Störungen der Mundmotorik bei Kindern mit infantiler Zerebralparese (ICP) - www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Störungen der Mundmotorik bei Homepage: Kindern mit infantiler www.kup.at/ Zerebralparese (ICP) JNeurolNeurochirPsychiatr Limbrock JG Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2011; 12 (4), 360-366 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Störungen der Mundmotorik bei ICP Störungen der Mundmotorik bei Kindern mit infantiler Zerebralparese (ICP) J. G. Limbrock Kurzfassung: Saugen und Schlucken können verbessernde Therapien besprochen. mucosa, dental and maxillary position, drinking bei Kindern mit ICP schon im ersten Lebensjahr Beispielhaft folgt im zweiten Teil eine Dar- and eating, and articulation – based on up-to- Probleme bereiten, meist aber entwickeln sich stellung des Castillo-Morales®-Konzepts, inklu- date literature. Drooling has many implications die typischen Funktionsstörungen später: Offene sive stimulierender Gaumenplatten, und der for social participation (International Classifica- Mundhaltung, Zungenstoß, Speichelfluss, Ver- Pörnbacher-Therapie – beide setzen ganz- tion of Functioning [ICF]), and is highlighted with schlucken beim Übergang auf stückige oder fes- körperlich an und verbessern indirekt und direkt pathogenetic and therapeutic reasoning. Reduc- tere Nahrung oder bei Flüssigkeit (Dysphagie), die Oralmotorik und -sensorik. Schließlich wird tion of saliva – by drugs or surgery – does not sowie Dysarthrie usw. im Lichte neuerer Erkenntnisse der Neuro- touch the root of the problem – the effectiveness In diesem Übersichtsartikel werden typische plastizität die Indikation zur Gastrostomie-Ernäh- and frequency of swallowing – and often leads Probleme mit Haltung und Atmung, mangelndem rung reflektiert. to long-term consequences for teeth, oral hy- Lippenschluss und Zungenbeweglichkeit, verän- giene, and swallowing. Therefore, improvement derter Mundschleimhaut und Zahn- und Kiefer- Schlüsselwörter: Zerebralparese, Dysphagie, of functions is preferred, and such therapies are stellung sowie mit beeinträchtigtem Trinken, Es- Speichelfluss, Essstörung, Castillo-Morales®- discussed. Two are specially depicted: sen und Sprechen beleuchtet, mit ihren Funk- Konzept, Gaumenplatten, Pörnbacher-Therapie The Castillo Morales® concept, including tionszusammenhängen, auf Basis aktueller Lite- (NEPA), PEG stimulating palatal plates, and the Pörnbacher ratur. Der Speichelfluss hat für ältere Kinder und therapy (NEPA). They approach whole-body Jugendliche mit ICP eine besonders große Ein- motricity and indirectly and directly also oral schränkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Abstract: Oral Motor Skill Problems in Chil- motricity and perception. Finally, the indication Leben („International Classification of Function- dren with Cerebral Palsy. Sucking and swal- for gastrostomy feeding is reflected, considering ing“ [ICF]) zur Folge und wird mit Pathogenese lowing problems may already arise in the first new findings on the neuroplasticity of swallow- und Therapieoptionen ausführlicher behandelt. year of life in a child with ICP, but mostly the ing. J Neurol Neurochir Psychiatr 2011; 12 Da eine Verminderung der Speichelproduktion – typical oral motor problems develop later: open- (4): 360–6. medikamentös oder chirurgisch – nicht an der mouth posture, tongue thrust, drooling, choking Ursache des Problems ansetzt, nämlich der Ef- on lumpy or solid food, or on liquids (dysphagia), Key words: oral motor skills, cerebral palsy, fektivität und Frequenz des Schluckens, und oft dysarthria etc. dysphagia, drooling, eating disorder, Castillo auch zu langfristigen Folgen für Zähne, Mund- This review article highlights the correspond- Morales® concept, stimulating palatal plates, hygiene und Schlucken führt, werden funktions- ing areas of posture, respiration, lip seal, tongue, Pörnbacher therapy (NEPA) Einleitung wenig Aktivität von Lippen/Buccinatormechanismus. Brei, halbfeste oder feste Kost erfordern die Ablösung des Saug- Dieser Übersichtsartikel wird aus den komplexen Zusammen- musters durch komplexere, sensomotorisch koordinierte Be- hängen fazio-oro-pharyngealer Störungen bei ICP folgende wegungen. Diese Schritte sind mit der Reifung der Mund- Bereiche besonders behandeln: motorik verbunden und eine Persistenz der Unreife hat Folgen – Einflussfaktoren wie Haltung und Atmung (Verschlucken, Zahn- und Kieferentwicklung u. a., siehe – Zunge und Schleimhaut unten). Eine Frühtherapie ist wichtig. – Kiefer- und Zahnstellung – Trinken und Essen Einflussfaktoren wie Haltung und Atmung – Sprechweise (Dys- bzw. Anarthrie) – Speichelfluss Kinder mit ICP weisen meist eine instabile Rumpf- und Kopf- – Therapien, Literaturstudien, Beispiele haltung auf. Ihr Kopf ist oft rekliniert oder stark gebeugt. Ihre – „Use it or lose it“: Neuroplastizität, ein Plädoyer für Früh- Atmung ist beschleunigt, mit geringer Kapazität und flach therapie [1]. Orofaziale Funktionsstörungen sind bei Kindern mit Zere- Die meist habituelle, gelegentlich auch nasal-obstruktive bralparese nicht selten; bei ca. 1/3 sind sie so alltagsrelevant, Mundatmung hat Folgen für die Mundschleimhaut und den dass sie eine spezielle Behandlung erfordern. intraoralen Druck sowie mittelfristig für die Zahn- und Kie- ferstellung. Außer den selteneren, gravierenden pharyngealen Es kann ein typisches Frühsymptom einer zerebralpareti- Schluckstörungen mit Aspiration kann es auch zunächst un- schen Entwicklung eines Säuglings sein, wenn bereits das bemerkte Mikroaspirationen geben. Gehäufte Bronchitis oder Saugen und Schlucken Probleme bereiten, bedingt durch gar Pneumonie sollten Anlass sein, diese Möglichkeit abzu- klären. Eingelangt am 15. März 2010; angenommen nach Revision am 23. Dezember 2010 Sensibilität und Zungenfunktion Aus dem Kinderzentrum München, Deutschland Korrespondenzadresse: Dr. med. Johannes G. Limbrock, Kinderzentrum München, Kinder mit ICP können nur ungenügende intraorale Wahrneh- D-81377 München, Heiglhofstraße 63; E-Mail: limbrock@oral-motorik.de mungserfahrungen sammeln, z. B. durch die hypertone Zun- 360 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (4) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Störungen der Mundmotorik bei ICP ge, die schmal und spitz ist und oft interdental liegt, auch mit einem Zungenstoß nach vorne. Diese Zunge „kennt“ die seit- liche Mundhöhle nicht. Sie ist hinten konvex und schafft kaum die nötige Rückbewegung (in Form und Koordination) bei der Einleitung des Schluckens. Der Mundboden ist fest, das Zungenbein angehoben. Schleimhaut und Zahnfleisch sind meist hypertroph und tro- cken bedingt durch Mundatmung, Austrocknung und man- gelnde „Selbstreinigungskräfte“ des Mundes. Dies trägt zu einer veränderten Sensibilität bei: Viele Wahrnehmungs- qualitäten sind reduziert, die z. B. für die Feinkoordination Abbildung 1: Patient M., 14 beim Kauen nötig sind, andere gesteigert, wie Überempfind- Jahre. Bilaterale spastische in- lichkeit oder Würgen. fantile Zerebralparese. „Gross Motor Function Classification System“ (GMFCS) V. Verdicktes Zahnfleisch, gotischer Gaumen, Kiefer- und Zahnstellung Zahnengstand. Bei Kindern mit ICP bleiben Ober- und Unterkiefer schmal, der Gaumen wird hoch und schmal bedingt durch mangelndes genutzt. Bei Kindern mit ICP sind diese Kraftvektoren sehr Abrollen der Zunge am Gaumen beim Kauen und Schlucken, verändert. er bekommt dadurch eine gotische Form [2]. An der Form- entwicklung von Zahn- und Kieferstellung sind Auswirkun- Folgen für Trinken und Essen gen ausgebliebener Frühbehandlung abzulesen. Schwaches Saugen kann ein typisches Frühsymptom einer Die Seitwärtsbewegungen von Unterkiefer und Zunge sind zerebralparetischen Entwicklung eines Säuglings sein, be- eingeschränkt. Bei dystoner Komponente kommt eine Exten- dingt durch wenig Aktivität von Lippen/Buccinatormechanis- tionsreaktion erschwerend hinzu. Das Velum ist hyperton und mus. Die Koordination von Saug- und Schluckakt gelingt angespannt. Dies ändert Schlucken, Artikulation und Stimm- aber meist, solange nicht eine Beißreaktion stört, allerdings klang. häufig verbunden mit Luftschlucken. Dennoch ist im späteren Verlauf das Saugen oft die am wenigsten gestörte Ernährung Oft entsteht ein frontal offener Biss, bedingt durch Zungen- des Kindes. Häufiger ist der Übergang auf Brei erschwert, druck und fehlende Aktivität von Ober- und Unterlippe. Der dann auf Brei mit Stücken; schließlich ist die Aufnahme fester Zungenstoß nach vorne oben und der Druck der marginalen Nahrung lange Zeit oft gar nicht möglich. Denn Brei, halb- Fasern der Oberlippe auf die Zahnwurzeln – beide bei Spastik feste oder feste Kost erfordern die Ablösung des Saugmusters am ausgeprägtesten – führen zur Vorkippung der oberen durch komplexere, sensomotorisch koordinierte Bewegungen Schneidezähne [3, 4]. [6]. Die unteren Schneidezähne werden von Kinnmuskel und Un- Es kommt zunehmend zur Kopfreklination, nicht nur als terlippe einwärts gedrückt. Beides führt zu einem Rückbiss/ Bewegungsmuster der Spastik, sondern auch zum Freihalten Prognathie, entsprechend der kieferorthopädischen Angle- der Atemwege und für das – passive – Hinuntergleiten des Klasse II,1. Viel seltener entwickelt sich eine Progenie, ent- Bolus. Dies wiederum erschwert den eigentlichen Bolus- sprechend der Angle-Klasse III, nämlich bei überwiegender transport, der eine koordinierte Muskelaktionsfolge und eine Muskelhypotonie und Zungendruck nach vorne unten. Variationsbreite für die rasche Anpassung an Konsistenzen, Haltungsänderung und andere Einflüsse erfordert. Manchmal Später haben viele Kinder mit ICP nur noch einen Zahn- sind mehrere Versuche mit Kopf-, Lippen- und Zungen- kontakt an den letzten Molaren, bedingt durch zuwenig Kau- bewegungen zur Einleitung des Schluckens nötig. Bei man- und Lippenaktivität, der aber wiederum rein mechanisch die chen Kindern ähnelt es einem „Vogel-Schluckmuster“ mit Kaumöglichkeit minimiert (Abb. 1). Zurückwerfen des Kopfes. Die Nahrung verbleibt lange im Mund. Die frühkindlichen Bewegungsmuster der „primären“ Zungenbewegungen persistieren und erschweren den Nah- Exkurs zum Thema „Funktion und Form“ rungstransport. Es sind Wellenbewegungen auf der Zungen- Größenzunahme und Remodellierung bestimmen das post- oberfläche, die in der Normalentwicklung mit spätestens natale Knochenwachstum. Desmale und chondrale Ossifika- 4 Jahren abgebaut sind, wie von Castillo-Morales in einer Stu- tionsprozesse an flachen Knochen, Epiphysen und Suturen die festgestellt [7]. Seitliche Zungen- und Kieferbewegungen sind die bestimmenden, 20 Jahre lang wirkenden Faktoren im werden nicht genug gebahnt. Kopfbereich; die langen und kurzen Knochen der Diaphysen sind beim Neugeborenen bereits verknöchert. Das Knochen- Zunehmend drückt die hypertone Zunge gegen das Velum wachstum des Kopfes ist beeinflussbar: Auf die Knochen- und verengt den Donders’schen Raum (ein weiterer hinderli- apposition und -resorption wirken Muskelkraft als „periostale cher Faktor für das Schlucken), verbunden mit wenig Lippen- Matrix“ und Hohlräume wie der Mund als „kapsuläre Matrix“ aktivität. Das Kauen wird schwer erlernt in Ermangelung einer [5]. Bei der kieferorthopädischen Regulation werden beide Seit- und Rotationsbewegung von Zunge und Unterkiefer. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (4) 361
Störungen der Mundmotorik bei ICP Siehe Printversion Abbildung 2: Normaler (a) und ineffektiver (b) Schluckablauf: Die Muskelkontraktionsabfolge ist bei infantiler Zerebralparese mit Speichelfluss aufgehoben. Nach [13, 14]. Sprechweise: Dys- bzw. Anarthrie kommt Stimmeinsatz und nicht selten monotonem Sprechrhythmus bei 75 % der Kinder mit ICP vor [8, 9]. Die Aussprache der Kinder mit ICP ist oft schwer verständ- Speichelfluss lich, verlangsamt und verwaschen, bedingt durch mangelhaf- te Koordination von Atmung und Phonation und durch die Pathogenese Hypertonie und/oder Dyskinesie der Artikulationsorgane Lip- Dass Kinder mit ICP ihren Mund meist nicht schließen und pen, Zunge und Velum. oft Speichel verlieren (in ca. 30 %, [10]), bringt besonders große Einschränkungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Die Labiallaute gelingen den Kindern am schwersten, bei Leben („International Classifcation of Functioning“ [ICF]) Spastik auch die Palatinallaute, die Dentallaute können sie mit sich. Die Gründe dafür sind gut untersucht: noch relativ am besten bilden – allerdings mit interdentalem – Das Schlucken ist seltener, der orale Transport ist ineffekti- Zungenpressen. ver als bei Gesunden. – Dies und die offene Mundhaltung nehmen bei längerer auf- Die Kinder sprechen gepresst und stoßweise, häufig mit rechter Position des Kindes zu. schlecht zu regulierender Lautstärke (Luftdruck) und unange- passten Atempausen. Der Speichel sammelt sich vorne im Mund und läuft heraus, die Kinder merken es nicht oder können es nicht steuern und Eine eigentliche Stimmstörung (Stimmlippen) liegt selten „gewöhnen“ sich daran. Als weitere Folge fließt die Nahrung vor, vielmehr ist die Phonation durch die mangelhafte Koor- aus dem Mund oder wird im Mund zunehmend verflüssigt. dination von Atmung und Artikulationsorganen beeinträch- Speichelproduktion und Metabolismus sind normal, es liegt tigt. keine Hypersalivation vor [11, 12]. Die stärkste Beeinträchtigung des Sprechens sieht man bei Der normale kindliche Schluckablauf und die Störungen bei Kindern mit Spastik, die manchmal gar keine verständliche ICP wurden in den 1980er-Jahren gründlich untersucht: Sprache erwerben (Anarthrie). Bosma [13] zeigte 1980 in EMG-Ableitungen die koordinier- te Kontraktionsabfolge der ca. 50 am Schlucken beteiligten Kinder mit dyskinetischer Bewegungsstörung haben oft eine Muskeln vom Mundboden bis zum Zwerchfell. Dabei gibt es rückverlagerte Artikulation, manchmal mit hypernasalem wenig Variabilität in Abfolge und Stärke, d. h. „alles oder Stimmklang und eventuell mit stoßweise gepressten Lauten. nichts“. Sochaniwskyj [14] zeigte ab 1986, dass bei ICP die- Der Redefluss ist häufig unterbrochen, die Prosodie eher un- ses individuell konsistente Muster in eine fast gleichzeitige ausgeprägt. Aktivität umschlägt. Dies war bei ICP-Kindern mit Speichel- fluss im Vergleich zu „trockenen“ deutlich ausgeprägter: Es Kinder mit Ataxie zeigen überwiegend Mundatmung, die handelt sich also um eine Ineffektivität in Koordination und Atemtiefe ist reduziert, der Aufbau des Stimmeinsatzes er- Transport (Abb. 2). schwert. Die Stimme klingt oft rau und unter Umständen zitt- rig. Besonders Lippenlaute sind für sie schwer zu bilden, die Therapien für Speichelfluss gesamte Sprechweise ist eher monoton oder plötzlich über- Viele Betroffene und ihre Eltern berichten, dass gerade durch schießend mit gepresstem, schwer sofort herzustellendem einen Speichelfluss die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben 362 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (4)
Störungen der Mundmotorik bei ICP besonders beeinträchtigt sein kann. Daher wird an diesem immer mit „kausal“ ansetzenden Therapien (Schluckfrequenz Beispiel kurz auf die möglichen Therapien eingegangen. und -effektivität) zu beginnen, genügend lange und intensiv, mit Freude und Motivation, bevor die Speichelproduktion An erster Stelle stehen die oral-sensomotorischen Therapien, künstlich gedrosselt wird. weil sie an der Pathogenese (Schluckfrequenz und -effektivi- tät) ansetzen: Castillo-Morales®, Bobath/NDT, Pörnbacher, Als Beispiel können das „Chailey Heritage Clinical Service“, Padovan, FOTT u. a. [15]. Sehr hilfreich kann hierbei eine Großbritannien, und das „Oralmotoriskt Centrum“ im Unterstützung durch intraorale Stimulationsgeräte sein, z. B. Danderyd Hospital, Stockholm, Schweden, gelten (Berichte Gaumenplatte nach Castillo-Morales® oder ISMAR nach von Valerie Moffat bzw. Miriam Hartstein beim „Oral Motor Haberfellner [15]. Skills Symposium“ St. Gallen, April 2007, und „European Conference on Orofacial Regulation Therapy“ 2007, Trinity Die Verhaltenstherapie kann bei Kindern mit leichterer ICP College, Dublin, Irland). Hier gehören oralmotorische Pro- und ausreichender Intelligenzentwicklung wirksam sein, je- gramme und intraorale Stimulationsgeräte zu den ersten doch weisen die Berichte darüber geringe Fallzahlen auf [16]. Schritten, gefolgt von Anticholinergika, Botox, und – nur in England – schließlich Chirurgie [22]. Besonders im angloamerikanischen Raum wird die medika- mentöse Behandlung praktiziert: anticholinerg, oral oder als Ausblick Hautpflaster, z. B. Scopolamin/Hyoscin oder Glycopyrrolat Der Neuropädiater Peter Blasco hat seit dem „Consortium on (USA). Die Wirkung ist dosisabhängig gut, weist aber mindes- Drooling“ 1990 die Entwicklung kritisch begleitet. 2003 tens 1/3 Nebenwirkungen und auch Therapieabbrüche auf [17]. schrieb er in Developmental Medicine & Child Neurology [23] zum Thema Botox in Speicheldrüsen: „Orale Anti- Zurzeit wird die Botulinumtoxin-Injektion in die Speicheldrü- cholinergika sind zurzeit das beste. Ob Botox minimalinvasiv sen (Submandibularis und/oder Parotis) besonders diskutiert. ist, ist umstritten. Es wird aggressiv vermarktet. […] Im Kon- Sie setzt eine Analgosedierung (bzw. Narkosen) und exakte trast dazu widmen sich nur wenige Zahnärzte den Kindern mit Steuerung durch Ultraschall voraus. Sie hält 4–5 Monate an CP, um intraorale Geräte anzubieten. Ich wünschte mir, es und kann einige Male wiederholt werden (Übersicht bei [18]). wäre anders herum […]“ (Übersetzung des Autors). Langfristige Erfahrungen liegen mit der chirurgischen Inter- Am 22.05.2009 antwortete Blasco auf Nachfrage des Autors: vention vor: Meist wird die Entfernung von Speicheldrüsen „Zurzeit bin ich weniger kritisch gegenüber Botox, meine mit der Verlegung der Submandibularis-Gänge nach hinten aber noch, dass es zuviel verwendet wird. Ich plädiere sehr für kombiniert; eventuell auch mit Laserkoagulation. Außerdem eine ,Head-to-head‘-Vergleichsstudie von Botox mit Anti- gibt es die Neurektomie der Chorda tympani (früher auch eine cholinergika. Übrigens habe ich versucht, eine Pharmafirma Bestrahlung der Speicheldrüsen). zur Unterstützung einer solchen Studie zu bewegen, sie sind aber nicht bereit dazu.“ (Übersetzung des Autors) [24]. Für alle Optionen liegen positive chirurgische Berichte vor. Bei langfristigen Untersuchungen haben aber mindestens Hier zeigt sich ein Problem der Studienfinanzierung – das 30 % (bis 90 %) Zahnkrankheiten und Schluckerschwernis sollte bedacht werden, wenn Kostenträger nach Wirksam- durch wenig und zähen Speichel, u. a. [19–21]. keitsnachweisen fragen. Diese langfristigen Folgen müssen bei allen Verfahren beach- Orale sensomotorische Therapien tet werden, die nicht an der Pathogenese (Schluckfrequenz anhand zweier Beispiele und -effektivität) ansetzen. Castillo-Morales®-Konzept Wirksamkeitsnachweise Die Hauptelemente sind lateinamerikanische Anthropologie, Wirksamkeitsnachweise sind sehr schwierig zu erbringen: Es Kommunikation, die neuromotorische Entwicklungstherapie gibt ca. 100 Studien, fast alle weisen diverse Einschränkun- (NET), die orofaziale Regulationstherapie (ORT) sowie Gau- gen auf: menplatten [25]. – Inhomogene Patientengruppen – Messmethoden des Speichellaufens von aufwendig bis un- Grundsätze im Castillo-Morales® -Konzept genau – In Kommunikation treten – Abhängigkeit von vielen Faktoren wie Haltung, Allge- – Respekt vor dem Gegenüber meinzustand, Stimmung, Begleitkrankheiten – Keine Etikettierung – Unbehandelte Kontrollgruppen kaum zu realisieren – Fähigkeiten des Kindes entdecken – Randomisierung nicht leicht (weil Therapiefreiheit) – Zutrauen in die Fähigkeiten haben – Verblindung kaum möglich (außer bei Medikamenten) – Unterstützung seiner Stärken und Eigenaktivität – Follow-up langfristig nötig, nicht nur 1–2 Jahre – Dialog auf gleicher Ebene führen – Auf den Rhythmus des Kindes eingehen Tägliche Arbeit Für die tägliche Arbeit ergibt sich daraus, dass ein inter- Motorische Ruhe professionelles Team über abgestufte Therapieoptionen ver- Die motorische Ruhe [26] (Abb. 3) ist ein universales The- fügen und diese individuell anpassen sollte. Dazu gehört, rapieelement im Castillo-Morales®-Konzept mit den Zielen: J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (4) 363
Störungen der Mundmotorik bei ICP Abbildung 3: Motorische Ruhe mit einem Säugling. Abbildung 4: Gaumenplatte nach Castillo-Morales®, seitlicher Hohlknopf für die Zungenstimulation zum Schlucken und Kauen. Abbildung 6: Bauchlagerungskeil mit Abduktionselement und Ellenbogenblöcken (links) im Gegensatz zur horizontalen Bauchlage (rechts). – Mobilisation und Modellieren der Muskelketten, Auf- lösung störender Kompensationen, Tonusregulierung – Basisübung und Variationen (Schlucken, Kiefer- und Zungenlateralisation, Aktivierung des Gaumensegels etc.) – Vibration von Wangen, Lippen und Mundboden Abbildung 5: Patient C., 13 – Motorische Zonen im Gesicht (Aktivieren der Mimik) Jahre (bilaterale spastische – Stimulation des Saugens, Buccinatormechanismus Zerebralparese und Suprabul- bärparese nach Herpesenze- phalitis, „Gross Motor Func- Gaumenplatten nach Castillo-Morales® tion Classification System“ Sie wirken als intermittierender Reiz für Zungen- und Lip- [GMFCS] IV): Aufnahme unmit- penbewegungen und werden mehrfach täglich kurz einge- telbar nachdem die Zunge an den Hohlknopf gedrückt war. setzt. Der Hohlknopf – meist hinten an der A-Linie – stimu- Dieses unwillkürliche Spiel der liert die Zunge zu Bewegung und Druck nach hinten-oben Zunge mit dem Vakuum regt (Abb. 4, 5). die Stempelbewegung der Hinterzunge zum Initiieren des Schluckaktes an. In Skandinavien werden die Castillo-Morales®-Platten auch zum willkürlichen Üben bei entsprechend kooperationsfähi- gen Patienten verwendet. – Kommunikation mit dem Kind oder Erwachsenen – Gefühl des sicheren Gehaltenseins Neuro-Entwicklungsphysiologischer Aufbau – Ruhe, Aufmerksamkeit, Blickkontakt nach Pörnbacher (NEPA) – Koordinierung der Atmung Hier werden mittels therapeutischer Lagerung Schubkräfte in – Haltungsstabilität. Tonusregulierung die Aufrichtung ausgelöst [27] – Bahnung des Hand-Hand-, Hand-Fuß-, Hand-Mund- und – mit Bauchlagerungskeil (Abb. 6), Abduktionsschienung Hand-Fuß-Mund-Kontakts und Ellenbogenblöcken bis zum Entwicklungsalter des Krabbelns (also auch für ältere schwerbehinderte Kinder), Aufbauend auf angepasster Lagerung/Ausgangsstellung und – danach mit Rotationslagerungsplatte (stuhlähnlich) und er- Tonusregulierung gibt es viele Möglichkeiten direkter und höhter Ellenbogenauflage. indirekter Aktivierung oro-fazio-pharyngealer Funktionen, ohne dass eine bewusste Mitarbeit des kleinen Kindes oder Die Aufrichtemechanismen führen zu eigenaktiver Nacken- schwerer behinderter älterer Kinder nötig wäre: streckung, die nötig ist für eine koordinierte Mund- und 364 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (4)
Störungen der Mundmotorik bei ICP Pharynxmotorik. Der oropharyngeale Trakt erfährt eine teile wiegen auch schwer: Komplikationen, fragliche Zunah- Längsspannung. Die Atmung vertieft sich. Die Oberlippe me der Mortalität [29–31], eventuell Reflux. Und Gastro- kommt vor, die Zunge geht zurück, das Schlucken wird aus- stomie-Ernährung senkt die Chance auf Neuroplastizität der gelöst und verläuft koordinierter. oralen Funktionen. Merksatz Relevanz für die Praxis Für alle Arten der „Mundtherapie“ gilt, dass der Mund- und In den Industrieländern hat die Zerebralparese eine Präva- Gesichtsbereich mit zu den sensibelsten, verletzlichsten und lenz von ca. 2,2 %. Bei ca. 1/3 der Betroffenen sind oro- intimsten Zonen unseres Körpers gehört. faziale Störungen so alltagsrelevant, dass sie eine spezielle Behandlung erfordern. Unbehandelt können die fazio-oro- Unser Kontakt muss stets freundlich, einfühlsam und behut- pharyngealen Störungen bei ICP zu Saug-, Schluck- und sam sein, dem Kind Sicherheit vermitteln und ihm genügend Kaustörungen führen, zum persistierenden Speichellaufen, Zeit und Raum geben, um Vertrauen zu fassen. sowie längerfristig zu Ausspracheproblemen (Dysarthrie) und Zahn- und Kieferfehlstellungen. Eine Frühdiagnostik Leider kommt es vor, dass Kinder eine langanhaltende Aver- und -therapie ist daher wichtig. Die Therapie sollte sich am sion gegen Mundberührung und sogar eine gravierende Nah- Pathomechanismus der gestörten fazio-oro-pharyngealen rungsverweigerung entwickeln, nachdem sie gegen ihren Bewegung und Wahrnehmung mit entsprechenden ganz- Widerstand gefüttert oder im Mund-Gesichts-Bereich behan- körperlichen Therapiekonzepten orientieren (z. B. Castillo- delt wurden. Morales®-Konzept, Pörnbacher-Therapie, FOTT), und auch mit stimulierenden intraoralen Geräten. Symptoma- Use It Or Lose It: Neuroplastizität tisch wirksame Ansätze, wie die Operation der Speichel- drüsen oder Injektion von Botulinumtoxin, sollten erst als In der umfassenden Metaanalyse von Studien zu Dysphagie fernere Therapieoptionen gelten. Dafür ist günstig, wenn und Neuroplastizität von Robbins et al. [28] werden 10 Prin- ein interprofessionelles Team über abgestufte Therapie- zipien zur Rehabilitation von Schluckstörungen aufgestellt. optionen verfügt und diese individuell anpasst. Ähnliche Überlegungen gelten für Schluckstörungen und die Indika- 1. Prinzip: Use It or Lose It tion zur Anlage eines Gastrostomas; dies wird im Lichte Wenn ein neuronales Substrat nicht biologisch aktiv ist, kann neuerer Erkenntnisse der Neuroplastizität des Schluckens sich seine Funktion abbauen. Klinisch ist diese Wirkung bei reflektiert. Da Kinder mit ICP heute länger leben, sind zu- der neurogenen Dysphagie Erwachsener bekannt. nehmend auch neurologische Institutionen für Erwachsene involviert. 2. Prinzip: Use It and Improve It Es reicht nicht, nur die Funktion zu nutzen – es muss mit Interessenkonflikt wachsender Kompetenz, Effizienz und Genauigkeit gesche- hen (Erkenntnisse aus den Sportwissenschaften). Kräfti- Der Autor verneint einen Interessenkonflikt. gungsübungen alleine steigern die Durchblutung, verändern aber nicht die kortikale und subkortikale Repräsentation. Es braucht also eine „Verteidigungslinie“ gegen den Verlust ora- ler Fähigkeiten („Use it or lose it“) und gleichzeitig eine Art Literatur: 10. Senner JE, Logemann J, Zecker S. Drool- ing, saliva production, and swallowing in ce- sportliche Begeisterung und zielgerichtetes Üben zur Verbes- 1, McPherson KA, Kenny DJ, Koheil R, et al. rebral palsy. Dev Med Child Neurol 2004; 46: Ventilation and swallowing interactions of serung der Funktionen. normal children and children with CP. Dev 801–6. Med Child Neurol 1992; 34: 577–88. 11. Tahmassebi JF, Curzon MEJ. The cause of drooling in children with cerebral palsy – 3.–10. Prinzip 2. Yamaguchi H, Sueishi K. Malocclusion as- hypersalivation or swallowing defect? Int sociated with abnormal posture. Bull Tokyo Die Neuroplastizität ist erfahrungsspezifisch (Prinzip 3), ab- J Paediatr Dent 2003; 13: 106–11. Dent Coll 2002; 44: 43–54. 12. Corrie EE, Van Hulst K, Rotteveel LJ, et al. hängig von Wiederholung (4), Intensität (5) und Dauer (6). Das 3. Schwartz S, Gisel EG, Clark D. Association Drooling in cerebral palsy: hypersalivation or of occlusion with eating efficiency in children Aktivieren/Üben muss sinnvoll/motivierend sein und den di- with cerebral palsy and moderate eating im- dysfunctional oral motor control? Dev Med Child Neurol 2009; 51: 454–9. rekten Bezug zur Alltagsfunktion haben (7). Die Neuro- pairment. J Dent Child 2003; 70: 33–9. 13. Bosma JF, Donner MW. Physiology of the plastizität ist altersabhängig (8). Es kann ein Transfer auf be- 4. Laubender E, Schübel F, Hellbrügge T, et al. pharynx. Otolaryngology 1980; 2: 332–45. Kiefer- und Gebissanomalien bei Kindern mit nachbarte Regionen stattfinden (9), aber auch Interferenz (10). cerebralen Bewegungsstörungen. Dtsch 14. Sochaniwskyj AE. Oral motor functioning, Zahnarztl Z 1975; 30: 771–5. frequency of swallowing and drooling in nor- mal children and in children with cerebral 5. Rakosi T. Kieferorthopädie Diagnostik. Frühe Behandlung ist wichtig und eine längere Unterbre- Thieme, Stuttgart, 1989. palsy. Arch Phys Med Rehabil 1986; 67: 866– 74. chung der Funktionen schadet. Daher sollten die Entschei- 6. Gisel E. Interventions and outcomes for 15. Limbrock J, Bender M. 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