Suche nach dem skalaren Higgs-Boson mit dem ATLAS Experiment am LHC Beschleuniger - Bachelorarbeit Jan Fokken

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Suche nach dem skalaren Higgs-Boson mit dem ATLAS Experiment am LHC Beschleuniger - Bachelorarbeit Jan Fokken
Suche nach dem skalaren Higgs-Boson mit
   dem ATLAS Experiment am LHC
             Beschleuniger

                Bachelorarbeit
                  im Fach Physik
                         von

                  Jan Fokken
                          aus

                   Frankfurt am Main

             II. Physikalisches Institut
          Justus-Liebig-Universität Gießen

                      Juli 2008
Suche nach dem skalaren Higgs-Boson mit dem ATLAS Experiment am LHC Beschleuniger - Bachelorarbeit Jan Fokken
Inhaltsverzeichnis

 1   Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     4
     1.1     Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       4
     1.2     Grundzüge des Higgs-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            4
 2   Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        5
     2.1     Lagrange-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         5
     2.2     Symmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       6
     2.3     Spezielle unitäre Gruppen SU(N) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          6
     2.4     Globale und lokale Eichinvarianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         7
     2.5     Spontane Symmetriebrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           8
     2.6     Goldstone-Bosonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        10
     2.7     Einfache Form des Higgsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             11
     2.8     Higgsmechanismus im Standardmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             13
     2.9     Kopplung des Higgsteilchens an andere Elementarteilchen . . . . . . . . .              14
     2.10    Wirkungsquerschnitte und Verzweigungsverhältnisse . . . . . . . . . . . .              16
     2.11    Bisherige Ergebnisse vom LEP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           18
 3   Der ATLAS Detektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         21
     3.1     Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       21
     3.2     Higgssuche am ATLAS Detektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             24
 4   Simulationssetup . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       24
     4.1     H . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      26
     4.2     ZZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     27
     4.3     tt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   27
     4.4     Zbb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      27
     4.5     Simulation des Auflösungsvermögen von ATLAS . . . . . . . . . . . . . .                27
 5   Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      29
     5.1     Ereignisselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      29
             5.1.1     Detektorakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        29
             5.1.2     Level 1 Trigger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      30
             5.1.3     Event Preselection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       30
             5.1.4     Lepton-Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       30

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Inhaltsverzeichnis

           5.1.5     Vertex Filter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     31
           5.1.6     ZZ-Massenschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        31
           5.1.7     Higgs-Massenschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       32
    5.2    Filtereffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   32
    5.3    Untergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      33
           5.3.1     reduzibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     33
           5.3.2     irreduzibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     36
    5.4    Einfluss der Detektorauflösung auf das Signal . . . . . . . . . . . . . . . .         39
    5.5    Exemplarische Signifikanzplots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        40
    5.6    Signifikanzberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       44
6   Systematische Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       46
    6.1    Theoretische Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       46
    6.2    Unsicherheiten der Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       46
7   Zusammenfassung      . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   47
A   Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     49
    A1     Filtereffizienz in logarithmischer Skalierung . . . . . . . . . . . . . . . . .       49
    A2     Beitrag des tt-Untergrundes zur theoretischen Signifikanz . . . . . . . . .           49
    A3     Fitparameter für die ZZ-Untergrund-Parametrisierung . . . . . . . . . . .             50
    A4     prozentualer Vergleich verschiedener Leptoneneigenschaften . . . . . . . .            51

                                             3
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1. Einleitung

1 Einleitung

1.1 Motivation

Schon seit Beginn des naturwissenschaftlichen Strebens war eines der großen Ziele ebensolcher
Forschung herauszufinden, woraus die Welt auf elementarer Ebene besteht. Aus heutiger Sicht
stellen die Ergebnisse der Elementarteilchenphysik den Fortschritt auf diesem Gebiet dar.
Das Standardmodell der Elementarteilchen beschreibt nach aktuellem Kenntnisstand einen Groß-
teil der ”Grundbausteine” des Universums. Mit Hilfe dieses Modells wird die im Universum
vorhandene Materie, sowie drei der vier fundamentalen Wechselwirkungen beschrieben: die elek-
tromagnetische, schwache und starke Wechselwirkung. Die Vorhersagen dieser Theorie weisen
eine so gute Übereinstimmung mit den experimentellen Befunden auf, dass sie heute eine der am
Besten bestätigten physikalischen Theorien ist.
Ein gravierendes Problem ist jedoch, dass sie fordert, dass alle in ihr beschriebenen Elementarteil-
chen keine Masse haben dürfen. Diese Vorhersage liegt im radikalen Gegensatz zur beobachteten
Realität.
Um dieses Problem zu lösen und nicht auf diese, in anderen Punkten hervorragende Theorie
verzichten zu müssen, wurde 1964 von Peter Higgs der so genannte ”Higgsmechanismus” erdacht.
Grundsätzlich werden bestimmte mathematische Tricks ausgenutzt, um den bis dato masselo-
sen Elementarteilchen sozusagen im Nachhinein eine Masse aufzuprägen und so die Theorie des
Standardmodells mit der Realität in Einklang zu bringen.
Seit nunmehr 20 Jahren arbeiten Physiker weltweit an der Entwicklung des ”Large Hadron Colli-
der” (LHC), mit dem es möglich werden soll genau diese Theorie zu überprüfen. Ein Teilsystem
dieses enormen Experiments stellt der ATLAS Detektor dar. Es besteht die Hoffnung, dass un-
ter anderem mit seiner Hilfe die Theorie von Peter Higgs über das theoretisch vorhergesagte
”Higgs-Teilchen” bestätigt werden kann.

1.2 Grundzüge des Higgs-Mechanismus

Wie schon in Abschnitt 1.1 erwähnt haben alle Elementarteilchen des Standardmodells keine
Ruhemasse, was im krassen Gegensatz zur beobachteten Realität steht. Es wird also ein System
benötigt, welches den Teilchen (Quarks, Leptonen und den Austauschteilchen der schwachen
Wechselwirkung) nachträglich die jeweilige Ruhemasse zuordnet. Peter Higgs Idee war nun prin-
zipiell folgende:
Wenn man sich vorstellt, dass es im Universum ein universell existentes, regelmäßiges Hinter-
grundfeld gibt, mit welchem bestimmte Elementarteilchen wechselwirken und andere wiederum
nicht, so sind die Voraussetzungen geschaffen den Elementarteilchen selektiv Massen zu geben.

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2. Theoretische Grundlagen

Die einzelnen Massen der Teilchen resultieren dann aus der verschieden starken Wechselwirkung
derselben mit dem Hintergrundfeld.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Lagrange-Formalismus

In der klassischen Mechanik lassen sich physikalische Probleme durch die Bewegungsgleichun-
gen des jeweiligen Systems beschreiben. Diese lassen sich zum Beispiel mit Hilfe des Lagrange-
Formalismus produzieren, in welchen die kinetische Energie T und die potentielle Energie V
eingehen. Werden in diesem Zusammenhang Probleme betrachtet, die in Nähe des Potentialmi-
nimums ri0 liegen, so kann eine Taylorentwicklung des allgemeinen Potentials V (ri ) um dieses
Minimum durchgeführt werden:

                                             X 1 ∂nV      ¯
                                                          ¯
                                   V (ri ) =              ¯         (ri − ri0 )n                         (2.1)
                                               n! ∂rni    ¯
                                             n                ri0

Wobei hier sowohl der Term zu n = 0 Null gesetzt werden kann (Verschiebung bzw. Eichung
des Potentials), als auch der Term n = 1, da die erste Ableitung im Minimum einer Funktion
verschwindet. Eine geeignete Wahl des Koordinatensystems (ri0 = 0) führt zu:
                                      ¯                   ¯                        ¯
                             1 ∂ 2 V ¯¯     2   1 ∂3V     ¯             4
                                                          ¯ · r3i + 1 ∂ V
                                                                                   ¯
                                                                                   ¯ · r4i + ...
                   V (ri ) =            · r   +                                                          (2.2)
                             2! ∂r2i ¯0 i       3! ∂r3i   ¯
                                                           0        4! ∂r4i        ¯
                                                                                   0

In einem geeigneten Einheitensystem (c = 1, ~ = 1) kann dem Faktor vor dem Term r2i die
Masse des i-ten Teilchens zum Quadrat zugeordnet werden und Terme höherer Ordnung als
Korrekturterme auffasst werden. Allerdings
                                     ¯       tauchen diese Terme in Feldtheorien für Fermionen
                               1 ∂2V ¯
mit negativem Vorzeichen auf ( 2 ∂r2 ¯ · ri = −m2i · r2i ). Die konstanten Terme höherer Ordnung,
                                          2
                                         i   0
also die Term vor r3i , r4i usw. stellen für kleines ri Korrektur- und (für nicht abelsche Theorien)
Selbstkopplungsterme dar und werden im Folgenden mit g und λ bezeichnet.
Wird ein Potential wie oben in die Lagrange-Gleichung eingesetzt und für die kinetische Energie
                      (pi )2        ~2
die Darstellung T =    2mi     = − 2m i
                                        (4i )2 genutzt, so ergibt sich folgende Bewegungsgleichung:

                                                       g     λ
                                   0 = (42i + m2i )ri + r2i + r3i + ...                                  (2.3)
                                                       2     6

Eine analoge Vorgehensweise führt in der Quantenmechanik zur Bewegungsgleichung für Felder.
Einzig an die Stelle der Koordinaten ri und r˙i treten im Lagrange-Formalismus die Feldvariablen

                                                    5
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2. Theoretische Grundlagen

φi und ∂ µ φi , so dass sich folgende Lagrange-Dichte und Bewegungsgleichung ergibt:

                                 1
                             L = (∂µ φi )† (∂µ φi ) − V (φi )                               (2.4)
                                 2
                                                     g        λ
                             0 = (∂ µ ∂µ +m2 )φi + φ2i + φ3i + ...                          (2.5)
                                  | {z }             2        6
                                    =:¤

2.2 Symmetrien

In vielen physikalischen Phänomenen lassen sich vielfältige unterschiedliche Symmetrien erken-
nen. In der Regel schlagen sich eben jene Symmetrien auch in den Lagrange-Funktionen nieder,
welche das Problem beschreiben. Ist das System (bzw. das Potential des Systems) beispielswei-
se invariant unter Spiegelung an einer Koordinatenachse, so gilt dies auch für die Lagrange-
Funktion.
Ein Ziel der Elementarteilchenphysik ist die einheitliche Beschreibung der fundamentalen Wech-
selwirkungen im Universum, also der starken und schwachen Kernkraft, der elektromagnetischen
Kraft und der Gravitation. Das Standardmodell der Elementarteilchen versucht alle diese Kräfte
außer der Gravitation in einem Modell zu beschreiben.
Hierzu wird die Symmetrie bzw. Invarianz jeder Kraft unter bestimmten Symmetrieoperationen
ausgenutzt. Die wichtigen Symmetrien in diesem Zusammenhang werden mathematisch durch
die ”speziellen unitären Gruppen” n-ter Ordnung (SU(N)) repräsentiert (siehe Abschnitt 2.3).

2.3 Spezielle unitäre Gruppen SU(N)

Die speziellen unitären Transformationen können durch unitäre, spurfreie Matrizen n-ter Dimen-
sion realisiert werden. Eine Transformation sieht wie folgt aus: (φ0 = Un ◦ φ).
Un stellt in diesem Fall die Transformationsmatrix dar und kann jeweils in mindestens n Di-
mensionen aufgeschrieben werden. Das Standardmodell und somit auch der Higgsmechanismus
nutzen eine Verknüpfung der ersten drei SU(N) (also U (1) ⊗ SU (2) ⊗ SU (3)) als Grundlage für
ihre Vorhersagen. Daher werden die einfachsten Realisierungen der SU(N) hier noch mal ange-
sprochen.
Im eindimensionalen Fall (U(1)) ist die Transformation gegeben durch: Û1 = eiϑ . Dies entspricht
also der Drehung eines gegebenen Feldes φ um einen Winkel ϑ. In diesem Fall wird auch noch
direkt deutlich, was mit Invarianz unter U(1) Transformationen gemeint ist, nämlich lediglich die
Invarianz unter Rotationen bezüglich des Ursprungs. Aus formaler Sicht ist eine solche Invarianz
auch leicht zu verstehen. Sie bedeutet, dass die Lagrange-Dichte L(φ) durch einen Variablen-
                £               ¤
wechsel der Art φ → φ0 = φ · eiϑ unverändert bleibt. Dies ist genau dann der Fall, wenn L nur

                                                6
2. Theoretische Grundlagen

von |φ| abhängt, also L = L(φ† φ).

Die SU(2) kann durch die so genannten Pauli-Spin-Matrizen repräsentiert werden.
                                 Ã   !                  Ã    !                         Ã           !
                                  0 1                    0 −i                              1   0
                     τ1 =                    ,   τ2 =                 ,        τ3 =                             (2.6)
                                      1 0                i   0                             0 −1

Welcher räumlichen Symmetrie eine solche Transformation entspricht, ist zwar nicht mehr leicht
verständlich, wohl aber sind die mathematischen Anforderungen an die Lagrange-Dichte produ-
zierbar, die auf eine Invarianz unter SU(2) Transformationen führen.
In der Quantenmechanik werden Übergänge von einem Punkt zu einem anderen durch Rotations-
, bzw. Translationsoperatoren realisiert (z.B. R̂ = eiφl̂z /~ ). Ganz analog wird auch die SU(N)
                                                                          τj
Transformation eingeführt, also im Fall SU(2): Û2 = e−iεj                 2   , wobei εj ein Skalierungsfaktor der
Transformation τj (auch Generator der Gruppe genannt) darstellt. Die Exponentialfunktion mit
Matrizen im Argument ist hier als Reihenentwicklung der Funktion zu verstehen:
                                                 τ                τ                    τ
                          −iεj
                                 τj       (−iεj 2j )1 (−iεj 2j )2 (−iεj 2j )3
                      e           2   =1+            +           +            + ...                             (2.7)
                                             1!          2!          3!

Wird nun die Gesamt-Transformation als Ergebnis von vielen ”kleinen” Transformationen aufge-
                                                             τj
                                                                                  τj
fasst, so lässt sich die Reihe vereinfachen zu: e−iεj         2   = 1 − iεj       2    + O((εj τj )2 ). Demnach muss,
für eine Invarianz unter SU(2) Transformationen, die Lagrangedichte invariant sein unter Varia-
                      £                 τ      ¤
blenwechseln der Art φ → φ0 = (1 − iεj 2j ) · φ . Dies ist, wie schon erwähnt zwar nicht plastisch
vorstellbar, aber mathematisch existiert eine direkte und relativ einfache Bedingung.

Es ist leicht vorstellbar, dass die Darstellung der höheren SU(N) entsprechend komplizierter ist,
weshalb an dieser Stelle zur genaueren Betrachtung auf weitere Literatur verwiesen sei [1], [2].
Im Abschnitt 2.7 und 2.8 wird der Nutzen der hier beschriebenen Symmetrien deutlich, da die
Symmetrieausnutzung ein zentraler Baustein des Higgsmechanismus ist.

2.4 Globale und lokale Eichinvarianz

Neben dem Konzept der Symmetriebetrachtung ist für das Standardmodell die Forderung nach
globaler und lokaler Eichinvarianz von zentraler Bedeutung. Allgemein heißt Eichinvarianz, dass
sich die physikalischen Eigenschaften eines Systems nicht ändern, wenn eine ”Umeichung” des
Systems vorgenommen wird. So wird beispielsweise die Bewegungsgleichung eines harmonischen
Oszillators nicht verändert, wenn er mit, oder ohne ein externes konstantes Potential betrachtet
wird.
In der Elektrodynamik wird dieses grundlegende Konzept dann weitergeführt. Zur Beschreibung
der Elektrodynamik werden ein skalares Potential und ein Vektorpotential benötigt (E = − ∂A
                                                                                         ∂t −

                                                         7
2. Theoretische Grundlagen

5Φ). Aufgrund dieser Verknüpfung der Potentiale mit der physikalisch messbaren Größe E,
wird die Wahl einer geeigneten Eichung nun etwas ”freier”. Die Eichtransformationen (hier mit
der Funktion α) der Elektrodynamik müssen lediglich die folgenden Relationen erfüllen:

                                                A → A0 = A + 5α                                                 (2.8)
                                                                ∂α
                                                Φ → φ0 = Φ −                                                    (2.9)
                                                                ∂t

Wie eingangs erwähnt, spielt im Standardmodell die lokale Eichinvarianz eine besondere Rolle.
Bis jetzt habe ich nur Beispiele erwähnt, in welchen Eichfunktionen das System global verändern.
Das neue Konzept sieht nun vor, dass neben solchen globalen Veränderungen auch ortsabhän-
gige Eichfunktionen zugelassen werden. Realisiert wird diese lokale Eichung im Standardmodell
dadurch, dass die Symmetrieoperatoren ortsabhängig werden (siehe Tabelle 2.1):

Tabelle 2.1: Symmetrieoperatoren der verschiedenen speziellen unitären Gruppen in der Matrix-
             repräsentation im Standardmodell

        SU(N)    globale Eichung                 lokale Eichung                       ”neue” Ableitung
         U(1)    Û1 = eiϑ                       Û1 = eiϑ(r)                         Dµ := ∂µ + ieAµ
                              P
                              3
                                    τ                         P
                                                              3
                                                                                 τj
        SU(2)    Û2 = exp[−i    εj 2j ]         Û2 = exp[−i   εj (r) ·         2]   Dµ := ∂µ + i g2 Ajµ τ j
                                j=1                             j=1
                                P8
                                        λ                       P8                                    0
        SU(3)    Û3 = exp[−i         εi 2j ]    Û3 = exp[−i         εi (r) ·   λi
                                                                                 2]   Dµ := ∂µ + i g2 Ajµ λj
                                i=1                             i=1

Wobei hier wieder τj die Generatoren der SU(2) sind und λi die acht Generatoren der SU(3).
Die τj entsprechen hier den Pauli-Matrizen. Den λi können in der Quanten-Chromo-Dynamik
die Gluonen zugeordnet werden [1], [3]. Wie im Beispiel der Elektrodynamik müssen auch hier
zwei Transformationen stattfinden, um die Eichinvarianz zu gewährleisten. Den Ausgleich des
ersten Transformationsterms (lokale Eichung) übernimmt hier die veränderte Ableitung, so dass
die Eichinvarianz der Gleichung erhalten ist.

2.5 Spontane Symmetriebrechung

Spontaner Symmetriebrechung bedeutet, dass eine global vorhandene Symmetrie dem Grundzu-
stand eines System nicht mehr anzusehen ist. Dieses Phänomen tritt auf, wenn der Grundzustand
entartet ist, also das Minimum des Potentials ”mehrfach” vorhanden ist. Zur Verdeutlichung wird
beispielsweise die Lagrange-Gleichung zum Potential aus Abbildung 2.1 betrachtet, wobei µ und
λ reelle Konstanten sein sollen und φ ein reelles Feld darstellt:

                                                        8
2. Theoretische Grundlagen

                                                       2
                                                                λ2 4
                           Abbildung 2.1: V (φ2 ) = − µ2 φ2 +   4 φ

Dem Potential (2.1), sowie der Lagrange-Gleichung (2.10) kann die Symmetrie bezüglich des
Ursprunges leicht angesehen werden.

                                       1         µ2   λ2
                                 L(φ) = (∂µ φ)2 + φ2 − φ4                                  (2.10)
                                       2         2    4

Im Grundzustand des Problems (im Weiteren ist willkürlich der positive Grundzustand bei
(1, −1/4) gewählt), verschwindet diese Symmetrie des Potentials jedoch. Mathematisch bedeutet
dieser Übergang in den Grundzustand eine Entwicklung der Lagrange-Gleichung um das hier
gewählte Potentialminimum φ0 :

                                    µ
                            φ0 :=         ⇒       φ → φ0 = φ0 + σ                          (2.11)
                                    λ
                                      1                              λ2
                     → L(σ) = φ20 µ2 + (∂µ σ)2 − µ2 σ 2 − φ0 λ2 σ 3 − σ 4                  (2.12)
                              | {z } 2                               4
                                 const.

An Gleichung 2.12 ist die vorhandene globale Symmetrie nicht mehr zu erkennen. Es wird auch
oft von einer ”verborgenen” Symmetrie gesprochen.
In der Natur kommen solche verborgenen Symmetrien in vielfältiger Weise vor. Ein klassisches
Beispiel hierfür ist der Ferromagnetismus. Oberhalb der Curie-Temperatur sind ferromagnetische
Stoffe homogene Körper, die keine innere Struktur aufweisen. Daher sind sie in einem solchen
Fall symmetrisch unter Rotation und Translation, bzw. ihr Erscheinungsbild ist invariant unter
Translations- und Rotationsoperationen.
Kühlt sich der Körper jedoch soweit ab, dass die Curie-Temperatur unterschritten wird, so bil-
den sich plötzlich ”Weißsche Bezirke” aus. Der Körper bekommt so eine innere Struktur und
die ursprünglichen Symmetrien sind nicht mehr erkennbar. Werden jedoch einzelne ”Weißsche
Bezirke” betrachtet, so lässt immer noch eine Zylindersymmetrie erkennen. Die ursprüngliche
Kugelsymmetrie wurde also ”herunter gebrochen”.

                                              9
2. Theoretische Grundlagen

2.6 Goldstone-Bosonen

Im vorhergehenden Abschnitt 2.5 wurde über eine Konsequenz eines entarteten Vakuums bzw.
Grundzustandes gesprochen. Eine weitere Konsequenz ist das Auftreten so genannter Goldstone-
Bosonen. Liegt in einem System eine globale Symmetrie vor, so führt dies im Normalfall zu einer
Erhaltungsgröße. Im Fall eines entarteten Grundzustandes lässt sich jedoch in der Quanten-
mechanik recht leicht zeigen, dass eine aus der Symmetrie resultierende Erhaltungsgröße einen
unendlichen Betrag annehmen würde. Aus der Rechnung folgt, dass zwar keine Erhaltungsgröße
generiert wird, aber dafür masselose Spin-Null-Teilchen - also skalare Bosonen. Es treten im-
mer genauso viele Goldstone-Bosonen auf, wie Symmetrien spontan gebrochen worden sind. Zur
theoretischen Herleitung sei hier auf [1] und [2] verwiesen.
Reale Beispiele für solche Bosonen sind Photonen, oder auch die in Festkörpern auftretenden
Phononen. In beiden Fällen handelt es sich um masselose Teilchen, die über bestimmte Kopp-
lungen an massive ”direkt beobachtbare” Teilchen geknüpft sind. Die masselosen Teilchen sind
in der Theorie aus bestimmten gebrochenen Symmetrien hervorgegangen. Einen kleinen Ein-
blick in die Entstehungsweise der Bosonen liefert eine nochmalige Betrachtung des Potentials
aus Abschnitt 2.5 in zwei Dimensionen (wiederum µ und λ reell in Abbildung 2.2):

                                                         2
                                                                  λ2
                         Abbildung 2.2: V (φ† φ) = − µ2 φ† φ +        † 2
                                                                  4 (φ φ)

Das Feld φ sei nun von zwei Variablen abhängig und kann als komplexes Feld geschrieben werden.
Im Potential ist die vorliegende U(1)-Symmetrie erkennbar. Diese ist besser ausnutzbar, falls das
System in Zylinder-, bzw. Polarkoordinaten beschrieben wird.

                         1                                         1
                     φ = √ (φ1 + iφ2 ) = ρ · eiθ     ;       φ† φ = (φ21 + φ22 )            (2.13)
                          2                                        2

                                                10
2. Theoretische Grundlagen

                                                                          µ2 †        λ2
Damit wird aus der bekannten Lagrange Gleichung [L = (∂µ φ)† ∂µ φ +       2 φ φ   −       † 2
                                                                                      4 (φ φ) ]   nun
diese:

                                                             µ2 2 λ2 4
                          L(ρ, θ) = ρ2 (∂µ θ)2 + (∂µ ρ)2 +     ρ − ρ                         (2.14)
                                                             2    4

An dieser Stelle wird genauso verfahren, wie im vorherigen Abschnitt, also es wird um das
                  ¡       ¢
Potentialminimum φ0 := µλ entwickelt (mit ρ = φ0 + ψ):
                                              ·                               ¸
                                                                         λ3
               L(ψ, θ) = (φ0 + ψ)2 · (∂µ θ)2 + (∂µ ψ)2 − µ2 ψ 2 − λµψ 3 − ψ 4                (2.15)
                                                                         4

An dieser Gleichung lässt sich wiederum die Symmetrie des Potentials nicht ablesen und sie ist
nach wie vor von zwei Feldern abhängig. Um erkennen zu können
                                                         ³      welches Feld welche
                                                                                ´   Masse
                                                               ∂L        ∂L
besitzt muss der Lagrange-Formalismus durchgeführt werden ∂µ ∂(∂µ φi ) − ∂φi = 0 :

                          0 = 2(φ0 + ψ)2 · ¤θ + 4(φ0 + ψ) · ∂µ ψ · ∂µ θ                      (2.16)
                          0 = 2(¤ + µ2 )ψ + 3λµψ 2 + λ3 ψ 3                                  (2.17)

Durch einen Vergleich dieser beiden Bewegungsgleichungen mit der Gleichung 2.5, fällt auf, dass
nur das Feld ψ massiv ist, mit der Masse mψ = µ und das Feld θ hier demnach zum masselosen
Goldstone-Boson geworden ist. Außerdem ist das θ-Feld mit dem ψ-Feld über die Gleichung 2.16
verknüpft, so dass es sich um ein physikalisch relevantes Feld handeln muss.
Allgemein sind Massenterme für skalare Fermionen in den Quantenfeldtheorien immer die nega-
tiven Koeffizienten vor den quadratischen Termen in den Lagrange-Gleichungen 2.15.

2.7 Einfache Form des Higgsmechanismus

Nach diesen einfachen Fällen wird jetzt noch ein wechselwirkendes elektromagnetisches Feld
hinzugenommen. In Lagrange Gleichungen taucht durch ein solches Feld der elektromagnetische
Feldtensor (Fµν = ∂µ Aν − ∂ν Aµ ) auf, wobei Aµ das Vektorpotential des Feldes darstellt. Die
Wechselwirkung mit dem Feld φ wird durch eine veränderte bzw. kovariante Ableitung Dµ =
∂µ + ieAµ realisiert. Die Stärke der Wechselwirkung ist so durch die Kopplungskonstante e
gegeben.

                         1                          µ2     λ2
                      L = |Fµν |2 + (Dµ φ)† (Dµ φ) + φ† φ − (φ† φ)2                          (2.18)
                         4                          2      4

Auch in diesem Fall liegt wieder eine globale U(1)-Symmetrie vor. Zur Vereinfachung der Rech-
nung soll jetzt wieder in Polarkoordinaten übergegangen werden (φ = ρeiθ ). Damit wird aus

                                               11
2. Theoretische Grundlagen

Dµ :

                             Dµ φ = (∂µ + ieAµ )ρeiθ
                                  = (∂µ ρ)eiθ + ρi(∂µ θ)eiθ + ieAµ ρeiθ
                                    ·                         ¸
                                                        1
                                  = ∂µ ρ + ieρ(Aµ + ∂µ θ) eiθ                                 (2.19)
                                                        e

Dann wird die Lagrange-Gleichung zu:

                              1                     1                  µ2   λ
              L(θ, ρ, Aµ ) = − |Fµν |2 + e2 ρ2 |Aµ + ∂µ θ|2 + (∂µ ρ)2 + ρ2 − ρ4               (2.20)
                              4                     e                  2    4

An dieser Stelle lässt sich die lokale Eichinvarianz der Elektrodynamik zu Nutze machen (siehe
Gleichungen 2.8 und 2.9) und mit einer Eichung der Form Aµ → Bµ = Aµ − 1e ∂µ θ verschwindet
θ vollständig aus der Rechnung.

                                 1                                   µ2   λ
                 L(θ, ρ, Bµ ) = − |Fµν |2 + e2 ρ2 · Bµ Bµ + |∂µ ρ|2 + ρ2 − ρ4                 (2.21)
                                 4                                   2    4

Jetzt besteht wiederum die Möglichkeit eine Entwicklung um das Potentialminimum durchzu-
führen (φ0 = µλ , ρ = φ0 + ψ) und erhält:
                                                        ·                       ¸
                     1      2   2           2   µ               2    2 2 3 λ3 4
       L(ψ, Bµ ) = − (Fµν ) + e (φ0 + ψ) · B Bµ + |∂µ ψ| − µ ψ − λµψ − ψ
                     4                                                     4
                     1
                 = − (Fµν )2 + e2 φ20 · Bµ Bµ + (2φ0 ψ + ψ 2 ) · Bµ Bµ
                    ·4                                ¸
                           2    2 2          3   λ3 4
                   + |∂µ ψ| − µ ψ − λµψ − ψ                                       (2.22)
                                                 4

Der Teil in eckigen Klammern stellt im Vergleich zum Abschnitt 2.6 keine Neuerung dar. Wieder-
um hat das Feld ψ die Masse mψ = µ. Das Goldstone-Boson ist jedoch verschwunden und dafür
ist das normalerweise masselose Eichfeld der Elektrodynamik in diesem Beispiel plötzlich massiv
geworden mit der Masse mB = 2eφ0 . Das skalare komplexe Feld φ hat also einem masselosen
Feld Aµ eine Masse verliehen. Dieses System stellt die Grundidee des Higgs-Mechanismus dar.
Es ist noch anzumerken, dass der Massenkoeffizient für Vektorfelder mit positivem Vorzeichen
geht, anders als der Koeffizient für unser Feld ψ. Interessant ist auch, dass zwar einerseits einen
Freiheitsgrad durch das Verschwinden des Goldstone-Bosons verschwindet, welcher jedoch wie-
der auftaucht durch das Massivwerden des Vektorfeldes. Es wird häufig gesagt, dass das massive
Teilchen das Goldstone-Boson ”aufgegessen” hat.

                                                12
2. Theoretische Grundlagen

2.8 Higgsmechanismus im Standardmodell

Im Standardmodell taucht der Higgsmechanismus in verschiedenen Lagrange-Gleichungen auf.
Zum einen kann das in Abschnitt 2.7 angesprochene Verfahren in der elektroschwachen Wechsel-
wirkung und zum anderen in den Gleichungen der starken Wechselwirkung genutzt werden. In
der elektroschwachen Wechselwirkung führt dies dazu, dass die Elektronen, Myonen und Tauonen
ihre Massen bekommen und darüber hinaus den Austauschbosonen (W ± , Z 0 , γ) die ”richtigen”
Massen zugeordnet werden können. Eine der benötigten Gleichungen hierzu sieht folgendermaßen
aus:

                   1         1                           µ2     λ2
              L = − Gµν Gµν − Fµν F µν + (Dµ φ)† (Dµ φ) + φ† φ − (φ† φ)2                      (2.23)
                   4         4                           2      2

                                                                     Ã         !       Ã !
                                                 τl                   ϕ1 + iϕ2          νl
            mit :      Wµ = τ l Wµl   ,   Gµν   = Glµν   ,   φ=                    =
                                                 2                    ϕ3 + iϕ4          el
                       Gµν = ∂µ Wν − ∂ν Wµ + ig[Wµ , Wν ] ,          Fµν = ∂µ Bν − ∂ν Bµ
                                  g      g0       g            g0
                       Dµ = ∂µ + i Wµ + i = ∂µ + i τ l Wµl + i
                                  2      2        2            2

Wobei τ l hier die schon in Abschnitt 2.3 eingeführten Generatoren der SU(2) sind. Die Felder
Bµ und Wµl sind jetzt die Eichfelder des jeweiligen Symmetrieoperators. Das bedeutet, dass die
drei Felder Wµl die Eichfelder der SU(2)-symmetrischen schwachen Wechselwirkung sind und
Bµ das Eichfeld der U(1)-symmetrischen elektromagnetischen Wechselwirkung. In der nun recht
kompliziert aussehenden Ableitung Dµ sind die jeweiligen Kopplungen der Eichfelder an das
physikalische Feld φ realisiert und die ersten zwei Terme der Lagrange-Gleichung stellen die
benötigten Feldtensoren dar. Das Feld φ ist nun ein SU(2) Duplett und und stellt wiederum
unser Higgsfeld dar.
Diese Gleichungen führen dann nach einer längeren Rechnung, die analog zur zuvor gezeigten
Rechnung verläuft, auf die Massen der Austauschbosonen (siehe Tabelle 2.2):

Tabelle 2.2: Kopplung der Parameter des Higgsfeldes an die Bosonen-Massen der elektroschwa-
             chen Wechselwirkung

                          Eichfeld         Kopplung                    Masse
                              Wµ1 :        mW 1 = 21 g · µλ            MW ±
                              Wµ2 :        mW 2 = pmW 1                MW ±
                                                 1               µ
                              Zµ :         mZ = 2 g 2 + g 02 ·   λ     MZ
                              Bµ :         mB = 0                      Mγ

                                                  13
2. Theoretische Grundlagen

Darüber hinaus führt eine nochmals etwas kompliziertere Rechung für jedes schwere Lepton zu
folgender Beziehung für die Leptonenmassen: Mej =             √1 ge µ .   Auch sämtliche Kopplungsterme
                                                                2 jλ
zwischen den verschiedenen Leptonen und den Austauschbosonen ergeben sich auf ähnliche Weise
([1] und [2]). Wird die Lagrange-Gleichung unter dem Einbeziehen der SU(3)-Symmetrie durch-
gerechnet, so ergeben sich auch noch die verschiedenen Massenterme der Quarks Mqj =                √1 gq µ .
                                                                                                     2 jλ
Sämtliche Herleitungen sind detailiert nachlesbar in folgenden Büchern: [1], [2].

2.9 Kopplung des Higgsteilchens an andere Elementarteilchen

Neben den in Abschnitt 2.8 erwähnten Kopplungen des Higgsfeldes an Elementarteilchen und
Austauschbosonen sagen die Lagrange-Gleichungen auch ein eigenes Teilchen für das Higgsfeld
voraus, welches mit allen anderen Teilchen des Standardmodells (Quarks, Leptonen und Bosonen)
koppeln kann. Allgemein koppelt das Higgs-Boson der Theorie nach wie folgt an die verschiedenen
Elementarteilchen:

                             2m2                           2m2                              3m2
               (a) gHV V =    v
                                V
                                            (b) gHHV V =    v2
                                                              V
                                                                               (c) gHHH =    v
                                                                                               H

                                                                          mf
                                           3m2              (e) gHf f =
                             (d) gHHHH =    v2
                                              H
                                                                           v

         Abbildung 2.3: Kopplungsgraphen des Higgs-Bosons an Elementarteilchen [1]

In den, in Abbildung 2.3, aufgeführten Graphen kann an Stelle eines Z 0 -Bosons auch jeweils
ein W -Boson eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang stellt V in den Kopplungskonstan-
ten auch entweder ein W ± , oder ein Z 0 dar. Auch die Kopplung an Elektronen ist hier nur
exemplarisch für alle Fermionen aufgeführt. Der Parameter v ist, wie zu erwarten das schon oft

                                                   14
2. Theoretische Grundlagen

aufgetretene Verhältnis der Higgs-Potential-Parameter (v = µλ ).
In der folgenden Abbildung 2.4 ist zu sehen, wie die Kopplung des Higgs-Bosons an Gluonen
durch einen Top-Loop realisiert wird. Eine entsprechende Kopplung ist auch an Photonen an-
stelle der Gluonen möglich. In diesem Fall ist neben dem Top-Loop auch ein W-Loop möglich.

Aus der Kopplung zwischen dem Higgsteilchen und den anderen Elementarteilchen ergibt sich
natürlich eine prinzipielle Möglichkeit, die Richtigkeit der bis hierher beschriebenen Theorie zu
überprüfen. Wenn ein Higgsfeld existiert, so folgt aus der Theorie, dass ein zugehöriges Teilchen
existiert, welches aus den bekannten Elementarteilchen bei genügend hoher Energie produziert
werden kann. Über die Kopplungskonstanten zwischen Higgsteilchen und den verschiedenen ande-
ren Elementarteilchen ergeben sich dann bestimmte Produktionsmechanismen für die Entstehung
und auf der anderen Seite Verzweigungsverhältnisse für den Zerfall eines Higgsteilchens.
Higgsteilchen können also bei genügend hoher Schwerpunktsenergie durch alle elementaren Über-
gänge produziert werden, die nicht aufgrund von bestimmten Erhaltungssätzen ausgeschlossen
sind (z. B. Familienzahl-, oder Drehimpulserhaltung). Am LHC werden die Entstehungsvarianten
aufgrund der vorhandenen, erreichbaren Energie folgende sein:

                Abbildung 2.4: Entstehungskanäle für Higgs-Bosonen am LHC

                                               15
2. Theoretische Grundlagen

2.10 Wirkungsquerschnitte und Verzweigungsverhältnisse

Die Wirkungsquerschnitte der in Abschnitt 2.9 angeführten Entstehungskanäle werden am LHC
aufgrund der relativ hohen Masse des Higgs-Bosons leider nur einen sehr kleinen Anteil am
Gesamtwirkungsquerschnitt haben. Einige relevante Wirkungquerschnitte sind in Abbildung 2.6
aufgetragen. In Abbildung 2.5 sind die zu den jeweiligen Produktionsvarianten des Higgs-Bosons
gehörenden Wirkungsquerschnitte in Abhängigkeit von der Higgsmasse aufgetragen. NLO steht
im Diagramm für ”Next to leading order calculation”, also dass der Wirkungsquerschnitt in
zweiter Ordnung Störungstheorie berechnet worden ist. Dies bedeutet anschaulich, wie viele
Feynman-Diagramme höherer Ordnung mit in die Berechnung eingeflossen sind. NNLO steht für
die dritte Ordnung der Störungstheorie (”Next to next to leading order”) .

Abbildung 2.5: Wirkungsquerschnitte für die Higgsproduktion [4]; (gg → H), (bb → H), (qq →
               W H) Prozesse sind in NNLO in der QCD angegeben; der Prozess (qb → H)
               ist in LO in der QCD angegeben; die restlichen Prozesse sind in NLO in QCD
               Rechnungen angegeben

                                              16
2. Theoretische Grundlagen

 Aus Abbildung 2.6 ist klar ersichtlich,
 dass für eine mögliche Suche nach dem
 Higgs-Boson die Unterdrückung von Unter-
 grundsignalen von entscheidender Bedeutung
 ist.
 Wird nochmals Abbildung 2.5 betrachtet,
 so fällt auf, dass die Higgsproduktion do-
 miniert wird von Gluonenfusions-Prozessen
 (gg → H). Dies liegt an den hohen Kor-
 rekturtermen, die in diesem Kanal durch
 eine NNLO Berechnung zum Wirkungsquer-
 schnitt hinzukommen (50% zusätzlich). Den
 zweitwichtigsten Prozess stellt die W ± - und
 Z 0 -Fusion dar (qq → Hqq), weil das Higgs-
 Boson an diese Teilchenmassen quadratisch
 koppelt (siehe Abbildung 2.3a, 2.3b und
 2.4) [5]. Wichtiger noch als die Entstehungs-
 möglichkeiten eines Higgs-Bosons sind seine
 Zerfallsvarianten, da über sie letztlich der
 Nachweis des Teilchens stattfinden muss und
 weil über die Zerfallsseite nochmals weitere
 reduzible und irreduzible Untergründe hin-       Abbildung 2.6: σgen für pp Kolli-
 zukommen, die beachtet werden müssen.                           sionen [6]

Dass ein Higgs-Boson nicht direkt nachgewiesen werden kann liegt, genauso wie bei W - und
Z-Bosonen, an seiner kurzen Lebensdauer. Ein beispielsweise 120 GeV/c2 schweres Higgs-Boson
hätte eine Lebensdauer der Größenordnung von 10−25 s, was einem quasi sofortigen Zerfall nach
der Entstehung entspricht. Daher können nur die Zerfallsprodukte des Higg-Teilchens nachge-
wiesen werden.
Bei den Zerfallskanälen handelt es sich sind prinzipiell um die gleichen Kanäle wie bei der Ent-
stehung. Allerdings ist der Kanal H → gg nicht so ausgeprägt, da er nur über einen Top-Loop
realisiert werden kann und somit schon zu einem Beitrag höherer Ordnung zählt. Experimen-
tell ist eine Higgs-Suche in diesem Kanal auch aussichtslos, aufgrund des hohen nicht unter-
scheidbaren QCD-Untergrundes. Im Folgenden werden die jeweiligen Verzweigungsverhältnisse
im Higgszerfall als Grafik gezeigt (Abb. 2.7):

                                                 17
2. Theoretische Grundlagen

(a) Verzweigungsverhältnisse des Higgszerfalls [7]        (b) Nachweiskanäle in verschiedenen Massenbereichen

         Abbildung 2.7: interesante Nachweismöglichkeiten eines Higgs-Bosons am LHC

Es wird deutlich, dass sich ab einer Higgsmasse von ca. 180GeV/c2 der Zerfallskanal H → ZZ
oder H → W + W − zum Nachweis anbietet (siehe Abb. 2.7a). Allgemein spricht jedoch mehr für
den Kanal mit zwei Z 0 -Teilchen im Endzustand, da die weiteren Zerfallsprodukte hier leichter
nachweisbar sind (vier Leptonen anstelle von einer Mischung aus Leptonen und Neutrinos im
W + W − -Kanal). Im Bereich bis 180GeV/c2 wurde als Hauptnachweiskanal der H → γγ Kanal
ausgewählt, welcher zwar nicht dem größten Verzweigungsverhältnis entspricht und auch einen
immensen Untergrund aufweißt, aber aufgrund der hervorragenden elektromagnetischen Kalori-
meter am CMS-Detektor doch viel versprechend ist für eine Entdeckung. Die nächste Abbildung
(2.7b) zeigt noch mal die verschiedenen Nachweiskanäle in den verschiedenen Massenregionen
des Higgs-Teilchens. Das Sternchen am Z 0 im grünen Zerfallskanal bedeutet, dass ein Z-Boson in
diesem Massenbereich ”of shell” ist, also nur virtuell vorhanden ist, da die Higgsmasse in diesem
Bereich nicht für die Produktion von zwei realen Z-Bosonen ausreicht.

2.11 Bisherige Ergebnisse vom LEP

Schon am letzten großen Teilchenbeschleuniger am Cern wurde nach dem Higgs-Boson gesucht.
Am LEP wurde in zwei Produktionskanälen direkt nach dem Higgsteilchen gesucht(siehe Abb.
2.8):

                                                     18
2. Theoretische Grundlagen

                            (a) Higgsstrahlung        (b) Bosonen-Fusion

                        Abbildung 2.8: Produktionskanäle an e+ e− -Kollidern

Wie bereits angedeutet konnte eine Higgsproduktion über diese Kanäle am LEP nicht nachge-
wiesen werden. Dies hat zu dem Schluss geführt, dass, falls das Higgs-Boson existiert, eine höhere
Schwerpunktsenergie für dessen Produktion benötigt wird. Aus den Messungen am LEP konnte
also eine experimentelle untere Schranke für die Higgsmasse ermittelt werden. Diese liegt bei
ungefähr mH ≥ 114, 4GeV/c2 [5].
Trotzdem konnten am LEP einige Hinweise auf die Existenz eines Higgs-Bosons gefunden wer-
den. Zum einen wurden in den experimentellen Daten der späten Laufzeit von LEP einige Events
gefunden, die als ein Higgsteilchen identifiziert werden könnten. Leider war die zugehörige Signi-
fikanz zu niedrig, um von einem wirklichen Fund zu sprechen.
Zum anderen war es möglich über Präzisionsmessungen der Eigenschaften der W ± - und Z 0 -
Bosonen eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Higgsteilchens in verschiedenen Massen-
bereichen zu treffen. Dies ist prinzipiell möglich, da über Schleifenkorrekturen (ähnlich der Vaku-
umpolarisation) in der elektroschwachen Wechselwirkung eine logarithmische Abhängigkeit der
W - und Z-Popagatoren von der Higgsmasse Zustande kommt. Werden die theoretische Berech-
nung der W -Masse beispielsweise in Feynman-Graphen ausgedrückt, so taucht auch ein Graph
dieser Art auf (2.9):

               Abbildung 2.9: Beitrag der Higgsmasse zu realen W -Eigenschaften

Dieser bedeutet die bereits erwähnte logarithmische Abhänigkeit mW ∼ ln(mH ) [2].
Aufgrund dieser Sensitivität der am LEP vermessenen W - und Z-Bosonen besteht heute die
Möglichkeit vorauszusagen, dass ein Higgsteilchen, falls es existiert, mit 95% Wahrscheinlichkeit
eine Masse von mH < 182 GeV/c2 besitzt. In diese Vorhersage ging auch die experimentell ge-
fundene Massenuntergrenze von 114, 4 GeV/c2 ein.

                                                 19
2. Theoretische Grundlagen

                          6
                                           Theory uncertainty
                                               ∆αhad =
                                                   (5)

                          5                    0.02758±0.00035
                                               0.02749±0.00012
                          4                    incl. low Q2 data
                   ∆χ2

                          3

                          2

                          1
                               Excluded
                          0
                              30              100                      500
                                             mH [GeV]

       Abbildung 2.10: Vorhersagen für das Higgsteilchen aus den LEP Ergebnissen [8]

Die Abbildung 2.10 zeigt noch mal den bisher von LEP ausgeschlossenen Bereich für die Higgs-
masse (gelb) und darüber hinaus, wie die Wahrscheinlichkeit zu größeren Higgsmassen hin ab-
nimmt, dass ein solches Teilchen existiert (Die Wahrscheinlichkeit nimmt zu höheren Werten von
χ2 hin ab). Die durchgezogenen Linien repräsentieren hierbei die theoretischen Vorhersagen. Es
gibt mehrere Linien, da jeweils leicht verschiedene Daten aus Experimenten der letzten Jahre in
die Vorhersagen mit eingeflossen sind. Der hellblau gefärbte Bereich gibt die theoretische Un-
sicherheit an, die auf mangelnde Korrekturterme aus Feynman-Berechnungen höherer Ordnung
zurückzuführen sind.

                                              20
3. Der ATLAS Detektor

3 Der ATLAS Detektor

3.1 Aufbau

Der ATLAS Detektor, als einer von vier großen Experimenten am LHC, ist ein ”Colliding Beam”
Detektor, also ein symmetrisch um das Strahlrohr ausgerichteter Detektor. Aufgrund seiner vielen
Subsysteme bietet er die Möglichkeit viele verschiedene physikalische Phänomene zu beobachten.
Die grundlegenden Komponenten des Detektors sind (von Außen nach Innen) die Myonenkam-
mern (Muon chambers), das hadronische Kalorimeter (Tile Calorimeter, hadronic end-cap), das
elektromagnetische Kalorimeter (LAr electromagnetic calorimeter, LAr end-cap), einen weiteren
Detektor zur Identifikation und Impulsbestimmung (Transition Radiation Tracker (TRT)) und
zu Innerst die Pixel- und Streifendetektoren zur Entstehungsortsbestimmung und zum Liefern
von Spurpunkten (Pixel detector).

                  Abbildung 3.1: Schematische Skizze des ATLAS Detektors

Die innersten drei Detektoren (bis inklusive dem TRT) sind in einen Solenoid Magneten einge-
schlossen, um so, über die Ablenkung im Magnetfeld die Impulse von geladenen Teilchen ermitteln
zu können.
Der Pixeldetektor besteht aus 50 µm × 400 µm großen Halbleiterelementen (spezielle Dioden).

                                              21
3. Der ATLAS Detektor

Sobald ein geladenes Teilchen ihn passiert, werden in den getroffenen Pixeln Ladungen ins Lei-
tungsband gehoben, die dann an den Elektroden für einen auslesbaren Strom sorgen, so dass dar-
aus der Durchflugsort bestimmt werden kann. Hierfür muss die Diode logischerweise in Sperrrich-
tung betrieben werden. Der Pixeldetektor hat ein sehr gutes Auflösungsvermögen ((10 − 15) µm
in φ-Richtung; 100 µm in z-Richtung), aber ist leider auch empfindlich gegenüber zu hoher Strah-
lung [9].
Streifendetektoren stellen wiederum eine spezielle Art von Dioden dar. Die Nachweismethode
läuft also wieder über den gemessenen Sperrstrom an den Elektroden. Der Unterschied besteht
jedoch darin, dass die Elektroden diesmal in horizontalen und vertikalen Streifen angeordnet sind
und die einzelnen Segmente größer sind als zuvor. Durch diese Anordnung geht Ortsauflösung
im Vergleich zum Pixeldetektor verloren, jedoch vereinfacht sich so die Ausleseelektronik stark.
Der Transition Radiation Tracker besteht aus, mit einem Xenongemisch gefüllten, Fasern und
Folienradiatoren. Innerhalb jeder Faser ist ein Elektrodendraht gespannt. In diesem Detektor wird
die Röntgenstrahlung nachgewiesen, die ein geladenes Teilchen emittiert, wenn es einen Über-
gang zwischen zwei Dielektrika durchläuft. Die beim Übergang eines Teilchens (Luft/Folie/Faser)
erzeugten Röntgenphotonen ionisieren ihrerseits das Gasgemisch in der Röhre. Die erzeugten Io-
nen bzw. Elektonen driften dann zu den Elektroden (Röhrenrand und Elektrodendraht), wo sie
einen messbaren Stromimpuls erzeugen. Mit diesem Detektor ist auch eine Teilchenidentifikation
möglich, da die Anzahl der emittierten Photonen bei festem Impuls von der Masse des Teilchens
abhängt. Darüber hinaus stellt er eine kostengünstigere Variante dar, um viele Spurpunkte der
Teilchen zu liefern und so über die Ablenkung im Magnetfeld den jeweiligen Impuls bestimmen
zu können [9].
Im Anschluss an dieses innere Trackingsystem kommt das elektromagnetische Kalorimeter.
Es ist ein ”Sampling Calorimeter”, es besteht also im Wechsel aus aufschauernden (Stahl und
Blei) und nachweisenden Schichten. Elektronen und γ-Quanten, die auf das Kalorimeter (genau-
er die Absorberschichten) treffen geben dort ihre kinetische Energie ab, was im Wesentlichen drei
Effekte passiert: die Compton-Streuung, die Paarbildung und den Photoeffekt. Um die Effekte
zu maximieren werden aufschauernde Materialien benötigt, die viele Protonen enthalten, da mit
ihnen eine elektromagnetische Wechselwirkung zustande kommt. Die entstehenden elektrischen
Ladungen werden dann in der anschließenden Schicht nachgewiesen. Hierzu dient ein Kupfer-
gitter in flüssigem Argon als Elektrode. Das Argon dient in diesem Zusammenhang nochmals
Ionisationsmedium und als Ladungsvervielfältiger. Aufgrund der vielen aufeinander folgenden
Schichten können die Teilchen in der Regel ihre gesamte Energie abgeben und so genaue Infor-
mationen über deren Gesamtenergie gewonnen werden. Bis zu einem Bereich von 300 GeV/c2
liegt die Nicht-Linearität der Energiemessung unterhalb von 0.5 %. Die Winkelauflösung des Ka-
lorimeters liegt in φ- und η-Richtung bei 0.025 rad (η = − ln [tan(θ/2)] =
                                                                         ˆ Pseudorapidität) [9].
Das hadronische Kalorimeter ist ebenfalls ein ”Sampling Calorimeter”. Im Gegensatz zum

                                               22
3. Der ATLAS Detektor

elektromagnetischen Kalorimeter kommen hier Materialien zum Einsatz, die viele Nukleonen
enthalten, um die Zahl der möglichen Kernreaktionen zu erhöhen (hier wurde Stahl verwendet).
Zum Nachweis der aufgeschauerten Hadronen werden hier Szintillatorplatten und anschließend
Wellenlängenschieber verwendet, um das emittierte Licht an Photomultiplier weiterzuleiten. Die
Hadronenenergien können im Kalorimeter bis 300 GeV/c2 auf 1 % Genauigkeit bestimmt werden
[9].
Den äußersten Teil des ATLAS bildet das Myonsystem. Es besteht aus einem großen Toroid-
Magnetsystem und mehreren Nachweisschichten. Diese sind ähnlich aufgebaut wie der TRT-
Detektor. Sie bestehen also auch aus gasgefüllten Röhren (30 mm Durchmesser) mit einem Elek-
trodendraht. Auch diese Nachweismethode funktioniert über Ionisation des Nachweisgases. Über
die Zeit, die die erzeugten Elektronen benötigen, um zur jeweiligen Elektrode zu driften, kann
der Entstehungsort und somit der Durchflugsort der Myonen bestimmt werden. Das Magnetfeld
wird, wie im inneren Detektorsystem, benötigt, um den Impuls der Teilchen genau messen zu
können. Die Ortsauflösung beträgt in diesem Detektor 40 µm. [9]

Die Spuren der verschiedenen Teilchen, und in welchen Bereichen sie im Detektor ein Signal
hinterlassen wird aus dem folgenden Bild (3.2) ersichtlich.

             Abbildung 3.2: Funktionsweise der Teilchenidentifikation am ATLAS

                                               23
4. Simulationssetup

3.2 Higgssuche am ATLAS Detektor

                Abbildung 3.3: untersuchter Zerfallskanal dieser Bachelorthesis

Diese Bachelorarbeit beschränkt sich auf die Simulation der Suche nach dem Higgs-Teilchen
über den Zerfallskanal H → ZZ → 4l (mit l = e µ), wie sie in großen Massenbereichen am
ATLAS Detektor am LHC passieren soll (siehe Abb. 3.3). Wie schon in Abschnitt 2.10 erwähnt
bietet sich dieser Kanal ab einer Higgsmasse von ca. 180 GeV/c2 zum Nachweis an. Nicht nur
das Verzweigungsverhältniss ist ab dieser Masse günstig, auch der irreduzible Untergrund (der
ZZ-Zerfall) ist moderat. Prinzipiell ist in diesem Kanal der Higgsnachweis bis zu einer Masse
von ca. 130 GeV/c2 möglich, allerdings ist in diesem unteren Bereich eines der beiden Z Bosonen
virtuell.
Der ATLAS Detektor eignet sich für die Suche im genannten Zerfallskanal besonders, aufgrund
der großen Myonenkammern mit dem enormen Magnetsystem, die eine hervorragende Auflösung
der Myonenenimpulse gewährleisten. Auch das elektromagnetische Kalorimeter spielt für die
Suche eine wichtige Rolle, da in diesem Kanal die gesuchten Zerfallsprodukte der Z 0 -Bosonen
Elektronen und Myonen sind. Beide Messsysteme sind im Abschnitt 3.1 beschrieben.

4 Simulationssetup

Wie bereits erwähnt ist das Ziel dieser Arbeit die Untersuchung der Nachweismöglichkeiten ei-
nes skalaren Higgs-Bosons über den Zerfallskanal H → ZZ → 4l am ATLAS Detektor. Zur
Simulation des Experiments wurde ausschließlich das Programm ”Pythia 8.102” [10] verwendet.
Die Auswertung wurde mit dem Programm ”Root” vorgenommen [11]. Es wurde der zentrale
Zusammenstoß zweier Protonen bei einer Schwerpunktsenergie von 14 TeV simuliert. Die gesam-
te Simulation basiert auf einer ”Leading Order Calculation”, da nur diese für Erzeugung und
Zerfall in der Simulationssoftware vorhanden sind. Die Simulation von Higgsteilchen und den
verschiedenen Untergründen (siehe Abschnitt 4.1 - 4.4) wurde aufgrund der stark unterschiedli-

                                              24
4. Simulationssetup

chen Wirkungsquerschnitte getrennt vorgenommen.
Der Generator beinhaltet die Matrixelemente des harten Streuprozesses, wie sie zum Beispiel
in Abschnitt 4.1 bis 4.4 aufgeführt sind. Die Partonverteilung der Quarks und Gluonen im Pro-
ton wird über die Standardparametrisierung von Pythia 8.1 simuliert (”Parton Density Function”
(PDF): CTEQ5L). Die physikalischen Wirkungsquerschnitte berechnen sich somit über die Funk-
tion:
                            XZ          Z
                                                     ©                                        ª
              σpp→H→ZZ =                      dxa dxb Pa (xa , Q2 ) Pb (xb , Q2 ) σ̂(xa , xb )        (4.1)
                            a,b   Pxa   Pxb

In Gleichung 4.1 stellt Pa,b (xa,b , Q2 ) die PDF der involvierten Partonen dar (hier hauptsäch-
lich Gluonen), xa,b den Impulsanteil der Partonen am zugehörigen, einlaufenden Proton, σ̂ =
σ̂pp→H→ZZ den Wirkungsquerschnitt des harten partonischen Streuprozesses und Pxa,b den zu
integrierenden Impulsraum. Die Summe läuft über alle beteiligten Partonen.
Neben diesem harten Prozess enthält Pythia 8.1 einen Parton-Schauer-Algorithmus zur Simula-
tion von QCD-Strahlung von Gluonen im Anfangs- und gegebenenfalls Endzustand. Die derart
erzeugten Partonen werden mittels des Fragmentationmodells in beobachtbare Hadronen über-
führt. Weitere Optionen sind die zum Beispiel die ”multiple parton-parton Wechselwirkungen”,
die pro Proton-Proton-Kollision neben dem harten Primärprozess weitere, meist weiche QCD-
Prozesse, der verbleibenden Konstituenten der Protonen zulassen.
Für jeden harten Prozess (qq → H, ZZ, tt) wurde eine Simulation von 10000 Ereignissen durch-
geführt, um die jeweiligen Wirkungsquerschnitte σ der Prozesse in der Simulation (Pythia 8.1)
zu bestimmen. Anschließend wurden aus den jeweiligen Wirkungsquerschnitten die Anzahl an
Events bestimmt, die für eine Luminosität von 30 fb−1 benötigt wird. Diese wird im Weite-
ren angenommen, und entspricht etwa 3 Jahren Laufzeit bei einer instantanen Luminosität von
L = 1033 cm−2 s−1 . Zur Erhöhung der Statistik bei der endgültigen Signifikanzberechnung wur-
den für jede Higgsmasse 5 unkorrelierte 30 fb−1 -Experimente simuliert. Die Simulation umfasste
allerding nicht den tt-Untergrund, da dieser für das Ergebnis keine große Relevanz hat (siehe
Abschnitt 5.3.1) und eine extrem lange Berechnungsdauer aufweist. Die Tabelle 4.1 zeigt die
von ”Pythia 8.102” simulierten Wirkungsquerschnitte der betrachteten Prozesse in der Leading
Order. In der darauf folgenden Tabelle 4.2 sind die ”Next to Leading Order”-Korrekturen (NLO)
aufgeführt, wie sie in der offiziellen ATLAS Dokumentation angegeben werden.

                                                    25
4. Simulationssetup

Tabelle 4.1: von Pythia 8.1 vorhergesagte Wirkungsquerschnitte für die untersuchten Untergrün-
             de und verschiedene Higgsmassen

        Prozess                       mHiggs    σ [fb]    Events für 30 fb−1    Abschnitt
        qq → ZZ → 4l                            75.88           2276               4.2
        qq, gg → tt → 4l                        56750         1702500              4.3
        qq, gg, γγ → H → ZZ    → 4l     150     5.0705           152               4.1
        qq, gg, γγ → H → ZZ    → 4l     165     1.203             36               4.1
        qq, gg, γγ → H → ZZ    → 4l     200     8.91             267               4.1
        qq, gg, γγ → H → ZZ    → 4l     300     6.4343           193               4.1

Tabelle 4.2: LO-Wirkungsquerschnitte von Pythia 8.1; NLO (als gesamter, resultierender Wir-
             kungsquerschnitt) aus theoretischen Vorhersagen des ATLAS-Reports [12]; mit
             l = e,µ

     Prozess                        mHiggs    LO σ [fb]             N LO σ [fb]
     qq → ZZ → 4l                               75.88      123.52 (durch quark box, 30 %)
     qq, gg → tt                               537496                  833000
     qq, gg, γγ → H   → ZZ   → 4l     150      5.07047                  10.56
     qq, gg, γγ → H   → ZZ   → 4l     165       1.203                   2.29
     qq, gg, γγ → H   → ZZ   → 4l     200        8.91                   20.53
     qq, gg, γγ → H   → ZZ   → 4l     300      6.43426                  13.32

4.1 H
 Zur Entstehung des Higgs Teilchens wurden die Kanäle qq → H
 (ohne Topquark), gg → H und γγ → H zugelassen. Als Zerfalls-
 kanal für das Higgs wurde nur der Zerfall in ZZ zugelassen und
 für die zwei Z Bosonen nur der Zerfall in Elektronen und/oder
 Myonen. Die simulierte Higgsmasse wurde auf 150, 165, 200 und
 300 GeV/c2 eingestellt, um den primär relevanten Massenbereich
 für die Higgssuche abzudecken (vergleiche Abschnitt 2.11).

                                               26
4. Simulationssetup

4.2 ZZ

 Die ZZ Produktion wurde über den Kanal qq → ZZ realisiert. Den
 entstandenen Z-Bosonen wurde dann die Möglichkeit gegeben in
 e+ e− und µ+ µ− Paare zu zerfallen. Weitere Einstellungen wurden
 nicht vorgenommen.

4.3 tt
 Die Paare aus Top- und Antitop-quark wurden über die Gluo-
 nenfusion und die Quark-Annihilation erzeugt (gg, qq → tt). Als
 Zerfallskanäle wuden Top-Zerfälle zugelassen, bei denen aus jedem
 Top-Quark ein W Boson entsteht. Relevant für die Untersuchung
 werden von diesen Prozessen nur noch die sein, bei denen noch
 zusätzlich mindestens zwei Leptonen aus QCD Prozessen (z.B. b-
 Zerfällen) hervorgehen (tt → W + W − bb → 2l + X).

4.4 Zbb
 Dieser Untergrundkanal konnte leider mit Pythia 8.102 nicht si-
 muliert werden, da die zugrundeliegende Theorie nicht in die
 Simulations-Software implementiert ist und ein Ausweichen auf
 andere Simulatoren an dieser Stelle zu aufwendig gewesen wäre.
 An dieser Stelle sei auf die offizielle ATLAS Studie zu dem hier
 untersuchten Nachweiskanal verwiesen [9].
 In den dort veröffentlichten Ergebnissen wird deutlich, dass der
 Beitrag dieses Untergrundes so stark reduzibel ist, dass er für eine
 finale Signifikanzberechnung keine Rolle spielt.

4.5 Simulation des Auflösungsvermögen von ATLAS

Um realistische Auflösungsgrenzen in die Datenauswertung zu integrieren, wurden die jeweiligen
Viererimpulse der in Pythia 8.102 simulierten Leptonen vor der Verarbeitung einer ”Verschmie-
rung” unterzogen. Die Verschmierung wurde für Elektronen und Myonen verschieden durchge-
führt. Für Elektronen wurde auf die Daten zur Auflösung aus dem ATLAS Detektor Paper
zurückgegriffen [9], [13]. In den folgenden Gleichungen ist die Energie E in GeV/c2 und die

                                               27
4. Simulationssetup

Winkel θ und φ in rad angegeben. G stellt den Funktionswert einer Gaußverteilung dar. Die
Standardabweichung, sowie die Normierung der Gaußverteilung wurden auf 1 gesetzt, der Er-
wartungswert auf 0 und es wurden Zufallszahlen im Intervall [−4, 4] als x-Werte zugelassen.

                                      r
                                                     0.2452 0.122
                          ∆E = E ·        0.0072 +         +      ·G                                (4.2)
                                                       E2     E
                           ∆ϕ = 0.01 · G                                                            (4.3)
                                
                                
                                 0.065
                                   √    ·G            falls   0.0 < |η| < 0.8
                                
                                 E
                           ∆ϑ = 0.050
                                   √    ·G            falls   0.8 < |η| < 1.4                       (4.4)
                                
                                    E
                                 0.040
                                  √
                                     E
                                        ·G            falls   1.4 < |η| < 2.5

(a) Statistische Kombination innerer Spuren in Abhän- (b) Auflösungsabhängigkeit des Myonen-System von η
    gigkeit von η

(c) Statistische Kombination innerer Spuren in Abhän- (d) Auflösungsabhängigkeit des Myonen-System von pT
    gigkeit von pT

Abbildung 4.1: Abhängigkeit des Myonenauflösungvermögens des inneren Detektorsystems und
               der Myonenkammern von η und pT [14]

                                                     28
5. Analyse

Für die Myonen stellte sich die Situation etwas komplizierter dar. Aufgrund der vielen verschie-
denen Komponenten, die zum Nachweis der Myonen benutzt werden, gibt es leider keine so
einfache analytische Form für die Auflösung, wie bei den Elektronen. Als Nährung wurde für die
Auflösung von Myonen ein Fehler von 3 % für jede Impulskomponente der Myonen angenom-
men. Dies ist zwar im Detail etwas ungenau, jedoch wird der Fehler genau genug beschrieben,
um qualitative Aussagen über eine Higgssuche am ATLAS Detektor machen zu können. In der
Abbildung 4.1 sind verschiedene Auflösungskurven aufgeführt.

5 Analyse

5.1 Ereignisselektion

Wie schon im Abschnitt 4 anhand der sehr unterschiedlichen Wirkungsquerschnitte deutlich
wurde, muss eine sehr effektive Ereignisselektion (im folgenden auch Filter genannt) betrieben
werden, um die Produktionsunterschiede zwischen Signal und Untergrund von mehreren Größen-
ordnungen wieder wett zu machen. Glücklicherweise ist der einzige nicht reduzible Untergrund der
Zerfall von zwei Z Bosonen. Er hat die exakt gleiche Endzustandskonfiguration wie der Higgszer-
fall in diesem Kanal und kann somit nicht vom Higgssignal unterschieden werden. Anders liegt
die Sache jedoch bei den andern beiden Untergrundprozessen. Allgemein sollen bei der Suche
nach dem Higgsboson die vier entstehenden Leptonen im Endzustand detektiert werden. Es gibt
einige Unterschiede zwischen den meisten Leptonen, die aus (H → ZZ) Zerfällen entstehen und
denen, die aus Zbb-, oder tt-Prozessen entstehen. Diese Unterschiede liefern die Grundlage für
einen Teil der Filter, die ich zur Analyse der vom Simulator gelieferten Daten erstellt habe.
Darüber hinaus gibt es noch Filter, die auf die Detektorgeometrie eingehen und solche, die effek-
tiv einen Teil des Triggersystems wiedergeben. Aufgrund der hohen Datenraten, die am ATLAS
Detektor anfallen werden, ist es wichtig ein sehr schnelles und effizientes System zur Ereignisaus-
wahl zur Verfügung zu haben. Dieses wurde zumindest qualitativ ebenfalls in das Filtersystem
aufgenommen.

5.1.1 Detektorakzeptanz

Zwei Detektoranforderung an die Teilchen am ATLAS Experiment sind, dass jedes Lepton einen
Transversalimpuls von mindestens pT = 5 GeV/c besitzt und dass darüber hinaus für seine Pseu-
dorapidität gilt: |η| ≤ 2.5. Somit stellen diese Anforderungen den ersten Filter für alle simulierten
Endzustandsleptonen dar [9].

                                                 29
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