Steuerung von Querschnittspolitik durch das Bundeskanzleramt: Das Beispiel Bürokratieabbau

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Steuerung von Querschnittspolitik durch das Bundeskanzleramt:
                             Das Beispiel Bürokratieabbau

                     Von Bastian Jantz und Sylvia Veit, Universität Potsdam1

    Erscheint in: Florack, Martin/Grunden, Timo (Hrsg.)(2009): Regierungszentralen. Führung,
    Steuerung und Koordination zwischen Formalität und Informalität, Wiesbaden: VS-Verlag.

Das Bundeskanzleramt übt in Deutschland bei der Erarbeitung von Regierungspolitiken
traditionell vor allem eine koordinierende Funktion aus. Diese Rollenzuschreibung spiegelt
sich in der internen Aufbauorganisation des Bundeskanzleramtes in einer streng
hierarchischen Gliederung in Abteilungen, Gruppen und (auf die Geschäftsbereiche einzelner
Fachressort spezialisierte) Spiegelreferate wider. Projekt- und Strategiegruppen sowie andere
Formen flexibler und innovationsorientierter Organisation spielen hingegen nur eine
untergeordnete Rolle. Aufgaben der Politikformulierung und –implementation werden in
Deutschland also üblicherweise nicht proaktiv durch die Regierungszentrale wahrgenommen,
sondern liegen im Zuständigkeitsbereich der Ressorts.2 Dies gilt nicht nur für klassische
sektorale Politiken wie die Gesundheitspolitik oder die Landwirtschaftspolitik, sondern auch
für die meisten Querschnittspolitiken. Zwar besitzen viele Policies einen mehr oder minder
stark ausgeprägten Querschnittscharakter, eindeutige Querschnittspolitiken wie zum Beispiel
die Haushalts- und Gleichstellungspolitik, aber auch die im Mittelpunkt dieses Beitrags
stehende Bürokratieabbaupolitik, sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass deren
Implementation (und damit deren Erfolg) in besonders hohem Maße davon abhängt, ob es
gelingt, sie dauerhaft in alle anderen Politikfelder zu integrieren.

Um diese Integration zu erreichen, bestand das „klassische“ organisatorische Vorgehen in der
bundesdeutschen Exekutive bisher in der Schaffung von Zuständigkeiten in einem Ressort
verbunden mit Maßnahmen zur Stärkung der regierungsinternen Durchsetzungsfähigkeit der
entsprechenden Einheiten. So besitzen das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen

1
  Die Autoren danken ihren Interviewpartnern für zahlreiche wichtige Hintergrundinformationen sowie Werner
Jann, Tobias Bach, Julia Fleischer, Thurid Hustedt, Ronny Kay und Cornelia Schmidt für ihre Kommentare zu
einer ersten Fassung dieses Aufsatzes.
2
  Vgl. dazu Knoll (2004, S. 60): „Aufgrund des Ressortprinzips kann das Bundeskanzleramt aber nicht so weit
gehen, die Programmentwicklung zu sehr an sich zu ziehen. Es soll kein ‚Oberministerium’ sein, mit dessen
Hilfe der Bundeskanzler in die Bundesministerien hineinregiert. “
und    Jugend     sowie        das    Bundesministerium        für    Ernährung,        Landwirtschaft   und
Verbraucherschutz        ein      besonderes      Initiativrecht     im      Kabinett    in   frauen-    bzw.
verbraucherpolitischen Angelegenheiten. Das Finanzministerium als Querschnittsressort par
excellence verfügt sogar über ein suspensives Veto im Kabinett. Auch wenn diese formalen
Rechte in der Praxis nicht angewendet werden und stattdessen Aushandlungen, Kompromisse
und in der letzten Konsequenz konsensuale Entscheidungen üblich sind, entfalten sie eine
(antizipative) Wirkung auf die exekutive Politikformulierung in Deutschland.

In jüngerer Zeit sind jedoch Tendenzen zu einer veränderten organisatorischen
Institutionalisierung von Querschnittspolitiken in der Exekutive zu erkennen, welche die
„Ressortfreiheit“ des Bundeskanzleramtes zunehmend in Frage stellen. So besitzt das
Bundeskanzleramt         seit        2001   die    Zuständigkeit       für      Nachhaltige     Entwicklung
                                                    3
(Bundesregierung 2008a; Jacob u.a. 2009) und seit der Regierungsübernahme von Angela
Merkel im Herbst 2005 für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung (Bundesregierung
2006). Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren im Rahmen des Beauftragtenmodells
weitere Querschnittsthemen an das Kanzleramt angegliedert. Gerhard Schröder siedelte im
Jahr 1998 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien4 beim
Bundeskanzleramt an. Seit 2005 ist zudem der zuvor im Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (2002-2005) bzw. im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales (1978-2002) angesiedelte Beauftragte der Bundesregierung für Migration,
Flüchtlinge und Integration organisatorisch an das Bundeskanzleramt angegliedert. Damit
wurden mehrere politische Querschnittsthemen im Bundeskanzleramt fachlich verankert oder
(wie im Falle der Bundesbeauftragten) mit einer eigenen Behörde an dieses angegliedert.5

Der folgende Beitrag beschäftigt sich am Beispiel des Bürokratieabbaus6 mit der Frage,
welche     Folgen     die       organisatorische        Verankerung       von   Querschnittspolitiken     im

3
  Vgl zur Nachhaltigkeitsstrategie u.a. auch Tils (2005, S. 214): „Die institutionelle Verankerung der
Nachhaltigkeitsstrategie im Bundeskanzleramt […] sind wesentliche Eckpfeiler der Polity-Dimension des
Entstehungszusammenhangs. Zwar war das Bundeskanzleramt zu Beginn nicht begeistert, diese für sie
untypische konzeptionelle und viele Ressourcen beanspruchende Arbeit zu übernehmen […]. Dennoch
akzeptierte man auch hier, dass eine Ansiedlung im Bundeskanzleramt sinnvoll ist, damit die Strategie in das
Zentrum administrativer Steuerung rückt und eine politikfeldübergreifende Koordination möglich wird.“
4
  Auf Bundesebene war zuvor das Bundesministerium des Innern für den Bereich Kultur zuständig gewesen.
5
  Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele: So wurde die Zuständigkeit für Angelegenheiten der neuen
Bundesländer, welche seit Anfang der 1990er Jahre im Bundeskanzleramt lag (Arbeitsstab ChefBK neue Länder
unter Helmut Kohl; seit 1998 Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der neuen Länder), 2002 in
das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) verlagert.
6
  Die Ausführungen zum Fallbeispiel basieren auf Experteninterviews mit Mitarbeiter(inne)n des
Bundeskanzleramtes auf verschiedenen Hierarchiestufen, des Sekretariats des Nationalen Normenkontrollrates
Bundeskanzleramt für deren Durchsetzungs- und Implementationsfähigkeit hat. Es wird
diskutiert, ob das Bundeskanzleramt im Bereich des Bürokratieabbaus zu einem proaktiven
Policy-Akteur wird und damit ähnliche Aufgaben übernimmt wie ein „normales Ressort“ und
wenn ja, ob das zu verbesserten Implementationsergebnissen für diese Querschnittspolitik
führt. Kann vielleicht sogar – vor dem Hintergrund der zunehmenden Relevanz von
langfristigen, politikfeldübergreifenden Themen (z.B. alternde Gesellschaft, Klimawandel,
Nachhaltige Entwicklung, Meta-Regulierung) in der modernen Gesellschaft – von einem
„neuen Modell“ der Organisation von Querschnittspolitik gesprochen werden?

Bevor diese Fragen am Fallbeispiel des Bürokratieabbaus diskutiert werden, wird im
folgenden Abschnitt zunächst ein kurzer Überblick über neuere internationale Entwicklungen
in Bezug auf die Rolle von Regierungszentralen bei politikfeldübergreifenden Initiativen und
hinsichtlich ihrer Funktionszuschreibung als Instanzen zur Steuerung und Koordination von
Querschnittspolitiken gegeben.

Steuerung von Querschnittspolitiken durch Regierungszentralen: Neuere
Entwicklungen im internationalen Vergleich

Im Rahmen der internationalen Diskussion wird die Steuerung von Querschnittspolitiken
zumeist unter dem Leitmotiv des joined-up government (JUG) bzw. des whole-of-government
approach      diskutiert     (z.B.    Bogdanor        2005,     Christensen/Lægreid         2007b).      Beide
Reformschlagwörter gehen davon aus, dass zahlreiche komplexe politische Problemlagen
nicht vor Ressortgrenzen halt machen und somit nur bereichsübergreifend zu lösen sind. Es
wird daher eine themenbezogene horizontale und vertikale Koordination angestrebt, welche
die Fragmentierung innerhalb des Regierungssystems überwindet, indem übergreifende
politische Querschnittsthemen bestimmt, zentral koordiniert sowie problemzentriert gesteuert
werden.

Der Begriff joined-up government wurde Ende der 1990er Jahre von der britischen Regierung
als Leitbild für Reformaktivitäten eingeführt7 und umfasste die Stärkung der Zusammenarbeit
einzelner Ministerien in strategisch relevanten Problemfeldern mit Querschnittcharakter (z.B.

sowie mit Ressortvertreter(inne)n. Darüber hinaus wurden einige Hintergrundgespräche mit externen
Reformpromotoren geführt.
7
  Erstmalig benutzt wurde das Leitbild des joined-up government im Jahre 1998 durch Geoff Mulgan, einen
Berater Tony Blairs, in dessen Artikel „Social Exclusion: Joined up solutions to joined up problems“. Ein Jahr
später wurde der Begriff im Rahmen des Weißbuchs “Modernising Government” konkretisiert.
soziale Ausgrenzung, Jugendstrafvollzug, Drogenbekämpfung). Ziel war es, die selektive
Sichtweise einzelner Ministerien und Verwaltungsbereiche sowie die häufig beklagte
„Bunkermentalität“ von Politiksektoren zu überwinden. Die britische Regierung richtete zu
diesem Zweck in der Regierungszentrale zeitlich befristete strategische Einheiten8 ein, die für
die Entwicklung der politischen Programmatik zuständig sind und hierfür eine
Koordinationsfunktion übernehmen. Die Politikformulierungsfunktion wurde auf Ebene der
Implementation dadurch ergänzt, dass das existierende System ressortspezifischer
Zielvereinbarungen und Leistungsindikatoren auf gemeinsame Indikatoren mehrerer
Ministerien ausgeweitet wurde. Neben funktionalen Beweggründen besteht eine implizite
Zielsetzung von JUG in Großbritannien im Ausbau der Kontroll- und Steuerungskapazitäten
der Regierungszentrale gegenüber den Ministerien: „[...] joint-up government is a code for
increasing the power of Number 10 over ministers. The growth in staff certainly increases
Number      10’s    potential   ability to      initiate   and    oversee    policy    in   departments”
(Kavanagh/Richards 2001, S. 13).9

Die Begrifflichkeiten joined-up government und whole-of government10 stellen im Endeffekt
nichts anderes dar, als neue Umschreibungen für die altbekannten Anstrengungen und
Reformbemühungen um eine verbesserte, „positive“ Koordination (Mayntz/Scharpf 1973) in
der öffentlichen Verwaltung: „[...] ‘joined-up government’ is an umbrella term describing
various ways of aligning formally distinct organizations in pursuit of the objectives of the
government of the day” (Ling 2002, S. 616). Im Zuge der zunehmenden Dezentralisierung
und Fragmentierung des Regierungssystems im Rahmen von Reformen des New Public
Managements haben Fragen der Koordination und Interaktion innerhalb und zwischen
Organisationen des öffentlichen Sektors und Privaten, auf horizontaler und vertikaler Ebene,
an politischer Brisanz gewonnen und sind heute somit auch in denjenigen Ländern, welche
die NPM-Reformmaßnahmen am konsequentesten umgesetzt haben, am virulentesten: „The
pursuit of governmental coordination may be ancient, but contemporary efforts are driven by
the dispersal of governmental capacity caused by the New Public Management (NPM)
inspired disaggregation of policy-making from service delivery. To ameliorate the

8
  Anti-Drugs Co-ordination Unit, Social Exclusion Unit, Youth Justice Task Force, Neighbourhood Regeneration
Unit.
9
  Ähnlich argumentiert auch Proeller (2007, S. 11f): „In den Reformen unter der Labour-Regierung ist es ein
besonderes Anliegen gewesen, die Steuerungs- und Koordinationsfähigkeit der ‚Zentrale’ (…) zu verbessern, um
die strategische Stoßrichtung der Regierung einhalten zu können.“
10
   Die Begriffe JUG und whole-of-government approach besitzen inhaltlich eine sehr große Schnittmenge. Im
Folgenden wird vereinfachend ausschließlich der JUG-Begriff verwendet. Zum Begriffsgenese und zum Inhalt
des whole-of-government approach siehe z.B. Christensen/Lægreid 2007a.
fragmentary effects of the 1980s NPM reforms, governments quickly began looking for ways
to suture the system together again. […] JUG became most pressing in countries like the UK,
New Zealand and Australia, which adopted NPM reforms more enthusiastically than others
did.“ (Davies 2009, S. 81). Erfolge haben die Ansätze des JUG insbesondere in Bezug auf die
Mobilisierung von Expertise und politischer Unterstützung für komplexe Probleme, die über
keine „natürliche“ Vertretung innerhalb der Regierungsorganisation verfügen. Typische
Umsetzungsprobleme       bestehen     in   dem   Widerstand     der   Ministerien   gegen   eine
"Zentralisierung" (Jann u.a. 2007).

In die Diskussion um JUG lassen sich auch die zahlreichen Reforminitiativen zur „Besseren
Regulierung“ und zum Bürokratieabbau innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union einordnen. Das Schlagwort „bessere Regulierung“ umschreibt eine Form der Meta-
Politik bzw. Meta-Regulierung, da Normen und Standards, gesetzt werden, die den
Regulierungsprozess und damit das Ergebnis regulativer Steuerung in grundsätzlich allen
Regulierungsfeldern beeinflussen sollen. Regulierungspolitik ist demnach Querschnittspolitik,
da sie politikfeldübergreifende Ziele verfolgt und versucht diese innerhalb der einzelnen
Regulierungsfelder durchzusetzen (vgl. Wegrich 2008). “Bessere Regulierung” lässt sich nach
Radaelli klassifizieren als ein „set of centrally imposed rules designed to structure the key
stages of the regulatory process […] with the aim of achieving certain improvements in
regulatory performance (e.g. targets of burdens reduction, cost-effective regulation, increased
reliance on market-friendly alternatives to regulation, etc.).” (Radaelli 2007, S. 196).

Ähnlich argumentieren Jann/Wegrich auch in Bezug auf die Politik zum Bürokratieabbau,
wenn sie konstatieren, dass Bürokratieabbau als spezifisches Politikfeld jenseits der
jeweiligen substantiellen, politikfeldspezifischen Konflikte aufgefasst werden müsse.
Bürokratieabbau ist als erweiterte Verwaltungspolitik im Sinne einer „Meta-Politik“ zu
definieren. In deren Mittelpunkt steht die Suche nach politikfeldübergreifenden Grundsätzen,
Methoden und Instrumenten, mit denen sich der politische Problemlösungsprozess im
Hinblick auf Wahl, Ausgestaltung und Implementation von staatlichen (und nicht-staatlichen)
Steuerungsmodi verbessern lässt (Jann/Wegrich 2008).

Vergleich man die beiden in der internationalen Diskussion als Vorreiter im Bereich „bessere
Regulierung“ und Bürokratieabbau in Europa aufgefassten Länder Großbritannien und die
Niederlande, so fällt auf, dass sich die Inhalte der Reforminitiativen zwar wesentlich
unterscheiden11, die organisatorische Ansiedlung dieser Querschnittspolitik jedoch ähnlich
ausgestaltet ist. Dem Konzept des joined-up government folgend wurden in beiden Ländern
zentrale Koordinations- und Steuerungseinheiten in der Regierungszentrale bzw. im
Finanzministerium geschaffen (Better Regulation Executive12 in Großbritannien bzw. IPAL13
in den Niederlanden). Die organisatorische Anbindung dieser Einheiten ist unter anderem
deshalb von Bedeutung, weil argumentiert werden kann, dass die Machtressourcen des
Mutterressorts         die    Durchsetzung          von       Querschnittspolitiken         durch       zentrale
Koordinationseinheiten beeinflussen (Fleischer 2008). In Großbritannien gelten Cabinet
Office und Prime Minister’s Office als „the two most important administrative powerhouses
of the British machinery of government” (Helms 2005, S. 66). Das Finanzministerium der
Niederlande wurde in der bislang einzigen Untersuchung zur Bedeutung einzelner Ressort in
Koalitionsregierungen unmittelbar hinter dem Amt des Premierministers eingeordnet
(Druckmann/Warwick 2005, S. 40). Darüber hinaus scheint die Anbindungsstrategie insofern
folgerichtig,     da     sowohl       Mitarbeitern      von     Regierungszentralen          als    auch     des
Finanzministeriums eine hohe Kooperationskultur nachgesagt wird (Egeberg 1999, S. 163).

Eine gängige These der politikwissenschaftlichen Forschung geht davon aus, dass die
Ressourcenausstattung           und      dabei      insbesondere        die      Personalausstattung         der
Steuerungseinheiten die Durchsetzungsfähigkeit von Politiken der besseren Regulierung
beeinflussen kann.14 Betrachtet man die personellen Ressourcen, so zeigt sich, dass auch hier
die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen wurden. Die Better Regulation Executive in
Großbritannien hat 89 Mitarbeiter (Radaelli 2008), IPAL in den Niederlanden 18 Mitarbeiter
(Kroll 2008). Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Beschäftigen der
Zentralregierung wird deutlich, dass die Relationen in beiden Ländern ähnlich sind.15

Neben einer zentralen Steuerungseinheit wurde in beiden Ländern darüber hinaus ein externes
Beratungsgremium geschaffen, der Risk and Regulation Advisory Council in Großbritannien

11
   Ungeachtet der jüngsten Programmerweiterung (vgl. Weltbank 2008) konzentriert sich das niederländische
Programm in erster Linie auf die Messung der Bürokratiekosten und auf die Reduzierung von bürokratischen
Belastungen von Unternehmen. Die britische „Bessere Regulierung“- Agenda ist dem hingegen breiter
ausgerichtet und umfasst insbesondere ein umfangreiches System der Gesetzesfolgenabschätzung, Ansätze der
Risikoregulierung, Verbesserungen in der Implementation von Gesetzen etc. (Vgl. Frick/Ernst 2008).
12
   Nach dem Machtwechsel von Tony Blair zu Gordon Brown wurde die Better Regulation Commission aus dem
Cabinet Office in das neugegründete Department for Business, Enterprise and Regulatory Reform verlagert.
Beobachter sehen darin eine deutlich Schwächung des Politikfeldes „bessere Regulierung“ (vgl. Torriti 2008).
13
   Interdepartmentale Projectdirectie Administratieve Lasten.
14
   Vgl. Egeberg 2003, S. 121: “(…) to what extent different interests will be taken care of will partly depend on
the structural capacity (i.e. the number of positions) that can be mobilized behind various concerns.”
15
   In den Niederlanden sind 105.146 Personen in der Zentralregierung beschäftigt (ohne Agencies), in
Großbritannien 457.900.
(ehemals Better Regulation Commission) bzw. ACTAL16 in den Niederlanden, welche
einerseits als Kontrollorgan fungieren und andererseits das Themenfeld „bessere
Regulierung“ weiterentwickeln. Zur interministeriellen Koordination richtete die britische
Regierung zudem ein Cabinet Committee on Regulation, Bureaucracy and Risk unter Vorsitz
des Premierministers ein. Innerhalb der Ministerien wurden so genannte Regulatory Reform
Minister eingesetzt und Departmental Better Regulation Units gegründet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Koordination und Steuerung von
Querschnittspolitiken durch Regierungszentralen einem internationalen Trend folgt, der
zumeist unter dem Begriff des joined-up government subsummiert wird. „Bessere
Regulierung“ und Bürokratieabbau lassen sich in diesen Trend einordnen. Dabei können
basierend auf internationalen Erfahrungen mit JUG-Initiativen (Pollitt 2003) für die
organisatorische Institutionalisierung von Programmen zur besseren Regulierung und zum
Bürokratieabbau innerhalb der Exekutive in vielen Ländern ähnliche Strategien beobachtet
werden, welche sich durch folgende Merkmale charakterisieren lassen:

•    Anbindung der Querschnittspolitik an einen unmittelbaren politischen Verantwortlichen
     mit entsprechender Autorität;

•    Schaffung eines hochrangigen Steuerungsgremiums unter direkter Beteiligung eines
     „politischen Unternehmers“;

•    Aufbau einer zentralen Steuerungseinheit mit entsprechender personeller Ausstattung
     sowie Anbindung an ein machtvolles Ressort mit Querschnittscharakter;

•    Gründung eines externen Kontroll- und Beratungsgremiums;

•    Einsetzung ressortübergreifender Arbeitsgruppen auf operativer Ebene;

•    Bildung eines Netzwerkes zwischen Steuerungseinheit (Zentrale) und weiteren Akteuren
     in den Ressorts.

Im Folgenden soll am Beispiel des Programms der Bundesregierung zu Bürokratieabbau und
besserer Rechtsetzung17 dargestellt werden, wie sich das deutsche Beispiel im internationalen
Trend um joined-up government verorten lässt, ob ähnliche Organisationsmuster wie in

16
  Adviescollege Toetsing Administratieve Lasten.
17
  Regulierung wird als Gesamtheit staatlicher Steuerung und Programme, unabhängig von den konkreten
Steuerungsmodi und -instrumenten, definiert. Der Reformbereich „bessere Regulierung“ umfasst demnach alle
Maßnahmen, welche die Qualität staatlicher Politikformulierung und/oder deren Umsetzung und Anwendung
verbessern sollen. „Bessere Regulierung“ ist somit ein umfassenderes Konzept als „bessere Rechtsetzung“,
welche sich per Definition nur auf ein bestimmtes Steuerungsinstrument (das gesetzte Recht) und eine bestimmte
Phase des Policy-Cycles (den Prozess der Rechtsetzung) bezieht. „Bessere Rechtsetzung“ ist also ein Teilbereich
von „besserer Regulierung“. Die Verwendung der Reformschlagwörter „bessere Regulierung“ und „bessere
Rechtsetzung“ ist in der Praxis aber in der Regel nicht trennscharf.
Großbritannien und den Niederlanden zu identifizieren sind und welche Auswirkungen die in
Deutschland gewählte Organisationsform (Verankerung im Bundeskanzleramt) auf die
Implementationsfähigkeit des Regierungsprogramms hat.

Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung: Das Reformprogramm der Regierung
Merkel

Aufgrund der spezifischen Aufgabenverteilung im bundesdeutschen Exekutivföderalismus,
wonach der Bund vorrangig mit Aufgaben der Programmierung, Regulierung und
Rechtsetzung befasst ist, während die Ausführung der meisten Bundesgesetze als eigene
Angelegenheit der Länder oder in Form der Bundesauftragsverwaltung durch die Länder
erfolgt, beschränkte sich das Thema Bürokratieabbau auf Bundesebene seit jeher auf zwei
große Bereiche: die Politikformulierung („bessere Rechtsetzung“, Deregulierung etc.) und die
behördeninterne Organisation und Steuerung. Da der letztere Bereich wegen der
Organisationshoheit der Ressorts in ihrem Zuständigkeitsbereich und der Bürgerferne der
unmittelbaren Bundesverwaltung (und daraus folgend einer geringen Sichtbarkeit von
Modernisierungsanstrengungen) tendenziell eher ungeeignet für öffentlichkeitswirksame
Reformen ist, konzentrierten sich die großen Bürokratieabbauprogramme des Bundes in der
Regel stark auf Maßnahmen im Bereich der Politikformulierung, v.a. der Gesetzgebung.
Diese Verknüpfung wird in dem im Zentrum dieses Beitrags stehenden „Programm
Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ der Regierung Merkel besonders deutlich. Das
Programm versucht explizit, Fragen der Verringerung bürokratischer Lasten mit dem
Gesetzgebungsverfahren zu verbinden und schreibt dem Bundeskanzleramt sowie dem beim
Bundeskanzleramt angesiedelten, aber formal unabhängigen Nationalen Normenkontrollrat
(NKR) dabei eine besondere Rolle zu.

Nachdem die Ergebnisse der vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 die
Bildung   einer   Großen   Koalition   nahelegten,   traten   CDU,   CSU    und    SPD    in
Koalitionsverhandlungen ein und beschlossen am 11. November desselben Jahres einen
Koalitionsvertrag. Für den Bereich des Bürokratieabbaus wurde darin angekündigt, dass
„beim Bundeskanzleramt [...] ein unabhängiges Gremium von Fachleuten (Normenkontroll-
Rat) eingesetzt [wird], das unter anderem Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und der
Koalitionsfraktionen auf ihre Erforderlichkeit und die damit verbundenen bürokratischen
Kosten hin überprüft. [...] Der Vorsitzende des Rates kann die Auffassungen seines Gremiums
dem Bundeskanzler oder – stellvertretend – dem ChefBK unmittelbar vortragen.“
(Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 75). Ebenfalls im Koalitionsvertrag
festgeschrieben wurde ein bestimmtes Verfahren zur Messung von Bürokratiekosten, welches
die Basis der Arbeit des NKR bilden sollte. Das von den Niederlanden übernommene
Standardkosten-Modell (SKM) sollte benutzt werden, um die mit der Bundesgesetzgebung
verbundenen bürokratischen Lasten objektiv zu messen und um „ein konkretes Ziel der
Rückführung der Bürokratiekosten bis zum Ende der Legislaturperiode fest[zu]legen“
(Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 74). Bürokratiekosten werden im SKM
sehr eng definiert als diejenigen Kosten, welche Unternehmen, Bürgern und der öffentlichen
Verwaltung durch auf staatliche Regulierungen zurückzuführende Informationspflichten (z.B.
das Ausfüllen von Anträgen oder das Führen von Statistiken) entstehen.18 Das SKM
beschränkt sich somit nur auf einen kleinen Teilbereich aller Folgekosten von Gesetzen. Im
Gegensatz zur Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) werden andere Kostenaspekte ebenso wie
das Verhältnis zum Nutzen nicht mit betrachtet.

Im April 2006 konkretisierte die Regierung ihre politischen Vorhaben im „Programm für
Bürokratieabbau      und    bessere     Rechtsetzung“.     Die       fachliche   Vorbereitung        dieses
Kabinettsbeschlusses war im Bundeskanzleramt durch die „Projektgruppe Bürokratieabbau“
erfolgt. Mit Verabschiedung des Regierungsprogramms erhielt das Bundeskanzleramt die
federführende Zuständigkeit für dessen Umsetzung und wurde somit (zumindest formal) zur
zentralen    Koordinations-     und    Steuerungsinstanz       der     Bürokratieabbaupolitik        (siehe
Abbildung). Die parlamentarische Staatssekretärin Hildegard Müller, Staatsministerin im
Bundeskanzleramt und dort unter anderem zuständig für die Bund-Länder-Koordination,
wurde zur Koordinatorin der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung
ernannt. Sie erhielt auch den Vorsitz im neugegründeten Staatssekretärsausschuss
Bürokratieabbau. Die Aufgaben der Koordinatorin und des Staatssekretärsausschusses
definierte das Regierungsprogramm wie folgt (Bundesregierung 2006)19:

•    Umsetzung und Koordination des Regierungsprogramms für Bürokratieabbau und bessere
     Rechtsetzung (Bestandsmessung, Abbaumaßnahmen, Datenbank, ex ante Verfahren);

•    Beschlussfassung über Methodenfragen, Reduzierungsziele, personelle Besetzung der
     Geschäftsstelle Bürokratieabbau im Bundeskanzleramt und eine allen Kabinettvorlagen
     beizufügende Prüfliste zu GFA, Rechtsprüfung und Bürokratiekostenmessung;

•    Vermittlung in Streitfällen zwischen den Ressorts und dem NKR;

18
   Genauere Beschreibung der SKM-Methode in den Niederlanden siehe Kay 2008, für Deutschland siehe
Statistisches Bundesamt 2006.
19
   Auswahl und Zusammenfassung der Autoren.
•    Regelmäßige Bilanzierung und Auswertung der Stellungnahmen des NKR, ggf.
     Beschlussfassung über sich daraus ergebende Handlungsempfehlungen gegenüber den
     Ressorts;

•    Überwachung der Entwicklung und des zügigen Abschlusses laufender Projekte zum
     Bürokratieabbau und Initiierung neuer Projekte;

•    Kontaktpflege und Erfahrungsaustausch mit Bundesländern, anderen EU-Staaten und der
     EU-Kommission.

Organisation der Bürokratieabbaupolitik unter Merkel

                                         Deutscher Bundestag

                                                    Bericht (§ 7 NKRG)

                Bericht
                (§ 6 NKRG)
                                          Bundesregierung

                                Koordinator(in) und Staatssekretärs-
       Nationaler                  ausschuss Bürokratieabbau
    Normenkontrollrat             unterstützt durch Geschäftsstelle
              • Normenprüfung              Bürokratieabbau
              • Methoden-
                                         Bundesministerien
                kontrolle                                                               Statistisches
              • Beratung         •Erfassung der Informationspflichten
                                         •Plausibilitätsprüfung                          Bundesamt
                                     •Vereinfachungsmaßnahmen                          •SKM-Methodik
                                        •Ex-ante-Abschätzung                         •Bestandsmessung

                                                    Informationen
                                                    und Beteiligung

       Bundesländer und Kommunen, Verbände, Sozialpartner, Forschungseinrichtungen

Quelle: Eigene Darstellung.

Mit     der    Verabschiedung      des    Regierungsprogramms            wurde   die    „Projektgruppe
Bürokratieabbau“ im Bundeskanzleramt in „Geschäftsstelle Bürokratieabbau“ umbenannt. Sie
erhielt die Aufgabe, die Koordinatorin im Bundeskanzleramt bei der Umsetzung des
Programms zu unterstützen und als Koordinations- und Unterstützungsinstanz für die Ressorts
zu fungieren. Das Regierungsprogramm legte darüber hinaus fest, dass die Geschäftsstelle in
technischen Angelegenheiten bei der Ein- und Durchführung der Bürokratiekostenmessung
mit dem SKM durch eine Arbeitseinheit im Statistischen Bundesamt unterstützt werden solle:
„Die Geschäftsstelle Bürokratieabbau leistet über das Statistische Bundesamt methodische
Hilfestellung (u.a. Durchführung von Schulungen) und überwacht die Umsetzung der von der
Bundesregierung         beschlossenen     verbindlichen     Abbauziele       durch     die   Ressorts.“
(Bundesregierung 2006, S. 7).
Darüber hinaus wurden in jedem Ressort Ansprechpartner für den Bürokratieabbau benannt,
die als Kontaktpersonen für die Geschäftsstelle dienen und gleichzeitig die Arbeit des
Staatssekretärsausschusses unterstützen. Die Ressortansprechpartner und die Mitarbeiter der
Geschäftsstelle    Bürokratieabbau     kommen       regelmäßig         im     Rahmen        der     sog.
„Ressortansprechpartnerrunde“ zusammen, um offene Fragen und Probleme zu diskutieren.
Die Geschäftsstelle versucht dabei, eine Vermittlerfunktion zwischen den Ressorts zu
übernehmen. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Geschäftsstelle, den Gesamtprozess im Blick zu
behalten und auf nächste Arbeitsschritte und lösungsbedürftige Fragen hinzuweisen. Wenn
möglich,     werden      anstehende      Entscheidungen           bereits    im      Rahmen         der
Ressortansprechpartnerrunde so weit vorabgeklärt, dass der Staatssekretärsausschuss diese
dann einvernehmlich beschließen kann.

Die Geschäftsstelle Bürokratieabbau wurde formal als Arbeitseinheit in die Abteilung 1,
Gruppe 13 des Bundeskanzleramtes eingegliedert. Im realen Arbeitsprozess weist die
Geschäftsstelle im Vergleich zu anderen Arbeitseinheiten in der Linienorganisation jedoch
einige Besonderheiten auf: So findet ein regelmäßiger Jour Fixe mit der Staatsministerin/dem
Staatsminister statt und der direkte, persönliche oder telefonische Kontakt von Mitarbeitern
der Geschäftsstelle mit dem Büro des Staatsministers ist rege. Die mittlere Leitungsebene
wird zwar beteiligt, sie spielt de facto aber eine geringere Rolle in der inhaltlichen Arbeit als
dies üblicherweise in einer hierarchischen Linienorganisation der Fall ist (Interview
Bundeskanzleramt, Juni 2008). So weist die Geschäftsstelle in der Praxis einige Ähnlichkeiten
mit einer Stabsstelle auf, besitzt aber gleichzeitig nicht deren formale Autorität in der
Kommunikation mit den Ressorts. Gleichzeitig wird ein spezifischer Vorteil der
Linienorganisation, die Filterung und Vorentscheidung der Informationen für die
Leitungsebene, vielfach nicht richtig ausgenutzt, da die mittlere Leitungsebene (nicht nur im
Bundeskanzleramt, sondern vor allem auch in den Ressorts) inhaltlich nur wenig in die
Umsetzung des       Regierungsprogramms       involviert   ist.     Dies    führt   dazu,    dass    im
Staatssekretärssausschuss viele Detailfragen besprochen werden müssen, die in der
Ministerialbürokratie üblicherweise auf niedrigeren Hierarchieebenen geklärt werden.
Probleme, die in der Ressortansprechpartnerrunde und durch Vermittlung der Geschäftsstelle
nicht gelöst werden können, landen direkt auf der Agenda der Staatssekretäre und können
nicht über mehrere Hierarchiestufen hinweg gefiltert und „hochgespielt“ werden.

Verstärkt wird dieser Effekt durch die Art der Programmgestaltung und die spezifischen
Programminhalte. Wie bereits erwähnt sind Bürokratiekosten nur ein kleiner Teil aller
Regulierungsfolgen.        Darüber       hinaus       wird     der       Bürokratiekostenbegriff          im
Regierungsprogramm noch einmal stark reduziert, indem nur Kosten zur Erfüllung von durch
Gesetze verursachten Informationspflichten als Bürokratiekosten gelten und indem das
Standardkosten-Modell als Methode zur Erfassung der Bürokratiekosten festgelegt wird. Die
aus dieser Beschränkung und aus der Entscheidung für eine Vollmessung der gesamten
Bundesgesetzgebung        resultierenden     Fragen     für   die    Programmdurchführung          waren,
insbesondere am Anfang des Implementationsprozesses, entsprechend detailliert und
„technisch“. Derartige Detailfragen werden in anderen Bereichen üblicherweise nicht durch
ein hochrangiges Gremium wie den Staatssekretärsausschuss besprochen, sondern an andere
Instanzen delegiert. Hierfür sah das Regierungsprogramm aber keine Regelungen vor. Diese
Tatsache zeigt, dass der „unpolitische Ansatz“ der Bürokratiekostenmessung mit dem SKM20
zwar gut politisch zu vermarkten, aber wenig glaubwürdig ist. Bürokratieabbau lässt sich
nicht ohne politische Interessenkonflikte umsetzen, auch dann nicht, wenn scheinbar
objektive Zahlen für auf den ersten Blick interessenfreie Bereiche der Gesetzgebung (die
Informationspflichten) produziert werden.

Neben     der   Organisation      des   ex    post    Bereiches      des   Bürokratieabbauprogramms
(Bestandsmessung, Aufbau einer Datenbank, Identifizierung von Abbaumaßnahmen), welcher
im Kanzleramt auf Arbeitsebene durch die Geschäftsstelle Bürokratieabbau verankert wurde,
etablierte man für den Bereich der ex ante Abschätzung von Bürokratiekosten mit dem NKR
eine formal unabhängige Instanz mit einem Sekretariat im Bundeskanzleramt. Formale Basis
der Einsetzung des NKR war jedoch nicht das Regierungsprogramm Bürokratieabbau und
bessere Rechtsetzung, sondern ein vom Büro Norbert Röttgens erarbeitetes und von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gemeinsam in den Bundestag eingebrachtes „Gesetz
zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates“ (NKRG). Das Gesetz wurde im
August 2006 verabschiedet, die acht Mitglieder des Gremiums im September desselben Jahres
per Kabinettsbeschluss bestimmt. Aufgabe des NKR ist es laut § 4 Abs. 2 NKRG, Gesetzes-
und    Verordnungsentwürfe        der    Bundesministerien       sowie     Entwürfe    für   allgemeine
Verwaltungsvorschriften vor deren Vorlage an das Bundeskabinett im Hinblick auf die
Einhaltung der Grundsätze einer standardisierten Bürokratiekostenmessung zu überprüfen.

Im Dezember 2006 erweiterte die Bundesregierung deshalb die Vorschriften der
Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) zur GFA um die

20
  Im Agenda-Setting-Prozess wurde der „unpolitische Ansatz“ des SKM von vielen Akteuren als Ursache für
dessen Erfolg beschrieben.
Verpflichtung, auf dem Gesetzesvorblatt und im Rahmen der Gesetzesbegründung
Transparenz über Informationspflichten und Bürokratiekosten für Unternehmen, Bürger und
die öffentliche Verwaltung herzustellen. Die Bürokratiekostenabschätzung mit dem SKM
wurde damit als ein Modul der GFA konzipiert. Zur praktischen Realisierung der ex ante
Abschätzung von Bürokratiekosten im Rechtsetzungsprozess entwickelten der NKR und die
Geschäftsstelle          Bürokratieabbau      im    Bundeskanzleramt         in    Abstimmung        mit   den
Bundesministerien einen „Leitfaden für die ex ante Abschätzung der Bürokratiekosten nach
dem Standardkosten-Modell“ (Bundeskanzleramt 2007).

Fast zeitgleich mit der GGO-Änderung Ende 2006, welche den Grundstein für eine
Integration        der     Bürokratiekostenabschätzung          in     das    exekutive      Verfahren     der
Gesetzeserarbeitung legte, begann das Statistische Bundesamt im Januar 2007 mit einer
Bürokratiekostenmessung des gesamten deutschen Bundesrechts (Bestandsmessung). Bereits
einen Monat später, im Februar 2007, legte das Bundeskabinett fest, dass die mit dem
Bundesrecht verbundenen Bürokratiekosten für Unternehmen bis 2011 um 25% reduziert
werden sollen.21 Die Ende 2008 abgeschlossene Bestandsmessung umfasst insgesamt 9.234
Informationspflichten aus nationalen Gesetzen und Verordnungen (einschließlich des national
umgesetzten EU- und internationalen Rechts). Für die erfassten Informationspflichten wurden
Bürokratiekosten für die Wirtschaft in Höhe von jährlich 47,6 Mrd. Euro ermittelt. Bei einer
Analyse der Ergebnisse zeichnen sich die Schwächen der SKM-Methode jedoch bereits
deutlich ab. So verursachen die „Top 10“ der Informationspflichten über 70% der Kosten. Der
Zeitaufwand zur Erfüllung der Informationspflichten im Bereich der „Top 10“ liegt jedoch für
ein durchschnittlich effizientes Unternehmen bei weniger als zehn Minuten pro
Informationspflicht. Die „teuerste“ Informationspflicht ist die Aufbewahrung von
Rechnungen im Rahmen der Umsatzsteuererklärung; der Zeitaufwand hierfür beträgt pro
Rechnung eine halbe Minute. Selbst wenn man diese Informationspflichten als entbehrlich
betrachtet, würde ein Wegfall von den Unternehmen kaum bemerkt werden. Ungeachtet
dieser Kritikpunkte hat die Bundesregierung im Rahmen ihres Jahresberichtes im Dezember
2008 330 Vereinfachungsmaßnahmen vorgestellt, die nach vollständigem Inkrafttreten die
Wirtschaft um jährlich über sieben Mrd. Euro entlasten sollen. Maßnahmen mit einer
Entlastungswirkung von rund 3,5 Mrd. Euro pro Jahr seien bereits umgesetzt worden
(Bundesregierung 2008b, S. 17ff.).

21
     Eine ausführliche Darstellung des SKM-Prozesses in Deutschland findet sich bei Jann/Jantz (2008).
Die Rolle des Bundeskanzleramtes: Strategischer Kopf oder machtloser Makler?

Will man die Organisation der Bürokratieabbaupolitik der Großen Koalition im Hinblick auf
die Durchsetzungsfähigkeit der für dieses Politikfeld zuständigen administrativen und
politischen Akteure (Generalisten) gegenüber den Rechtsetzungsexperten in den Fachressorts
(Spezialisten)22 vor dem Hintergrund der praktischen Umsetzungserfahrungen bewerten und
einschätzen, welche Vor- und Nachteile sich gegenüber einer „Ressortlösung“ (traditionelle
Zuständigkeit im BMI) ergeben, ist es sinnvoll, zwischen dem ex ante und dem ex post
Bereich des Reformprogramms zu differenzieren. Der ex ante Bereich beinhaltet die
Umsetzung der Bürokratiekostenabschätzung für Gesetzentwürfe der Exekutive durch das
federführende Ministerium sowie die Prüfung der auf dem Gesetzesvorblatt und in der
Gesetzesbegründung dokumentierten Ergebnisse durch den NKR. Der ex post Bereich
umfasst die Durchführung der Bestandsmessung sowie die Identifizierung und Umsetzung
von Bürokratieabbaumaßnahmen vor dem Hintergrund des von der Bundesregierung
formulierten Zieles, die durch Bundesgesetze verursachten Bürokratiekosten für Unternehmen
bis 2011 um 25% zu reduzieren.

Der ex ante Bereich des Reformprogramms

Ausgehend von der Etablierung des NKR und der Erweiterung der GGO in der zweiten
Jahreshälfte 2006 konnte – anders als bei bisherigen, weitgehend gescheiterten Versuchen zur
Implementation einer umfassenden Gesetzesfolgenabschätzung – innerhalb kurzer Zeit eine
ressortübergreifende Integration der Bürokratiekostenabschätzung in den Prozess der
Gesetzeserarbeitung in der Exekutive erreicht werden (Veit 2008). Das Erfolgsrezept des
SKM im ex ante Bereich besteht in einer starken Komplexitätsreduzierung23, in klaren
Handlungsanweisungen (Definition und Methode) und in der Produktion von konkreten
Zahlen. Qualitative Folgenbetrachtungen spielen im SKM ebenso wenig eine Rolle wie eine
Abwägung von Kosten und Nutzen. Diese Beschränkung ist ein Vorteil, wenn man davon
ausgeht, dass Argumente dann eine besonders hohe Chance auf Beachtung im politischen
Diskurs haben, wenn sie quantifizierbar sind. Da bürokratische Lasten als indirekte Kosten für
Unternehmen, Bürger und andere gesellschaftliche Akteure einen diffusen Charakter
aufweisen, sind sie im politischen Aushandlungsprozess der Interessen unterrepräsentiert. Der

22
   Zur Rolle von Generalisten und Spezialisten bei der Entbürokratisierung siehe Jann/Wegrich 2008, S. 49ff;
Kroll 2008.
23
   Der Bürokratiebegriff ist vielschichtig und komplex. Das SKM-Verfahren versucht nicht, möglichst viele
Arten von Bürokratiekosten zu erfassen, sondern beschränkt sich stattdessen ganz bewusst auf einen
spezifischen, genau definierten Teilbereich.
Nutzen einer Maßnahme hingegen wird meist schon durch diejenigen Akteure gut
argumentativ untermauert, die sich für das Agenda-Setting der Policy eingesetzt haben. Das
SKM ist also vor allem deshalb ein Erfolgsmodell, weil es durch argumentatives Aufrüsten
die   Beachtung       eines    bestimmten,       eingegrenzten      Folgenaspektes        im    politischen
Aushandlungsprozess unterstützt, welcher anderenfalls aufgrund seines diffusen Charakters
wenig Aufmerksamkeit erhalten würde (siehe hierzu auch Mayntz 1980; Jann/Wegrich 2008).

Hinzu kommt, dass Zuständigkeiten klar definiert und so festgelegt wurden, dass sie mit dem
existierenden      Verfahren      der     Gesetzesvorbereitung         und     mit    den      bestehenden
Abstimmungsprozessen kompatibel sind. So ist das federführende Ressort für die
Durchführung der Bürokratiekostenschätzung zuständig und wird in der Wahrnehmung dieser
Aufgabe vom Nationalen Normenkontrollrat unterstützt und kontrolliert. Das Sekretariat des
NKR       bietet     den      Ministerialbeamten        bereits     bei      der     Durchführung        der
Bürokratiekostenschätzung Unterstützung in methodischen Fragen an.24 Nehmen die für einen
Regelungsentwurf federführend zuständigen Beamten im Vorfeld keinen Kontakt zu
Mitarbeitern des NKR-Sekretariats auf, dann wird der NKR spätestens im Rahmen der
Ressortabstimmung über den Entwurf in Kenntnis gesetzt und erhält die Möglichkeit zur
Stellungnahme. Die Frist für die Stellungnahme beträgt laut GGO mindestens vier Wochen, in
der Praxis sind die Fristen aber meist enger gesetzt. Der NKR arbeitet intern mit einem
Berichterstattersystem25      und    kommt       zu   wöchentlichen       Sitzungen     zusammen.        Die
Stellungnahmen des NKR zu den mit einem Regelungsentwurf verbundenen Bürokratiekosten
sowie zur Qualität der vorgenommenen Bürokratiekostenabschätzungen werden den
Gesetzes- oder Verordnungsentwürfen vor der Zuleitung ins Kabinett bzw. später in
Bundestag und Bundesrat angehängt und sind somit öffentlich zugänglich. Die darüber
hinausgehenden Publikationsaktivitäten des Nationalen Normenkontrollrates (Newsletter,
Jahresbericht, themenbezogene Studien sowie regelmäßige Stellungnahmen zu den
Fortschrittsberichten der Bundesregierung) fördern eine erhöhte Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit für das Thema, da die Medien im Zuge solcher Veröffentlichungen verstärkt
über das Thema Bürokratieabbau berichten.26

24
   Das Sekretariat des Nationalen Normenkontrollrates hat acht Mitarbeiter/innen (Stand: Januar 2009).
25
   Jedes NKR-Mitglied ist Berichterstatter für ein bestimmtes Ressort (oder für mehrere Ressorts).
26
   Eine Recherche über das Zeitungsportal lexis-nexis, das außer dem Handelsblatt alle überregionalen
Tageszeitungen sowie die wichtigsten Regionalzeitungen und Wochenmagazine umfasst, ergab für das Stichwort
„Normenkontrollrat“ im Jahre 2008 99 Artikel und für das Jahr 2007 97 Artikel. Darüber hinaus hat Zeit online
einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Bürokratieabbau eingerichtet
Stellt man sich nun die Frage, ob und inwiefern die Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes für
die Umsetzung des Regierungsprogramms eine Rolle für die Implementationserfolge im ex
ante Bereich spielt, so fällt zunächst auf, dass das Bundeskanzleramt in diesem Verfahren in
der Praxis kaum als eigenständiger Akteur in Erscheinung tritt. Der von der
Staatsministerin/dem Staatsminister im Bundeskanzleramt geleitete Staatssekretärsausschuss
Bürokratieabbau beobachtet zwar die Arbeit des NKR und hat auch die im
Regierungsprogramm genannte Prüfliste27 zur besseren Rechtsetzung verabschiedet, besitzt
aber keine spezifische Funktion im regulären Verfahren der Gesetzeserarbeitung und
Ressortabstimmung. Das gleiche gilt für die Geschäftsstelle Bürokratieabbau, die mit neuen
Gesetzentwürfen in der Regel nichts zu tun hat. Lediglich das Kabinettsreferat im
Bundeskanzleramt ist standardmäßig in den Prozess der Erarbeitung von Exekutiventwürfen
involviert. Jeder Gesetzes- und Verordnungsentwurf, der vom Kabinett beschlossen werden
soll, wird vom Kabinettsreferat im Hinblick auf die Einhaltung formaler Vorgaben (z.B. der
Geschäftsordnung der Bundesregierung und der GGO) geprüft. Dazu gehört seit Etablierung
des NKR eine Überprüfung der Frage, ob die Stellungnahme des NKR ordnungsgemäß ein
Teil der Kabinettsvorlage ist.

Der Erfolg des Regierungsprogramms im ex ante Bereich hat vor allem etwas mit der
Institution des NKR zu tun, dessen Sekretariat zwar im Bundeskanzleramt sitzt, welcher aber
formal unabhängig ist. Die Kombination aus einem starken Mandat durch die Legislative
(Gesetz), Unabhängigkeit, Transparenzpflichten (die Stellungnahme des NKR ist Teil der
Kabinettsvorlage bzw. des Regierungsentwurfs, der dem Parlament zugeleitet wird) und
Kompatibilität mit dem Ressortprinzip28 (der NKR wird im exekutiven Abstimmungsprozess
ähnlich wie ein Ressort behandelt) hat sich als besonders förderlich für die Implementation
der ex ante Bürokratiekostenabschätzung erwiesen. Gleichzeitig hat der NKR es geschafft, im
alltäglichen Geschäft die richtige Mischung aus einer Rolle als unabhängiger und
konfliktfähiger „Wachhund“ einerseits sowie als Unterstützer und kooperativer Partner der
Ressorts andererseits zu finden. Sein Arbeitsstil ist weniger konfrontativ als kooperativ. Die
räumliche Nähe des NKR-Sekretariates zum Bundeskanzleramt und vor allem das
Selbstverständnis der Sekretariatsmitarbeiter/innen als Teil der Ministerialverwaltung war für
die Entwicklung dieses Grundverständnisses möglicherweise ein unterstützender Faktor.

27
   Die Prüfliste ist, nach bisherigen Einschätzungen von Experten aus der Ministerialverwaltung, in der Praxis
der Gesetzeserarbeitung bedeutungslos geblieben.
28
   Die Passfähigkeit zum existierenden System der Gesetzesvorbereitung äußert sich darin, dass die Einführung
der ex ante Bürokratiekostenabschätzung die Arbeitsabläufe der Ressorts zwar in einem kleinen Teilbereich
etwas verändert hat, aber aufgrund ihres begrenzten Charakters nicht grundsätzlich in Frage stellte.
Der ex post Bereich des Reformprogramms

Im ex post Bereich hingegen sind die Resultate der Reformbemühungen – trotz des
umfassenden            Organisationsrahmens           (Staatsministerin,           Staatssekretärsausschuss,
Geschäftsstelle Bürokratieabbau, Ressortansprechpartner, Statistisches Bundesamt) – deutlich
weniger positiv als im ex ante Bereich. Für die Umsetzung des Bürokratieabbaus im ex post
Bereich laut Regierungsprogramm wurden erhebliche personelle Kapazitäten in obersten und
oberen        Bundesbehörden         gebunden:      Während       die         ursprüngliche   Projektgruppe
Bürokratieabbau im Kanzleramt nur aus drei Mitarbeitern des höheren Dienstes bestand,
stockte man die Geschäftsstelle bis August 2006 sukzessive auf die laut Regierungsprogramm
vorgesehenen zehn Mitarbeiter/innen auf (Interview Bundeskanzleramt, Juli 2008). Hinzu
kommen die Ansprechpartner/innen für Bürokratieabbau in allen Ressorts sowie die
Mitarbeiter/innen des Büros der zuständigen Staatsministerin bzw. des zuständigen
Staatsministers. Für die Bestandsmessung des Bundesrechts mit dem SKM fiel zudem ein
erheblicher        Arbeitsaufwand       in    den     Ministerien       für      die   Identifizierung   von
Informationspflichten, für SKM-Fortbildungsmaßnahmen und Koordinationstätigkeiten an.
Während die bisher genannten Kapazitäten für das Regierungsprogramm nicht durch
zusätzliche Stellen, sondern durch Umschichtungen sowie durch Aufgabenübertragung an
vorhandenes Personal gedeckt wurden, konnte das mit der Durchführung der SKM-Messung
und dem Aufbau der Datenbank betraute Statistische Bundesamt die Kapazitäten nicht allein
durch Umschichtungen abdecken. Insgesamt wurden im Statistischen Bundesamt 120
Planstellen29 für die Bestandsmessung bereitgestellt, hierfür fielen 2007 Mehrausgaben in
Höhe von insgesamt 8,4 Mio. Euro an (BT-Drs. 16/2350, S. 7).

Trotz dieser Investitionen hat der Reformprozess im ex post Bereich nach Nachlassen der
anfänglichen Priorisierung des Themas durch die Bundeskanzlerin schnell an Dynamik
verloren. Der Abschluss der Bestandsmessungen verzögerte sich erheblich und die
Identifikation von Abbaumaßnahmen verlief nur schleppend. Dabei erlitt der Bürokratieabbau
mit dem „unpolitischen“ Fokus auf Informationspflichten und einem hohen Anspruch an
Objektivierbarkeit durch die Verwendung der SKM-Methode ein ähnliches Schicksal wie die
meisten Vorgängerprogramme. Obwohl Bürokratieabbau auf einer abstrakten und
symbolischen Ebene ein gesamtgesellschaftliches Konsensthema ist, treffen konkrete
Abbaumaßnahmen meist auf den Widerstand derjenigen Akteure, die von den betreffenden
Regulierungen profitieren: „Dieser politische Charakter von Regulierungen offenbart sich

29
     Telefonische Auskunft nach Anfrage beim Statistischen Bundesamt im Januar 2009.
besonders, wenn es um das Abschaffen vermeintlich unnötiger Regulierungen geht.
Überflüssige Vorschriften ähneln hier sehr den überflüssigen Subventionen: Es gibt
bekanntlich,    zumindest      in   der   öffentlichen   Wahrnehmung,     eine   große,   beinahe
unüberschaubare Menge überflüssiger Subventionen. Wenn allerdings eine einzelne
Subvention abgeschafft oder gekürzt werden soll, gibt es erbitterte Widerstände der
betroffenen Interessenvertreter. Der Widerstand der betroffenen Verbände – und der durch
diese Interessen instrumentalisierten Opposition – bei den von der letzten Bundesregierung
versuchten Deregulierungen der Handwerksordnung, der Honorarordnungen für Architekten
oder Rechtsanwälte, der Apothekenordnung oder des Vergaberechts verdeutlichen das
Problem.“ (Jann u.a. 2007, S. 41).

Im Falle des hier betrachteten Reformprogramms traten die Widerstände jedoch schon auf,
bevor konkrete Abbaumaßnahmen und Schlussfolgerungen aus den Messungen überhaupt
diskutiert wurden. In Erwartung kommender Konflikte wurde versucht, die „Schlachten“ auf
anderen Feldern auszutragen. Die langen und verhärteten Auseinandersetzungen um
methodische Fragen, insbesondere darüber welche Pflichten als Informationspflichten und
somit als bürokratische Belastungen aufzufassen sind (z.B. um die Buchführungspflichten),
verdeutlichen dies. Die Strategie der Ressort bestand dabei darin, durch methodische
Argumente möglich viele Informationspflichten aus „ihrem“ Bereich wegzudefinieren. Der
politische Charakter des Bürokratieabbaus erklärt auch, warum zahlreiche Abbaumaßnahmen,
die   von      den   Ressort    vorgeschlagen     wurden,   nicht   auf   die    Ergebnisse   der
Bürokratiekostenmessung und daraus resultierende Reformaktivitäten zurückzuführen sind,
sondern es sich dabei vielmehr um Vorhaben handelt, die seit geraumer Zeit in der Planung
waren (z.B. elektronische Meldung zur Sozialversicherung, elektronische Gesundheitskarte,
Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz etc.). Nichtsdestotrotz werden diese Maßnahmen nun als
Resultate der aktuellen Reformen im Bereich des Bürokratieabbaus verkauft.

Für die schwache Bilanz des Regierungsprogramms im ex post Bereich spielen darüber
hinaus parteipolitische Fragen eine wichtige Rolle. Wie erwartet hatte sich nach Abschluss
der Bestandsmessungen bestätigt, dass die A-Ressorts (also die von einem SPD-Politiker
geleiteten Bundesministerien) für deutlich mehr Informationspflichten verantwortlich waren
als die B-Ressorts (CDU/CSU). Somit ergab sich die in Bezug auf den Reformoutput
ungünstige und die parteipolitischen Konflikte verschärfende Situation, dass diejenigen
Ressorts, welche einen großen Teil der Abbaulasten zu tragen hätten, gleichzeitig nicht der
„Kanzler“-Partei angehörten und deshalb erwarteten, nur wenig von eventuellen Erfolgen
profitieren zu können. Die SPD-Ressorts befanden sich in einem Dilemma: Zeigten sie sich
als Blockierer der Reformbemühungen, würden sie von der CDU-Seite dafür verantwortlich
gemacht. Unterstützten sie den Reformprozess hingegen, dann wären erhebliche Konflikte mit
Interessengruppen zu erwarten, die im Wahlkampf wiederum negativ auf die SPD
zurückfallen könnten. Darüber hinaus wurde das CDU-geführte Bundeskanzleramt durch die
Ressorts nicht als „ehrlicher Makler“ im Bürokratieabbauprozess betrachtet.

Wenn eine Meta-Policy wie der Bürokratieabbau mit dem SKM trotz starker parteipolitischer
Konflikte und Widersprüche zu den Ressortinteressen erfolgreich durchgesetzt werden soll,
muss es innerhalb des Akteursnetzwerkes der Reformpolicy einen starken „politischen
Unternehmer“ geben, der sich als „Generalist“ für die Ziele der Meta-Policy einsetzt und in
konkreten Konfliktsituationen durchsetzungsfähig agieren kann. Dass dies in der
Bürokratieabbaupolitik unter Merkel nicht der Fall war, hat mehrere Ursachen. Wenig
förderlich für die Durchsetzungsfähigkeit des Regierungsprogramms war die Entscheidung,
das Thema auf Staatssekretärsebene anzubinden und keine unmittelbare und sichtbare
politische Verantwortlichkeit eines Kabinettsmitgliedes herzustellen.30 Ein weiteres Defizit
bestand in der mangelnden personellen Kontinuität. So war Hildegard Müller als zuständige
Staatsministerin zwar in der ersten Reformphase (Frühjahr bis Herbst 2006) aktiv, wurde dann
aber während ihrer Elternzeit bis zum Herbst 2007 durch Bernhard Beus vertreten. Beus, der
im Unterschied zu Müller kein parlamentarischer, sondern ein beamteter Staatssekretär ist,
besaß zwar langjährige Verwaltungserfahrung und damit auch den nötigen „Stallgeruch“, um
in der Staatssekretärsrunde anerkannt zu sein und die verwaltungsinternen Auswirkungen von
Entscheidungen abschätzen zu können (Interview Bundeskanzleramt, Juni 2008), gleichzeitig
war er als Beamter mit Ressorthintergrund niemand, der sich als „politischer Unternehmer“
dem Bürokratieabbau als zentralem Policy-Ziel verschreiben konnte. Hinzu kam, dass Beus
als Vertreter für Frau Müller wusste, dass er den Prozess nicht bis zum Ende begleiten würde.
Im Dezember 2007 übernahm Hildegard Müller erneut die Geschäfte als Staatsministerin,
kündigte aber bereits Ende Juli 2008 ihren bevorstehenden Wechsel zum Bundesverband der
Energie- und Wasserwirtschaft an. Im Oktober 2008 wurde Hermann Gröhe als neuer
Staatsminister ernannt. Gröhe ist ebenso wie Müller kein beamteter Staatssekretär, sondern

30
  Dass eine solche Lösung möglich ist, zeigt das Beispiel der Nachhaltigen Entwicklung. Auch hier existiert ein
Staatssekretärsausschuss als Steuerungsgremium, der Vorsitzende dieses Ausschusses ist jedoch der
Kanzleramtsminister (und damit ein Kabinettsmitglied).
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