Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC

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Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Messung des
  tt -Wirkungsquerschnitts                       bei hohen
          invarianten Masse am LHC

           (Measurement of the tt cross section
           at high invariant masses at the LHC)

                                   von
                               Marc Stöver
                               geboren am
                                25.05.1989

                  Master-Arbeit im Studiengang Physik
                           Universität Hamburg

                                   2014

1. Gutachter: Prof. Dr. Johannes Haller
2. Gutachter: Prof. Dr. Peter Schleper
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Zusammenfassung
In dieser Masterarbeit wird die Messung des dierentiellen Wirkungsquerschnitts von
Top-Quark-Paaren als Funktion der invarianten Masse präsentiert. Es wird dazu der
vollständige Datensatz von Proton-Proton-Kollisionen bei einer Schwerpunktsenergie
von 8 TeV und einer integrierten Luminosität von 19,7 fb−1 ausgewertet, welcher im
Jahr 2012 mit dem CMS-Detektor aufgenommen wurde.
Für die Analyse werden tt-Ereignisse im Lepton+Jets-Zerfallskanal selektiert. Die Se-
lektion lässt eine Messung bis zu einer invarianten Masse von 2,5 TeV zu. Die Messung
wird mit Hilfe einer regularisierten Entfaltungsmethode durchgeführt, durch die das
rekonstruierte Spektrum von Detektoreekten wie Selektionsezienzen und Migratio-
nen korrigiert wird.
Das Ergebnis wird zum einen mit Standardmodell-Vorhersagen aus Monte-Carlo-
Ereignisgeneratoren und zum anderen mit der bereits bis 1,6 TeV durchgeführten Mes-
sung der CMS-Top-Gruppe verglichen. In beiden Fällen ist eine gute Übereinstimmung
zu erkennen.
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Abstract
In this thesis the measurement of the dierential cross section of top quark pairs at the
LHC is presented as a function of the invariant mass. The full LHC dataset of proton-
proton collisions with a center of mass energy of 8 TeV and an integrated luminosity of
19.7 fb−1 , recorded by the CMS experiment in the year 2012, is used.
For the analysis, tt events are selected in the lepton+jets decay channel. The selection
allows to measure the cross section up to an invariant mass of the tt system of 2.5 TeV.
The reconstructed spectrum is corrected for detector eects using a regularised unfol-
ding method.
The result is compared to standard model predictions from Monte-Carlo event gene-
rators and to the result of the CMS-Top-Group, which reaches 1.6 TeV. In both cases
a good agreement is observed.
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung                                                                                   9
2 Theoretische Grundlagen                                                                      11
  2.1   Das Standardmodell der Teilchenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          11
        2.1.1   Teilchen und Wechselwirkungen im Standardmodell . . . . . . . . .              11
        2.1.2   Elektroschwache Symmetriebrechung          . . . . . . . . . . . . . . . . .   13
  2.2   Physik des Top-Quarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        13
        2.2.1   Top-Quark-Produktion am LHC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            14
        2.2.2   Masse und Zerfall des Top-Quarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         16
        2.2.3   Das Top-Quark in Modellen jenseits des SM          . . . . . . . . . . . . .   20
        2.2.4   Bisherige Messungen des     tt-Produktions-Wirkungsquerschnitts        . . .   21

3 Experimenteller Aufbau                                                                       23
  3.1   Der Large Hadron Collider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        23
  3.2   Das CMS-Experiment         . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   24
        3.2.1   Spurdetektor     . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   25
        3.2.2   Elektromagnetisches Kalorimeter        . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   26
        3.2.3   Hadronisches Kalorimeter       . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   27
        3.2.4   Myon-System      . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   28
        3.2.5   Trigger und Datenerfassung       . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   29

4 Rekonstruktion von Objekten und Ereignisselektion                                            31
  4.1   Rekonstruktion von Teilchen und Jets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         31
        4.1.1   Particle-Flow-Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        31
        4.1.2   Myonen     . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   33
        4.1.3   Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     34
        4.1.4   Jets   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   34
        4.1.5   Identikation von b-Jets     . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   36
        4.1.6   6E T und HT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      38
        4.1.7   Geboostete Top-Quarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          38
  4.2   Datensatz und Ereignisselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        39
  4.3   Kontrollverteilungen nach naler Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . .         42

5 Wirkungsquerschnittsmessung und Entfaltung                                                   47
  5.1   Bin-by-BinKorrektur       . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   49
  5.2   Migrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      51
  5.3   Regularisierte Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      53

6 Systematische Unsicherheiten                                                                 61
7 Ergebnisse                                                                                   67
8 Zusammenfassung und Ausblick                                                                 73
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
A Dierentieller Wirkungsquerschnitt in den verschiedenen Kanälen   77
B Modellabhängigkeit der Migrationsmatrix                           81
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
1 Einleitung
Die Teilchenphysik beschäftigt sich mit der Untersuchung der Bestandteile, aus denen wir
und unser Universum geschaen sind. Genauer gesagt widmet sich die Teilchenphysik der
Identikation und dem Studium der Elementarteilchen sowie deren Eigenschaften und
Wechselwirkungen. Mit Elementarteilchen sind die Teilchen gemeint, die nach heutiger
Auassung nicht weiter teilbar sind. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt
unser heutiges Verständnis der Elementarteilchen und derer Wechselwirkungen. Da viele
seiner Voraussagen in den letzten Jahrzehnten experimentell bestätigt werden konnten,
gilt das Standardmodell als eine äuÿerst erfolgreiche Theorie. Dennoch ist das Standard-
modell in seiner jetzigen Form nicht vollständig, so ist beispielsweise die Gravitation nicht
beinhaltet.

Der weltweit gröÿte Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collier (LHC), soll der
Beantwortung fundamentaler Fragen zu den Grundkräften der Natur dienen. Nach einer
Bauzeit von 10 Jahren konnten im November 2009 die ersten Proton-Proton-Kollisionen
am LHC beobachtet werden. Der LHC ermöglicht aktuell ein Studium von Proton-Proton-
Kollisionen bei einer Schwerpunktsenergie von 8 TeV. Voraussichtlich 2015 wird die Schwer-
punktsenergie nach einer Umrüstungsphase 14 TeV betragen.

Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Top-Quark. Mit einer Masse von ungefähr 173 GeV
ist es bislang das schwerste bekannte Teilchen. Es wurde 1995 am Tevatron entdeckt.
Aufgrund seiner groÿen Masse stellt das Top-Quark eine besondere Rolle im SM dar.
Beispielweise zerfällt das Top-Quark, im Gegensatz zu den leichteren Quarks, noch bevor
es zu einem gebundenen Zustand hadronisieren kann. Auch im Hinblick auf die Suche
nach neuer Physik ist das Top-Quark von groÿer Bedeutung, da in vielen Modellen neue
schwere Eichbosonen vorzugsweise in Top-Quarks zerfallen.

Bereits 2011 wurden 800 000 Top-Quark-Paare am LHC produziert, im Jahr 2012 waren
es 5 Millionen. Der LHC, der aufgrund dieser Zahlen als    Top-Fabrik   bezeichnet wird, er-
möglicht deshalb Präzisionsmessungen sowie die Vermessung der Eigenschaften des Top-
Quarks mit einer bislang nicht erreichbaren Genauigkeit.

Eine mögliche intrinsische Struktur des Top-Quarks wird durch seinen Radius und mag-
netisches Dipolmoment charakterisiert. Mit Hilfe von Wirkungsquerschnitts-Messungen
können Ausschlussgrenzen für diese Parameter bestimmt werden. Ferner ist die Messung
des dierentiellen Wirkungsquerschnitts sensitiv auf die Parameter der Quantenchromo-
dynamik (QCD), wie z.B. die Parton-Dichte-Funktion oder die starke Kopplungskonstan-
te. Darüber hinaus ändern höhere QCD-Ordnungen die Rate und Form der Verteilungen
des dierentiellen Wirkungsquerschnitts.

Am CMS-Experiment wurde der normierte dierentielle Wirkungsquerschnitt bei einer
                                                                             −1
Schwerpunktsenergie von 8 TeV und einer integrierten Luminosität von 12,1 fb    für ver-
schiedene kinematische Variablen des   tt-Systems   gemessen.
Messung des tt -Wirkungsquerschnitts bei hohen - invarianten Masse am LHC
10                                                                         1 Einleitung

In dieser Arbeit wird die Messung des dierentiellen Wirkungsquerschnitts als Funktion
                                                                                    −1
der invarianten Masse präsentiert. Dazu wird der vollständige Datensatz von 19,7 fb
verwendet, der im Jahr 2012 bei einer Schwerpunktsenergie von 8 TeV mit dem CMS-
Experiment aufgenommen wurde. Für die Messung wird eine regularisierte Entfaltungsme-
thode verwendet. Im Gegensatz zu vorherigen Messungen wird der dierentielle Wirkungs-
querschnitt für sehr hohe Massen bis zu 2,5 TeV vermessen.

Nach einer Einführung in das Standardmodell der Teilchenphysik mit Schwerpunkt auf das
Top-Quark in Kapitel 2 wird in Kapitel 3 der LHC und das CMS-Experiment vorgestellt.
In Kapitel 4 geht es im die Methoden, die zur Teilchenrekonstruktion- und Identikation
benutzt werden. In Kapitel 5 wird die Methode der regularisierten Entfaltung eingeführt.
Anschlieÿend werden die Ergebnisse der Messung diskutiert. Dazu werden in Kapitel 6 die
systematischen Unsicherheiten und in Kapitel 7 die Resultate präsentiert. Abschlieÿend
enthält Kapitel 8 eine Zusammenfassung und einen Ausblick.
2 Theoretische Grundlagen
In diesem Kapitel geht es um den theoretischen Hintergrund, der für diese Analyse rele-
vant ist. Dazu wird das Standardmodell (SM) der Teilchenphysik, das die fundamentalen
Bestandteile und Wechselwirkungen der Natur beschreibt, in Kapitel 2.1 vorgestellt. Eine
detaillierte Einführung kann [1, 2] entnommen werden. Das Top-Quark spielt in dieser
Analyse eine besondere Rolle. Es wird deshalb gesondert in Kapitel 2.2 eingeführt und
diskutiert.

2.1 Das Standardmodell der Teilchenphysik
Das SM beschreibt mit Hilfe einer Quantenfeldtheorie den Aufbau der Materie und derer
                                                                                                    1
Wechselwirkungen. Mathematisch können alle seine Vorhersagen aus der Lagrange-Dichte
abgeleitet werden. Die Theorie des SM ist deshalb so attraktiv, weil die Beschreibung der
Wechselwirkungen auf Symmetrien beruht, was auf die Forderung zurückzuführen ist, dass
die Lagrange-Dichte invariant unter lokalen Eichtransformationen sein soll. Die zugrunde
liegende Eichsymmetriegruppe des SM ist das direkte Produkt            SU (3)C ×SU (2)L ×U (1)Y .
Aus experimenteller Sicht ist das SM sehr erfolgreich. So konnten zahlreiche Messungen
in der Teilchenphysik durch das SM vorhergesagt und beschrieben werden. Dennoch kann
das SM in seiner jetzigen Form nicht alle Beobachtungen abdecken. So ist z.B. die Gra-
vitation nicht im SM implementiert. Des Weiteren gibt es Hinweise auf dunkle Materie
und dunkle Energie, die bislang weder durch ein Experiment direkt beobachtet werden
konnten noch durch das SM vorhergesagt sind.
Die folgenden Unterkapitel geben einen Überblick über die Teilchen und Wechselwirkun-
gen des SM.

2.1.1 Teilchen und Wechselwirkungen im Standardmodell
Anhand des Spins unterscheidet man zwischen Fermionen und Bosonen. Während Fermio-
             1
nen als Spin- -Teilchen die Bestandteile der Materie sind, stellen Bosonen die Austausch-
             2
teilchen der Wechselwirkungen dar und haben ganzzahligen Spin. Eine Auistung der
Fermionen und Bosonen ist in Tabelle 2.1 bzw. 2.2 zu nden.

Fermionen werden in Leptonen und Quarks unterteilt. Innerhalb der Leptonen wird zwi-
schen ungeladenen Neutrinos und geladenen Leptonen unterschieden, wohingegen Quarks
                               2                            1
eine elektrische Ladung von + (up-artige Quarks) bzw. − (down-artige Quarks) be-
                               3                            3
sitzen. Anhand ihrer aufsteigenden Masse sind Fermionen in drei Generationen unterteilt.

Die Eichbosonen, zu denen        W ±, Z 0,   das Photon   γ   und die Gluonen   g   gehören, sind die
Vermittler der Wechselwirkungen und tragen Spin 1.

 1 Die   Lagrange-Dichte dient der Beschreibung von Feldern durch Bewegungsgleichungen.
12                                                                                  2 Theoretische Grundlagen

                                                                      Generationen
                                                             1.              2.             3.
                              Neutral (Q    = 0)             νe              νµ             ντ

                Leptonen
                                   Masse
2.2 Physik des Top-Quarks                                                                 13

        Eichboson              Masse [GeV]   Wechselwirkung           Materieteilchen

        8 Gluonen                  0               stark                  Quarks
                               mW = 80, 4        schwach,
 W ±-   und   Z 0 -Bosonen                                           Quarks, Leptonen
                               mZ = 91, 2    elektromagnetisch
         Photon                    0         elektromagnetisch   Quarks, geladene Leptonen

Tabelle 2.2: Die Eichbosonen des SM mit ihren Massen, Wechselwirkungen und Materie-
               teilchen, an denen sie koppeln. Die Masse des Gluons ist indes ein theore-
               tischer Wert.

tragen lediglich Quarks Farbladung. Darüber hinaus trägt das Gluon selbst Farbladung
mit sich, sodass eine Selbstwechselwirkung unter Gluonen möglich ist.

2.1.2 Elektroschwache Symmetriebrechung

Das Prinzip der Eichinvarianz, auf dem das SM basiert, verbietet Massenterme in der
Lagrange-Dichte sowohl für Eichbosonen als auch für linkshändige Fermionen der elek-
troschwachen Wechselwirkung. Es konnte jedoch experimentell nachgewiesen werden, dass
                                                          ±       0
die Fermionen eine Masse besitzen und darüber hinaus die W - und Z -Bosonen sehr mas-
siv sind (vgl. Tab. 2.1 und Tab. 2.2).
Um das SM, inklusive der elektroschwachen Eichsymmetrie, aufrecht zu erhalten wurde
deshalb der Higgs-Mechanismus [46] eingeführt, welcher ein zweikomponentiges kom-
plexes Feld einführt und des Weiteren das Potential der Lagrange-Dichte neu postuliert.
Während die Lagrange-Dichte invariant unter elektroschwachen Symmetrien bleibt, trit
diese Eigenschaft nicht auf das Mininum des Potentials (Vakuum-Zustand ) zu. Man spricht
von spontaner Brechung der elektroschwachen Symmetrie. Mit entsprechender Wahl des
                                   ±      0
Minimums werden die Massen der W - und Z -Bosonen konstruiert, während das Photon
masselos bleibt.
Der Higgs-Mechanismus führt mit dem massiven Higgs-Boson ein weiteres Teilchen im SM
ein. Das Higgs-Boson ist neutral geladen, ein Spin-0-Teilchen und koppelt an Fermion-
                      ±         0
Antifermion-Paaren, W - und Z -Bosonen und darüber hinaus an sich selbst.
Im Juli 2012 wurde die Entdeckung eines Higgs-artigen Bosons beim ATLAS- und CMS-
Experiment mit einer Masse von 126,0±0,6 GeV [7] bzw. 125,3±0,6 GeV [8] veröentlicht.
Bislang deuten alle Messungen darauf hin, dass es sich um das SM Higgs-Boson handelt.
Es werden aktuell Eigenschaften, wie z.B. Spin oder Kopplungen des Higgs-Bosons über-
prüft, um zu validieren, ob es sich tatsächlich um das SM Higgs-Boson handelt oder ob
es Diskrepanzen gibt, die auf neue Physik jenseits des SM hindeuten.

2.2 Physik des Top-Quarks

Seit seiner Entdeckung durch das CDF [9]- und D0 [10]-Experiment am Proton-Antiproton-
Beschleuniger Tevatron im Jahr 1995, spielt das Top-Quark eine bedeutende Rolle in
der Teilchenphysik. Das liegt insbesondere daran, dass es mit einer Masse von           mt =
173, 34 ± 0, 76 GeV   [11] das Schwerste aller Quarks ist.
14                                                                2 Theoretische Grundlagen

Abbildung 2.1: Parton-Dichte-Funktionen (PDFs) des Protons als Funktion des Impuls-
                                                                 2           2
               bruchteils x. Für einen Viererimpulsübertrag von Q = 10000 GeV sind
                  die PDFs der Valenzquarks (uv , dv ), Seequarks (S) und Gluonen (g) abge-
                  bildet [14].

                                                                              √
Während am Tevatron Top-Quarks bei einer Schwerpunktsenergie von                  s = 1, 96 TeV     3

erzeugt wurden, ist seit 2010 eine Produktion bei 7 TeV bzw. 8 TeV durch den Large
Hadron Collider (LHC) möglich. Bereits 2011 wurden 800 000 Top-Quark-Paare am LHC
erzeugt, was die Möglichkeit oenbart, die Eigenschaften des Top-Quarks sehr präzise zu
untersuchen. Darüber hinaus ermöglicht es zahlreiche Suchen nach neuer Physik, bei der
Top-Quarks umfangreich involviert sind.
Im Folgenden geht es um die Erzeugung von Top-Quark-Paaren sowie um den Zerfall des
Top-Quarks  vorrangig unter den Voraussetzungen des LHC  und darüber hinaus um
das Top-Quark jenseits des SM. Ein umfangreicher Überblick zur Physik des Top-Quarks
kann in [12, 13] gefunden werden.

2.2.1 Top-Quark-Produktion am LHC
Die Produktion von Top-Quark-Paaren im SM wird hauptsächlich über die starke Wechsel-
wirkung vermittelt. Der Wirkungsquerschnitt des Prozesses          pp → tt,   welcher von der
Masse    mt   des Top-Quarks und der Schwerpunktsenergie abhängt, kann mit Hilfe der
Störungstheorie der QCD berechnet werden. Als Formel ausgedrückt ist der Wirkungs-
                                      4
querschnitt die Faltung der Parton -Verteilungs-Funktion (PDF) mit dem partonischen

 3 Bei                                                                               √
       der Entdeckung des Top-Quarks entsprach die Schwerpunktsenergie am Tevatron       s = 1, 8 TeV.
    Erst 2001 wurde die Schwerpunktsenergie auf 1,96 TeV erhöht.
 4 Partonen bezeichnen zusammenfassend Quarks und Gluonen.
2.2 Physik des Top-Quarks                                                                                               15

         q                                                  t         g                                          t

                                 g                                                         g

         q                                                  t         g                                          t
         qq-Annihilation im s-Kanal                                         gg-Fusion im s-Kanal

             g                                          t             g                                      t

             g                                          t             g                                      t
                 gg-Fusion im t-Kanal                                       gg-Fusion im u-Kanal

         g                                                  t         g                                          t
                                                                                           g
                                 g

         g                                                  t         g                                          t
         gg-Fusion im s-Kanal mit ISR                               gg-Fusion im s-Kanal mit g-Schleife

Abbildung 2.2: Feynman-Diagramme zur                               tt-Produktion in verschiedenen Kanälen. In
                    den ersten beiden Reihen wird die                       tt-Produktion in führender Ordnung
                    gezeigt. In der dritten                     Reihe ist, aufgrund der ISR bzw. g -Schleife, die
                    tt-Produktion              in der nächst-führenden Ordnung zu sehen.

Wirkungsquerschnitt          σ̂ :
                           X Z            1
                 σpp =                        dxi dxj fi (xi , µ2f )fj (xj , µ2f )σ̂ij→tt (ŝ, mt , µf , µr , αs ).   (2.2)
                         i,j=q,q,g    0

Die Summe läuft über alle Quarks und Gluonen, das Integral über alle Impulsbruchteile
xi des Protons. Die PDFs fi (xi , µ2f ) geben die Wahrscheinlichkeitsdichte an, mit der ein
Parton i mit longitudinalen Impulsbruchteil xi im Proton gefunden werden kann (s. Ab-
bildung 2.1). Die PDFs wurden dabei sowohl über tienelastische Streuung (vornehmlich
am Experiment HERA [15]), Fixed-Target-Experimenten [16], als auch durch Neutrino-
Nukleon-Streuung [17] experimentell gemessen. Die Parameter                                     µr,f   sind Skalen zur Fak-
torisierung und Renormierung und deshalb frei wählbar, weil sie keine fundamentalen
Parameter des SM sind. Mit                    ŝ = x1 x2 s      ist die quadrierte Schwerpunktsenergie der Parto-
nen gekennzeichnet,         αs      ist die Kopplungskonstante der starken Wechselwirkung.

Top-Quark-Paare können sowohl in Quark-Antiquark-Annihilationen als auch in Gluon-
Gluon-Fusionen produziert werden. Abbildung 2.2 veranschaulicht diese Prozesse. Zur
16                                                                         2 Theoretische Grundlagen

Erzeugung eines         tt-Paares   muss die Schwerpunktsenergie der wechselwirkenden Parto-
nen   ŝ   mindestens der doppelten Top-Quark-Masse (≈350 GeV) entsprechen. Aus diesem
Grund müssen Partonen, unter der Annahme von                  x1 = x2 ,   den Impulsbruchteil

                        350 GeV                                    350 GeV
               x1,2 ≥             ≈ 0, 2    (Tevatron),   x1,2 ≥           ≈ 0, 04   (LHC)         (2.3)
                        1, 96 TeV                                   8 TeV

besitzen, um      tt-Paare   erzeugen zu können. Abbildung 2.1 ist zu entnehmen, dass die
Valenzquarks bei einem Impulsbruchteil von 0,02 in den PDFs dominant sind. Deshalb
überwiegt die Quark-Antiquark-Annihilation zur                tt-Paar-Produktion   am Tevatron zu ei-
nem Anteil von ungefähr 85 %. Am LHC liegt ein ähnlicher Anteil zugunsten der Gluon-
Gluon-Fusion vor. Die dortige Schwerpunktsenergie von 8 TeV erlaubt zur                 tt-Produktion
kleinere Impulsbruchteile, bei denen die Gluondichten steil ansteigen.

Die Berechnung von Wirkungsquerschnitten in der Störungstheorie wird mit steigender
                                                                    next-to-next-to-
Ordnung des Prozesses präziser. Inzwischen existieren Berechnungen in
leading-order (NNLO) für den inklusiven tt-Wirkungsquerschnitt [1820]. Während in
next-to-leading-order (NLO) maximal ein Parton oder eine Schleife emittiert wird (s.
                                                              5

Abbildung 2.2 unten), beinhalten NNLO insgesamt zwei Abstrahlungen oder Schleifen im
Anfangs- bzw. Endzustand.
                                                          √
Am LHC wird bei einer Schwerpunktsenergie      s = 8 TeV ein inklusiver tt-Wirkungs-
                    +24                        +9
querschnitt von 229−26 pb in NLO [21] und 246−11 pb in NNLO vorhergesagt [20]. In
Abbildung 2.3 ist der tt-Produktionswirkungsquerschnitt in genäherter NNLO-Präzision
                                            √
eingezeichnet. Die Messwerte bei
              √                     √           s = 1, 96 TeV     mit dem D0- und CDF-Experiment
sowie bei      s = 7 TeV     und        s = 8 TeV   mit dem CMS-Experiment stimmen gut mit der
Vorhersage überein.

Zusätzlich zu der       tt-Produktion     können über die schwache Wechselwirkung einzelne Top-
Quarks erzeugt werden. Die Produktionskanäle in niedrigster Ordnung sind Abbildung 2.4
zu entnehmen. Der t-Kanal, bei dem das Top-Quark über die Fusion eines                 W -Bosons und
eines b-Quarks erzeugt wird, ist dabei der dominante Prozess. Der inklusive Wirkungsquer-
schnitt des     t-Kanals   beträgt 87,2 pb am LHC bei einer Schwerpunktsenergie von 8 TeV.
Da    u-Quarks   die dominanten Valenzquarks in den PDFs bei                pp-Beschleunigern   sind, ist
die Top-Quark-Produktion im               t-Kanal   ladungsasymmetrisch. Es hat des Weiteren zur
Folge, dass die Produktion von Top-Quarks (56,4 pb) der Produktion von Antitop-Quarks
(30,7 pb) mit einem Verhältnis von ungefähr 2:1 überwiegt. Im               s-Kanal liegt mit dem Zer-
fall in ein Top und ein Antibottom (3,79 pb) und deren Antiteilchen (1,76 pb) der analoge
Sachverhalt vor.
Die assoziierte Produktion (tW -Kanal) einzelner Top-Quarks ist ladungssymmetrisch, weil
im Anfangszustand ein Gluon und ein (Anti)b-Quark enthalten ist. Für beide Zustände
beträgt der vorhergesagte Wirkungsquerschnitt 11,1 pb [22].

2.2.2 Masse und Zerfall des Top-Quarks
Die Polmasse des Top-Quarks ist ein fundamentaler Parameter des SM. Direkte Messun-
gen am Tevatron ergeben einen Wert von               mt = 173, 2 ± 0, 9 GeV   [24]. Mit einer Unsicher-
heit von 0,5 % ist die Top-Quark-Masse damit sehr präzise vermessen.

 5 Die   Abstrahlung eines Teilchens im Anfangszustand nennt man Initial State Radiation. Die Ab-
     strahlung eines Teilchens im Endzustand wird entsprechend als Final State Radiation bezeichnet.
2.2 Physik des Top-Quarks                                                                                                                             17

         Inclusive tt cross section [pb]
                                                                                   -1
                                                   Tevatron combination* L = 8.8 fb
                                                   ATLAS dilepton L = 0.7 fb
                                                                             -1         ATLAS+CMS Preliminary                    Feb 2014
                                                                          -1
                                                   CMS dilepton L = 2.3 fb
                                                   ATLAS lepton+jets* L = 0.7 fb
                                                                                    -1
                                                                                        TOPLHCWG
                                                                              -1
                                                   CMS lepton+jets L = 2.3 fb
                                                                                       -1
                                                   TOPLHCWG combination* L = 1.1 fb
                                                                                 -1
                                                   ATLAS dilepton* L = 20.3 fb
                                           102     CMS dilepton L = 5.3 fb
                                                                          -1

                                                                                    -1
                                                   ATLAS lepton+jets* L = 5.8 fb
                                                                                -1
                                                   CMS lepton+jets* L = 2.8 fb
                                                 * Preliminary                                     250

                                                                                                   200
                                           10

                                                                        NNLO+NNLL (pp)             150
                                                                        NNLO+NNLL (pp)                          7                 8
                                                                        Czakon, Fiedler, Mitov, PRL 110 (2013) 252004
                                                                        mtop = 172.5 GeV, PDF ⊕ α S uncertainties according to PDF4LHC
                                             1
                                                    2             3              4          5          6           7           8            9
                                                                                                                                   s [TeV]

Abbildung 2.3: Der                                 tt-Produktionswirkungsquerschnitt                        in    Abhängigkeit           der    Schwer-
                                                                                                                                                  √
                                            punktsenergie. Eingezeichnet sind die Messungen am Tevatron bei                                           s=
                                            1, 96 TeV,       sowie die Messungen des CMS- und ATLAS-Experiments am
                                            LHC bei 7 TeV und 8 TeV in verschiedenen Zerfallskanälen [23].

Das Top-Quark kann im SM ausschlieÿlich in ein down-artiges Quark und ein                                                                      W -Boson
zerfallen. Die jeweilige Zerfallsrate ist proportional zum Quadrat der Elemente der CKM-
             2
Matrix |Vtq | (q = d, s, b), sodass der Zerfall in ein W-Boson und ein b-Quark mit ca.
99,9% dominiert (vgl. Gleichung (2.1)). Die totale Zerfallsbreite                                                        Γt   des Top-Quarks im
SM ist gegeben durch [25]

                       2 
      Gf m3t       m2W        m2W      2αs 2π 2 5
                                               
               2
  Γt = √ |Vtb | 1 − 2      1+2 2    1−         −      = 1, 33 GeV,                                                                                (2.4)
      8π 2         mt         mt       3π   3    2

wobei Gf die Fermikonstante und mW die Masse des W -Bosons ist.
                                                                                    1
Die groÿe Zerfallsbreite des Top-Quarks hat eine sehr kurze Lebensdauer von τt =
                                                                                    Γt
                                                                                       ≈
      −25
5 · 10 s zur Folge. Die Zeitskala, die Quarks zur Hadronisierung benötigen, liegt in der
                          −24
Gröÿenordnung τhad ∼ 10       s. Top-Quarks zerfallen demzufolge bevor sie hadronisieren
können, sodass keine gebundenen                                            tt-Zustände (Toponium )             existieren.

Entsprechend des Zerfalls eines Top-Quarks hat der Zerfall eines                                                     tt-Paares, tt → bbW + W − ,
zwei W-Bosonen und b-Quarks im Endzustand. Die W-Bosonen zerfallen anschlieÿend
entweder in ein geladenes Lepton und das zugehörige Neutrino oder in ein                                                                 qq -Paar.   Der
Zerfall in Quark-Paare, die Top-Quarks enthalten, ist aus kinematschen Gründen ver-
boten, da die Masse des Top-Quarks die Masse des W-Bosons übersteigt. Der Zerfall
des W-Bosons lässt somit drei Zerfallskanäle für den                                                  tt-Zerfall zu, die in Abbildung 2.5
dargestellt sind. Die Verzweigungsverhältnisse der                                                tt-Zerfallskanäle sind in Tabelle 2.3 zu
nden.
18                                                                   2 Theoretische Grundlagen

         q                                t      b                                W−

         q′                               b      g                                t
                      s-Kanal                        Assoziierte tW -Produktion
                                                            im s-Kanal
               q                    q′                 b                     W−

               b                    t                  g                     t
                      t-Kanal                        Assoziierte tW -Produktion
                                                            im t-Kanal

Abbildung 2.4: Feynman-Diagramme zur Produktion einzelner Top-Quarks in führender
                   Ordnung.

Voll hadronischer Kanal

Die gröÿte Zerfallsrate mit 45,7 % liegt vor, wenn beide    W -Bosonen hadronisch zerfallen:

                                tt → bbW + W − → bbqq 0 q 00 q 000

Neben der groÿen Zerfallsrate hat dieser Kanal den Vorteil, dass alle Teilchen im End-
zustand (zumindest prinzipiell) gemessen werden können. Dem entgegen steht ein sehr
groÿer hadronischer Untergrund, der die Rekonstruktion von Quarks zum entsprechenden
tt-Ereignis   erschwert.

Semileptonischer Kanal

Die zweitgröÿte Rate (43,8 %) für einen Endzustand liegt vor, wenn eines der          W -Bosonen
hadronisch und das andere leptonisch zerfällt:

                                 tt → bbW + W − → bbqq 0 lν l
2.2 Physik des Top-Quarks                                                                                19

                                                                             a)    b)    c)

                                                                             b     b     b

                                                                             q     q     l

           g
                                           t
                                                         W+                  q     q     νl
                                 g

                                                                             q′    l     l′
                                                             −
                                           t             W
           g

                                                                             q′    νl    ν l′

                                                                             b     b     b

Abbildung 2.5: Feynman-Diagramm zur                tt-Produktion      in führender Ordnung durch        gg -
                     Fusion. Gezeigt ist auÿerdem der weitere Zerfall im voll hadronischen (a)),
                     semileptonischen (b)) und dileptonischen (c)) Kanal.

In der Praxis wird der semileptonische Kanal auf ein Elektron oder Myon im Endzu-
stand beschränkt, weil das           τ -Lepton   weiter in Neutrinos und Hadronen bzw. Myonen
                                                                  6
und Elektronen zerfällt, ehe es detektiert werden kann . Die Zerfallsrate für diesen Kanal
reduziert sich damit auf 29,8 %. Dessen ungeachtet vereint der semileptonische Zerfalls-
kanal die Vorteile einer groÿen Zerfallsrate und eines überschaubaren Untergrundes. Die
Hauptuntergrundquellen sind W- und Z-Bosonen in Verbindung mit Jets (sogenannte                         W-
bzw.   Z-Jets ),   einzelne Top-Quarks sowie QCD-Ereignisse. Des Weiteren wird die Rekon-
struktion eines      tt-Ereignisses   dadurch erschwert, dass das Neutrino nicht detektiert wird.
Die Mithilfe kinematischer Bedingungen bzw. sogenannter                  kinematischer Fits      ist für die
Rekonstruktion des        tt-Ereignisses   unabdinglich.
Für die hier vorgestellte Analyse werden die semileptonischen              tt-Zerfallskanäle     mit einem
Myon (Myon+ Jets-Kanal) bzw. einem Elektron (Elektron+Jets-Kanal) im Endzustand
betrachtet und miteinander kombiniert.

Dileptonischer Kanal
Der dileptonische Zerfallskanal hat mit 10,5 % die kleinste Zerfallsrate. Beide                 W -Bosonen
zerfallen leptonisch, sodass zwei verschieden geladene Leptonen sowie zwei Neutrinos im
Endzustand vorliegen:
                                                                  0
                                        tt → bbW + W − → lν l l νl0
Da die geladenen Leptonen verhältnismäÿig leicht vom Untergrund unterschieden werden
können, hat der dileptonische Zerfallskanal die reinste Signatur. Aufgrund der fehlenden
Energie der beiden Neutrinos jedoch, kann die Struktur des               tt-Ereignisses nur sehr schwer
 6 Prozesse,   bei denen das τ -Lepton in ein Myon oder Elektron zerfällt werden jedoch mit berücksichtigt.
20                                                                    2 Theoretische Grundlagen

rekonstruiert werden. Des Weiteren besteht die bereits für den semileptonischen Zerfalls-
kanal beschriebene Problematik, dass es sich bei einem geladenen Lepton oder beiden
geladenen Leptonen um ein         τ -Lepton     bzw. zwei   τ -Leptonen   handelt. Schlieÿt man      τ-
Leptonen im Endzustand aus, reduziert sich die Zerfallsrate auf 4,6 %.

                Kanal                 Rate [%]         Kanal               Rate [%]

                Dileptonisch        10,50   ±   0,12   ee                   ± 0,02
                                                                          1,16
                                                       µµ                   ± 0,02
                                                                          1,12
                                                       ττ              1,27 ± 0,03
                                                       eµ              2,27 ± 0,04
                                                       eτ              2,42 ± 0,05
                                                       µτ              2,38 ± 0,05
                Semileptonisch      43,80   ±   0,40   e+Hadronen     14,53 ± 0,19
                                                       µ+Hadronen     14,29 ± 0,21
                                                       τ +Hadronen    15,21 ± 0,28
                Voll hadronisch     45,70   ±   0,26

Tabelle 2.3:   tt-Zerfallskanäle und ihre Verzweigungsverhältnisse nach dem Zerfall der bei-
               den W-Bosonen [3].

2.2.3 Das Top-Quark in Modellen jenseits des SM

Trotz der Erfolge des SM sind noch einige Fragen ungeklärt, wie in Kapitel 2.1 bereits
erwähnt. Um die oenen Fragestellungen und Probleme zu lösen, wurden zahlreiche Theo-
rien neuer Physik jenseits des SM eingeführt. Viele mögliche Szenarien binden dabei Top-
Quarks ein, da sich die Masse des Top-Quarks nah an der Skala der elektroschwachen
Symmetriebrechung bendet. Einige Theorien gehen deshalb davon aus, dass das Top-
Quark für die elektroschwache Symmetriebrechung verantwortlich ist. So z.B. das                 Topco-
lor -Modell   [26]. In diesem Modell ist die Skala der elektroschwachen Symmetriebrechung
ein dynamischer Mechanismus des SM, der ein Top-Quark-Kondensat                   htti   mit einbezieht
und den Higgs-Mechanismus ersetzt. Dieses Modell hat jedoch ein Feinabstimmungsprob-
lem und kann die groÿe Massendierenz zwischen Top- und Bottom-Quark nicht erklä-
ren [27].
Im   Topcolor-assisted-technicolor -Modell      [2729] ist die Masse des Top-Quarks eine Kom-
bination aus kleinen fundamentalen Komponenten, die von einem erweiterten Technicolor-
Mechanismus generiert werden, und einer groÿen dynamischen Massenkomponente, gene-
riert aus der Topcolor-Dynamik. Aufgrund der Technicolor-Kompenente wird eine kleinere
Top-Masse, verglichen zum reinen Topcolor-Modell, vorhergesagt.
Viele Theorien sagen neue schwere Resonanzen, z.B. in der invarianten            tt-Massenverteilung,
vorher. Das soeben vorgestellte Topcolor-assisted-technicolor -Modell beinhaltet ein lepto-
             0
phobisches Z -Boson, das vorwiegend in tt-Paare zerfällt. Weitere Beispiele zur Verur-
sachung schwerer Resonanzen sind Axigluonen [30] sowie Kaluza-Klein-Gluonen aus Ex-
tradimensionsmodellen, wie etwa das Randall-Sundrum-Modell [31].
Darüber hinaus gibt es supersymmetrische Erweiterungen des SM [32,33], wie zum Beispiel
das minimale supersymmetrische Standardmodell (MSSM) [34], das fünf Higgs-Bosonen
vorhersagt, die in   tt-Paare   zerfallen können. Umgekehrt gibt es supersymmetrische Mo-
delle, die ein geladenes Higgs Boson vorhersagen, in welches das Top-Quark anstelle des
2.2 Physik des Top-Quarks                                                                                        21

W -Bosons             zerfällt. Schlussfolgernd kann sich neue Physik jenseits des SM sowohl in der
Produktion als auch im Zerfall des Top-Quarks oenbaren.

2.2.4 Bisherige Messungen des
      tt-Produktions-Wirkungsquerschnitts

In dieser Analyse soll der                    tt-Produktions-Wirkungsquerschnitt            für die invariante Masse
gemessen werden. Noch vor der Zeit des LHC wurden dierentielle Wirkungsquerschnitts-
messungen als Funktion der invarianten Masse des                              tt-Systems   und des transversalen Im-
pulses des Top-Quarks durchgeführt [3537].
Nach Inbetriebnahme des LHC wurden bereits 2010 erste dierentielle Wirkungsquer-
schnittsmessungen als Funktion des Transversalimpulses    und der Pseudorapidität η pT
                                                                                   −1
des Myons mit dem CMS-Experiment bei einer integrierten Luminosität von 3 bis 36 pb
vorgenommen [38, 39]. Zwei Jahre später lässt die hohe Statistik an produzierten Top-
Quarks eine erheblich präzisere Messung zu. Abbildung 2.6 zeigt die aktuelle Messung des
dierentiellen              tt-Wirkungsquerschnitts             mit dem CMS [40]- und ATLAS [41]-Experiment.
Das Ziel der in dieser Arbeit vorgestellten Analyse ist eine Erweiterung der in Abbildung
2.6(a) gezeigten Wirkungsquerschnittsmessung bis hin zu einer invarianten Masse von
2,5 TeV.

                          CMS Preliminary, 12.1 fb-1 at s = 8 TeV
1 dσ GeV-1

                     e/µ + Jets Combined           Data
               -2
                                                   MadGraph
             10
                                                   MC@NLO
  dmtt

                                                   POWHEG
σ

             10-3

             10-4

               -5
             10

             10-6
                    400     600    800    1000   1200    1400   1600
                                                        mtt GeV

                                    (a)                                                       (b)

Abbildung 2.6: Normierter dierentieller                            tt-Produktionswirkungsquerschnitt als Funktion
                              der invarianten Masse für die Kombination des Elektron- und Myon+Jets-
                              Kanal beim (a) CMS-Experiment [40] und (b) ATLAS-Experiment [41].
3 Experimenteller Aufbau
Die vorgestellte Analyse basiert auf Daten von Proton-Proton-Kollisionen, die 2012 mit
dem Compact Muon Solenoid(CMS)-Detektor am Large Hadron Collider (LHC) aufgenom-
men wurden. Im Folgenden werden der LHC [43] sowie das CMS-Experiment [44, 45]
vorgestellt.

3.1 Der Large Hadron Collider
Der LHC ist mit einem Umfang von 26,7 km der bislang gröÿte von Menschen gebaute
Teilchenbeschleuniger. Der Tunnel, bei dem Protonen zu einer Schwerpunktsenergie von
                                                                            1
bis zu 14 TeV beschleunigt werden, liegt in 100 m Tiefe am CERN -Gelände und dessen
Umgebung.
Mit Hilfe eines Duoplasmatrons werden die Protonen durch Ionisation von Wassersto
erzeugt [46]. Bevor die Protonen in zwei gegenläuge Röhren des LHC injiziert werden,
durchlaufen sie eine Reihe von Vorbeschleunigern, welche in Abbildung 3.1 eingezeich-
net sind. Diese Vorbeschleunigerreihe besteht aus verschiedenen Linearbeschleunigern
(LINAC), dem Proton Synchrotron (PS) und dem Super Proton Synchrotron (SPS). Die
Protonen werden am PS auf 25 GeV und anschlieÿend am SPS auf 450 GeV beschleunigt,
ehe sie in den LHC eingespeist und an vier festgelegten Punkten zur Kollision gebracht
werden. Diese Kollisionspunkte sind von den folgenden Detektoren ummantelt:

   •   ALICE (A Large Ion Collider Experiment)

   •   ATLAS (A Toroidal LHC Apparatus)

   •   CMS (Compact Muon Solenoid)

   •   LHCb (Large Hadron Collider beauty experiment)

Die Multifunktionsdetektoren ATLAS [47] und CMS sind so konstruiert, dass eine Vielzahl
von Standardmodell-Messungen und darüber hinaus Suchen nach Physik jenseits des Stan-
dardmodells möglich sind. Auÿerdem konnten die ATLAS- und CMS-Experimente bereits
die Existenz des Higgs-Bosons nachweisen.
Im Gegensatz zu den Multifunktionsdetektoren sind ALICE [48] und LHCb [49] für
speziellere Aufgaben konstruiert. So werden bei ALICE Blei-Ionen zur Kollision gebracht,
um ein Quark-Gluon-Plasma zu erzeugen und zu untersuchen. Beim LHCb-Experiment
wird die CP-Verletzung von B-Mesonen untersucht.
Einer der groÿen Vorteile des LHC im Vergleich zu vorherigen Experimenten ist seine
hohe Luminosität. Die Luminosität beschreibt die Anzahl der Teilchenbegegnungen pro
Zeit und Fläche und ergibt sich aus

                                                  nb Np2 f
                                             L=            ,                                   (3.1)
                                                     A
 1 Europäische   Organisation für Kernforschung. Formal Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire.
24                                                                       3 Experimenteller Aufbau

Abbildung 3.1: Beschleunigerkomplex des CERN, inklusive der vier gröÿten Experimente
                     des LHC [42].

wobei     nb   die Anzahl der Bündel im Teilchenstrahl,   Np   die Anzahl der Protonen im Bündel
und   f   die Umlaurequenz der Bündel ist. Die Gröÿe           A   entspricht der eektiven Breite
des Strahls in transversaler Richtung.
Als Designparameter für den LHC sind dabei          nb = 2808 Bündel mit Np = 1, 15 · 1011
Protonen pro Bündel, eine Umlaurequenz          f = 11, 25 kHz und darüber hinaus eine Lu-
                    34  −2 −1
minosität von L = 10 cm s     vorgesehen.
Als ein Maÿ für die Gesamtzahl von Kollisionen und der damit gesammelten Gesamt-
                                                           R
datenmenge wird die integrierte Luminosität       Lint =       Ldt eingeführt. Abbildung 3.2 zeigt
die im Jahr 2012 aufgenommene integrierte Luminosität bei einer Schwerpunktsenergie
                                   −1                               −1
von 8 TeV. Der LHC lieferte 23,3 fb , wovon der CMS-Detektor 21,8 fb   aufgenommen
hat [50].

3.2 Das CMS-Experiment
Der CMS-Detektor ist einer der beiden Multifunktionsdetektoren am LHC. Trotz sei-
ner groÿen Masse von 12 500 Tonnen ist der CMS-Detektor mit einer Länge von 21,6 m
und einem Durchmesser von 14,6 m im Volumen wesentlich kompakter als der ATLAS-
Detektor. Ein schematischer Überlick des CMS-Detektors mit den meisten seiner Kom-
ponenten ist Abbildung 3.3 zu entnehmen. Die namensgebende Komponente ist der 13 m
lange supraleitende Solenoid, welcher ein Magnetfeld von bis zu             B = 4T    parallel zum
Teilchenstrahl generiert. Die weiteren Komponenten werden in den Unterkapiteln 3.2.1-
3.2.4 beschrieben.

Das von CMS eingeführte Koordinatensystem hat seinen Ursprung am nominalen Kolli-
sionspunkt im Zentrum des Detektors. Die    x-Achse zeigt radial in Richtung des Zentrums
des LHC, die y -Achse zeigt vertikal aufwärts und die z -Achse parallel, mit positiver Rich-
3.2 Das CMS-Experiment                                                                   25

Abbildung 3.2: Zeitliche Entwicklung der integrierten Luminosität, die vom LHC (blau)
                    geliefert und vom CMS-Detektor (orange) 2012 aufgenommen wurde [50].

tung entgegen des Uhrzeigersinns, zur Strahlrichtung. Von der x-Achse ausgehend, ist der
Azimutwinkel φ als der Winkel der xy -Ebene deniert. Der Polarwinkel θ wird von der
                                                                                      θ
positiven z -Achse aus gemessen. Anstelle von θ wird die Pseudorapidität η = − ln tan( )
                                                                                      2
bevorzugt verwendet. Der Abstand zwischen zwei Teilchen wird über den ηφ-Phasenraum
          p
als ∆R =      ∆φ2 + ∆η 2 deniert.

3.2.1 Spurdetektor
Zur Messung der Ladung, der Richtung und des Impulses von geladenen Teilchen ist eine
präzise Spurrekonstruktion notwendig. Der Spurdetektor ist die innerste Komponente des
CMS-Detektors und zylindrisch aufgebaut mit einer Länge von 5,8 m sowie einem Radius
von 1,1 m. Des Weiteren wird ein Bereich von bis zu     |η| = 2, 5   abgedeckt. Seine sensi-
blen Bauteile sind auf Silizium basierende Sensoren, welche die durch Ionisation verloren
gegangene Energie geladener Teilchen messen. In Abhängigkeit vom Teilchenuss bzw. von
der Distanz zum Kollisionspunkt wird der Spurdetektor in zwei Bereiche aufgeteilt. Einen
Überblick gibt die Abbildung 3.4. Nächstliegend zum Kollisionspunkt sind Pixeldetek-
toren positioniert. Mit einem Abstand von 4,4 cm, 7,3 cm und 10,2 cm zum Teilchenstrahl
sind die Pixeldetektoren in drei Schichten platziert. Um eine eindeutige Messung und
                                                           −4
eine Belegung pro Kollision und Pixel von näherungsweise 10   zu erreichen, betragen die
                                       2
Maÿe eines Pixeldetektors 100×150 µm . Insgesamt sind 66 Millionen Pixeldetektoren in
1 440 Modulen verbaut. Als Resultat folgt eine räumliche Auösung von 10-20 µm.

In einem Abstand von 20-116 cm zum Teilchenstrahl werden die Pixeldetektoren von
Streifendetektoren ummantelt. Der Streifendetektor als Ganzes besteht aus 15 148 Streifen-
modulen mit über 10 Millionen Auslesekanälen und wird in verschiedene Bereiche un-
                                                   2
terteilt. Der innere Bereich des Zylinders (TIB ) erstreckt sich bis      |z| < 65 cm   und

 2   Tracker Inner Barrel
26                                                                  3 Experimenteller Aufbau

                              Abbildung 3.3: Der CMS-Detektor [45].

                 3
wird vom TID , welcher drei kleine Scheiben beinhaltet, abgedeckt. Die Silizium-Sensoren
haben eine Dicke von 320 µm, der Abstand der Streifen liegt im Bereich von 80-120 µm. Es
resultiert eine Auösung von 23 bis 24 µm. Der äuÿere Bereich des Zylinders (TOB ) brei-
                                                                                      4

tet sich bis   |z| < 110 cm                                     5
                              aus und wird von Endkappen (TEC ), die jeweils neun Scheiben
pro Begrenzung enthalten, umfasst. Aufgrund des niedrigeren Strahlungsniveaus in diesem
Bereich können dickere Silikon-Sensoren (500 µm) eingesetzt werden. Ebenso erhöht ist
der Abstand der Streifen, der zwischen 120 und 180 µm liegt. Die resultierende Auösung
in diesem Bereich beträgt 23-52 µm.

3.2.2 Elektromagnetisches Kalorimeter

Das elektromagnetische Kalorimeter (ECAL) umgibt den Spurdetektor und dient zur
Messung der Energie von Elektronen und Photonen, die im Material einen elektromag-
netischen Schauer erzeugen. Es ist beispielsweise von wesentlicher Bedeutung zur Iden-
tizierung eines Higgs-Bosons im Zerfallskanal      H → γγ .   Ein Viertel des ECALs ist in
Abbildung 3.5 dargestellt.
Das ECAL ist ein homogenes Kalorimeter und umfasst 61 200 Bleiwolframat(PbWO4 )-
Kristalle im zentralen Bereich sowie 7 324 Kristalle in jeder der beiden Endkappen. Die
Kristalle haben eine kurze Strahlungslänge mit     X0 = 0, 89 cm,   darüber hinaus wird Licht
                                                                                      Photonen
(80 % innerhalb 25 ns) sehr schnell emittiert. Jedoch ist die Lichtausbeute von 30
                                                                                          MeV

 3 Tracker Inner Disks
 4 Tracker Outer Barrel
 5 Tracker End Cap
3.2 Das CMS-Experiment                                                                        27

Abbildung 3.4: Grundriss des Spurdetektors mit seinen Komponenten. Linien repräsen-
                tieren die Module der Pixel- und Streifensensoren [45].

verhältnismäÿig gering, sodass Photodioden, welche vom Magnetfeld unbeeinusst arbei-
ten, mit instrinsischer Verstärkung benötigt werden. So werden Avalanche-Photodioden
innerhalb des ECALs Silikon und Vakuum-Phototrioden in den Endkappen verwendet.
Der innere Bereich des ECALs hat einen Abstand von 129 cm zum Teilchenstrahl und
deckt dabei den Raum bis     |η| < 1, 497 ab. Auf der Stirnseite beträgt die Abmessung der
Kristalle ungefähr   22 × 22 mm2 . Die Länge von 230 mm entspricht einer Strahlungslänge
von 25,8 X0 . Die Endkappen des ECALs reichen bis zu einem Abstand von 314 cm. Die
                                                     1, 497 < |η| < 3, 0. Die Abmessun-
Reichweite der Pseudorapidität erstreckt sich hier von
                                            28, 6 × 28, 6 mm2 , die Länge misst sich auf
gen der Kristalle auf der Stirnseite betragen
220 mm (24,7 X0 ). Noch vor den Endkappen ist ein 3 X0 dickes Sampling-Kalorimeter mit
Absorbern aus Blei sowie zwei Schichten aus Silikon Streifen-Sensoren als aktives Material
angebracht. Dieses dient zur Identizierung von Pionen, die in zwei Photonen zerfallen.
Die Leistungsfähigkeit des ECALs wurde mit Hilfe eines Teststrahls gemessen. Die En-
ergieauösung für Elektronen als Funktion der Energie konnte daher wie folgt parametri-
siert werden [45]:

                           2                 !2                    2
                     σ(E)             3, 6 %                12, 4 %
                                 =   p              +                      + (0, 26 %)2 .   (3.2)
                      E               E/GeV                 E/GeV

Der erste Term wird aufgrund der elektromagnetischen Schauer eingeführt und ist von
statistischer Natur. Der zweite Term beschreibt das Rauschen der Elektronik. Der kon-
stante Term ist beispielsweise auf Kalibrationsfehler oder das nichtlineare Ansprechver-
halten zurückzuführen.

3.2.3 Hadronisches Kalorimeter
Das hadronische Kalorimeter (HCAL) ist ein Sampling-Kalorimeter und dient der Mes-
sung der Energie von geladenen und neutralen Hadronen. Da Hadronen bei gleicher
Primärenergie tiefer in Material eindringen als Photonen und geladene Leptonen, liegt
das HCAL auÿerhalb des ECALs und umgibt es.
Messing dient im Groÿteil des HCALs als Absorber-Material, weil es leicht zu verarbeiten
28                                                                            3 Experimenteller Aufbau

     Abbildung 3.5: Anordnung eines Viertels des elektromagnetischen Kalorimeters [44].

und nicht magnetisch ist. Die Wechselwirkungs-Länge beträgt                       λI = 16, 42 cm.   Zwischen
den Messing-Absorbern sind Plastik-Szintillatoren als aktives Medium angebracht. Das
HCAL lässt sich in mehrere Bereiche aufteilen. Der Zylinder im Inneren des HCALs deckt
die Region bis    |η| < 1, 4   ab und ist in 2304 Schächte mit               ∆η × ∆φ = 0, 087 × 0, 087
aufgeteilt. Ein Schacht entspricht dabei genau             5×5       Kristalle des ECALs. Die scheiben-
förmigen Endkappen erweitern die abgedeckte Region auf                      |η| < 3.   Abschlieÿend deckt
ein vorwärts gerichtetes Kalorimeter mit Absorbermaterial aus Stahl und einer Tiefe von
näherungsweise 10 λI die Pseudorapidität von 3,0 bis 5,0 ab.
Analog zum ECAL wurde die Leistungsfähigkeit des HCALs mit Hilfe eines Teststrahls
gemessen. Folglich ist eine Messung der relativen Energieauösung des kombinierten
ECAL- und HCAL-Systems möglich. Die entsprechende Parametrisierung lautet [45]

                                         2                  2
                                   σ(E)                120 %
                                               =                    + (6, 9 %)2                           (3.3)
                                    E                  E/GeV

und entspricht einer Auösung von 18 % für Pionen mit einer Energie von                     E = 50 GeV.

3.2.4 Myon-System

Die am weitesten auÿen liegende Komponente des CMS-Detektors ist das Myon-System.
Das Myon-System wird benötigt, weil Myonen als minimal ionisierende Teilchen sowohl
den Spurdetektor als auch die Kalorimeter ohne auällige Energieverluste durchqueren.
Betrachtet man den Wechselwirkungspunkt als den Ursprung der Myonen, so ist die Be-
stimmung des Ablenkswinkels im Myon-System essentiell für eine Messung des Impulses
von Myonen.
Drei Arten von Gasdetektoren werden zur Identizierung und Messung von Myonen ver-
wendet. Im zentralen Bereich, wo der durch Neutronen induzierte Untergrund klein, die
                                                                                                      6
Rate an Myonen gering und das Magnetfeld homogen ist, werden Driftröhren (DT ) be-
nutzt. Diese Region erstreckt sich bis         |η| < 1, 2.   In den beiden Endkappen ist sowohl die

 6   Drift Tube
3.2 Das CMS-Experiment                                                                  29

Abbildung 3.6: Grundriss der Komponenten des Myon-Systems für einen Viertel des CMS-
                   Detektors [44].

Rate an Myonen als auch der durch Neutronen induzierte Untergrund hoch. Des Wei-
teren ist das Magnetfeld weniger homogon als im zentralen Bereich des Myon-Systems.
                                                        7
Es werden deshalb Kathoden-Streifen-Kammern (CSC ) eingesetzt, welche die Region bis
|η| < 2, 4   erfassen. Zusätzlich werden sowohl im zentralen Bereich als auch in den End-
kappen (bis     |η| < 1, 6)                                  8
                              Widerstandsplattenkammern (RPC ) verwendet. RPCs arbeiten
                                                                       kHz
im Avalanche-Modus, um einen Betrieb bis hin zu hohen Raten von 10           zu gewährleis-
                                                                       cm2

ten. Darüber hinaus haben RPCs eine sehr gute Zeitauösung, jedoch eine ungenauere
Positionsbestimmung als die DTs oder CSCs. RPCs werden deshalb hauptsächlich zur
eindeutigen Zuordnung der Protonkollisionen eingesetzt.
Der Aufbau des Myon-Systems ist in Abbildung 3.6 zu sehen. Die Regionen des Myon Bar-
rel (MB) sind in vier zylinderförmige Detektor-Stationen eingeteilt und mit dem Eisenjoch
verschachtelt. In jede der Endkappen sind die CSCs und RPCs in vier Scheiben senkrecht
                                                                              2
zum Teilchenstrahl angeordnet. Insgesamt beinhaltet das Myon-System 25 000 m aktives
Material mit annähernd einer Million Auslesekanäle.

3.2.5 Trigger und Datenerfassung
Die Kollisionsrate der Teilchenbündel beträgt am LHC 40 MHz für die Designluminosität.
                                  9
Diese Rate entspricht ungefähr 10 Wechselwirkungen pro Sekunde, wovon jedes Ereignis
eine Datengröÿe von 1 MB hat. Es können jedoch lediglich einige hundert Wechselwir-
kungen pro Sekunde gespeichert werden. Der Trigger hat deshalb die Aufgabe, potentiell
interessante Ereignisse schnell und ezient zu selektieren. Das Trigger-System arbeitet

 7   Cathode Stripe Chamber
 8   Resistive Plate Chamber
30                                                               3 Experimenteller Aufbau

dabei in zwei Schritten.

Zunächst wird im Level-1(L1) Trigger die Rate von weiter zu prozessierenden Ereignissen
auf maximal 100 kHz reduziert. Dieses geschieht über eine vereinfachte Ereignisrekonstruk-
tion, bei der einzig die Daten aus schnellen Detektorkomponenten, wie die Kalorimeter
oder das Myon-System, ausgewählt werden. Die Zeit für eine Entscheidung ist im L1
Trigger auf 3,2 µs pro Ereignis beschränkt. Mögliche Teilchenkandidaten werden danach
über vereinfachte Algorithmen rekonstruiert. Letzten Endes wird ein Ereignis auf Basis
von festgelegten Grenzwerten, z.B. für die transversal Energie   ET   oder den transversalen
Impuls   pT   von Photonen, Elektronen, Myonen oder Jets, selektiert.

Im zweiten Schritt können mit Hilfe des auf Software beruhenden High-Level-Triggers
(HLT) Informationen aus allen Komponenten des Detektors mit höher entwickelten Algo-
rithmen analysiert werden. Potentiell interessante Ereignisse werden auf Basis umfangrei-
cher Eigenschaften selektiert, sodass eine Ereignisrate von näherungsweise 300 Hz erreicht
wird. Die Zeit für eine Entscheidung des HLTs ist dabei auf 50 ms pro Ereignis beschränkt.

Um die nale Ereignisrate trotz ansteigender Luminosität auf dem Designwert zu halten,
sind unterschiedliche Methoden möglich. Optimal wären verbesserte Algorithmen, die den
Untergrund stärker unterdrückt. Anderenfalls können die Trigger Grenzen erhöht werden,
wodurch jedoch die Ezienz des Signals verloren gehen kann. Des Weiteren besteht die
Möglichkeit eine zu hohe Triggerrate mit festgelegten Grenzen aufrecht zu erhalten, indem
Ereignisse mit einem    prescale n aufgenommen werden, sodass lediglich jedes n-te Ereignis
erfasst wird.
4 Rekonstruktion von Objekten und
  Ereignisselektion
Bevor die Ereignisse eines bestimmten Prozesses analysiert werden können, müssen die
Teilchen aus den Rohdaten des Detektors rekonstruiert und selektiert werden. Eine Be-
schreibung der Rekonstruktion ist dem Kapitel 4.1 zu entnehmen. Die Ereignisselektion
ist im Kapitel 4.2 zu nden.

4.1 Rekonstruktion von Teilchen und Jets
Diese Analyse wird mit Ereignissen des Lepton+Jets-Kanal durchgeführt (siehe Kap.
2.2.2). Demnach bendet sich im Endzustand aus dem Zerfall des                   W -Bosons    ein Myon
bzw. Elektron sowie das entsprechende Neutrino, das sich in fehlender transversaler En-
ergie (6E T ) äuÿert. Des Weiteren liegen zwei leichte Quarks und zwei b-Quarks vor, die
zu Jets hadronisieren. Darüber hinaus ist ein QCD-Beitrag höherer Ordnung aus zusätz-
lichen Jets möglich. Im Folgenden geht es um die Rekonstruktion dieser Teilchen und
Objekte.

4.1.1 Particle-Flow-Algorithmus
Der Particle-Flow-Algorithmus (PFA) [51] stellt die Basis zur Rekonstruktion von Ob-
jekten dar. Das Ziel des PFA ist die Rekonstruktion und Identizierung aller Teilchen,
die durch Proton-Proton-Kollisionen im CMS-Detektor entstehen, mit möglichst hoher
Ezienz und niedriger Missidentikationsrate. Der PFA soll hierbei zwischen Myonen,
Elektronen, Photonen, geladenen und neutralen Hadronen unterscheiden. Die Umsetzung
erfolgt mit Hilfe von Informationen aus allen Detektorkomponenten in Form von Spuren
geladener Teilchen, den Clustern der Kalorimeter und Spuren von Myonen.

Die Spurrekonstruktion ist ein essentieller Bestandteil zur Identikation und Bestimmung
des Impulses geladener Teilchen. Ferner ist die Spurrekonstruktion von groÿer Bedeu-
tung, weil mehr als zwei Drittel der Energie eines Jets von geladenen Teilchen getragen
wird. Die Teilchen werden im ersten Schritt mit sehr strengen               Seed -Kriterien   rekonstru-
iert, was zu einer moderaten Ezienz und einer äuÿerst geringen Missidentikationsrate
führt. Daraufhin werden diejenigen Teilchenkandidaten entfernt, die sich eindeutig einer
Spur zuordnen lassen. Im nächsten Schritt werden die Seed-Kriterien zunehmend wei-
cher, woraus eine steigende Ezienz der Spurrekonstruktion bei gering bleibender Miss-
identikationsrate resultiert. Insgesamt beträgt die Ezienz der Rekonstruktion 99,5%
                           1
für isolierte Myonen           und mehr als 90 % für geladene Hadronen in Jets innerhalb der
Akzeptanz des Spurdetektors. Die Missidentikationsrate liegt in der Gröÿenordnung von

 1 Isoliert   meint, dass der Betrag der Energie innerhalb eines Kegels um das Myon deponiert ist.
32                                   4 Rekonstruktion von Objekten und Ereignisselektion

1 %, sofern mindestens drei geladene Teilchen und ein Transversalimpuls von mindestens
150 MeV vorliegt.
Die Position des primären Vertex zum Proton-Proton-Wechselwirkungspunkt variiert auf-
grund der Streuung der Protonen in den kollidierenden Bündeln. Ein primärer Vertex wird
aus bestimmten Kriterien der Spuren rekonstruiert [52]. Insgesamt darf der primäre Ver-
tex maximal 50 cm vom Kollisionspunkt entfernt sein.

In den Kalorimetern werden einzelne Teilchen mit Hilfe von Cluster-Algorithmen rekon-
struiert, indem elementare Signaturen aus verschiedenen Detektorkomponenten miteinan-
der verbunden werden. Im Detail haben die Cluster-Algorithmen vielseitige Aufgaben.
Eine Funktion ist die Detektion und Messung der Energie sowie der Richtung stabiler neu-
traler Teilchen. Dabei können die elektromagnetischen Schauer von hadronischen Schauern
unterschieden werden. Des Weiteren sollen Elektronen rekonstruiert und identiziert wer-
den, ebenso wie Bremsstrahlung von Photonen. Der Cluster-Algorithmus verbessert die
Energiemessung von geladenen Teilchen mit hohem transversalen Impuls.
Von der CMS-Kollaboration wurde ein spezieller Cluster-Algorithmus entwickelt, welcher
eine hohe Detektorezienz zur Ereignisrekonstruktion anstrebt und auÿerdem zwischen
Energiedepositionen, die sehr nah beieinander liegen, unterscheiden kann. Der Algorith-
mus wird separat für die Komponenten des ECALs und HCALs angewandt.
Zunächst werden alle Kalorimeterzellen als Seed verwendet, die einen festgelegten En-
ergiewert überschreiten. Anschlieÿend werden angrenzende Zellen, deren Energie zwei
Standardabweichungen gröÿer als das durchschnittliche Rauschen des ECALs ist, zum
Cluster hinzugefügt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem        topologischen Clus-
ter.   Dieser Prozess wiederholt sich bis keine weiteren angrenzenden Zellen diese Kriterien
erfüllen. Es folgt eine iterative Bestimmung der Cluster-Energie und Position. Sich über-
lagernde Cluster teilen ihre Energie in Abhängigkeit der Entfernung der Zelle zum Cluster.

Im Allgemeinen werden mehrere Particle-Flow-Elemente rekonstruiert, die zu einem einzi-
gen Teilchen gehören. So kann ein geladenes Teilchen, wie z.B. das Elektron, im Spur-
detektor detektiert werden und anschlieÿend aufgrund von Bremsstrahlung Energie in
mehreren Clustern des ECALs deponieren. Deshalb müssen die Detektorkomponenten
mit Hilfe eines Algorithmus verbunden werden, um jedes einzelne Teilchen rekonstru-
ieren zu können und um ein mehrfaches Zählen derselben Ereignisse zu vermeiden. Zu
diesem Zweck wird die Spur mit einem Kalorimeter-Cluster verbunden, indem die Posi-
tion der Spur zu dem Cluster der entsprechenden Kalorimeter-Komponente extrapoliert
wird. Der Abstand wird in der     η -φ-Ebene   zwischen der extrapolierten Position der Spur
und der Position des Clusters deniert. Endet die extrapolierte Spur in einem Cluster eines
Kalorimeters, so werden die beiden Objekte einem Teilchen zugeordnet. Analog werden
zwei Cluster aus unterschiedlichen Komponenten der Kalorimeter verbunden. In diesem
Fall wird die Position derjenigen Komponente des Kalorimeters mit höherer Granularität
zu der Komponente mit niedrigerer Granularität extrapoliert.
Die durch den Algorithmus kombinierten Elemente bilden sogenannte       Blöcke, die zur Iden-
tizierung unterschiedlicher Teilchen verwendet werden. Sobald die Kriterien erfüllt sind,
wird der Teilchenkandidat aus der Liste der Blöcke entfernt.
Sofern die Cluster mit keiner Spur verbunden werden können, werden die entsprechenden
Cluster und Spuren neutralen Teilchen (Photonen bzw. neutralen Hadronen) zugeord-
net.
4.1 Rekonstruktion von Teilchen und Jets                                                              33

4.1.2 Myonen
Myonen werden zunächst sowohl im Spurdetektor als auch im Myon-System (sogenannte
standalone-Myonen )             unabhängig voneinander rekonstruiert. Entsprechend unterscheidet
man in der Rekonstruktion zwischen Spur- und globalen Myonen [53].

Zur Rekonstruktion globaler Myonen wird jede Spur eines standalone-Myons einer Spur
im Spurdetektor zugeordnet. Hierbei wird ein Fit zur Kombination der beiden Spuren
durchgeführt. Für Fits globaler Myonen ist insbesondere für hohe Transversalimpulse
(pT   & 200 GeV)          die Auösung, im Vergleich zu einer nur mit dem Spurdetektor ver-
richteten Messung, deutlich verbessert.

Für die Rekonstruktion von Spur-Myonen werden alle Spuren des Spurdetektors mit
pT > 0, 5 GeV          und   p > 2, 5 GeV      als mögliche Myon-Kandidaten behandelt und darüber
hinaus unter Berücksichtigung des Magnetfeldes, des erwarteten Energieverlustes und mul-
tipler Streueekte im Detektormaterial zum Myon-System extrapoliert. Findet man eine
Übereinstimmung im Myon-System, so wird der Kandidat als Spur-Myon selektiert. Da
lediglich ein Ereignis im Myon-System zur Rekonstruktion benötigt wird, ist die Rekon-
struktion von Spur-Myonen für kleine Impulse (p                . 5 GeV) ezienter als die Rekonstruk-
tion globaler Myonen.
Nahezu alle Myonen werden als globale Myonen, Spur-Myonen oder in vielen Fällen als
beides rekonstruiert. Für den letzten Fall werden die Myon-Kandidaten, die sich eine Spur
teilen, zu einem einzigen Kandidaten zusammengefasst.

Für die Selektion von          tt-Ereignissen werden weitere Identikationskriterien in Form von
verschiedenen          Arbeitspunkten (loose, soft und tight ) benötigt [54]. Ein härterer Arbeits-
punkt führt zu einer geringeren Missidentifkationsrate, gleichzeitig sinkt allerdings die
Ezienz. Für den in dieser Analyse gewählten Arbeitspunkt                   tight   gelten die folgenden
Kriterien:

      •   der Myon-Kandidat wird als ein globales Myon rekonstruiert

      •   der Myon-Kandidat wird im PFA als Myon erkannt

      •   in der Rekonstruktion globaler Myonen gilt für den Fit der Spur:

                χ2
                ndof
                        < 10,   wobei   ndof   der Anzahl der Freiheitsgrade des Fits entspricht

               mindestens ein Ereignis im Myon-System

      •   der transversale Stoÿparameter           dxy   der Spur des Myons zum primären Vertex ist
          kleiner als 2 mm

      •   der longitudinale Abstand         dz   der Spur zum primären Vertex ist kleiner als 5 mm

      •   der Myon-Kandidat erzeugt mindestens ein Signal im Pixel-Detektor

      •   der Myon-Kandidat hinterlässt in mindestens fünf Schichten des Spurdetektors ein
          Signal

Nach erfolgreicher Rekonstruktion kann überprüft werden, ob es sich bei dem Myon um ein
isoliertes Myon handelt. Der relative Isolationsparameter             Irel ist ein Maÿ dafür, ob sich bei
einem Myon keine weiteren Objekte in der Nähe benden. Er ist deniert als die Summe
                                                               ±                    0
der Transversalimpulse der Photonen (γ ) sowie der geladenen (h ) und ungeladenen (h )
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