Steuerung von Querschnittspolitik durch das Bundeskanzleramt: Das Beispiel Bürokratieabbau
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Steuerung von Querschnittspolitik durch das Bundeskanzleramt: Das Beispiel Bürokratieabbau Von Bastian Jantz und Sylvia Veit, Universität Potsdam1 Erscheint in: Florack, Martin/Grunden, Timo (Hrsg.)(2009): Regierungszentralen. Führung, Steuerung und Koordination zwischen Formalität und Informalität, Wiesbaden: VS-Verlag. Das Bundeskanzleramt übt in Deutschland bei der Erarbeitung von Regierungspolitiken traditionell vor allem eine koordinierende Funktion aus. Diese Rollenzuschreibung spiegelt sich in der internen Aufbauorganisation des Bundeskanzleramtes in einer streng hierarchischen Gliederung in Abteilungen, Gruppen und (auf die Geschäftsbereiche einzelner Fachressort spezialisierte) Spiegelreferate wider. Projekt- und Strategiegruppen sowie andere Formen flexibler und innovationsorientierter Organisation spielen hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Aufgaben der Politikformulierung und –implementation werden in Deutschland also üblicherweise nicht proaktiv durch die Regierungszentrale wahrgenommen, sondern liegen im Zuständigkeitsbereich der Ressorts.2 Dies gilt nicht nur für klassische sektorale Politiken wie die Gesundheitspolitik oder die Landwirtschaftspolitik, sondern auch für die meisten Querschnittspolitiken. Zwar besitzen viele Policies einen mehr oder minder stark ausgeprägten Querschnittscharakter, eindeutige Querschnittspolitiken wie zum Beispiel die Haushalts- und Gleichstellungspolitik, aber auch die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehende Bürokratieabbaupolitik, sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass deren Implementation (und damit deren Erfolg) in besonders hohem Maße davon abhängt, ob es gelingt, sie dauerhaft in alle anderen Politikfelder zu integrieren. Um diese Integration zu erreichen, bestand das „klassische“ organisatorische Vorgehen in der bundesdeutschen Exekutive bisher in der Schaffung von Zuständigkeiten in einem Ressort verbunden mit Maßnahmen zur Stärkung der regierungsinternen Durchsetzungsfähigkeit der entsprechenden Einheiten. So besitzen das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen 1 Die Autoren danken ihren Interviewpartnern für zahlreiche wichtige Hintergrundinformationen sowie Werner Jann, Tobias Bach, Julia Fleischer, Thurid Hustedt, Ronny Kay und Cornelia Schmidt für ihre Kommentare zu einer ersten Fassung dieses Aufsatzes. 2 Vgl. dazu Knoll (2004, S. 60): „Aufgrund des Ressortprinzips kann das Bundeskanzleramt aber nicht so weit gehen, die Programmentwicklung zu sehr an sich zu ziehen. Es soll kein ‚Oberministerium’ sein, mit dessen Hilfe der Bundeskanzler in die Bundesministerien hineinregiert. “
und Jugend sowie das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ein besonderes Initiativrecht im Kabinett in frauen- bzw. verbraucherpolitischen Angelegenheiten. Das Finanzministerium als Querschnittsressort par excellence verfügt sogar über ein suspensives Veto im Kabinett. Auch wenn diese formalen Rechte in der Praxis nicht angewendet werden und stattdessen Aushandlungen, Kompromisse und in der letzten Konsequenz konsensuale Entscheidungen üblich sind, entfalten sie eine (antizipative) Wirkung auf die exekutive Politikformulierung in Deutschland. In jüngerer Zeit sind jedoch Tendenzen zu einer veränderten organisatorischen Institutionalisierung von Querschnittspolitiken in der Exekutive zu erkennen, welche die „Ressortfreiheit“ des Bundeskanzleramtes zunehmend in Frage stellen. So besitzt das Bundeskanzleramt seit 2001 die Zuständigkeit für Nachhaltige Entwicklung 3 (Bundesregierung 2008a; Jacob u.a. 2009) und seit der Regierungsübernahme von Angela Merkel im Herbst 2005 für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung (Bundesregierung 2006). Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren im Rahmen des Beauftragtenmodells weitere Querschnittsthemen an das Kanzleramt angegliedert. Gerhard Schröder siedelte im Jahr 1998 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien4 beim Bundeskanzleramt an. Seit 2005 ist zudem der zuvor im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002-2005) bzw. im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (1978-2002) angesiedelte Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration organisatorisch an das Bundeskanzleramt angegliedert. Damit wurden mehrere politische Querschnittsthemen im Bundeskanzleramt fachlich verankert oder (wie im Falle der Bundesbeauftragten) mit einer eigenen Behörde an dieses angegliedert.5 Der folgende Beitrag beschäftigt sich am Beispiel des Bürokratieabbaus6 mit der Frage, welche Folgen die organisatorische Verankerung von Querschnittspolitiken im 3 Vgl zur Nachhaltigkeitsstrategie u.a. auch Tils (2005, S. 214): „Die institutionelle Verankerung der Nachhaltigkeitsstrategie im Bundeskanzleramt […] sind wesentliche Eckpfeiler der Polity-Dimension des Entstehungszusammenhangs. Zwar war das Bundeskanzleramt zu Beginn nicht begeistert, diese für sie untypische konzeptionelle und viele Ressourcen beanspruchende Arbeit zu übernehmen […]. Dennoch akzeptierte man auch hier, dass eine Ansiedlung im Bundeskanzleramt sinnvoll ist, damit die Strategie in das Zentrum administrativer Steuerung rückt und eine politikfeldübergreifende Koordination möglich wird.“ 4 Auf Bundesebene war zuvor das Bundesministerium des Innern für den Bereich Kultur zuständig gewesen. 5 Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele: So wurde die Zuständigkeit für Angelegenheiten der neuen Bundesländer, welche seit Anfang der 1990er Jahre im Bundeskanzleramt lag (Arbeitsstab ChefBK neue Länder unter Helmut Kohl; seit 1998 Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der neuen Länder), 2002 in das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) verlagert. 6 Die Ausführungen zum Fallbeispiel basieren auf Experteninterviews mit Mitarbeiter(inne)n des Bundeskanzleramtes auf verschiedenen Hierarchiestufen, des Sekretariats des Nationalen Normenkontrollrates
Bundeskanzleramt für deren Durchsetzungs- und Implementationsfähigkeit hat. Es wird diskutiert, ob das Bundeskanzleramt im Bereich des Bürokratieabbaus zu einem proaktiven Policy-Akteur wird und damit ähnliche Aufgaben übernimmt wie ein „normales Ressort“ und wenn ja, ob das zu verbesserten Implementationsergebnissen für diese Querschnittspolitik führt. Kann vielleicht sogar – vor dem Hintergrund der zunehmenden Relevanz von langfristigen, politikfeldübergreifenden Themen (z.B. alternde Gesellschaft, Klimawandel, Nachhaltige Entwicklung, Meta-Regulierung) in der modernen Gesellschaft – von einem „neuen Modell“ der Organisation von Querschnittspolitik gesprochen werden? Bevor diese Fragen am Fallbeispiel des Bürokratieabbaus diskutiert werden, wird im folgenden Abschnitt zunächst ein kurzer Überblick über neuere internationale Entwicklungen in Bezug auf die Rolle von Regierungszentralen bei politikfeldübergreifenden Initiativen und hinsichtlich ihrer Funktionszuschreibung als Instanzen zur Steuerung und Koordination von Querschnittspolitiken gegeben. Steuerung von Querschnittspolitiken durch Regierungszentralen: Neuere Entwicklungen im internationalen Vergleich Im Rahmen der internationalen Diskussion wird die Steuerung von Querschnittspolitiken zumeist unter dem Leitmotiv des joined-up government (JUG) bzw. des whole-of-government approach diskutiert (z.B. Bogdanor 2005, Christensen/Lægreid 2007b). Beide Reformschlagwörter gehen davon aus, dass zahlreiche komplexe politische Problemlagen nicht vor Ressortgrenzen halt machen und somit nur bereichsübergreifend zu lösen sind. Es wird daher eine themenbezogene horizontale und vertikale Koordination angestrebt, welche die Fragmentierung innerhalb des Regierungssystems überwindet, indem übergreifende politische Querschnittsthemen bestimmt, zentral koordiniert sowie problemzentriert gesteuert werden. Der Begriff joined-up government wurde Ende der 1990er Jahre von der britischen Regierung als Leitbild für Reformaktivitäten eingeführt7 und umfasste die Stärkung der Zusammenarbeit einzelner Ministerien in strategisch relevanten Problemfeldern mit Querschnittcharakter (z.B. sowie mit Ressortvertreter(inne)n. Darüber hinaus wurden einige Hintergrundgespräche mit externen Reformpromotoren geführt. 7 Erstmalig benutzt wurde das Leitbild des joined-up government im Jahre 1998 durch Geoff Mulgan, einen Berater Tony Blairs, in dessen Artikel „Social Exclusion: Joined up solutions to joined up problems“. Ein Jahr später wurde der Begriff im Rahmen des Weißbuchs “Modernising Government” konkretisiert.
soziale Ausgrenzung, Jugendstrafvollzug, Drogenbekämpfung). Ziel war es, die selektive Sichtweise einzelner Ministerien und Verwaltungsbereiche sowie die häufig beklagte „Bunkermentalität“ von Politiksektoren zu überwinden. Die britische Regierung richtete zu diesem Zweck in der Regierungszentrale zeitlich befristete strategische Einheiten8 ein, die für die Entwicklung der politischen Programmatik zuständig sind und hierfür eine Koordinationsfunktion übernehmen. Die Politikformulierungsfunktion wurde auf Ebene der Implementation dadurch ergänzt, dass das existierende System ressortspezifischer Zielvereinbarungen und Leistungsindikatoren auf gemeinsame Indikatoren mehrerer Ministerien ausgeweitet wurde. Neben funktionalen Beweggründen besteht eine implizite Zielsetzung von JUG in Großbritannien im Ausbau der Kontroll- und Steuerungskapazitäten der Regierungszentrale gegenüber den Ministerien: „[...] joint-up government is a code for increasing the power of Number 10 over ministers. The growth in staff certainly increases Number 10’s potential ability to initiate and oversee policy in departments” (Kavanagh/Richards 2001, S. 13).9 Die Begrifflichkeiten joined-up government und whole-of government10 stellen im Endeffekt nichts anderes dar, als neue Umschreibungen für die altbekannten Anstrengungen und Reformbemühungen um eine verbesserte, „positive“ Koordination (Mayntz/Scharpf 1973) in der öffentlichen Verwaltung: „[...] ‘joined-up government’ is an umbrella term describing various ways of aligning formally distinct organizations in pursuit of the objectives of the government of the day” (Ling 2002, S. 616). Im Zuge der zunehmenden Dezentralisierung und Fragmentierung des Regierungssystems im Rahmen von Reformen des New Public Managements haben Fragen der Koordination und Interaktion innerhalb und zwischen Organisationen des öffentlichen Sektors und Privaten, auf horizontaler und vertikaler Ebene, an politischer Brisanz gewonnen und sind heute somit auch in denjenigen Ländern, welche die NPM-Reformmaßnahmen am konsequentesten umgesetzt haben, am virulentesten: „The pursuit of governmental coordination may be ancient, but contemporary efforts are driven by the dispersal of governmental capacity caused by the New Public Management (NPM) inspired disaggregation of policy-making from service delivery. To ameliorate the 8 Anti-Drugs Co-ordination Unit, Social Exclusion Unit, Youth Justice Task Force, Neighbourhood Regeneration Unit. 9 Ähnlich argumentiert auch Proeller (2007, S. 11f): „In den Reformen unter der Labour-Regierung ist es ein besonderes Anliegen gewesen, die Steuerungs- und Koordinationsfähigkeit der ‚Zentrale’ (…) zu verbessern, um die strategische Stoßrichtung der Regierung einhalten zu können.“ 10 Die Begriffe JUG und whole-of-government approach besitzen inhaltlich eine sehr große Schnittmenge. Im Folgenden wird vereinfachend ausschließlich der JUG-Begriff verwendet. Zum Begriffsgenese und zum Inhalt des whole-of-government approach siehe z.B. Christensen/Lægreid 2007a.
fragmentary effects of the 1980s NPM reforms, governments quickly began looking for ways to suture the system together again. […] JUG became most pressing in countries like the UK, New Zealand and Australia, which adopted NPM reforms more enthusiastically than others did.“ (Davies 2009, S. 81). Erfolge haben die Ansätze des JUG insbesondere in Bezug auf die Mobilisierung von Expertise und politischer Unterstützung für komplexe Probleme, die über keine „natürliche“ Vertretung innerhalb der Regierungsorganisation verfügen. Typische Umsetzungsprobleme bestehen in dem Widerstand der Ministerien gegen eine "Zentralisierung" (Jann u.a. 2007). In die Diskussion um JUG lassen sich auch die zahlreichen Reforminitiativen zur „Besseren Regulierung“ und zum Bürokratieabbau innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einordnen. Das Schlagwort „bessere Regulierung“ umschreibt eine Form der Meta- Politik bzw. Meta-Regulierung, da Normen und Standards, gesetzt werden, die den Regulierungsprozess und damit das Ergebnis regulativer Steuerung in grundsätzlich allen Regulierungsfeldern beeinflussen sollen. Regulierungspolitik ist demnach Querschnittspolitik, da sie politikfeldübergreifende Ziele verfolgt und versucht diese innerhalb der einzelnen Regulierungsfelder durchzusetzen (vgl. Wegrich 2008). “Bessere Regulierung” lässt sich nach Radaelli klassifizieren als ein „set of centrally imposed rules designed to structure the key stages of the regulatory process […] with the aim of achieving certain improvements in regulatory performance (e.g. targets of burdens reduction, cost-effective regulation, increased reliance on market-friendly alternatives to regulation, etc.).” (Radaelli 2007, S. 196). Ähnlich argumentieren Jann/Wegrich auch in Bezug auf die Politik zum Bürokratieabbau, wenn sie konstatieren, dass Bürokratieabbau als spezifisches Politikfeld jenseits der jeweiligen substantiellen, politikfeldspezifischen Konflikte aufgefasst werden müsse. Bürokratieabbau ist als erweiterte Verwaltungspolitik im Sinne einer „Meta-Politik“ zu definieren. In deren Mittelpunkt steht die Suche nach politikfeldübergreifenden Grundsätzen, Methoden und Instrumenten, mit denen sich der politische Problemlösungsprozess im Hinblick auf Wahl, Ausgestaltung und Implementation von staatlichen (und nicht-staatlichen) Steuerungsmodi verbessern lässt (Jann/Wegrich 2008). Vergleich man die beiden in der internationalen Diskussion als Vorreiter im Bereich „bessere Regulierung“ und Bürokratieabbau in Europa aufgefassten Länder Großbritannien und die Niederlande, so fällt auf, dass sich die Inhalte der Reforminitiativen zwar wesentlich
unterscheiden11, die organisatorische Ansiedlung dieser Querschnittspolitik jedoch ähnlich ausgestaltet ist. Dem Konzept des joined-up government folgend wurden in beiden Ländern zentrale Koordinations- und Steuerungseinheiten in der Regierungszentrale bzw. im Finanzministerium geschaffen (Better Regulation Executive12 in Großbritannien bzw. IPAL13 in den Niederlanden). Die organisatorische Anbindung dieser Einheiten ist unter anderem deshalb von Bedeutung, weil argumentiert werden kann, dass die Machtressourcen des Mutterressorts die Durchsetzung von Querschnittspolitiken durch zentrale Koordinationseinheiten beeinflussen (Fleischer 2008). In Großbritannien gelten Cabinet Office und Prime Minister’s Office als „the two most important administrative powerhouses of the British machinery of government” (Helms 2005, S. 66). Das Finanzministerium der Niederlande wurde in der bislang einzigen Untersuchung zur Bedeutung einzelner Ressort in Koalitionsregierungen unmittelbar hinter dem Amt des Premierministers eingeordnet (Druckmann/Warwick 2005, S. 40). Darüber hinaus scheint die Anbindungsstrategie insofern folgerichtig, da sowohl Mitarbeitern von Regierungszentralen als auch des Finanzministeriums eine hohe Kooperationskultur nachgesagt wird (Egeberg 1999, S. 163). Eine gängige These der politikwissenschaftlichen Forschung geht davon aus, dass die Ressourcenausstattung und dabei insbesondere die Personalausstattung der Steuerungseinheiten die Durchsetzungsfähigkeit von Politiken der besseren Regulierung beeinflussen kann.14 Betrachtet man die personellen Ressourcen, so zeigt sich, dass auch hier die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen wurden. Die Better Regulation Executive in Großbritannien hat 89 Mitarbeiter (Radaelli 2008), IPAL in den Niederlanden 18 Mitarbeiter (Kroll 2008). Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Beschäftigen der Zentralregierung wird deutlich, dass die Relationen in beiden Ländern ähnlich sind.15 Neben einer zentralen Steuerungseinheit wurde in beiden Ländern darüber hinaus ein externes Beratungsgremium geschaffen, der Risk and Regulation Advisory Council in Großbritannien 11 Ungeachtet der jüngsten Programmerweiterung (vgl. Weltbank 2008) konzentriert sich das niederländische Programm in erster Linie auf die Messung der Bürokratiekosten und auf die Reduzierung von bürokratischen Belastungen von Unternehmen. Die britische „Bessere Regulierung“- Agenda ist dem hingegen breiter ausgerichtet und umfasst insbesondere ein umfangreiches System der Gesetzesfolgenabschätzung, Ansätze der Risikoregulierung, Verbesserungen in der Implementation von Gesetzen etc. (Vgl. Frick/Ernst 2008). 12 Nach dem Machtwechsel von Tony Blair zu Gordon Brown wurde die Better Regulation Commission aus dem Cabinet Office in das neugegründete Department for Business, Enterprise and Regulatory Reform verlagert. Beobachter sehen darin eine deutlich Schwächung des Politikfeldes „bessere Regulierung“ (vgl. Torriti 2008). 13 Interdepartmentale Projectdirectie Administratieve Lasten. 14 Vgl. Egeberg 2003, S. 121: “(…) to what extent different interests will be taken care of will partly depend on the structural capacity (i.e. the number of positions) that can be mobilized behind various concerns.” 15 In den Niederlanden sind 105.146 Personen in der Zentralregierung beschäftigt (ohne Agencies), in Großbritannien 457.900.
(ehemals Better Regulation Commission) bzw. ACTAL16 in den Niederlanden, welche einerseits als Kontrollorgan fungieren und andererseits das Themenfeld „bessere Regulierung“ weiterentwickeln. Zur interministeriellen Koordination richtete die britische Regierung zudem ein Cabinet Committee on Regulation, Bureaucracy and Risk unter Vorsitz des Premierministers ein. Innerhalb der Ministerien wurden so genannte Regulatory Reform Minister eingesetzt und Departmental Better Regulation Units gegründet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Koordination und Steuerung von Querschnittspolitiken durch Regierungszentralen einem internationalen Trend folgt, der zumeist unter dem Begriff des joined-up government subsummiert wird. „Bessere Regulierung“ und Bürokratieabbau lassen sich in diesen Trend einordnen. Dabei können basierend auf internationalen Erfahrungen mit JUG-Initiativen (Pollitt 2003) für die organisatorische Institutionalisierung von Programmen zur besseren Regulierung und zum Bürokratieabbau innerhalb der Exekutive in vielen Ländern ähnliche Strategien beobachtet werden, welche sich durch folgende Merkmale charakterisieren lassen: • Anbindung der Querschnittspolitik an einen unmittelbaren politischen Verantwortlichen mit entsprechender Autorität; • Schaffung eines hochrangigen Steuerungsgremiums unter direkter Beteiligung eines „politischen Unternehmers“; • Aufbau einer zentralen Steuerungseinheit mit entsprechender personeller Ausstattung sowie Anbindung an ein machtvolles Ressort mit Querschnittscharakter; • Gründung eines externen Kontroll- und Beratungsgremiums; • Einsetzung ressortübergreifender Arbeitsgruppen auf operativer Ebene; • Bildung eines Netzwerkes zwischen Steuerungseinheit (Zentrale) und weiteren Akteuren in den Ressorts. Im Folgenden soll am Beispiel des Programms der Bundesregierung zu Bürokratieabbau und besserer Rechtsetzung17 dargestellt werden, wie sich das deutsche Beispiel im internationalen Trend um joined-up government verorten lässt, ob ähnliche Organisationsmuster wie in 16 Adviescollege Toetsing Administratieve Lasten. 17 Regulierung wird als Gesamtheit staatlicher Steuerung und Programme, unabhängig von den konkreten Steuerungsmodi und -instrumenten, definiert. Der Reformbereich „bessere Regulierung“ umfasst demnach alle Maßnahmen, welche die Qualität staatlicher Politikformulierung und/oder deren Umsetzung und Anwendung verbessern sollen. „Bessere Regulierung“ ist somit ein umfassenderes Konzept als „bessere Rechtsetzung“, welche sich per Definition nur auf ein bestimmtes Steuerungsinstrument (das gesetzte Recht) und eine bestimmte Phase des Policy-Cycles (den Prozess der Rechtsetzung) bezieht. „Bessere Rechtsetzung“ ist also ein Teilbereich von „besserer Regulierung“. Die Verwendung der Reformschlagwörter „bessere Regulierung“ und „bessere Rechtsetzung“ ist in der Praxis aber in der Regel nicht trennscharf.
Großbritannien und den Niederlanden zu identifizieren sind und welche Auswirkungen die in Deutschland gewählte Organisationsform (Verankerung im Bundeskanzleramt) auf die Implementationsfähigkeit des Regierungsprogramms hat. Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung: Das Reformprogramm der Regierung Merkel Aufgrund der spezifischen Aufgabenverteilung im bundesdeutschen Exekutivföderalismus, wonach der Bund vorrangig mit Aufgaben der Programmierung, Regulierung und Rechtsetzung befasst ist, während die Ausführung der meisten Bundesgesetze als eigene Angelegenheit der Länder oder in Form der Bundesauftragsverwaltung durch die Länder erfolgt, beschränkte sich das Thema Bürokratieabbau auf Bundesebene seit jeher auf zwei große Bereiche: die Politikformulierung („bessere Rechtsetzung“, Deregulierung etc.) und die behördeninterne Organisation und Steuerung. Da der letztere Bereich wegen der Organisationshoheit der Ressorts in ihrem Zuständigkeitsbereich und der Bürgerferne der unmittelbaren Bundesverwaltung (und daraus folgend einer geringen Sichtbarkeit von Modernisierungsanstrengungen) tendenziell eher ungeeignet für öffentlichkeitswirksame Reformen ist, konzentrierten sich die großen Bürokratieabbauprogramme des Bundes in der Regel stark auf Maßnahmen im Bereich der Politikformulierung, v.a. der Gesetzgebung. Diese Verknüpfung wird in dem im Zentrum dieses Beitrags stehenden „Programm Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ der Regierung Merkel besonders deutlich. Das Programm versucht explizit, Fragen der Verringerung bürokratischer Lasten mit dem Gesetzgebungsverfahren zu verbinden und schreibt dem Bundeskanzleramt sowie dem beim Bundeskanzleramt angesiedelten, aber formal unabhängigen Nationalen Normenkontrollrat (NKR) dabei eine besondere Rolle zu. Nachdem die Ergebnisse der vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 die Bildung einer Großen Koalition nahelegten, traten CDU, CSU und SPD in Koalitionsverhandlungen ein und beschlossen am 11. November desselben Jahres einen Koalitionsvertrag. Für den Bereich des Bürokratieabbaus wurde darin angekündigt, dass „beim Bundeskanzleramt [...] ein unabhängiges Gremium von Fachleuten (Normenkontroll- Rat) eingesetzt [wird], das unter anderem Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen auf ihre Erforderlichkeit und die damit verbundenen bürokratischen Kosten hin überprüft. [...] Der Vorsitzende des Rates kann die Auffassungen seines Gremiums dem Bundeskanzler oder – stellvertretend – dem ChefBK unmittelbar vortragen.“
(Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 75). Ebenfalls im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde ein bestimmtes Verfahren zur Messung von Bürokratiekosten, welches die Basis der Arbeit des NKR bilden sollte. Das von den Niederlanden übernommene Standardkosten-Modell (SKM) sollte benutzt werden, um die mit der Bundesgesetzgebung verbundenen bürokratischen Lasten objektiv zu messen und um „ein konkretes Ziel der Rückführung der Bürokratiekosten bis zum Ende der Legislaturperiode fest[zu]legen“ (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 74). Bürokratiekosten werden im SKM sehr eng definiert als diejenigen Kosten, welche Unternehmen, Bürgern und der öffentlichen Verwaltung durch auf staatliche Regulierungen zurückzuführende Informationspflichten (z.B. das Ausfüllen von Anträgen oder das Führen von Statistiken) entstehen.18 Das SKM beschränkt sich somit nur auf einen kleinen Teilbereich aller Folgekosten von Gesetzen. Im Gegensatz zur Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) werden andere Kostenaspekte ebenso wie das Verhältnis zum Nutzen nicht mit betrachtet. Im April 2006 konkretisierte die Regierung ihre politischen Vorhaben im „Programm für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“. Die fachliche Vorbereitung dieses Kabinettsbeschlusses war im Bundeskanzleramt durch die „Projektgruppe Bürokratieabbau“ erfolgt. Mit Verabschiedung des Regierungsprogramms erhielt das Bundeskanzleramt die federführende Zuständigkeit für dessen Umsetzung und wurde somit (zumindest formal) zur zentralen Koordinations- und Steuerungsinstanz der Bürokratieabbaupolitik (siehe Abbildung). Die parlamentarische Staatssekretärin Hildegard Müller, Staatsministerin im Bundeskanzleramt und dort unter anderem zuständig für die Bund-Länder-Koordination, wurde zur Koordinatorin der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung ernannt. Sie erhielt auch den Vorsitz im neugegründeten Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau. Die Aufgaben der Koordinatorin und des Staatssekretärsausschusses definierte das Regierungsprogramm wie folgt (Bundesregierung 2006)19: • Umsetzung und Koordination des Regierungsprogramms für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung (Bestandsmessung, Abbaumaßnahmen, Datenbank, ex ante Verfahren); • Beschlussfassung über Methodenfragen, Reduzierungsziele, personelle Besetzung der Geschäftsstelle Bürokratieabbau im Bundeskanzleramt und eine allen Kabinettvorlagen beizufügende Prüfliste zu GFA, Rechtsprüfung und Bürokratiekostenmessung; • Vermittlung in Streitfällen zwischen den Ressorts und dem NKR; 18 Genauere Beschreibung der SKM-Methode in den Niederlanden siehe Kay 2008, für Deutschland siehe Statistisches Bundesamt 2006. 19 Auswahl und Zusammenfassung der Autoren.
• Regelmäßige Bilanzierung und Auswertung der Stellungnahmen des NKR, ggf. Beschlussfassung über sich daraus ergebende Handlungsempfehlungen gegenüber den Ressorts; • Überwachung der Entwicklung und des zügigen Abschlusses laufender Projekte zum Bürokratieabbau und Initiierung neuer Projekte; • Kontaktpflege und Erfahrungsaustausch mit Bundesländern, anderen EU-Staaten und der EU-Kommission. Organisation der Bürokratieabbaupolitik unter Merkel Deutscher Bundestag Bericht (§ 7 NKRG) Bericht (§ 6 NKRG) Bundesregierung Koordinator(in) und Staatssekretärs- Nationaler ausschuss Bürokratieabbau Normenkontrollrat unterstützt durch Geschäftsstelle • Normenprüfung Bürokratieabbau • Methoden- Bundesministerien kontrolle Statistisches • Beratung •Erfassung der Informationspflichten •Plausibilitätsprüfung Bundesamt •Vereinfachungsmaßnahmen •SKM-Methodik •Ex-ante-Abschätzung •Bestandsmessung Informationen und Beteiligung Bundesländer und Kommunen, Verbände, Sozialpartner, Forschungseinrichtungen Quelle: Eigene Darstellung. Mit der Verabschiedung des Regierungsprogramms wurde die „Projektgruppe Bürokratieabbau“ im Bundeskanzleramt in „Geschäftsstelle Bürokratieabbau“ umbenannt. Sie erhielt die Aufgabe, die Koordinatorin im Bundeskanzleramt bei der Umsetzung des Programms zu unterstützen und als Koordinations- und Unterstützungsinstanz für die Ressorts zu fungieren. Das Regierungsprogramm legte darüber hinaus fest, dass die Geschäftsstelle in technischen Angelegenheiten bei der Ein- und Durchführung der Bürokratiekostenmessung mit dem SKM durch eine Arbeitseinheit im Statistischen Bundesamt unterstützt werden solle: „Die Geschäftsstelle Bürokratieabbau leistet über das Statistische Bundesamt methodische Hilfestellung (u.a. Durchführung von Schulungen) und überwacht die Umsetzung der von der Bundesregierung beschlossenen verbindlichen Abbauziele durch die Ressorts.“ (Bundesregierung 2006, S. 7).
Darüber hinaus wurden in jedem Ressort Ansprechpartner für den Bürokratieabbau benannt, die als Kontaktpersonen für die Geschäftsstelle dienen und gleichzeitig die Arbeit des Staatssekretärsausschusses unterstützen. Die Ressortansprechpartner und die Mitarbeiter der Geschäftsstelle Bürokratieabbau kommen regelmäßig im Rahmen der sog. „Ressortansprechpartnerrunde“ zusammen, um offene Fragen und Probleme zu diskutieren. Die Geschäftsstelle versucht dabei, eine Vermittlerfunktion zwischen den Ressorts zu übernehmen. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Geschäftsstelle, den Gesamtprozess im Blick zu behalten und auf nächste Arbeitsschritte und lösungsbedürftige Fragen hinzuweisen. Wenn möglich, werden anstehende Entscheidungen bereits im Rahmen der Ressortansprechpartnerrunde so weit vorabgeklärt, dass der Staatssekretärsausschuss diese dann einvernehmlich beschließen kann. Die Geschäftsstelle Bürokratieabbau wurde formal als Arbeitseinheit in die Abteilung 1, Gruppe 13 des Bundeskanzleramtes eingegliedert. Im realen Arbeitsprozess weist die Geschäftsstelle im Vergleich zu anderen Arbeitseinheiten in der Linienorganisation jedoch einige Besonderheiten auf: So findet ein regelmäßiger Jour Fixe mit der Staatsministerin/dem Staatsminister statt und der direkte, persönliche oder telefonische Kontakt von Mitarbeitern der Geschäftsstelle mit dem Büro des Staatsministers ist rege. Die mittlere Leitungsebene wird zwar beteiligt, sie spielt de facto aber eine geringere Rolle in der inhaltlichen Arbeit als dies üblicherweise in einer hierarchischen Linienorganisation der Fall ist (Interview Bundeskanzleramt, Juni 2008). So weist die Geschäftsstelle in der Praxis einige Ähnlichkeiten mit einer Stabsstelle auf, besitzt aber gleichzeitig nicht deren formale Autorität in der Kommunikation mit den Ressorts. Gleichzeitig wird ein spezifischer Vorteil der Linienorganisation, die Filterung und Vorentscheidung der Informationen für die Leitungsebene, vielfach nicht richtig ausgenutzt, da die mittlere Leitungsebene (nicht nur im Bundeskanzleramt, sondern vor allem auch in den Ressorts) inhaltlich nur wenig in die Umsetzung des Regierungsprogramms involviert ist. Dies führt dazu, dass im Staatssekretärssausschuss viele Detailfragen besprochen werden müssen, die in der Ministerialbürokratie üblicherweise auf niedrigeren Hierarchieebenen geklärt werden. Probleme, die in der Ressortansprechpartnerrunde und durch Vermittlung der Geschäftsstelle nicht gelöst werden können, landen direkt auf der Agenda der Staatssekretäre und können nicht über mehrere Hierarchiestufen hinweg gefiltert und „hochgespielt“ werden. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Art der Programmgestaltung und die spezifischen Programminhalte. Wie bereits erwähnt sind Bürokratiekosten nur ein kleiner Teil aller
Regulierungsfolgen. Darüber hinaus wird der Bürokratiekostenbegriff im Regierungsprogramm noch einmal stark reduziert, indem nur Kosten zur Erfüllung von durch Gesetze verursachten Informationspflichten als Bürokratiekosten gelten und indem das Standardkosten-Modell als Methode zur Erfassung der Bürokratiekosten festgelegt wird. Die aus dieser Beschränkung und aus der Entscheidung für eine Vollmessung der gesamten Bundesgesetzgebung resultierenden Fragen für die Programmdurchführung waren, insbesondere am Anfang des Implementationsprozesses, entsprechend detailliert und „technisch“. Derartige Detailfragen werden in anderen Bereichen üblicherweise nicht durch ein hochrangiges Gremium wie den Staatssekretärsausschuss besprochen, sondern an andere Instanzen delegiert. Hierfür sah das Regierungsprogramm aber keine Regelungen vor. Diese Tatsache zeigt, dass der „unpolitische Ansatz“ der Bürokratiekostenmessung mit dem SKM20 zwar gut politisch zu vermarkten, aber wenig glaubwürdig ist. Bürokratieabbau lässt sich nicht ohne politische Interessenkonflikte umsetzen, auch dann nicht, wenn scheinbar objektive Zahlen für auf den ersten Blick interessenfreie Bereiche der Gesetzgebung (die Informationspflichten) produziert werden. Neben der Organisation des ex post Bereiches des Bürokratieabbauprogramms (Bestandsmessung, Aufbau einer Datenbank, Identifizierung von Abbaumaßnahmen), welcher im Kanzleramt auf Arbeitsebene durch die Geschäftsstelle Bürokratieabbau verankert wurde, etablierte man für den Bereich der ex ante Abschätzung von Bürokratiekosten mit dem NKR eine formal unabhängige Instanz mit einem Sekretariat im Bundeskanzleramt. Formale Basis der Einsetzung des NKR war jedoch nicht das Regierungsprogramm Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, sondern ein vom Büro Norbert Röttgens erarbeitetes und von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gemeinsam in den Bundestag eingebrachtes „Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates“ (NKRG). Das Gesetz wurde im August 2006 verabschiedet, die acht Mitglieder des Gremiums im September desselben Jahres per Kabinettsbeschluss bestimmt. Aufgabe des NKR ist es laut § 4 Abs. 2 NKRG, Gesetzes- und Verordnungsentwürfe der Bundesministerien sowie Entwürfe für allgemeine Verwaltungsvorschriften vor deren Vorlage an das Bundeskabinett im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze einer standardisierten Bürokratiekostenmessung zu überprüfen. Im Dezember 2006 erweiterte die Bundesregierung deshalb die Vorschriften der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) zur GFA um die 20 Im Agenda-Setting-Prozess wurde der „unpolitische Ansatz“ des SKM von vielen Akteuren als Ursache für dessen Erfolg beschrieben.
Verpflichtung, auf dem Gesetzesvorblatt und im Rahmen der Gesetzesbegründung Transparenz über Informationspflichten und Bürokratiekosten für Unternehmen, Bürger und die öffentliche Verwaltung herzustellen. Die Bürokratiekostenabschätzung mit dem SKM wurde damit als ein Modul der GFA konzipiert. Zur praktischen Realisierung der ex ante Abschätzung von Bürokratiekosten im Rechtsetzungsprozess entwickelten der NKR und die Geschäftsstelle Bürokratieabbau im Bundeskanzleramt in Abstimmung mit den Bundesministerien einen „Leitfaden für die ex ante Abschätzung der Bürokratiekosten nach dem Standardkosten-Modell“ (Bundeskanzleramt 2007). Fast zeitgleich mit der GGO-Änderung Ende 2006, welche den Grundstein für eine Integration der Bürokratiekostenabschätzung in das exekutive Verfahren der Gesetzeserarbeitung legte, begann das Statistische Bundesamt im Januar 2007 mit einer Bürokratiekostenmessung des gesamten deutschen Bundesrechts (Bestandsmessung). Bereits einen Monat später, im Februar 2007, legte das Bundeskabinett fest, dass die mit dem Bundesrecht verbundenen Bürokratiekosten für Unternehmen bis 2011 um 25% reduziert werden sollen.21 Die Ende 2008 abgeschlossene Bestandsmessung umfasst insgesamt 9.234 Informationspflichten aus nationalen Gesetzen und Verordnungen (einschließlich des national umgesetzten EU- und internationalen Rechts). Für die erfassten Informationspflichten wurden Bürokratiekosten für die Wirtschaft in Höhe von jährlich 47,6 Mrd. Euro ermittelt. Bei einer Analyse der Ergebnisse zeichnen sich die Schwächen der SKM-Methode jedoch bereits deutlich ab. So verursachen die „Top 10“ der Informationspflichten über 70% der Kosten. Der Zeitaufwand zur Erfüllung der Informationspflichten im Bereich der „Top 10“ liegt jedoch für ein durchschnittlich effizientes Unternehmen bei weniger als zehn Minuten pro Informationspflicht. Die „teuerste“ Informationspflicht ist die Aufbewahrung von Rechnungen im Rahmen der Umsatzsteuererklärung; der Zeitaufwand hierfür beträgt pro Rechnung eine halbe Minute. Selbst wenn man diese Informationspflichten als entbehrlich betrachtet, würde ein Wegfall von den Unternehmen kaum bemerkt werden. Ungeachtet dieser Kritikpunkte hat die Bundesregierung im Rahmen ihres Jahresberichtes im Dezember 2008 330 Vereinfachungsmaßnahmen vorgestellt, die nach vollständigem Inkrafttreten die Wirtschaft um jährlich über sieben Mrd. Euro entlasten sollen. Maßnahmen mit einer Entlastungswirkung von rund 3,5 Mrd. Euro pro Jahr seien bereits umgesetzt worden (Bundesregierung 2008b, S. 17ff.). 21 Eine ausführliche Darstellung des SKM-Prozesses in Deutschland findet sich bei Jann/Jantz (2008).
Die Rolle des Bundeskanzleramtes: Strategischer Kopf oder machtloser Makler? Will man die Organisation der Bürokratieabbaupolitik der Großen Koalition im Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit der für dieses Politikfeld zuständigen administrativen und politischen Akteure (Generalisten) gegenüber den Rechtsetzungsexperten in den Fachressorts (Spezialisten)22 vor dem Hintergrund der praktischen Umsetzungserfahrungen bewerten und einschätzen, welche Vor- und Nachteile sich gegenüber einer „Ressortlösung“ (traditionelle Zuständigkeit im BMI) ergeben, ist es sinnvoll, zwischen dem ex ante und dem ex post Bereich des Reformprogramms zu differenzieren. Der ex ante Bereich beinhaltet die Umsetzung der Bürokratiekostenabschätzung für Gesetzentwürfe der Exekutive durch das federführende Ministerium sowie die Prüfung der auf dem Gesetzesvorblatt und in der Gesetzesbegründung dokumentierten Ergebnisse durch den NKR. Der ex post Bereich umfasst die Durchführung der Bestandsmessung sowie die Identifizierung und Umsetzung von Bürokratieabbaumaßnahmen vor dem Hintergrund des von der Bundesregierung formulierten Zieles, die durch Bundesgesetze verursachten Bürokratiekosten für Unternehmen bis 2011 um 25% zu reduzieren. Der ex ante Bereich des Reformprogramms Ausgehend von der Etablierung des NKR und der Erweiterung der GGO in der zweiten Jahreshälfte 2006 konnte – anders als bei bisherigen, weitgehend gescheiterten Versuchen zur Implementation einer umfassenden Gesetzesfolgenabschätzung – innerhalb kurzer Zeit eine ressortübergreifende Integration der Bürokratiekostenabschätzung in den Prozess der Gesetzeserarbeitung in der Exekutive erreicht werden (Veit 2008). Das Erfolgsrezept des SKM im ex ante Bereich besteht in einer starken Komplexitätsreduzierung23, in klaren Handlungsanweisungen (Definition und Methode) und in der Produktion von konkreten Zahlen. Qualitative Folgenbetrachtungen spielen im SKM ebenso wenig eine Rolle wie eine Abwägung von Kosten und Nutzen. Diese Beschränkung ist ein Vorteil, wenn man davon ausgeht, dass Argumente dann eine besonders hohe Chance auf Beachtung im politischen Diskurs haben, wenn sie quantifizierbar sind. Da bürokratische Lasten als indirekte Kosten für Unternehmen, Bürger und andere gesellschaftliche Akteure einen diffusen Charakter aufweisen, sind sie im politischen Aushandlungsprozess der Interessen unterrepräsentiert. Der 22 Zur Rolle von Generalisten und Spezialisten bei der Entbürokratisierung siehe Jann/Wegrich 2008, S. 49ff; Kroll 2008. 23 Der Bürokratiebegriff ist vielschichtig und komplex. Das SKM-Verfahren versucht nicht, möglichst viele Arten von Bürokratiekosten zu erfassen, sondern beschränkt sich stattdessen ganz bewusst auf einen spezifischen, genau definierten Teilbereich.
Nutzen einer Maßnahme hingegen wird meist schon durch diejenigen Akteure gut argumentativ untermauert, die sich für das Agenda-Setting der Policy eingesetzt haben. Das SKM ist also vor allem deshalb ein Erfolgsmodell, weil es durch argumentatives Aufrüsten die Beachtung eines bestimmten, eingegrenzten Folgenaspektes im politischen Aushandlungsprozess unterstützt, welcher anderenfalls aufgrund seines diffusen Charakters wenig Aufmerksamkeit erhalten würde (siehe hierzu auch Mayntz 1980; Jann/Wegrich 2008). Hinzu kommt, dass Zuständigkeiten klar definiert und so festgelegt wurden, dass sie mit dem existierenden Verfahren der Gesetzesvorbereitung und mit den bestehenden Abstimmungsprozessen kompatibel sind. So ist das federführende Ressort für die Durchführung der Bürokratiekostenschätzung zuständig und wird in der Wahrnehmung dieser Aufgabe vom Nationalen Normenkontrollrat unterstützt und kontrolliert. Das Sekretariat des NKR bietet den Ministerialbeamten bereits bei der Durchführung der Bürokratiekostenschätzung Unterstützung in methodischen Fragen an.24 Nehmen die für einen Regelungsentwurf federführend zuständigen Beamten im Vorfeld keinen Kontakt zu Mitarbeitern des NKR-Sekretariats auf, dann wird der NKR spätestens im Rahmen der Ressortabstimmung über den Entwurf in Kenntnis gesetzt und erhält die Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Frist für die Stellungnahme beträgt laut GGO mindestens vier Wochen, in der Praxis sind die Fristen aber meist enger gesetzt. Der NKR arbeitet intern mit einem Berichterstattersystem25 und kommt zu wöchentlichen Sitzungen zusammen. Die Stellungnahmen des NKR zu den mit einem Regelungsentwurf verbundenen Bürokratiekosten sowie zur Qualität der vorgenommenen Bürokratiekostenabschätzungen werden den Gesetzes- oder Verordnungsentwürfen vor der Zuleitung ins Kabinett bzw. später in Bundestag und Bundesrat angehängt und sind somit öffentlich zugänglich. Die darüber hinausgehenden Publikationsaktivitäten des Nationalen Normenkontrollrates (Newsletter, Jahresbericht, themenbezogene Studien sowie regelmäßige Stellungnahmen zu den Fortschrittsberichten der Bundesregierung) fördern eine erhöhte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Thema, da die Medien im Zuge solcher Veröffentlichungen verstärkt über das Thema Bürokratieabbau berichten.26 24 Das Sekretariat des Nationalen Normenkontrollrates hat acht Mitarbeiter/innen (Stand: Januar 2009). 25 Jedes NKR-Mitglied ist Berichterstatter für ein bestimmtes Ressort (oder für mehrere Ressorts). 26 Eine Recherche über das Zeitungsportal lexis-nexis, das außer dem Handelsblatt alle überregionalen Tageszeitungen sowie die wichtigsten Regionalzeitungen und Wochenmagazine umfasst, ergab für das Stichwort „Normenkontrollrat“ im Jahre 2008 99 Artikel und für das Jahr 2007 97 Artikel. Darüber hinaus hat Zeit online einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Bürokratieabbau eingerichtet
Stellt man sich nun die Frage, ob und inwiefern die Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes für die Umsetzung des Regierungsprogramms eine Rolle für die Implementationserfolge im ex ante Bereich spielt, so fällt zunächst auf, dass das Bundeskanzleramt in diesem Verfahren in der Praxis kaum als eigenständiger Akteur in Erscheinung tritt. Der von der Staatsministerin/dem Staatsminister im Bundeskanzleramt geleitete Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau beobachtet zwar die Arbeit des NKR und hat auch die im Regierungsprogramm genannte Prüfliste27 zur besseren Rechtsetzung verabschiedet, besitzt aber keine spezifische Funktion im regulären Verfahren der Gesetzeserarbeitung und Ressortabstimmung. Das gleiche gilt für die Geschäftsstelle Bürokratieabbau, die mit neuen Gesetzentwürfen in der Regel nichts zu tun hat. Lediglich das Kabinettsreferat im Bundeskanzleramt ist standardmäßig in den Prozess der Erarbeitung von Exekutiventwürfen involviert. Jeder Gesetzes- und Verordnungsentwurf, der vom Kabinett beschlossen werden soll, wird vom Kabinettsreferat im Hinblick auf die Einhaltung formaler Vorgaben (z.B. der Geschäftsordnung der Bundesregierung und der GGO) geprüft. Dazu gehört seit Etablierung des NKR eine Überprüfung der Frage, ob die Stellungnahme des NKR ordnungsgemäß ein Teil der Kabinettsvorlage ist. Der Erfolg des Regierungsprogramms im ex ante Bereich hat vor allem etwas mit der Institution des NKR zu tun, dessen Sekretariat zwar im Bundeskanzleramt sitzt, welcher aber formal unabhängig ist. Die Kombination aus einem starken Mandat durch die Legislative (Gesetz), Unabhängigkeit, Transparenzpflichten (die Stellungnahme des NKR ist Teil der Kabinettsvorlage bzw. des Regierungsentwurfs, der dem Parlament zugeleitet wird) und Kompatibilität mit dem Ressortprinzip28 (der NKR wird im exekutiven Abstimmungsprozess ähnlich wie ein Ressort behandelt) hat sich als besonders förderlich für die Implementation der ex ante Bürokratiekostenabschätzung erwiesen. Gleichzeitig hat der NKR es geschafft, im alltäglichen Geschäft die richtige Mischung aus einer Rolle als unabhängiger und konfliktfähiger „Wachhund“ einerseits sowie als Unterstützer und kooperativer Partner der Ressorts andererseits zu finden. Sein Arbeitsstil ist weniger konfrontativ als kooperativ. Die räumliche Nähe des NKR-Sekretariates zum Bundeskanzleramt und vor allem das Selbstverständnis der Sekretariatsmitarbeiter/innen als Teil der Ministerialverwaltung war für die Entwicklung dieses Grundverständnisses möglicherweise ein unterstützender Faktor. 27 Die Prüfliste ist, nach bisherigen Einschätzungen von Experten aus der Ministerialverwaltung, in der Praxis der Gesetzeserarbeitung bedeutungslos geblieben. 28 Die Passfähigkeit zum existierenden System der Gesetzesvorbereitung äußert sich darin, dass die Einführung der ex ante Bürokratiekostenabschätzung die Arbeitsabläufe der Ressorts zwar in einem kleinen Teilbereich etwas verändert hat, aber aufgrund ihres begrenzten Charakters nicht grundsätzlich in Frage stellte.
Der ex post Bereich des Reformprogramms Im ex post Bereich hingegen sind die Resultate der Reformbemühungen – trotz des umfassenden Organisationsrahmens (Staatsministerin, Staatssekretärsausschuss, Geschäftsstelle Bürokratieabbau, Ressortansprechpartner, Statistisches Bundesamt) – deutlich weniger positiv als im ex ante Bereich. Für die Umsetzung des Bürokratieabbaus im ex post Bereich laut Regierungsprogramm wurden erhebliche personelle Kapazitäten in obersten und oberen Bundesbehörden gebunden: Während die ursprüngliche Projektgruppe Bürokratieabbau im Kanzleramt nur aus drei Mitarbeitern des höheren Dienstes bestand, stockte man die Geschäftsstelle bis August 2006 sukzessive auf die laut Regierungsprogramm vorgesehenen zehn Mitarbeiter/innen auf (Interview Bundeskanzleramt, Juli 2008). Hinzu kommen die Ansprechpartner/innen für Bürokratieabbau in allen Ressorts sowie die Mitarbeiter/innen des Büros der zuständigen Staatsministerin bzw. des zuständigen Staatsministers. Für die Bestandsmessung des Bundesrechts mit dem SKM fiel zudem ein erheblicher Arbeitsaufwand in den Ministerien für die Identifizierung von Informationspflichten, für SKM-Fortbildungsmaßnahmen und Koordinationstätigkeiten an. Während die bisher genannten Kapazitäten für das Regierungsprogramm nicht durch zusätzliche Stellen, sondern durch Umschichtungen sowie durch Aufgabenübertragung an vorhandenes Personal gedeckt wurden, konnte das mit der Durchführung der SKM-Messung und dem Aufbau der Datenbank betraute Statistische Bundesamt die Kapazitäten nicht allein durch Umschichtungen abdecken. Insgesamt wurden im Statistischen Bundesamt 120 Planstellen29 für die Bestandsmessung bereitgestellt, hierfür fielen 2007 Mehrausgaben in Höhe von insgesamt 8,4 Mio. Euro an (BT-Drs. 16/2350, S. 7). Trotz dieser Investitionen hat der Reformprozess im ex post Bereich nach Nachlassen der anfänglichen Priorisierung des Themas durch die Bundeskanzlerin schnell an Dynamik verloren. Der Abschluss der Bestandsmessungen verzögerte sich erheblich und die Identifikation von Abbaumaßnahmen verlief nur schleppend. Dabei erlitt der Bürokratieabbau mit dem „unpolitischen“ Fokus auf Informationspflichten und einem hohen Anspruch an Objektivierbarkeit durch die Verwendung der SKM-Methode ein ähnliches Schicksal wie die meisten Vorgängerprogramme. Obwohl Bürokratieabbau auf einer abstrakten und symbolischen Ebene ein gesamtgesellschaftliches Konsensthema ist, treffen konkrete Abbaumaßnahmen meist auf den Widerstand derjenigen Akteure, die von den betreffenden Regulierungen profitieren: „Dieser politische Charakter von Regulierungen offenbart sich 29 Telefonische Auskunft nach Anfrage beim Statistischen Bundesamt im Januar 2009.
besonders, wenn es um das Abschaffen vermeintlich unnötiger Regulierungen geht. Überflüssige Vorschriften ähneln hier sehr den überflüssigen Subventionen: Es gibt bekanntlich, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, eine große, beinahe unüberschaubare Menge überflüssiger Subventionen. Wenn allerdings eine einzelne Subvention abgeschafft oder gekürzt werden soll, gibt es erbitterte Widerstände der betroffenen Interessenvertreter. Der Widerstand der betroffenen Verbände – und der durch diese Interessen instrumentalisierten Opposition – bei den von der letzten Bundesregierung versuchten Deregulierungen der Handwerksordnung, der Honorarordnungen für Architekten oder Rechtsanwälte, der Apothekenordnung oder des Vergaberechts verdeutlichen das Problem.“ (Jann u.a. 2007, S. 41). Im Falle des hier betrachteten Reformprogramms traten die Widerstände jedoch schon auf, bevor konkrete Abbaumaßnahmen und Schlussfolgerungen aus den Messungen überhaupt diskutiert wurden. In Erwartung kommender Konflikte wurde versucht, die „Schlachten“ auf anderen Feldern auszutragen. Die langen und verhärteten Auseinandersetzungen um methodische Fragen, insbesondere darüber welche Pflichten als Informationspflichten und somit als bürokratische Belastungen aufzufassen sind (z.B. um die Buchführungspflichten), verdeutlichen dies. Die Strategie der Ressort bestand dabei darin, durch methodische Argumente möglich viele Informationspflichten aus „ihrem“ Bereich wegzudefinieren. Der politische Charakter des Bürokratieabbaus erklärt auch, warum zahlreiche Abbaumaßnahmen, die von den Ressort vorgeschlagen wurden, nicht auf die Ergebnisse der Bürokratiekostenmessung und daraus resultierende Reformaktivitäten zurückzuführen sind, sondern es sich dabei vielmehr um Vorhaben handelt, die seit geraumer Zeit in der Planung waren (z.B. elektronische Meldung zur Sozialversicherung, elektronische Gesundheitskarte, Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz etc.). Nichtsdestotrotz werden diese Maßnahmen nun als Resultate der aktuellen Reformen im Bereich des Bürokratieabbaus verkauft. Für die schwache Bilanz des Regierungsprogramms im ex post Bereich spielen darüber hinaus parteipolitische Fragen eine wichtige Rolle. Wie erwartet hatte sich nach Abschluss der Bestandsmessungen bestätigt, dass die A-Ressorts (also die von einem SPD-Politiker geleiteten Bundesministerien) für deutlich mehr Informationspflichten verantwortlich waren als die B-Ressorts (CDU/CSU). Somit ergab sich die in Bezug auf den Reformoutput ungünstige und die parteipolitischen Konflikte verschärfende Situation, dass diejenigen Ressorts, welche einen großen Teil der Abbaulasten zu tragen hätten, gleichzeitig nicht der „Kanzler“-Partei angehörten und deshalb erwarteten, nur wenig von eventuellen Erfolgen
profitieren zu können. Die SPD-Ressorts befanden sich in einem Dilemma: Zeigten sie sich als Blockierer der Reformbemühungen, würden sie von der CDU-Seite dafür verantwortlich gemacht. Unterstützten sie den Reformprozess hingegen, dann wären erhebliche Konflikte mit Interessengruppen zu erwarten, die im Wahlkampf wiederum negativ auf die SPD zurückfallen könnten. Darüber hinaus wurde das CDU-geführte Bundeskanzleramt durch die Ressorts nicht als „ehrlicher Makler“ im Bürokratieabbauprozess betrachtet. Wenn eine Meta-Policy wie der Bürokratieabbau mit dem SKM trotz starker parteipolitischer Konflikte und Widersprüche zu den Ressortinteressen erfolgreich durchgesetzt werden soll, muss es innerhalb des Akteursnetzwerkes der Reformpolicy einen starken „politischen Unternehmer“ geben, der sich als „Generalist“ für die Ziele der Meta-Policy einsetzt und in konkreten Konfliktsituationen durchsetzungsfähig agieren kann. Dass dies in der Bürokratieabbaupolitik unter Merkel nicht der Fall war, hat mehrere Ursachen. Wenig förderlich für die Durchsetzungsfähigkeit des Regierungsprogramms war die Entscheidung, das Thema auf Staatssekretärsebene anzubinden und keine unmittelbare und sichtbare politische Verantwortlichkeit eines Kabinettsmitgliedes herzustellen.30 Ein weiteres Defizit bestand in der mangelnden personellen Kontinuität. So war Hildegard Müller als zuständige Staatsministerin zwar in der ersten Reformphase (Frühjahr bis Herbst 2006) aktiv, wurde dann aber während ihrer Elternzeit bis zum Herbst 2007 durch Bernhard Beus vertreten. Beus, der im Unterschied zu Müller kein parlamentarischer, sondern ein beamteter Staatssekretär ist, besaß zwar langjährige Verwaltungserfahrung und damit auch den nötigen „Stallgeruch“, um in der Staatssekretärsrunde anerkannt zu sein und die verwaltungsinternen Auswirkungen von Entscheidungen abschätzen zu können (Interview Bundeskanzleramt, Juni 2008), gleichzeitig war er als Beamter mit Ressorthintergrund niemand, der sich als „politischer Unternehmer“ dem Bürokratieabbau als zentralem Policy-Ziel verschreiben konnte. Hinzu kam, dass Beus als Vertreter für Frau Müller wusste, dass er den Prozess nicht bis zum Ende begleiten würde. Im Dezember 2007 übernahm Hildegard Müller erneut die Geschäfte als Staatsministerin, kündigte aber bereits Ende Juli 2008 ihren bevorstehenden Wechsel zum Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft an. Im Oktober 2008 wurde Hermann Gröhe als neuer Staatsminister ernannt. Gröhe ist ebenso wie Müller kein beamteter Staatssekretär, sondern 30 Dass eine solche Lösung möglich ist, zeigt das Beispiel der Nachhaltigen Entwicklung. Auch hier existiert ein Staatssekretärsausschuss als Steuerungsgremium, der Vorsitzende dieses Ausschusses ist jedoch der Kanzleramtsminister (und damit ein Kabinettsmitglied).
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