dazu anhält, sozial – das und führt Zuständigkeit mit Verantwortung heißt auf Gemeinschaft angelegt und aus- zusammen und steht damit gegen einen gerichtet – zu werden. Dieses Arrangement Staat, der sich für alles zuständig hält, aber wurde in der Sozialversicherung vorbereitet, am Ende für nichts verantwortlich ist. begründet und durch sie entscheidend ge- Wie angestammt die Gemeinden als Verband fördert. Sie verband erstmalig und anfangs genossenschaftlicher Selbstverwaltung und einmalig Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Ort der Vermittlung von Markt und Öffentlich- einer Solidargemeinschaft zum Schutz der keit, Landwirtschaft, Handwerk und Handel, Arbeitnehmer vor den elementaren Daseins- Arm und Reich, Erwerbstätigen und Nicht- risiken der Krankheit, des Unfalls, der Invali- dität und des Alters wie der Arbeitslosigkeit. Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung 61 Renner, Probleme des Marxismus, in: Sandkühler und de la symbolisiert die Arbeitgeber und Arbeitneh- Vega (Hrsg.), Austromarxismus, Frankfurt am Main, 1970, 263, mer verbindende Solidargemeinschaft.63 266, 278. 62 Rathenau, Die neue Gesellschaft, 1919, in: ders., Schriften und Die Verbände werden zu Stützen der mit- Reden 1964, 278, 352. telbaren Staatsverwaltung,64 ohne zugleich 63 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, Tübingen 1997, 239; Gusy, Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981, 28 ff. staatlicher Fachaufsicht ausgesetzt oder 64 Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 351 ff. parlamentarischer Kontrolle unterworfen zu 65 Bogs, RdA 1956, 7. 66 Bude, Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Ham- sein.65 Deutschland erscheint insoweit als burg 1999, 21.
Selbstverwaltung 155 erwerbstätigen Privates und Öffentliches dewegs zentral zu ermöglichen.73 Demokra- miteinander verband und zum wirtschaftli- tie schafft deswegen den Raum zu autono- chen wie sozialen Ausgleich führte,67 steht mer Gestaltung des gesellschaftlichen und die Sozialversicherung für den Versuch, die wirtschaftlichen Lebens. Die Selbstverwal- Akteure wirtschaftlichen Austausches und tung der Sozialversicherung verbürgt vor des Arbeitsmarktes zum Vorteil beider auf öf- allem die Nähe in ihrer ganzen Fülle des Wor- fentliche Belange zu verpfichten. Die Selbst- tes: Sachnähe, Fachnähe, räumliche Nähe, verwaltung in der sozialen Sicherung steht Wirtschaftsnähe, Problemnähe, Lebensnä- für die „mittelbare Demokratie“, sie ist nicht he. Selbstverwaltung heißt, Recht konkret gegen die parlamentarische Demokratie68 wahrnehmen und als Artefakt begreifen, das gerichtet, sondern deren Ausdruck.69 politisch gemacht und daher auch politisch Sie ist allerdings nicht aus der allgemeinen geändert werden kann. Staatsgewalt abgeleitet, sondern gründet Selbstverwaltung muss Demokratie achten in einer originären, von Art. 87 Abs. 2 GG wie umgekehrt Demokratie Selbstverwaltung vorausgesetzten Legitimation mittelbarer weder gängeln, noch bevormunden darf. Die Staatsverwaltung durch die sozialen Gruppen Belange der Sozialversicherten und der All- als Nutznießer sozialer Sicherheit. Zu ihr ge- gemeinheit sind nicht gleich und schon gar hört zwingend – wie schon von Art. 161 WRV nicht identisch, sie sind aber andererseits bestimmt – die Selbstverwaltung und gesell- auch nicht prinzipiell voneinander verschie- schaftliche Gewährleistung.70 Sie formt die den. Die Selbstverwaltung steht deshalb Verbandsautonomie als eine gegenüber dem nicht gegen die Demokratie, wie umgekehrt Staat gerichtete Autonomie der Träger der diese jene nicht verdrängen darf. kollektiven Ordnung des Arbeitslebens aus. Selbstverwaltung braucht autonome Ge- Die Tarifvertragsparteien können so über die staltungsbefugnisse in einem demokratisch Ordnung des Arbeitslebens hinaus auch die gesetzten Rahmen. Die Demokratie hat die Arbeitsbedingungen prägende soziale deshalb die Sozialversicherung in Selbst- Sicherheit maßgeblich beeinfussen.71 Par- verwaltung zu ermöglichen und nicht zu er- tizipation wird zur zentralen Steuerungs- übrigen! ressource staatlicher Sozialpolitik. Dies ver- bürgt Effzienz und Legitimation, weil sie der Pluralität wie Divergenz gesellschaftlicher In- teressen Raum gibt, um sie gerade dadurch 67 Müthling, Die Geschichte der deutschen Selbstverwaltung, zum Ausgleich zu bringen.72 Stuttgart 1966, 9 ff. 68 BVerfGE 11, 310, 321. Die Selbstverwaltung ist mit der Demokra- 69 BVerfGE 33, 125, 157 ff.; 39, 302, 313 f.; Willy Brandt sah in tie verträglich. Denn diese fordert nicht die der Demokratie ein Prinzip, „das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinfussen und durchdringen muss, weil es ohne Beseitigung sämtlicher zwischen dem Ein- Mitbestimmung und Mitverantwortung keine ‚stabile Demokra- zelnen und dem Staat stehenden Gewalten tie‘ gibt“; Grebing, Anm. 71, 176. 70 Salzwedel, Zur rechtlichen Struktur moderner Selbstverwal- durch die unumschränkte, das gesamte ge- tung, ZfS 1963, 202 f. sellschaftliche Leben durchdringende Herr- 71 Vgl. dazu eingehend Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Auf- gaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen schaft des aufgrund des Mehrheitsprinzips 1981, 65 ff., 116 ff. tendenziell allmächtigen Staates über die 72 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965. 73 Vgl. dazu näher Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völ- ihm umfassend unterworfenen Individuen. ker-, europäischen und deutschen Recht, 2012, 60 ff.; ders., Demokratie ist vielmehr durch die Grund- und Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, 2013, 65 ff.; vgl. aber auch ganz in diesem Sinne Ipsen, Grundzüge einer Grund- Menschenrechte begrenzt und gebunden. rechtsdogmatik, Der Staat, 2013, 286 ff.; ders., Grundrechte als Sie muss der Gesellschaft deswegen nicht Gewährleistungen von Handlungsmöglichkeiten, in Sachs und Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, nur Raum zur autonomen Entfaltung ihrer Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, selbst belassen, sondern sie hat im Sinne 369, vgl. auch die préambule der Französischen Constitution vom 19. April 1946: „La République garantit à tous les hommes des „enabling“ und „empowering state“ die et a toutes les femmes vivant dans l‘Union Française l‘exercice größtmögliche Entfaltungsfreiheit aller gera- individuel ou collectif des libertés et droits ci-après“.
156 Deutsche Rentenversicherung 2/2021 5. Fazit sammen und steht damit gegen einen Staat, der sich für alles zuständig hält, aber Die Selbstverwaltung in der Sozialversiche- am Ende für nichts verantwortet. rung gilt dem Teil, nicht dem Ganzen. Sie Einer jeden Solidargemeinschaft ist die widmet sich Wichtigem, aber Partikulärem. Selbstverwaltung deshalb mitzugeben, weil Sie betrifft die versicherten Personen, die sie die Verwaltung auf gesellschaftliche Institu- beschäftigenden Arbeitgeber und die Versi- tionen und Mentalitäten aufbaut, um diese cherung. Sozialversicherungen dürfen ma- zu verstärken, und weil der Staat sie braucht chen, was sie machen müssen. und sie selbst nicht aus eigner Machtvoll- Statt am Gängelband staatlicher Steue- kommenheit hervorbringen könnte. Die so- rung sollen und müssen sie an der langen ziale Selbstverwaltung folgt daher aus der Leine organisatorischer Autonomie geführt sozialen Struktur der Sozialversicherung. werden. Verwaltung und Gestaltung ver- Sie gibt der Sozialpartnerschaft Ausdruck langen nach Vertrautheit mit den Institutio- und bringt Wirtschaft und Soziales zum Aus- nen. Das fordert Kenntnisse und Einblicke gleich. Deshalb ist die soziale Selbstverwal- in Lebenswelten. Menschen wollen nicht tung nicht und durch nichts zu ersetzen. nur verwaltet, sondern gut verwaltet wer- den. Zur guten Verwaltung gehört nicht nur seit heute zwingend, Betroffene zu hören. Partizipation der Betroffenen ist heute die Anschrift des Verfassers: zentrale Ressource der organisatorischen Steuerung. Die soziale Selbstverwaltung Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer verbürgt dezentrale Entscheidungen und Friedrich-Engels-Straße 150 führt Zuständigkeit mit Verantwortung zu- 13158 Berlin
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