Strategische Reserve zur Absicherung des Strommarkts - DIW Berlin

Die Seite wird erstellt Selina Nowak
 
WEITER LESEN
Strategische Reserve

Strategische Reserve
zur Absicherung des Strommarkts
Von Karsten Neuhoff, Jochen Diekmann, Wolf-Peter Schill und Sebastian Schwenen

Derzeit wird diskutiert, ob der deutsche Strommarkt genügend              In Deutschland wird seit einigen Jahren über eine Re-
Anreize für Investitionen in Kraftwerke und deren Verbleiben am           form des Strommarktes diskutiert. Eine zentrale Frage
                                                                          ist dabei, ob sich allein durch die Erlöse aus dem Strom­
Netz bietet, um die Versorgungssicherheit zu gewähr­leisten. Vor-
                                                                          absatz (Energy-Only-Markt) langfristig ausreichende
schläge, die Energieversorgung weiter abzusichern, beinhalten zum         Deckungsbeiträge für Spitzenlastkraftwerke erzielen
Teil umfassende Zahlungen an die Kraftwerksbetreiber – parallel           lassen.1 Darüber hinaus werden die Auswirkungen des
zu Energieerlösen und basierend auf deren Erzeugungskapazität             Ausbaus erneuerbarer Energien auf den Einsatz kon-
                                                                          ventioneller Kraftwerke und die Strommarktpreise dis-
(Kapazitätsmärkte). Andere Vorschläge empfehlen die Vorhaltung
                                                                          kutiert. Die derzeit ohne Zweifel ausreichenden Erzeu-
einzelner Kraftwerke, die nur bei Knappheit und hohen Preisen             gungskapazitäten in Deutschland werden zudem durch
zum Einsatz kommen (Strategische Reserve). In der vorliegenden            den bis 2022 erfolgenden vollständigen Atomausstieg
Studie werden die verschiedenen Gründe, die zu fehlenden Investi-         sowie weitere wahrscheinliche Kraftwerksabgänge ver-
                                                                          mindert.2 Nicht zuletzt kann es derzeit in Süddeutsch-
tionsanreizen führen könnten, analysiert und Handlungsoptionen
                                                                          land aufgrund von Übertragungsnetzengpässen zu re-
diskutiert. Die Untersuchung zeigt, dass eine Strategische Reserve        gionalen Knappheitssituationen kommen. Dem wurde
zur Absicherung der Energieversorgung ausreicht.                          von der Politik kurzfristig durch die Errichtung einer
                                                                          Netzreserve und weitere regulatorische Maßnahmen
                                                                          vorgebeugt. Vor diesem Hintergrund wurden in letz-
                                                                          ter Zeit unterschiedliche Kapazitätsmechanismen vor-
                                                                          geschlagen, die gewährleisten sollen, dass auch künf-
                                                                          tig ausreichende gesicherte Erzeugungskapazitäten zur
                                                                          Verfügung stehen, um Blackouts zu vermeiden.

                                                                          Unterschiedliche Motive
                                                                          für Kapazitätsmechanismen

                                                                          Fehlende Deckungsbeiträge
                                                                          für Spitzenlastkraftwerke?
                                                                          Die Diskussion über Kapazitätsmechanismen ist nicht
                                                                          neu und ist auch nicht originär mir der deutschen Ener-
                                                                          giewende entstanden. Vielmehr wird seit der Liberalisie-
                                                                          rung von Strommärkten diskutiert, ob Stromerzeuger
                                                                          allein durch den Verkauf von Strom ihre Investitions-
                                                                          kosten decken können oder ob sie zusätzliche Zahlun-
                                                                          gen für die Bereitstellung von Kapazitäten benötigen. So

                                                                          1 Vgl. Hogan, W. (2005): On an “Energy only” Electricity Market Design for
                                                                          Resource Adequacy. Cambridge, MA, Harvard Electricity Policy Group Paper.
                                                                          2 Vgl. BDEW (2013): Kraftwerksplanungen und aktuelle ökonomische
                                                                          Rahmenbedingungen für Kraftwerke in Deutschland. BDEW Energie-Info.

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                                                          5
Strategische Reserve

               gab es in Großbritannien während der 90er Jahre eine                               urteilt werden. Einige Faktoren deuten allerdings dar-
               Kapazitätszahlung an Kraftwerke, die 2001 wegen um-                                auf hin, dass dieses Problem in der Realität weniger gra-
               fassender Manipulationen durch Marktteilnehmer abge-                               vierend ist als im Modell.
               schafft wurde,3 jetzt aber in anderer Form im Rahmen
               der Energiemarktreform wieder eingeführt werden soll.                              Erstens reduziert oder vermeidet die Beteiligung von
                                                                                                  flexibler Nachfrage im Strommarkt, zum Beispiel ab-
               Eine fundamentale Begründung für einen Kapazitäts-                                 schaltbarem Strombezug von Industriekunden, das Mis-
               mechanismus beruht auf dem Missing-Money-Problem,                                  sing-Money-Problem. Wenn f lexible Nachfrager den
               das von Paul Joskow in die Diskussion eingeführt wur-                              Marktpreis oberhalb der variablen Erzeugungskosten
               de. 4 Kraftwerke können in Stunden, in denen der Strom-                            von konventionellen Kraftwerken setzen, können die
               preis höher als ihre variablen Erzeugungskosten ist, ei-                           konventionellen Kraftwerke in diesen Stunden einen
               nen Deckungsbeitrag zu Kapital- und anderen Fixkosten                              Deckungsbeitrag zu Kapital- und anderen Fixkosten
               erwirtschaften. Für Kraftwerke mit geringen variab-                                erwirtschaften.
               len Kosten – traditionell Grundlastkraftwerke – ist das
               der Fall, wenn Kraftwerke mit höheren variablen Kos-                               Zweitens ist davon auszugehen, dass der Großhandels­
               ten den einheitlichen Strompreis bestimmen. Das lässt                              preis sich nicht wie im Lehrbuch allein nach Maßgabe
               aber die Frage offen, wie Spitzenlastkraftwerke mit den                            der Grenzkosten bildet. Internationale Studien zeigen
               höchsten variablen Kosten ihren Deckungsbeitrag er-                                vielmehr, dass insbesondere in Stunden knappen An-
               wirtschaften können. Dafür bedarf es Stunden knappen                               gebotes Marktmacht ausgeübt werden kann. Das führt
               Angebots oder hoher Nachfrage, in denen Knappheits-                                zu zusätzlichen Einnahmen für Spitzenlastkraftwerke.
               preise oberhalb der variablen Kosten realisiert werden.
               Wenn jedoch die Nachfrage nicht ausreichend elastisch                              Drittens können Kraftwerke zusätzlich zur Bereitstel-
               ist und so der Preis allein das Gleichgewicht nicht her-                           lung von Energie auch weitere Systemdienstleistun-
               stellen kann, muss der Netzbetreiber einige Endkun-                                gen anbieten. So ergeben sich für flexible Kraftwerke
               den vorübergehend vom Netz trennen (Rolling Blackout).                             zusätzliche Erlöse, wenn sie ihre Produktion kurzfris-
                                                                                                  tig anpassen und so auf Preissignale im Intraday- oder
               Wenn die Stromnachfrage hinreichend preiselastisch                                 Regel­energiemarkt reagieren können.
               ist, können sich Knappheitspreise über den variablen
               Kosten des teuersten Kraftwerks ergeben, bei denen der                             Zudem wird das Risiko einer regulatorischen Interven-
               Markt geräumt wird und auch Spitzenlastkraftwerke De-                              tion bei kurzfristig hohen Strompreisen dadurch verrin-
               ckungsbeiträge erzielen. Ist die Nachfrage jedoch nicht                            gert – und die Glaubwürdigkeit des Strommarktes für
               genügend preiselastisch und wird der Marktpreis nach                               Investoren erhöht –, dass Versorger und Endkunden den
               oben hin begrenzt, können die notwendigen Einnahmen                                Großteil ihrer Stromnachfrage längerfristig vertraglich
               zur Deckung der Fixkosten von Spitzenlastkraftwer-                                 absichern. In Deutschland ist fast die gesamte Nachfra-
               ken unter Umständen nicht erzielt werden. Eine Preis-                              ge bereits ein Jahr und mehr im Voraus vertraglich ver-
               obergrenze kann explizit auf einer Handelsplattform                                einbart. Damit sind die meisten Endkunden gegenüber
               (für den deutschen Markt ist dies die Strombörse EEX)                              kurzfristig hohen Großhandelspreisen abgesichert. Sie
               oder durch politische Intervention vorgegeben werden,                              würden nur für den Teil ihres Strombedarfs, der die ver-
               weil extrem hohe Strompreise als politisch nicht tragbar                           traglich festgelegte Menge übersteigt, hohe Knappheits-
               wahrgenommen werden. Wenn Investoren eine solche                                   preise zahlen. Das reduziert die negativen Auswirkun-
               Entwicklung erwarten, werden sie bestehende Spitzen-                               gen von Preissprüngen für Stromkunden und damit
               lastkraftwerke möglicherweise nicht länger bereithal-                              den öffentlichen Druck für eine mögliche Intervention.
               ten beziehungsweise keine Neuinvestitionen durchfüh-
               ren, die für die Versorgungssicherheit erforderlich sind.5                         Der wachsende Anteil von Wind- und Solarenergie be-
                                                                                                  dingt Unsicherheiten über die Entwicklung des Aus-
               Inwiefern dieser theoretische Fall künftig praktische Be-                          baus und die jährlichen Schwankungen der Erzeugung.
               deutung erlangt, kann derzeit nicht mit Sicherheit be-                             Das kann zu Jahren mit Überkapazität und damit gerin-
                                                                                                  gen Spitzenpreisen führen, die in anderen Jahren mit
                                                                                                  zusätzlichen Stunden mit hohen Preisen kompensiert
               3 Vgl. Newbery, D. (1995): Power Markets and Market Power. The Energy
               Journal, Vol. 16, No. 3, 39–66; sowie Department of Energy and Climate
                                                                                                  werden müssen. Diese Unsicherheiten über zu erwar-
               Change (2013): Electricity Market Reform: Capacity Market – Detailed Design        tende Deckungsbeiträge verstärken zunächst das Mis-
               Proposals.                                                                         sing-Money-Problem.
               4 Vgl. hierzu auch eine spätere Analyse in Joskow, P. (2008): Capacity
               Payments in imperfect electricity markets: Need and design. Utilities policy,
               Vol 16, No. 3, 159–170.                                                            Jedoch werden zugleich im Rahmen der Energiewen-
               5 Vgl. Neuhoff, K., De Vries, L., (2004): Insufficient incentives for investment   de längst notwendige Maßnahmen zur Aktivierung von
               in electricity generation. Utilities Policy, Vol 12, No. 4, 253–268.               Nachfrageflexibilität im Strommarkt angegangen, und

6                                                                                                                                 DIW Wochenbericht Nr. 48.2013
Strategische Reserve

eine weitere Flexibilisierung durch die Interaktionen mit                     Abbildung 1
Elektromobilität, Wärmemärkten, Speichern und Netz­
ausbau für den internationalen Austausch wird anvi-                           Last und Einspeisung erneuerbarer Energien
siert. Das kann insgesamt zu einer Abschwächung des                           für zwei exemplarische Wochen im Jahr 2032
Missing-Money-Problems führen.                                                In Gigawatt

Veränderte Erlössituation durch                                                100

Niedrigpreisphasen                                                              90

                                                                                80
Die Strompreise können auf Null fallen, wenn die Erzeu-
gung von Strom aus Solar- und Windenergie die Nach-                             70
frage übersteigt. Es wird häufig argumentiert, das führe                        60
dazu, dass Kraftwerke nicht mehr die notwendigen De-
                                                                                50
ckungsbeiträge erreichen können. In der Vergangenheit
waren in Deutschland Steinkohlekraftwerke während                               40
der meisten Stunden des Tages preisbestimmend. Da-                              30
mit konnten sie während des Großteils ihrer Betriebs-
                                                                                20
stunden nur einen sehr geringen Deckungsbeitrag er-
zielen und waren auf den Deckungsbeitrag angewie-                               10

sen, der während der Stunden erreicht wurde, in denen                            0
bei höherer Nachfrage andere Erzeugungstechnologien
mit höheren variablen Kosten preissetzend waren. Ent-                                                                   22. März bis 4. April 2032
scheidend für die Rentabilität eines Kraftwerkes ist in-                                           PV                            Wind offshore              Laufwasser
sofern also nicht (wie häufig behauptet) die Anzahl der                                            Wind onshore                  Biomasse                    Last
Volllaststunden (durchschnittliche Anlagenauslastung),
sondern die Anzahl der Stunden in denen ein positiver
                                                                              Quelle: Berechnungen des DIW Berlin.
Deckungsbeitrag erzielt wird.
                                                                                                                                                                         © DIW Berlin 2013
Abbildung 1 zeigt für zwei exemplarische Wochen des
                                                                              Die Stromerzeugung aus Windkraft und Photovoltaik schwankt stark.
Jahres 2032 den Anteil des Stromverbrauchs (Last), der
von Wind- und Solarenergie gedeckt werden kann.6
Die Abbildung illustriert die regelmäßigen, täglichen
Schwankungen der Photovoltaik ebenso wie die weni-                            Auch bei hohen Anteilen erneuerbarer Energie wird so-
ger regelmäßigen Schwankungen der Windkraft. Tref-                            mit das grundlegende Prinzip des Energy-Only-Markts
fen hohe Erzeugung aus Wind- und Sonnenergie zusam-                           nicht in Frage gestellt.8 Mit der größeren Variabilität der
men, kann es zu deutlichen Überschüssen kommen.                               Erzeugung aus Wind- und Solarenergie nehmen aller-
Übersteigen diese die Kapazität der Stromspeicher, dann                       dings die Schwankungen des Strompreises zu.
wird in den entsprechenden Stunden kein Deckungs-
beitrag zu den fixen Kosten aller Erzeugungsanlagen                           Vorübergehende Überkapazitäten
erreicht.7 Allerdings gibt es auch viele Stunden in den
entsprechenden Wochen, in denen Speicher und kon-                             Aktuell ist der Strommarkt von einem längerfristigen
ventionelle Erzeugung noch einen wesentlichen Bei-                            Investitionsgleichgewicht weit entfernt. Insgesamt be-
trag leisten müssen, um die Differenz zwischen Last                           stehen deutliche Überkapazitäten im Erzeugungsbe-
und Erzeugung aus erneuerbaren Energien abzudecken.                           reich. Es wäre überraschend, wenn in einer solchen Si-
                                                                              tuation die Strompreise im Marktgleichgewicht nicht
                                                                              soweit fallen, dass einige Kraftwerke ihre fixen Kos-
                                                                              ten nicht mehr decken können und vom Netz gehen.
6 Die Darstellung basiert auf Lastdaten des Jahres 2010 sowie Einspeiseda-
ten des Jahres 2012, die mit den Erzeugungskapazitäten des Szenarios B 2032   Das ist die Antwort des Marktes, um das Gleichgewicht
des Netzentwicklungsplans 2012 skaliert wurden. Biomasse und Laufwasser       zwischen Angebot und Nachfrage wieder herzustellen.
erzeugen hier annahmegemäß auf einem konstanten Niveau Strom. Für eine
nähere Beschreibung der Methodik siehe Schill, W.-P. (2013): Residual Load,
Renewable Generation Surplus and Storage Requirements in Germany. DIW         Allerdings hat die Diskussion der letzten Jahre gezeigt,
Discussion Paper Nr. 1316.                                                    dass ein Einpendeln zum Marktgleichgewicht langsa-
7 Aktuell kann der Strompreis in solchen Stunden einen negativen Wert
annehmen. Flexible Kraftwerke reduzieren dann ihre Produktion. Da die
meisten konventionellen Kraftwerke ihre Produktion bereits mit finanziellen   8 Neuhoff, K., Ehrenmann, A., Butler, L., Cust, J., Hoexter, H., Keats, K.,
oder physikalisch basierten Verträgen abgesichert haben, entstehen auch       Kreczko, A., Sinden, G. (2008): Space and Time: Wind in an Investment
inflexiblen Kraftwerken durch die negativen Preise keine Verluste.            Planning Model. Energy Economics, 30 (4), 1990–2008.

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                                                                                           7
Strategische Reserve

               mer verlaufen kann als in theoretischen Modellen er-      des letzten deutschen Atomkraftwerks eine klar defi-
               wartet. Entscheidungen zur (vorübergehenden) Stillle-     nierte zeitliche Perspektive.9
               gung von Kraftwerken können sich verzögern, da Unter-
               nehmen kurzfristige Kosten und Widerstände bei einer      Regionale Herausforderungen
               Stilllegung scheuen. Auch könnte die Diskussion zur
               möglichen Einführung von Kapazitätsentlohnungen           Es bestehen schon derzeit regionale Herausforderungen,
               Unternehmen zu einer Verschiebung ihrer Entschei-         die durch den Atomausstieg weiter verstärkt werden. Da-
               dung motivieren. Für einzelne Erzeuger ist es schwer      bei ist zu beachten, dass die aktuelle Ausgestaltung des
               abzusehen, wie viele Kraftwerke von anderen Unterneh-     deutschen Strommarktes keine Differenzierung zwi-
               men stillgelegt werden, und wie sich somit die gesam-     schen dem Wert des Stromes an verschiedenen Stand-
               te Knappheit entwickelt. Deswegen sind auf Seiten der     orten in Deutschland ermöglicht, sondern eine einheit-
               Netzbetreiber längere Vorankündigungszeiten vorgese-      liche Preiszone vorschreibt.
               hen, die eingehalten werden müssen, bevor ein Kraft-
               werk vom Netz gehen kann.                                 Da die Übertragungskapazität beschränkt ist, muss ge-
                                                                         nügend Erzeugungskapazität in den jeweiligen Regio-
               Bei der Wiederherstellung des Gleichgewichtes spie-       nen vorgehalten werden. Aktuell befürchtet die Bundes-
               len Terminmärkte, auf denen Strom bis zu vier Jahre       netzagentur, dass konventionelle Kraftwerke an den fal-
               im Voraus gehandelt wird, eine zentrale Rolle. So kann    schen Standorten in Deutschland vom Netz genommen
               dazu beigetragen werden, dass einzelne Erzeuger nicht     werden und zu wenige Kraftwerke in Süddeutschland
               zu viele oder zu wenige Kraftwerke vom Netz nehmen.       betriebsbereit bleiben. Zum Umgang mit Netzengpäs-
                                                                         sen wurde von der Bundesnetzagentur eine Netzreser-
               In Deutschland ist mit dem Atomausstieg eine länger-      ve eingesetzt.10 Kraftwerke in Süddeutschland und Ös-
               fristige Übergangsphase zu berücksichtigen. Durch         terreich werden direkt von den Netzbetreibern kontra-
               die Stilllegung dieser Kraftwerke bis 2022 entsteht ein   hiert und können im Fall von Übertragungsengpässen
               Ersatzbedarf an Erzeugungskapazität. Kraftwerke, die      für Süddeutschland eingesetzt werden.
               aus der aktuellen Perspektive eine Überkapazität dar-
               stellen, könnten im Jahre 2022 wieder benötigt wer-       Jedoch reduziert die Netzreserve die Wirtschaftlichkeit
               den. Dies hängt auch davon ab, in welchem Umfang          von Kraftwerken an den Standorten, wo diese benötigt
               geplante Neubauten und angekündigte Stilllegungen         werden (Süddeutschland). Sie muss somit, wie vorgese-
               konventioneller Kraftwerke realisiert werden und ob in    hen, eine Übergangslösung bis 2017 bleiben, damit der
               Zukunft internationaler Stromaustausch und Nachfra-       Strommarkt längerfristig die richtigen Signale für In-
               gef lexibilität zur Deckung von Spitzenlast eingeplant    vestitions- und Stilllegungsentscheidungen liefert. Die
               werden können.                                            Netzprobleme müssen letztlich durch Netzausbau und
                                                                         mit regionaler Bepreisung behoben werden.
               Allerdings haben Kraftwerksbetreiber unter Umstän-
               den keinen ausreichenden finanziellen oder institu-
               tionellen Spielraum, um entsprechende Kraftwerke          Unterschiedliche Kapazitätsmechanismen
               bis zum Jahr 2022 bei vorübergehend negativem De-         in der Diskussion
               ckungsbeitrag vorzuhalten. Eine denkbare Möglichkeit
               mit dieser Situation umzugehen, könnte eine Über-         In Deutschland werden gegenwärtig als mögliche Ka-
               gangsreserve für Kraftwerke bis zum Jahr 2022 sein.       pazitätsmechanismen insbesondere die folgenden fünf
               Dabei könnte unzureichender Koordination zwischen         Modelle diskutiert: Strategische Reserve, Versorgungssi-
               Marktteilnehmern und deren Stilllegungs- und Inves-       cherheitsverträge, Fokussierte Kapazitätsmärkte, Dezen-
               titionsentscheidungen vorgebeugt werden und somit         trale Leistungsverpflichtungen und Dezentraler Leis-
               das Risiko zu geringer Kapazitäten im Jahr 2023 ver-      tungsmarkt.11 Diese Modelle unterscheiden sich unter
               mindert werden. Eine solche Reserve kann prinzipiell      anderem danach, auf welcher Ebene der Bedarf an Ka-
               von privaten Unternehmen, die Kraftwerke vorläufig        pazitäten bestimmt wird, welche Anlagen in den Me-
               stilllegen, gehalten werden. So befinden sich gegen-
               wärtig zwei Gigawatt Kraftwerkskapazität in diesem
               Zustand. Allerdings ist unsicher, ob vorläufig stillge-   9 Es wäre zu prüfen, inwieweit eine solche Reserve mögliche weitere
               legte Kraftwerke für einen ausreichenden Zeitraum al-     Neuinvestitionen verringern oder verzögern kann, wenn Investoren befürchten,
               lein aus privatwirtschaftlicher Perspektive vorgehalten   dass mit Auslaufen der Übergangsreserve alte Kraftwerke zurück auf den Markt
                                                                         kommen und Preisdruck ausüben.
               werden. Deshalb wäre zu prüfen, ob solche Kraftwer-
                                                                         10 Vgl. den Beitrag von Kunz, F. et al. in diesem Wochenbericht.
               ke in einer Übergangsreserve gehalten werden sollten.
                                                                         11 BMWi (2013): Bericht des Kraftwerksforums an die Bundeskanzlerin und die
               Eine solche Übergangsreserve wäre mit relativ gerin-      Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder – Mittel- bis langfristig
               gen Kosten verbunden und hätte mit dem Abschalten         ausreichende Sicherstellung von Erzeugungskapazitäten. 28. Mai 2013.

8                                                                                                                       DIW Wochenbericht Nr. 48.2013
Strategische Reserve

Tabelle

Gegenwärtig in Deutschland diskutierte Kapazitätsmechanismen

                                    Strategische                     Versorgungs-                     Fokussierter                 Dezentrale Leistungs-­                Dezentraler
                                      Reserve                     sicherheitsverträge               Kapazitätsmarkt                  verpflichtungen                   Leistungsmarkt
Kapazitätsplanung                      zentral                          zentral                          zentral                         zentral                        dezentral
Beschaffung                            zentral                          zentral                          zentral                        dezentral                       dezentral
Anlagenselektion                   nein/bedingt                    nein (umfassend)                         ja                     nein (umfassend)                 nein (umfassend)
Einsatz im Strommarkt                   nein                               ja                               ja                              ja                              ja
Marktform                              Auktion                          Auktion                          Auktion                         diverse                          Börse
Produkt                           Reservekapazität                    Call-Option                      Call-Option                 Leistungszertifikat                 VS-Nachweis
Steuerungsgrößen                  Reservekapazität                     Kapazität                        Kapazität                   Sicherheitsmarge                     Strafen
                                 ggf. Regionalkomp.                 Ausübungspreis                  Ausübungspreis                        Strafe                     Auslösungspreis
Finanzierung                           Umlage                           Umlage                           Umlage                        Marktpreis                       Marktpreis
Referenzen                     Consentec (2012), BMU,                 EWI (2012)             Öko-Institut, LBD, Raue (2012) vgl. Frontier Economics (2013)       VKU (2013), BDEW (2013)
                                BDEW, BEE u.a. (2013)

Quellen: Consentec (2012): Versorgungssicherheit effizient gestalten – Erforderlichkeit, mögliche Ausgestaltung und Bewertung von Kapazitätsmechanismen in Deutschland. Untersuchung im
Auftrag der EnBW AG, Abschlussbericht 7. Februar 2012;
BMU, BDEW, BEE u.a. (2013): Märkte stärken, Versorgung sichern. Konzept für die Umsetzung einer Strategischen Reserve in Deutschland. Ergebnisbericht des Fachdialogs „Strategische Reserve“,
Mai 2013.
EWI (2012): Untersuchungen zu einem zukunftsfähigen Strommarktdesign. Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI), Endbericht im Auftrag des BMWi, März 2012;
Öko-Institut, LBD, Raue (2012): Ein neues Marktdesign für den Übergang zu einem neuen Energiesystem. Studie für die Umweltstiftung WWF Deutschland, Berlin, 8. Oktober 2012;
Frontier economics, Formaet Services (2013): Dezentrale Leistungsverpflichtungssysteme – Eine geeignete Alternative zu zentralen Kapazitätsmechanismen? Studie im Auftrag des BMWi, Mai 2013;
VKU, Enervis, BET (2013): Ein zukunftsfähiges Energiemarktdesign für Deutschland. Langfassung, 1. März 2013;
BDEW (2013): Ausgestaltung eines dezentralen Leistungsmarkts. Berlin, 18. September 2013, Positionspapier des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. Berlin, 18. September 2013;
zum Überblick vgl. auch BMWi (2013): Bericht des Kraftwerksforums an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder – Mittel- bis langfristig ausreichen-
de Sicherstellung von Erzeugungskapazitäten. 28. Mai 2013.
                                                                                                                                                                                © DIW Berlin 2013

chanismus einbezogen werden und wie Anreize zur Be-                                   als Erlös einen marktbestimmten Leistungspreis und
reitstellung von Kapazitäten gesetzt werden (Tabelle).                                daneben einen kostenorientierten Arbeitspreis. Mehr-
                                                                                      kosten werden wie Netzentgelte auf die Stromverbrau-
Strategische Reserve                                                                  cher umgelegt.

Das Konzept der Strategischen Reserve besteht in                                      Um Rückwirkungen der Strategischen Reserve auf In-
Strom­erzeugungskapazitäten, die ausschließlich in ex-                                vestitionsentscheidungen für den Strommarkt zu ver-
tremen Knappheitssituationen eingesetzt werden sol-                                   meiden, sollen die Anlagen der Strategischen Reser-
len.12 Der Bedarf an Reservekapazität wird zentral fest-                              ve auch später nicht am Strommarkt eingesetzt wer-
gelegt, zum Beispiel auf fünf Prozent der gesamten Jah-                               den dürfen.
reshöchstlast (rund vier Gigawatt). Zur Beschaffung
werden diese Kapazitäten durch die Übertragungsnetz-                                  Im Unterschied zur bestehenden regulatorischen Netz-
betreiber unter öffentlicher Aufsicht ausgeschrieben.                                 reserve (Winterreserve) wird die Strategische Reserve
Die Strategische Reserve ist grundsätzlich für Alt- und                               marktwirtschaftlich organisiert. Die Netzreserve könn-
Neuanlagen offen. Anfänglich geht es vor allem um Be-                                 te eventuell in die Strategische Reserve aufgenommen
standsanlagen und um Neuanlagen in netztechnisch                                      werden. Nach dem gemeinsamen Positionspapier des
geeigneten Regionen. Dafür sind ausreichende Vor-                                     Bundesumweltministeriums und der Verbände besteht
laufzeiten und Vertragslaufzeiten festzulegen. Die Re-                                Einigkeit darüber, dass eine Strategische Reserve kurz-
serve kommt zum Einsatz, wenn der Börsenpreis ein                                     fristig (ab 2014) eingeführt werden kann und soll. Hin-
festgelegtes Niveau überschreitet, zum Beispiel nach                                  sichtlich eventueller weitergehender Kapazitätsmecha-
dem Vorschlag des BMU und verschiedener Verbände                                      nismen könnte sie als Übergangslösung, als Ergänzung
3 000 Euro pro MWh.13 Der Kraftwerksbetreiber erhält                                  oder sogar als Ersatz dienen.

12 Consentec (2012): Versorgungssicherheit effizient gestalten – Erforderlich-        Versorgungssicherheitsverträge
keit, mögliche Ausgestaltung und Bewertung von Kapazitätsmechanismen in
Deutschland. Untersuchung im Auftrag der EnBW AG. Abschlussbericht                    Nach einer Studie im Auftrag des Bundeswirtschafts-
07.02.2012
                                                                                      ministeriums könnte die Bereitstellung ausreichender
13 BMU, BDEW, BEE u. a. (2013): Märkte stärken, Versorgung sichern.
Konzept für die Umsetzung einer Strategischen Reserve in Deutschland.                 Kapazitäten durch eine zentrale Versteigerung von Ver-
Ergebnisbericht des Fachdialogs „Strategische Reserve“, Mai 2013.                     trägen gewährleistet werden, die eine Kapazitätsver-

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                                                                                                  9
Strategische Reserve

               pflichtung und eine Verfügbarkeitsoption umfassen.14                               beschränkt. Allerdings stellt sich die Frage, ob die For-
               Ähnliche Kapazitätsmechanismen werden in Neu-Eng-                                  mulierung von Kriterien, nach denen sich Bestands-
               land, Kolumbien und Brasilien angewendet. Der Bedarf                               anlagen für Kapazitätsmarktzahlungen qualifizieren
               an Kapazitäten wird zentral ermittelt und bestimmt den                             (zum Beispiel Betriebsstunden), nicht zu starken Ver-
               Umfang der Versteigerungen. Teilnehmen können Be-                                  zerrungen führt. Die Finanzierung des Kapazitätsme-
               stands- und Neuanlagen, wobei unterschiedliche Lauf-                               chanismus erfolgt auch hier über einen Aufschlag auf
               zeiten von einem beziehungsweise 15 Jahren gelten sol-                             die Netzentgelte.
               len. Für Neuanlagen ist zudem ein Vorlauf von fünf bis
               sieben Jahren vorgesehen. Daneben können auch Maß-                                 Dezentrale Leistungsverpflichtungen
               nahmen wie Nachfragemanagement einbezogen wer-
               den. Der Auslösungspreis der Call-Option wird zentral                              Während die Kapazitäten in den bisher genannten Kon-
               so festgelegt, dass er etwas höher ist als die höchsten va-                        zepten zentral durch Ausschreibungen beschafft wer-
               riablen Erzeugungskosten. Teilnehmende Erzeuger ver-                               den, wird mit Leistungsverpflichtungen ein dezentra-
               pflichten sich Kapazitäten bereitzuhalten und erhalten                             les Element bei Kapazitätsmechanismen eingeführt. Die
               die Optionsprämie unabhängig von ihrer Erzeugung.                                  Vorgaben für die Leistungsverpflichtungen werden al-
               Wenn der Strompreis höher ist als der Auslösungspreis,                             lerdings zentral festgelegt und falls erforderlich an ei-
               müssen sie die Differenz zurückerstatten. Die Nettokos-                            nen veränderten Gesamtbedarf angepasst. Solch ein
               ten werden auf die Stromverbraucher überwälzt. Anders                              System wird gegenwärtig in Frankreich diskutiert.16 Für
               als bei einer Strategischen Reserve können die Anlagen                             die Ausgestaltung der Leistungsverpflichtungen sind
               normal am Strommarkt teilnehmen.                                                   unterschiedliche Varianten und Mischformen möglich.
                                                                                                  So können die Versorger verpflichtet werden, sicher ver-
               Würden Erzeuger Strom ihrer Kraftwerke auf Termin                                  fügbare Kapazität entsprechend ihrer Höchstlast und
               verkaufen und zugleich Versorgungssicherheitsverträ-                               einer Sicherheitsmarge nachzuweisen. Zugleich kön-
               ge unterzeichnen, müssten sie ihren erzeugten Strom                                nen Kapazitätszertifikate frei gehandelt werden, wo-
               abliefern und bei hohen Strompreisen zugleich für                                  bei typischerweise Versorger als Nachfrager und Kraft-
               die Differenz zwischen dem Spotpreis und dem Aus-                                  werksbetreiber als Anbieter auftreten können. Für den
               lösungspreis der Optionen bezahlen. Das bedingt ein                                Fall, dass Verpf lichtungen zur Verfügbarkeit von Ka-
               deutliches Risiko, und es ist zu befürchten, dass die Ab-                          pazitäten nicht eingehalten werden, sind Strafen vor-
               sicherung von Erzeugung und Nachfrage mit traditio-                                zusehen. Die Finanzierung erfolgt hier über die Pro-
               nellen Terminverträgen eingeschränkt wird.                                         duktpreise der Versorger.

               Fokussierter Kapazitätsmarkt                                                       Dezentraler Leistungsmarkt
               Das Konzept Fokussierter Kapazitätsmärkte15 ähnelt                                 Im Unterschied zu dezentralen Leistungsverpflichtun-
               zum Teil dem der Versicherungsverträge. Der Bedarf                                 gen wird von den Verbänden VKU und BDEW ein Kapa-
               an Kapazitäten wird zentral geplant und ausgeschrie-                               zitätsmechanismus vorschlagen, bei dem nicht nur die
               ben. Neben der Versorgungsicherheit werden allerdings                              Beschaffung von Kapazitäten dezentral erfolgt, sondern
               zugleich auch weitere Ziele der Energiewende verfolgt.                             auch der Kapazitätsbedarf dezentral durch die Nachfra-
               So sollen aus klimapolitischen Gründen ein Auf bau                                 geseite bestimmt wird.17 Auf eine staatliche Mengenpla-
               CO2-intensiver Stromerzeugung und aus verteilungspo-                               nung soll damit vollständig verzichtet werden. Die Ver-
               litischen Gründen Mitnahmeeffekte vermieden werden.                                sorger werden verpflichtet, eine von ihnen bestimmte
               Angestrebt werden flexible und emissionsarme Kraft-                                Leistung jederzeit gesichert zur Verfügung zu stellen.
               werke, die die zunehmende variable Stromerzeugung                                  Hierzu wird ein verbindliches System von Versorgungs-
               aus Wind- und Solarenergie ergänzen. Der Kapazitäts-                               sicherheitsnachweisen (VSN) eingeführt. Die Versor-
               markt richtet sich selektiv zum einen auf stilllegungs-                            ger entscheiden selbst über den Bedarf an gesicherter
               gefährdete Bestandsanlagen und zum anderen auf Neu-                                Leistung und fragen entsprechend viele VSN am Markt
               anlagen, für die bestimmte Präqualifikationsanforde-                               nach. Dazu werden marktfähige Produkte standardi-
               rungen, unter anderem Flexibilität, gestellt werden. Für                           siert, die an einer Börse für Kapazitätszertifikate gehan-
               die Anlagen wird die Teilnahme am Strommarkt nicht
                                                                                                  16 Frontier economics, Formaet Services (2013): Dezentrale Leistungsverpflich-
                                                                                                  tungssysteme – Eine geeignete Alternative zu zentralen Kapazitätsmechanis-
               14 EWI (2012): Untersuchungen zu einem zukunftsfähigen Strommarktdesign.           men? Studie im Auftrag des BMWi, Mai 2013.
               Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI), Endbericht im   17 VKU, Enervis, BET (2013): Ein zukunftsfähiges Energiemarktdesign für
               Auftrag des BMWi, März 2012.                                                       Deutschland. Langfassung, 1. März 2013; BDEW (2013): Ausgestaltung eines
               15 Öko-Institut, LBD, Raue (2012): Ein neues Marktdesign für den Übergang          dezentralen Leistungsmarkts. Berlin, 18. September 2013, Positionspapier des
               zu einem neuen Energiesystem. Studie für die Umweltstiftung WWF                    Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. Berlin,
               Deutschland, Berlin, 8. Oktober 2012.                                              18. ­September 2013.

10                                                                                                                                              DIW Wochenbericht Nr. 48.2013
Strategische Reserve

delt werden. Die Laufzeit der VSN soll anfänglich ein      nen große Unterschiede zwischen den einzelnen Vor-
Quartal betragen. Kraftwerksbetreiber können VSN an-       schlägen durch die jeweilige Ausgestaltung entstehen.
bieten. Sie verpflichten sich damit, vertraglich sichere
Leistung in Knappheitssituationen bereitzustellen. Der     Beide Ansätze können Versorgungssicherheit
staatliche Regelungsbedarf umfasst in diesem System
                                                           gewährleisten
insbesondere die Festlegung von Strafen für Versorger
und Erzeuger. Der Versorger muss eine Strafe zahlen,       Grundsätzlich könnte sowohl ein adäquat ausgestal-
wenn im Knappheitsfall mehr Strom als durch VSN ab-        teter Kapazitätsmarkt als auch eine richtig dimensio-
gesichert entnommen wird. Der Erzeuger muss eine           nierte Strategische Reserve Versorgungssicherheit im
Strafe zahlen, wenn er im Knappheitsfall weniger Strom     Erzeugungsbereich gewährleisten. Allerdings kommt
als durch VSN zugesagt anbietet. Die Knappheitssitua­      es in beiden Fällen auf die Details der Ausgestaltung
tion wird durch eine kritische Höhe des Strompreises       und Umsetzung an. Zunächst einmal muss eine re-
an der Börse (day ahead, EPEX Clearing Preis) definiert    gulatorische Entscheidung zur Kapazitätsvorhaltung
(Auslösungspreis). Die zentralen Steuerungsgrößen be-      getroffen werden. Bei Kapazitätsmärkten kann die
stehen somit nicht aus vorgegebenen Kapazitätsmen-         Kapazitätsplanung fehlerhaft sein; dabei könnte das
gen, sondern aus festgelegten Strafen für die Nichtein-    Niveau sowohl zu niedrig liegen (Versorgungssicher-
haltung der VSN-Verpflichtungen.                           heit nicht gewährleistet) oder zu hoch (Überkapazitä-
                                                           ten); in der Praxis dürfte letzteres wahrscheinlicher
Bei diesem Konzept besteht die Gefahr, dass Synergien      sein. Es entstehen auch Anreize für starke Lobby-Ein-
eines integrierten Strommarktes verloren gehen: Die        f lüsse. Bei der Strategischen Reserve besteht grund-
Lastspitzen einzelner Marktteilnehmer treten nicht zum     sätzlich ebenfalls das Risiko einer in die eine oder an-
gleichen Zeitpunkt auf, so dass die Gesamtnachfra-         dere Richtung fehlerhaft bestimmten Reservekapazi-
ge eine geringere Spitzenlast aufweist als die Summe       tät. Allerdings dürfte eine Überschätzung des Bedarfs
der Spitzenlast der einzelnen Nachfragegruppen. So-        im Vergleich zum Kapazitätsmarkt zu geringeren Kos-
mit würde über VSN mehr Kapazität bereitgestellt, als      ten führen, da sie nur einen bestimmten Teil des Kraft-
eigentlich benötigt.                                       werksparks betrifft.

Zur Überwachung des Systems sollen ein zentrales Re-       Darüber hinaus sollte eine ausreichende Dauer der Ver-
gister sowie Verfahren zur Prüfung der Eignung und         träge im Kapazitätsmechanismus gewährleistet wer-
Pflichteinhaltung der Anbieter und Nachfrager von VSN      den. Eine zu kurzfristige Orientierung reduziert den
eingeführt werden. Auf eine Differenzierung nach Tech-     Wert der Kapazitätszahlungen für Investoren, da ver-
nologien wird verzichtet. Damit werden Windfall-Pro-       traglich nicht gesicherte Einkünfte in zukünftigen Jah-
fits insbesondere für vorhandene Grundlastkraftwer-        ren stark diskontiert werden und unklar ist, welche re-
ke, bewusst in Kauf genommen. Die Finanzierung des         gulatorischen Entwicklungen zu erwarten sind. Bei
Systems erfolgt durch die Einpreisung in Endkunden-        dezentralen Lösungsansätzen sind allerdings länger-
produkte.                                                  fristige Vertragsbindungen – insbesondere nach den
                                                           Insolvenzen einiger Versorger – mit großen Risiken
Solange gesicherte Erzeugungsleistung noch nicht           verbunden. Somit stellt sich die Frage, welche Vortei-
knapp ist, würde sich kein oder nur ein sehr geringer      le solche dezentralen Ansätze für Investitionsentschei-
Preis für Versorgungssicherheitsnachweise ergeben; für     dungen bieten können.
die Aktivierung dieses Konzepts ist noch kein konkre-
ter Zeitpunkt vorgeschlagen worden.                        Bei der Strategischen Reserve ist die Vertragsdauer kein
                                                           so entscheidender Faktor. Es muss jedoch gewährleis-
                                                           tet sein, dass Kraftwerke, die in die Strategische Reser-
Kapazitätsmarkt und Strategische Reserve                   ve aufgenommen werden, nicht mehr in den norma-
entfalten unterschiedliche Wirkungen                       len Energiemarkt zurückkehren. Sonst würde für In-
                                                           vestoren im normalen Energiemarkt das Risiko eines
Die derzeit diskutierten Kapazitätsmechanismen las-        zusätzlichen Angebotes und damit eines geringeren
sen sich in zwei grundsätzliche Konzepte unterschie-       Preises in zukünftigen Jahren bestehen. Aus heutiger
den. Die Strategische Reserve beschränkt sich auf einen    Sicht ist unklar, inwiefern eine solche no-way-back-
speziellen Pool von Kraftwerken, der getrennt finan-       Regelung für alle Marktteilnehmer glaubwürdig ist,
ziert und eingesetzt wird, während die anderen Kapa-       insbesondere im Fall von Neuanlagen. Bei der Ausge-
zitätsmechanismen allen Kraftwerken mit gesicherter        staltung einer Strategischen Reserve muss zudem be-
Leistung einen zusätzlichen Einnahmestrom ermögli-         stimmt werden, ab welcher Höhe des Spotmarktprei-
chen (im Fall des Fokussierten Kapazitätsmarktes für       ses die Strategische Reserve im Markt zur Verfügung
einen Großteil der Gesamtkapazitäten). Allerdings kön-     gestellt wird (Kasten).

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                          11
Strategische Reserve

                  Kasten

                  Festlegung des Auslösungspreises der Strategischen Reserve

                  In den konkreten Vorschlägen für Deutschland wird meist              und zusätzlich Deckungsbeiträge für Fixkosten von Maßnah-
                  davon ausgegangen, dass die Strategische Reserve erst mit            men zur Nachfrageflexibilität ermöglichen. Der Auslösungs-
                  Erreichen der Preisobergrenze des Spotmarktes ausgelöst wird.        preis sollte somit deutlich über 400 Euro je MWh liegen.
                  Diese Obergrenze liegt an der EEX bei 3 000 Euro je MWh.
                  Wenn nach weiterem Zuwachs der erneuerbaren Energien                 Zweitens sollten Deckungsbeiträge für Spitzenlast-Kraft-
                  die Kapazitätsherausforderung nicht mehr nur aus einzelnen           werke auf dem Energiemarkt hoch genug sein, um (Re-)
                  Spitzenlaststunden, sondern möglicherweise auch aus mehr-            Investitionen zu ermöglichen. Diese entstehen in Stunden, in
                  tägigen Knappheiten besteht (kalte, windstille Winterwoche),         denen der Strompreis entweder durch Nachfrageflexiblität
                  dann könnte die Strategische Reserve häufiger und länger zum         oder durch die Strategische Reserve gesetzt wird. Da in vielen
                  Einsatz kommen. Ein sehr hoher Auslösungspreis der Strategi-         US-Strommärkten die eigentlichen Preisobergrenzen zur Zeit
                  schen Reserve wäre dann mit höheren Kosten für Stromkunden           noch unterhalb von 800 Euro je MWh liegen (zum Beispiel
                  verbunden. Dies könnte die politische Akzeptanz schwächen.           750 US-Dollar je MWh im Kalifornischen Markt), kann davon
                  Deshalb sollte der Auslösungspreis der Strategischen Reserve         ausgegangen werden, dass – wenn auch von leicht anderen
                  unterhalb der Preisobergrenze von 3 000 Euro je MWh liegen.          Kostenstrukturen auszugehen ist – ein Auslösungspreis für die
                                                                                       Strategische Reserve zwischen 800 und 1 500 Euro je MWh
                  Für die konkrete Festlegung des Auslösungspreises der Strategi-      Wirtschaftlichkeit für jegliche Betreiber gewährleistet. Eine
                  schen Reserve sind mehrere Faktoren relevant, deren genauere         andere Studie hat Auslösungspreise von 1 000 und 1 780 Euro
                  Abschätzungen eine wichtige Rolle in der zukünftigen Debatte         je MWh angenommen und zeigt zum Beispiel, dass für den
                  zukommen wird. Daher wird derzeit von einer möglichen                letzteren Auslösungspreis im Jahr 2020 die Strategische Re-
                  Spanne von etwa 500 bis 1 500 Euro je MWh ausgegangen.               serve mindestens 26 Stunden im Jahr eingesetzt werden muss,
                  Die untere Grenze dieser Spanne ergibt sich aus zwei Über-           damit sich Spitzenlastkraftwerke rentieren. 2 Für unsere Be-
                  legungen. Erstens, sollte der Auslösungspreis der Strategischen      rechnungen sind wir von einem Auslösungspreis von 800 Euro
                  Reserve nicht die variablen Kosten der Nachfrageflexibilität         je MWh ausgegangen. 3
                  unterschreiten (in der Regel geschätzt auf 400 Euro je MWh)1

                  1 Vgl. Verordnung zu abschaltbaren Lasten (AbZaV) vom 28. Dezember   2   Vgl. EWI (2012), a. a. O..
                  2012.                                                                3   Vgl. Beitrag von Kemfert, C., Traber, T. in diesem Wochenbericht.

               Strategische Reserve verringert                                         Bei der Umsetzung von umfassenden Kapazitätsmecha-
               Investitionsrisiken                                                     nismen hat sich oftmals eine große Komplexität gezeigt.
                                                                                       Die US-Erfahrungen deuten auf häufige zu erwartende
               Während Kapazitätsmärkte einen Teil der Investitions-                   Veränderungen bei der Ausgestaltung mit entsprechend
               risiken über die kurzfristig stabilen Kapazitätszahlun-                 negativen Auswirkungen auf Investitionssicherheit hin.
               gen aus dem Markt nehmen, bleiben Risiken in Bezug
               auf Einnahmen durch den eigentlichen Stromhandel.                       Dazu im Vergleich bietet die Strategische Reserve Vor-
               Gerade die Kompatibilität von Kapazitätsmärkten mit                     teile, da Kapazitätszahlungen auf Kraftwerke beschränkt
               bilateralen und an der Strombörse handelbaren Strom-                    sind, die nur in Ausnahmesituationen zum Einsatz kom-
               lieferverträgen ist kritisch zu sehen, da zukünftige Ka-                men und am eigentlichen Strommarkt nicht teilneh-
               pazitätszahlungen über eine Ausschreibungsperiode                       men. Somit nimmt die Strategische Reserve kaum Ein-
               hinaus für Investoren nur schwer abzuschätzen sind.                     fluss auf existierende Vertragsstrukturen und Investi-
               Damit ist auch das korrekte Risiko-Management für                       tionsabsicherungen für die Mehrheit der Kraftwerke.
               bilaterale Verträge unbestimmt, die zusätzlich zum                      Zusätzlich bietet die strategische Reserve die Option,
               Kapazitätsvertrag vorteilhaft gezeichnet werden könn-                   Ausfall-Risiken aus dem Spotmarkt und aus Lieferver-
               ten. So besteht die Gefahr, dass Kapazitätsmärkte die                   trägen zu nehmen, wenn mit der Strategischen Reser-
               Volumen für mittel- und längerfristige Lieferverträ-                    ve die Preisobergrenze im Markt faktisch gesetzt wird.
               ge reduzieren und somit individuelle Strategien zur
               Risikoabsicherungen von Investitionen erschweren.
               Wichtige Preissignale solcher Lieferverträge werden
               so unterdrückt.

12                                                                                                                                  DIW Wochenbericht Nr. 48.2013
Strategische Reserve

Verteilungswirkungen der Strategischen Reserve                         Abbildung 2

gering
                                                                       Stündliche Änderungen der Residuallast
Von der Einführung der vorgeschlagenen Mechanismen                     In Gigawatt
sind stark unterschiedliche und zum Teil erhebliche Ver-                25
teilungswirkungen auf Verbraucher und Kraftwerksbe-                             +21,9
                                                                        20
treiber zu erwarten. Modellrechnungen zeigen,18 dass                                      2032
                                                                        15
die Einführung eines umfassenden Kapazitätsmarktes
                                                                                  +11,4
die deutschen Stromverbraucher im Jahr 2020 in Höhe                     10
                                                                                               2022
von knapp vier Milliarden Euro belastet, während die Be-                 5
treiber konventioneller Stromerzeugungsanlagen durch                     0
                                                                                                                                                                      –7,2
zusätzliche Gewinne in Höhe von etwa einer Milliarde                           2010
                                                                         -5
Euro begünstigt werden.
                                                                        -10

Diese Wirkungen beruhen für Verbraucher und Erzeuger                    -15

jeweils auf zwei Effekten. Einerseits führt die durch einen             -20
umfassenden Kapazitätsmarkt ausgelöste zusätzliche Be-                  -25
                                                                                                                                                                   –26,5
reitstellung von Kapazitäten zu einem Preisrückgang an                  -30
der Strombörse, für den hier ein Durchschnittswert im
                                                                              0         1000     2000      3000       4000      5000      6000       7000      8000
Jahr 2020 von 0,32 Cent pro kWh berechnet wurde und
                                                                                                                        Stunden
der die Erzeuger belastet und die Verbraucher tenden­ziell
entlastet.19 Andererseits erhalten die Erzeuger zusätz­                1 Als Residuallast wird der Stromverbrauch bezeichnet, der nach Abzug der Einspeisung erneuerbarer
                                                                       Energien noch zu decken ist. Bei verstärkter Nutzung fluktuierender erneuerbarer Energien steigen auch
liche Einnahmen durch die im Kapazitätsmarkt ermittel-                 die Schwankungen der Residuallast. Der größte Anstieg der Residuallast von einer Stunde auf die nächste
ten Kapazitätszahlungen, die durch die Erhebung einer                  beträgt im Jahr 2032 21,9 Gigawatt, der größte Rückgang zwischen zwei Stunden 26,5 Gigawatt. Für das
                                                                       Jahr 2010 sind historische Daten dargestellt, für 2022 und 2032 die Ergebnisse von Simulationen, die auf
verbrauchsbezogenen Abgabe in Höhe von rund einem                      Schill, W.-P. (2013), a. a. O. beruhen.
Cent pro kWh von den Verbrauchern zu finanzieren ist.
                                                                       Quelle: Berechnungen des DIW Berlin.
                                                                                                                                                                  © DIW Berlin 2013
Für eine kleine Strategische Reserve mit einem Auslö-
sungspreis von 800 Euro je MWh ergibt sich in der Mo-                  Die stündlichen Änderugen der Residuallast nehmen künftig stark zu.
dellrechnung ein Bedarf von 3,6 Gigawatt für das Jahr
2020. Werden diese im Rahmen der Reserve vorgehal-
tenen Kapazitäten lediglich ab einem Strompreis von                    Bei steigenden Anteilen der Wind- und Solarenergie
800 Euro pro MWh eingesetzt, ergibt sich eine Reduk-                   vergrößern sich die stündlichen Änderungen der so-
tion der Erlöse von Anlagen außerhalb der Reserve um                   genannten Residuallast, die durch konventionelle Anla-
rund 14 Millionen Euro im Jahr 2020. Für die Stromver-                 gen bedient werden muss. Abbildung 2 zeigt die stünd-
braucher entstehen dabei im Zusammenspiel von Groß-                    lichen Änderungen der Residuallast (Gradienten), die
handelspreisbegrenzung und einer benötigten Abgabe                     in den Szenarien B 2022 und B 2032 des Netzentwick-
zur Finanzierung von 0,013 Cent pro kWh Belastungen                    lungsplans auftreten würden.20 Demnach müssten im
von knapp 100 Millionen Euro jährlich.                                 Extremfall im Jahr 2032 erzeugungs- oder nachfrage-
                                                                       seitige Kapazitäten bereitstehen, um einen Anstieg der
Strategische Reserve setzt Anreize                                     zu deckenden residualen Last von einer Stunde auf die
                                                                       nächste von 22 Gigawatt auszugleichen. Genauso sinkt
für Flexibilität
                                                                       der minimale Gradient deutlich von –7 auf fast –27 Gi-
Im Kontext der Energiewende steigen die Anforderun-                    gawatt zwischen 2010 und 2032.
gen an die Flexibilität des Stromsystems. Grund hier-
für sind die Einspeisecharakteristika von Windkraft und                Dieser durch den Ausbau erneuerbarer Energien erhöhte
Photovoltaik, die in Zukunft große Anteile der Stromer-                Flexibilitätsbedarf kann perspektivisch auf vielerlei Wei-
zeugung ausmachen werden. Deshalb ist danach zu fra-                   se gedeckt werden.21 Dazu gehören unterschiedliche Ar-
gen, wie sich die verschiedenen Kapazitätsmechanis-                    ten von Stromspeichern, die Flexibilisierung der Nach-
men auf die Wirtschaftlichkeit unterschiedlicher Fle-                  frageseite sowie die bedarfsgerechte beziehungsweise
xibilitätsoptionen auswirken.                                          strommarktgeführte Stromerzeugung in thermischen
                                                                       Kraftwerken. Auch die temporäre Abregelung oder ge-

18 Vgl. Beitrag von Kemfert, C., Traber, T. in diesem Wochenbericht.   20 Die Berechnungen basieren auf Schill, W.-P. (2013), a. a. O.
19 Dies setzt allerdings voraus, dass die Strompreisrückgänge an die   21 Plattform Erneuerbare Energien (2013): Bericht an die Bundeskanzlerin
Verbraucher weitergereicht werden.                                     und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder.

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                                                                                     13
Strategische Reserve

               drosselte Fahrweise variabler erneuerbarer Energien                                  Letztendlich besteht im Rahmen eines Kapazitätsmarkts
               kann einen Flexibilitätsbeitrag leisten. Darüber hin­                                die Gefahr, dass Investitionen und Betrieb von Flexibi-
               aus werden neue, steuerbare Verbraucher im Wärme-                                    litätsoptionen im Hinblick auf eine bestimmte Regulie-
               oder Verkehrsbereich sowie die Erzeugung chemischer                                  rung optimiert werden, nicht auf den größten System-
               Energieträger unter den Stichworten Power-to-­Heat,                                  nutzen. Ein systemoptimierter Einsatz könnte dagegen
               ­Power-to-Mobility und Power-to-Gas diskutiert. Nicht                                besser durch möglichst unverzerrte Spotmarktpreise an-
                zuletzt kann auch der Ausbau und die Optimierung von                                gereizt werden, die sich bei einer Strategischen Reser-
                Stromnetzen als Flexibilitätsoption betrachtet werden.                              ve einstellen sollten.

               Aus heutiger Sicht ist unklar, wie hoch der genaue Flexi-                            Strategische Reserve tendenziell kompatibler
               bilitätsbedarf des zukünftigen Stromsystems sein wird,
                                                                                                    mit dem EU-Binnenmarkt
               und welcher Mix unterschiedlicher Flexibilitätsoptionen
               optimal wäre. Vor diesem Hintergrund erscheint es vor-                               In ihren Leitlinien vom November dieses Jahres hat die
               teilhaft, die Akteure möglichst unverzerrten Marktprei-                              Europäische Kommission mehrere Punkte möglicher
               sen auszusetzen, die den Wert von Flexibilität in allen                              Verzerrungen des gemeinsamen europäischen Energie-
               relevanten Marktsegmenten angemessen widerspiegeln.                                  marktes durch Kapazitätsmechanismen identifiziert.23
               Dabei ist zu bedenken, dass beispielsweise Stromspei-                                Es zeigt sich, dass das Risiko von Marktverzerrungen
               cher und Maßnahmen zur Lastflexibilisierung grund-                                   im europaweiten Stromhandel bei einer Strategischen
               sätzlich von großen Preisspreizungen zwischen Perio-                                 Reserve als geringer anzusehen ist. Die Verlagerung
               den der Stromaufnahme und -abgabe profitieren.                                       von Einnahmeströmen vom Energie- in den Kapazitäts-
                                                                                                    markt bei umfassenden Kapazitätsmechanismen ver-
               Vor diesem Hintergrund ist die Wirkung unterschied-                                  zerrt die Funktion des Energiepreises bei der interna-
               licher Kapazitätsmechanismen auf die Spotpreise von                                  tionalen Koordination von Betriebs- und Investitions-
               großer Bedeutung für die Wirtschaftlichkeit von Flexi-                               entscheidungen. Zusätzlich ist ungeklärt, in welchem
               bilitätsoptionen. Die Schaffung eines Kapazitätsmarkts                               Umfang und zu welchen Zeiten Kosten für einen um-
               führt im Allgemeinen zu einer Dämpfung von Preis-                                    fassenden Kapazitätsmechanismus auch auf exportier-
               spitzen, da Knappheitspreise durch separate Kapazitäts-                              te Energiemengen umgelegt werden und welche Verzer-
               zahlungen reduziert werden. Die Strategische Reserve                                 rungen dadurch für den Handel entstehen.
               wäre wegen ihrer geringeren Verzerrungen des Preis-
               signals insofern zu bevorzugen.22                                                    Die Strategische Reserve ist hier allein wegen ihrer ge-
                                                                                                    ringeren Kosten und somit auch geringeren Marktver-
               Grundsätzlich wäre es möglich, dass Flexibilitätsoptio­                              zerrungen kompatibler mit einem gemeinsamen eu-
               nen im Rahmen eines Kapazitätsmarktes an der Leis-                                   ropäischen Strombinnenmarkt. Nicht zuletzt steigt
               tungsvergütung partizipieren und somit die Dämpfung                                  die Komplexität des EU-Stromhandels deutlich, wenn
               der Spitzenpreise durch einen anderen Erlösstrom kom-                                EU-Mitgliedsländer jeweils unterschiedliche Mecha-
               pensieren. Dies setzt jedoch voraus, dass die Bedingun-                              nismen einführen und somit auch Investitionsrisiken
               gen für die Teilnahme am Kapazitätsmarkt (Präquali-                                  und Transaktionskosten für Investoren erhöhen. Eine
               fikation) unterschiedliche Flexibilitätsoptionen nicht                               Lösung wäre ein EU-weit harmonisierter Kapazitäts-
               diskriminieren. Dies könnte gegebenenfalls durch eine                                markt – jedoch wird ein solch koordinierter Ansatz von
               hinreichende Differenzierung der Präqualifikationsre-                                allen Beteiligten bisher als unwahrscheinlich angese-
               geln erreicht werden. In der Praxis dürfte die Festlegung                            hen. Bei Strategischen Reserven ist die Koordination
               entsprechender technischer Spezifikationen eine gro-                                 hingegen einfacher.
               ße Herausforderung für die Ausgestaltung der Regulie-
               rung sein. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund                                Fazit
               möglicher Innovationen bei unterschiedlichen Flexibi-
               litätsoptionen, die Anpassungen der Präqualifikation                                 Eine wichtige Rolle in der derzeitigen energiepolitischen
               erfordern könnten. Da ein Kapazitätsmarkt möglichst                                  Debatte spielt die Frage, ob der deutsche Strommarkt
               langfristige Investitionssignale geben sollte und eine                               genügend Anreize für Investitionen in Kraftwerke und
               lange Vorlaufdauer benötigt, sind derartige Präqualifi-                              deren Verbleiben am Netz bietet und somit ausreichende
               kationsanpassungen kritisch zu bewerten.                                             Versorgungssicherheit gewährleisten kann. Vorschläge,
                                                                                                    die Energieversorgung weiter abzusichern, beinhalten
                                                                                                    zum Teil umfassende Zahlungen an die Kraftwerksbe-
               22 Vergleiche BMU, BDEW, BEE u.a. (2013): Märkte stärken, Versorgung                 treiber – parallel zu Energieerlösen und basierend auf
               sichern. Konzept für die Umsetzung einer Strategischen Reserve in Deutschland.
               Ergebnisbericht des Fachdialogs „Strategische Reserve“; sowie Nicolosi, M. (2012):
               Notwendigkeit und Ausgestaltungsmöglichkeiten eines Kapazitätsmechanismus            23 EU-Kommunikation vom 5. November 2013: „Vollendung des Elektrizitäts-
               für Deutschland. Zwischenbericht, Berlin, erstellt für das Umweltbundesamt.          binnenmarktes und optimale Nutzung staatlicher Intervention.“

14                                                                                                                                            DIW Wochenbericht Nr. 48.2013
Strategische Reserve

der bereitgehaltenen Erzeugungskapazität (Kapazitäts-                          kungen, ihre faktische Irreversibilität sowie tendenziell
märkte). Andere Vorschläge empfehlen die Vorhaltung                            negative Auswirkungen auf Investitionen in erneuerba-
einzelner Kraftwerke, die nur bei Knappheit und hohen                          re Energien und Flexibilitätsoptionen.
Preisen zum Einsatz kommen (Strategische Reserve). In
der vorliegenden Studie wird untersucht, welche Fakto-                         Eine Strategische Reserve dagegen ist einfacher auszuge-
ren zu fehlenden Investitionsanreizen führen könnten                           stalten, bringt geringere Verteilungswirkungen mit sich
und wie ihnen entgegengewirkt werden kann. Es zeigt                            und stärkt den Spotmarkt, was tendenziell die Anreize
sich, dass eine Strategische Reserve zur Absicherung                           für Investitionen in zukünftig verstärkt erforderliche Fle-
der Energieversorgung ausreicht.                                               xibilitätsoptionen erhöht. Eine adäquat ausgestaltete Stra-
                                                                               tegische Reserve könnte sich eventuell – wenn sich Spei-
Im Hinblick auf künftige Investitionen in Kraftwerke                           cher und Nachfrageflexibilität nicht ausreichend entwi-
ist insbesondere noch unklar, ob die Flexibilisierung                          ckeln – auch längerfristig als eine effektive Möglichkeit
des Stromsystems (Nachfrage, Speicher etc.) zu einer                           zur Absicherung des Strommarktes erweisen. Die Stra-
ausreichenden Nachfrageelastizität führt, um mit den                           tegische Reserve ist eine robuste Lösung, die in Abhän-
verschiedenen Unsicherheitsfaktoren wie Kraftwerks-                            gigkeit von künftigen Konstellationen am Strommarkt
bau und Stilllegung umgehen zu können. Als Vorsor-                             revidiert, erweitert oder ergänzt werden kann.
ge sollte eine Strategische Reserve eingeführt werden,
die nach dem Auslaufen der Netzreserve im Jahr 2017                            Zusätzlich stellt sich die Frage, ob private Unternehmen
wirksam wird. Sie müsste allerdings schon mit einigen                          Kraftwerke vorübergehend stilllegen und bis 2022 vor-
Jahren Vorlauf ausgeschrieben werden.                                          halten werden, um dann die vorhersagbare Kapazitäts-
                                                                               reduktion durch den Atomausstieg abzufangen. Deswe-
Dabei unterscheidet sich die Strategische Reserve von                          gen wäre zu prüfen, ob solche Kraftwerke bis 2022 in
der Netzreserve auch im Kriterium, nach dem die Kraft-                         einer Übergangsreserve als vor­übergehend stillgelegt
werke in der Reserve abgerufen werden. Die Strategi-                           vorgehalten werden sollten. Damit könnten Unsicher-
sche Reserve kann erst ab einem klar definierten (ho-                          heiten über die im Jahr 2023 verfügbaren Kapazitäten
hen) Preis eingesetzt werden und soll damit Verzerrun-                         zu geringen Kosten gemindert werden.
gen im Energiemarkt vermeiden. Im Gegensatz dazu
wird die Netzreserve unabhängig vom Strommarktpreis                            Regionale Erzeugungsknappheiten ergeben sich ak-
abgerufen, sobald Netzengpässe auftreten.                                      tuell durch Engpässe in den Übertragungsnetzen, die
                                                                               sich nicht im Strompreis widerspiegeln. Hierfür gibt es
Von der Schaffung eines Kapazitätsmarkts für Kraftwer-                         bis 2017 die Netzreserve, mit der Kraftwerke für Süd-
ke, die auch am Strommarkt teilnehmen, sollte abgese-                          deutschland vorgehalten werden. Allerdings ergeben sich
hen werden. Gründe hierfür sind die aus heutiger Sicht                         dabei Verzerrungen der Anreize für Betrieb und Investi-
unklaren und komplexen Ausgestaltungsdetails von Ka-                           tion. Die Netzprobleme müssen letztlich durch den Netz-
pazitätsmärkten, ihre potenziell hohen Verteilungswir-                         ausbau und mit regionaler Bepreisung behoben werden.

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |          Wolf-Peter Schill ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Energie,
­kneuhoff@diw.de                                                               Verkehr, Umwelt am DIW Berlin | wschill@diw.de
Jochen Diekmann ist stellvertretender Leiter der Abteilung Energie, Verkehr,   Sebastian Schwenen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung
Umwelt am DIW Berlin | jdiekmann@diw.de                                        ­Klimapolitik am DIW Berlin | sschwenen@diw.de

Strategic Reserve to Secure Electricit y Market

Abstract: There is an ongoing discussion about whether the                     suggestions are to keep individual power plants available
German electricity market offers sufficient incentives for                     that are used only during times of scarcity and high prices
investment in power plants and for keeping them connected                      (“strategic reserve”). The present article analyzes the various
to the grid, thus ensuring sufficient security of supply.                      reasons that could lead to a lack of incentives for investment
Recommendations for further securing power supply include                      and the extent to which they legitimize employing capacity
payments, some of them comprehensive, to power plant                           mechanisms or require other approaches. It is concluded
­operators — in addition to energy revenues and based on
                                                                               that a strategic reserve would suffice for securing generation
their generating capacity (“capacity mechanisms”). Other                       adequacy, and finally, design options are discussed.

JEL: D47, L51, Q48
Keywords: capacity mechanism, missing money, strategic reserve, Germany,
renewable energy

DIW Wochenbericht Nr. 48.2013                                                                                                                                   15
Sie können auch lesen