Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit - Jçrgen Kocka
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Jçrgen Kocka Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit Die Krisen und Umbrçche der Gegenwart erschei- Im 17. und 18. Jahrhundert schlieûlich ± in den nen in anderem Licht, wenn man sie vor dem Hin- Schriften der Aufklårer und Nationalækonomen ± tergrund ihrer Geschichte sieht. Die Historisie- kam es nachgerade zur emphatischen Aufwertung rung heutiger Probleme macht im Umgang mit der Arbeit als Quelle von Eigentum, Reichtum ihnen klçger. Die Voraussage der Zukunft ist und Zivilitåt bzw. als Kern menschlicher Selbstver- schwierig, aber ohne Kenntnis der Vergangenheit wirklichung ± dies oft mit antiaristokratischer unmæglich. Die gegenwårtige Debatte çber die Spitze, in bçrgerlichem Geist und mit neuprotes- Krise der Arbeit und das angebliche Ende der tantischer Selbstgewissheit, befærdert vom sich Arbeitsgesellschaft kann als Exempel dienen. durchsetzenden Kapitalismus und vom technologi- schen Fortschritt, auch von der inneren Staatsbil- dung der Territorialstaaten. Beispielsweise wertete Immanuel Kant die Muûe als ¹leere Zeitª ab und I. Såkulare Trends: Ambivalenz und die Arbeit zum Lebenssinn auf: ¹Je mehr wir Aufwertung der Arbeit beschåftigt sind, je mehr fçhlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst. In der Muûe fçhlen wir nicht allein, dass In der Antike herrschte eine skeptische Einschåt- uns das Leben so vorbeistreicht, sondern wir fçh- zung der Arbeit vor, jedenfalls der kærperlichen und len auch sogar eine Leblosigkeit.ª der kommerziellen. Arbeit und Freiheit, Arbeit und Bçrgerrecht standen in Spannung zueinander wie Es gab Gegenreden, welche die Mçhsal und Qual oikos und polis. In der jçdisch-christlichen Tradition harter Arbeit betonten, die Muûe priesen und die galt Arbeit als Fluch und Segen, Strafe und gættli- menschliche Neigung zum Mçûiggang verteidig- cher Auftrag zugleich. Selbst in den entschiedens- ten. Wer selbst mit seinen Hånden arbeitete, wird ten Plådoyers fçr die Anerkennung der Arbeit als Arbeit oft anders erfahren haben, als Kant sie gættlich gewollt, so in manchen Mænchsregeln des beschrieb. Arbeit, das wusste man, hatte etwas mit Mittelalters und den Schriften der Reformatoren, Verpflichtung und Notwendigkeit zu tun, erfor- lief immer ein Subtext mit, gemåû dem mit der har- derte Disziplin und Anstrengung çber den Punkt ten Arbeit auch ein Stçck Buûe fçr menschliche hinaus, an dem sie aufhærte, nur angenehm zu Sçndhaftigkeit geleistet werden sollte ± ¹im sein. Dennoch, bis 1800 hatte sich in der westli- Schweiûe deines Angesichtsª 1. chen Zivilisation der Arbeitsbegriff ein Stçck weit aus seiner frçher dominanten Verbindung zu In der europåischen Stadt des Mittelalters und der Kampf, Not und Mçhsal gelæst, aufs Schæpferisch- Frçhen Neuzeit gewann Arbeit dann zentrale Kreative hinbewegt und als Kern menschlicher ± Bedeutung. Ehrbare Arbeit war nun Basis genos- jedenfalls bçrgerlicher ± Identitåtsbildung empfoh- senschaftlicher Vergesellschaftung und mit Frei- len. In der Konsequenz galt Arbeit als Menschen- heit und Stadtbçrgerrecht positiv verknçpft, dia- recht. Die Langzeitfolgen waren erheblich, sie rei- metral anders als in der antiken Polis. Arbeit chen bis in die gegenwårtige Diskussion çber wurde fçr die entstehende Stadtbçrgerkultur prå- Arbeitslosigkeit hinein. gend. Stadtbçrgerliche Kultur wirkte aufwertend auf Arbeit zurçck. 1 Vgl. Werner Conze, Arbeit, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), II. Der Sieg der Erwerbsarbeit und Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154 ± 215; die Beitråge von Wilfried Nippel, Otto Gerhard Oexle u. die Geburt der Arbeitsgesellschaft Richard van Dçlmen, in: Jçrgen Kocka/Claus Offe (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt / M. 2000; Wolf- hart Pannenbergs, Christian Meiers u. Wolfgang Zorns Bei- Bis 1800 hatte sich ein allgemeiner Begriff von tråge in: Venanz Schubert (Hrsg.), Der Mensch und seine Ar- Arbeit (work, travail) herausgebildet, der die ver- beit, Erzabtei St. Ottilien 1986; Josef Ehmer/Peter Gutschner, Befreiung und Verkrçmmung durch Arbeit, in: Richard van schiedensten kærperlichen und geistigen Tåtigkei- Dçlmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schæpfungstråume ten umfasste, soweit sie einen Zweck auûerhalb und Kærperbilder 1500± 2000, Wien 1998, S. 283 ± 303. ihrer selbst hatten: den Zweck, etwas herzustellen, Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001 8
zu leisten, zu erreichen, Aufgaben zu erfçllen, die men von Månnern, aber nicht auf diese beschrånkt. man selbst setzte oder andere stellten. Spiel, Muûe ¹Nicht-Arbeitª schloss wichtige, jedoch meist und Nichtstun waren die Gegenbegriffe2. Im Laufe ungenannte Elemente von Arbeit ein, die nicht des 19. und 20. Jahrhunderts verengte sich dieser Erwerbsarbeit waren, zum Beispiel Arbeit im Haus breite Arbeitsbegriff. Arbeit wurde zu Erwerbsar- und fçr die Familie, vornehmlich von Frauen wahr- beit und als solche zur zentralen Såule der Gesell- genommen, aber nicht auf diese begrenzt. Eben schaft, die deshalb bisweilen als Arbeitsgesell- diese Dichotomisierung prågte auch das æffentliche schaft bezeichnet wird und heute in der Krise zu Reden çber Arbeit wie die Begriffe der offiziellen sein scheint3. Statistik, in der sich Arbeit weitgehend zu ¹Er- werbsarbeitª verengte. 1. Kommodifizierung: Mit der Aufhebung der feudal-ståndischen Ordnung avancierte der Kapi- 3. Das ¹Normalarbeitsverhåltnisª war selten nor- talismus zum allgemeinen Prinzip des wirtschaftli- mal: Fçr die meisten hatte in vorindustrieller Zeit chen Lebens, drang auch tief in die Welt der gegolten, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht aus Arbeit ein und prågte sie um: in Richtung markt- einer Quelle allein bestritten, sondern aus einer vermittelter Arbeit. Die Marktabhångigkeit der Verknçpfung von mehreren Erwerbsquellen, die Arbeit war frçher durch soziale Einbindungen im Laufe des Tages, des Jahres und des Lebens begrenzt gewesen: durch das Haus, den korporati- wechselten und zusammengefçgt wurden. Mit der ven Verband, feudale Abhångigkeit, Unfreiheit Industrialisierung nahm nun die Arbeitsteilung zu. anderer Art. Diese Einbindungen zerfielen nun. Berufsarbeit auf Lebenszeit wurde håufiger. Die Bisher eingebundene Arbeitskråfte wurden freige- Chance wuchs, dass man sein Selbstverståndnis setzt, traten auf sich rasch ausweitenden Mårkten und sein soziales Profil auf spezialisierte Erwerbs- auf, teils als selbståndige Anbieter von Arbeitspro- arbeit grçndete. Beruf und Berufsstellung wurden dukten und -leistungen, teils als Lohnarbeiter. Erst zu verbreiteten Grundlagen der individuellen und jetzt wurde Arbeit en masse zum Gegenstand sozialen Identitåt, vor allem fçr Månner. marktwirtschaftlicher Tauschvorgånge, zur Ware. Doch das Wirtschaftssystem war auch im 19. und 2. Die Entstehung des Arbeitsplatzes: Mit Indus- frçhen 20. Jahrhundert durch rapide und anhal- trialisierung und Verstådterung fand Arbeit tende Umstrukturierung geprågt. Das ¹Normal- immer mehr in Manufakturen und Werkståtten, arbeitsverhåltnisª war auch damals nur fçr eine Fabriken und Bergwerken, Bçros und Verwaltun- Minderheit von Erwerbståtigen erreichbar. Nur gen statt. Insgesamt traten der Arbeitsplatz, an selten reichte der Verdienst des Mannes, um die dem Erwerbsarbeit geleistet wurde, und die Familie allein zu ernåhren, in der Regel verdien- Sphåre des Hauses/der Familie auseinander. Er- ten unterhalb des Bçrgertums die anderen Fami- werbsarbeit war frçher eng mit sonstigen Arbeiten lienmitglieder mit. Die Verknçpfung von verschie- und Daseinsverrichtungen verknçpft, war einge- denen Erwerbståtigkeiten und der Wechsel bettet gewesen. Das ånderte sich nun. Der zwischen ihnen im Laufe eines Lebens blieben fçr Arbeitsplatz als Ort kontinuierlicher und klar sehr viele Erwerbståtige normal, besonders fçr abgrenzbarer Tåtigkeit entstand im Grunde erst Frauen und die Masse der weniger Qualifizierten, jetzt. Arbeit wurde zu einem relativ klar ausdiffe- nicht nur die vielen Wander-, Saison- und Gele- renzierten Teilsystem, das nach eigenen Regeln genheitsarbeiter. Zwar sorgte im 20. Jahrhundert funktionierte. Arbeit hatte nun ihre eigene Zeit, der Ausbau des Sozialstaats fçr etwas mehr Stetig- wurde messbarer als je zuvor und auch: umstreit- keit, besonders zwischen 1950 und 1975. Doch barer. Damit wurde die Unterscheidung zwischen drångt sich der Eindruck auf, dass das ¹Normal- ¹Arbeitª und ¹Nicht-Arbeitª ± bald: zwischen arbeitsverhåltnisª, dessen Erosion gegenwårtig oft Arbeit und ¹Freizeitª ± zur weit verbreiteten konstatiert wird, auch frçher eher die Norm als die Erfahrung. Aber mit ¹Arbeitª war zunehmend Normalitåt gewesen ist. Erwerbsarbeit gemeint, vornehmlich wahrgenom- 4. Arbeitsgesellschaft: Im Zeitalter der Industriali- sierung gewann die Arbeit an sozialer, politischer 2 Vgl. Keith Thomas (Hrsg.), The Oxford Book of Work, Oxford 1999, S. XIV. und kultureller Bedeutung. Dazu einige Beispiele: 3 Vgl. zum Folgenden Jçrgen Kocka, Arbeitsverhåltnisse Die græûte Protest- und Emanzipationsbewegung und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im der Zeit, die Arbeiterbewegung, fuûte auf abhån- 19. Jahrhundert, Bonn 1990; Wolfgang Nahrstedt, Die Ent- giger Erwerbsarbeit als Basis. Sie konzentrierte stehung der Freizeit, Gættingen 1972; Christian Topalov, Naissance du chÖmeur, Paris 1994; Bndicte Zimmermann sich auf die Vertretung der Interessen, die aus u. a. (Hrsg.), Le travail et la nation. Histoire croise de la gemeinsamen Arbeitsbedingungen folgten, und France et de l'Allemagne, Paris 1999. rekrutierte die meisten ihrer Mitglieder in ihrer 9 Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001
Eigenschaft als abhångig Arbeitende. Sie bewies es Arbeitsfreude und Arbeitsstolz, diente die die vergesellschaftende Kraft der Arbeit, die als Berufung auf geleistete Arbeit als Basis, um den soziales Verhåltnis Menschen verknçpfte und Anspruch auf soziale Anerkennung und politische mobilisierte. Mitwirkung zu stellen. Aber als Adolf Levenstein Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Umfragen Auch fçr die Frauenbewegung des spåten 19. und unter Industriearbeitern veræffentlichte, war wenig 20. Jahrhunderts war die Erringung neuer Arbeits- von Arbeitslust, dagegen viel von Arbeitsleid zu mæglichkeiten zentral, um darauf die Forderung lesen, verbunden mit der Hoffnung auf mehr freie nach Emanzipation, Gleichberechtigung und poli- Zeit und eine ækonomische Situation, die es tischem Einfluss zu grçnden. Umgekehrt wurden wenigstens der eigenen Frau erlauben wçrde, zu neue politische Einflussmæglichkeiten zur Errin- Hause zu bleiben statt ¹zur Arbeit zu gehenª. Die gung neuer Arbeitsmæglichkeiten fçr Frauen ge- Arbeiterbewegung kåmpfte fçr die Verkçrzung nutzt. der Arbeitszeit. Das ¹Reich der Freiheitª, so Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Nations- Friedrich Engels, begann fçr die abhångig Arbei- bildung ist diffizil. Spåtestens 1848/49 tauchte das tenden in der Regel erst jenseits der notwendigen Schlagwort von der ¹nationalen Arbeitª auf. Welt- Erwerbsarbeit. Grundsåtzlicher noch Friedrich ausstellungen fçhrten Arbeit und ihre Produkte Nietzsche: ¹Der mçûige Mensch ist noch immer vor, nach Nationen differenziert und mit nationa- der bessere Mensch als der tåtige.ª In neuer Form len Ansprçchen verbunden (seit 1851). Ein Prager lebte die alte Ambivalenz der Arbeit zwischen Professor schrieb 1875: Die Arbeit prågt dem Segen und Fluch, Lust und Leid weiter. Menschen ¹den Stempel seines Wesens auf, sie bil- 5. Der Sieg der Erwerbsarbeit und seine Grçnde: det die Nation. Nationalitåt und nationale Arbeit Soviel zur Arbeitsgesellschaft, wie sie im 19. Jahr- sind gleiche Begriffeª4. hundert entstand und sich im 20. etablierte. Man Erwerbsarbeit diente als Basis fçr die Errichtung kann fragen, warum sie sich durchsetzte. Sie setzte des Sozialstaats seit den 1880er Jahren. Die Arbei- sich durch im Kampf gegen herkæmmliche Formen ter ± nicht die Armen ± wurden zu Adressaten der gesellschaftlichen Organisation, die sie ver- staatlicher Sozialversicherung. Ûber die Beitråge drångte, ersetzte und marginalisierte ± wenn auch der Arbeiter und der Arbeitgeber, nicht aber çber niemals zur Gånze. Sie setzte sich durch, weil kon- Steuern oder Ersparnisse wurde das System in kurrierende Organisations- und Sinnbildungsprin- Deutschland finanziert. Erwerbsarbeit und soziale zipien ± etwa die Religionen ± an Kraft verloren Sicherung wurden aufs engste miteinander ver- und ein zu fçllendes Vakuum entstand. Sie setzte knçpft. Mit den Folgen kåmpfen wir heute. sich durch, weil sie ± mit dem Prinzip der Erwerbs- arbeit ± einen çberlegenen Allokations- und Arbeit wurde als Erwerbsarbeit gesetzlich-admi- Distributionsmechanismus besaû. Erwerbsarbeit nistrativ normiert und verfestigt. Erst in den meint Arbeit, die zur Herstellung von Gçtern oder 1880er Jahren kam die moderne Unterscheidung Erbringung von Leistungen zum Zweck des Tau- zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit auf: in den sches auf dem Markt dient, mit der man ein Ein- europåischen Sprachen, in den Statistiken der Zeit kommen erzielt. Sie meint Arbeit, von der man und als Gegenstand der Sozialpolitik. Vorher war lebt, durch die man verdient: sei es in abhångiger eher von Armut oder von Unterbeschåftigung die oder selbståndiger Stellung oder in einer der vielen Rede gewesen. Zwischenstufen, sei es mit manueller oder nicht- Arbeit bedurfte nun kaum noch der Rechtferti- manueller, mit mehr oder weniger qualifizierter gung durch anderes. Vielmehr wurde sie selbstbe- Tåtigkeit. Arbeit fçr Lohn und Gehalt ist nur eine, grçndend und sinnstiftend. Wer sein Leben wenngleich die wichtigste und verbreitetste Form erzåhlte, ging nun fast immer ausfçhrlich auf die von Erwerbsarbeit gewesen und geblieben. getane Arbeit ein. Arbeit definierte persænliche Ûberlegen war Erwerbsarbeit in Bezug auf ækono- Identitåt. Arbeit wurde zum zentralen Begriff der mische Effektivitåt, denn sie funktionierte nach entstehenden Sozialwissenschaften. marktmåûigen Regeln. Im Vergleich zu anderen Der Bçrger Werner Siemens endete seine Auto- Formen der Arbeit war Erwerbsarbeit attraktiv, biographie mit der Bibel: ¹Und wenn es (das denn sie ermæglichte viel Freiheit. Ûberlegen war Leben) kæstlich gewesen, so ist es Mçhe und Erwerbsarbeit aber auch unter dem Gesichtspunkt Arbeit gewesen.ª Auch in der Arbeiterschaft gab der Gerechtigkeit. Arbeitsbedingte Vermægens-, Status- und Machtunterschiede wurden leichter als 4 W. Conze (Anm. 1), S. 210; Wilhelm Heinrich von Riehl, legitim akzeptiert als solche, die aus Geburt, Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861. Eroberung oder Zufall stammten. Schlieûlich: Wer Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001 10
die eigene Arbeitskraft, das eigene Kænnen, die låndern auswirken, weil der gegenwårtige Schub eigene Leistungsfåhigkeit erfolgreich auf dem beschleunigter Globalisierung zu einer verschårf- Arbeitsmarkt anbot, erfuhr dadurch ein Stçck ten internationalen Konkurrenz auch auf dem Anerkennung durch andere, die unfreie, gebun- Arbeitsmarkt fçhre, sei es durch die heute leicht dene oder obrigkeitlich geregelte Arbeit ebenso mægliche Verschiebung von Jobs in Billiglohnlån- wenig bieten konnte wie unbezahlte Arbeit im der, sei es durch zunehmende Migration. Ûberdies Haus oder anderswo. Auch das mag zur Durchset- erscheinen heute Angehærige sozialer Gruppen zung der marktbezogenen Erwerbsarbeit im 19. arbeitsplatzsuchend auf dem Arbeitsmarkt, die und 20. Jahrhundert beigetragen haben, wie es frçher fernblieben oder fern gehalten wurden, ins- umgekehrt die persænlichkeitsbedrohenden Kon- besondere Frauen6. sequenzen erklårt, die aus langer Erwerbsarbeits- losigkeit folgen ± um 1930 wie heute. Die Erwerbs- Auf der anderen Seite wird unterstellt oder diag- arbeit war und ist eine zentrale Voraussetzung nostiziert, dass zwar im Prinzip noch genug zu sozialer Anerkennung und damit fçr Selbstwert, tun bleibe, aber die Erledigung dieser Arbeiten persænliche Identitåt und gesellschaftliche Teil- nicht mehr hinreichend çber Marktmechanismen habe von allergræûter Bedeutung. Wer heute fçr geschehen kænne und damit der Arbeitsgesell- Alternativen zur Erwerbsarbeit plådiert, muss sich schaft zwar nicht Arbeit in jeder Form, aber doch mit den historischen Grçnden auseinandersetzen, jener Typus von Arbeit ausgehe, auf dem sie die sie so stark und dominant gemacht haben. Sie basiere: die Erwerbsarbeit. Darauf fuût das Plådo- sind nicht obsolet. yer fçr die Entwicklung und Verbreitung neuer Formen von Arbeit, etwa von ¹Bçrgerarbeitª, die weder vom Markt noch vom Staat reguliert wird, sondern gewissermaûen dazwischen stattfindet, in III. Jenseits von Arbeitsgesellschaft einem ¹dritten Sektorª und nach neuen Regeln7. und Erwerbsarbeit? Die heutige Krise aus historischer Sicht Die Stichhaltigkeit dieser Argumente ist hier nicht im Einzelnen zu prçfen. Aus historischer Sicht ver- dienen sie Skepsis. Denn die massive Vernichtung Soviel zur Neuartigkeit des 19. und 20. Jahrhun- herkæmmlicher Arbeitsplåtze durch technologi- derts in såkularer Perspektive. In den letzten Jah- schen Wandel hat von Anfang an zur Industriali- ren hat man håufig behauptet, dass diese auf sierung gehært. Immer wieder kam es deshalb zu Erwerbsarbeit basierende Arbeitsgesellschaft an tiefen Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt, ihr Ende geraten sei und wir den Beginn einer zu lang andauernder Unterbeschåftigung bzw. neuen Epoche erlebten5. Wie neuartig ist unsere Arbeitslosigkeit. Doch immer wieder wurde die Gegenwart ± vor dem Hintergrund der letzten Vernichtung konkurrenzunfåhiger Arbeitsplåtze zwei Jahrhunderte gesehen? Was ist fçr die durch die Entstehung von noch mehr neuen Zukunft zu erwarten? Arbeitsplåtzen kompensiert. Immer wieder gingen die Beschåftigungskrisen in neue Gleichgewichte çber, so prekår diese auch blieben und so wenig sie 1. Die Massenarbeitslosigkeit je auf Dauer Bestand hatten. Man hat vom In der Auseinandersetzung mit der Massenarbeits- ¹Flieûgleichgewichtª gesprochen. Dies gelang, losigkeit ist bisweilen vermutet worden, dass der obwohl als Folge rapiden Bevælkerungswachs- Arbeitsgesellschaft die Arbeit nicht nur vorçber- tums, ausgedehnter Migration und sozialer gehend ausgehe. Das Argument tritt in zwei Umschichtung die Zahl der nach Erwerbsarbeit Varianten auf: suchenden Menschen sehr rasch wuchs. Konstitu- tiv fçr diesen Prozess ist die immer neue Mani- Auf der einen Seite wird argumentiert, dass der festation vorher kaum antizipierter Bedçrfnisse rasant beschleunigte technologische Wandel im gewesen, die in Erscheinung traten, als sie erfçll- Zuge der digitalen Revolution und eine sich bar wurden, und die sich als Nachfrage ausdrçck- abzeichnende Såttigung der sich als Nachfrage ten, welche nach Innovationen durch marktvermit- åuûernden Bedçrfnisse das Volumen verfçgbarer telte Erwerbsarbeit erfçllt werden konnte. Arbeit drastisch reduzieren. Das mçsse sich beson- ders in den wirtschaftlich entwickelten Hochlohn- 6 Einflussreich und vereinfachend: Jeremy Rifkin, The End of Work. The Decline of the Global Labor Force and the 5 Ein popularisierendes Beispiel: Christian Graf von Kro- Dawn of the Post-Market Era, New York 1995. ckow, Der deutsche Niedergang. Ein Ausblick ins 21. Jahr- 7 Vgl. Ulrich Beck (Hrsg.), Die Zukunft von Arbeit und hundert, Stuttgart 1998, S. 67 ± 76. Demokratie, Frankfurt / M. 2000, bes. S. 7 ± 66, 416 ± 447. 11 Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001
Wirtschaftshistoriker bezweifeln, dass dieser mehr Fçrsorge, Beratung, soziale Einbeziehung, Zuwen- als 200 Jahre lang funktionierende Regelungsme- dung, Ûberwindung von Einsamkeit) zu ihrer chanismus heute zu Ende gekommen ist und dass Erfçllung Tåtigkeiten brauchen, die nur schwer man daher auf Dauer mit massiver, gar wachsen- oder gar nicht in Form marktvermittelter Erwerbs- der Erwerbsarbeitslosigkeit rechnen muss. Aus arbeit ausgefçhrt werden kænnen? dieser Sicht stellt der gegenwårtige Ûbergang von Doch scheinen wir von diesem Punkt, an dem das der industriellen zur postindustriellen Wirtschaft bisherige System der Erwerbsarbeit wirklich an das Beschåftigungssystem nicht vor hårtere Her- sein Ende kommen wçrde oder mçsste, noch weit ausforderungen, als es der Ûbergang von der vor- entfernt. Mit såkularen Wandlungsprozessen hat industriellen zur industriellen Gesellschaft vor ein die gegenwårtige Arbeitslosigkeit weniger zu tun bis zwei Jahrhunderten tat, wenngleich der heutige als mit gesellschaftlichen und politischen Entschei- Wandel rascher, umbruchartiger verlåuft als der dungen und ihren çber die Zeit verfestigten insti- damalige und international vernetzter ist als tutionellen Ergebnissen. Mit der Macht der jener8. Fçr diese Argumentation spricht sehr viel. Geschichte kann sich die Politik nicht herausre- Sie wird auch dadurch gestçtzt, dass die Massenar- den, wenn sie die nætigen und mæglichen Refor- beitslosigkeit nicht çberall so drçckt wie in einigen men versåumt. Låndern Europas, dass selbst in Deutschland auf Teilarbeitsmårkten mittlerweile Arbeitskråfte feh- len und die Sorge vor zukçnftigem Arbeitskråfte- 2. Die Neuartigkeit der Gegenwart mangel als Folge rçcklåufigen Bevælkerungs- wachstums zunehmend in den Vordergrund tritt. Auf absehbare Zeit zeichnet sich weder das Ende Wenn es in unserem Teil der Welt einen Epochen- der Erwerbsarbeit ab, noch wåre es zu wçnschen. wechsel gibt, dann resultiert er nicht aus dem Die Neuartigkeit der Gegenwart erweist sich nicht Ende ausreichender Erwerbsarbeit, sondern aus am Ende, sondern an tiefen Verånderungen der dem demographischen Trendwechsel, der ein Erwerbsarbeit9. Jahrhunderte wåhrendes inneres Bevælkerungs- wachstum durch innere Bevælkerungsschrumpfung Einerseits wurde Erwerbsarbeit seit langem im ablæst. Dreieck Markt/Betrieb ± Familie/Haushalt ± Staat/ Politik reguliert. Aber in diesem Dreieck haben Sieht man es so, dann wird die Suche nach den sich in den letzten Jahrzehnten die revolutionårs- Ursachen der gegenwårtigen Arbeitslosigkeit auf ten Verånderungen vollzogen. Das Verhåltnis von aktuelle soziale, politische und kulturelle Regelun- Arbeits- und Geschlechterordnung åndert sich gen gelenkt, auf fehlleitende Anreize, starre Ver- rasch. Eine scharfe Rollentrennung zwischen dem riegelungen und institutionelle Fehlsteuerungen, Mann und Vater als demjenigen, der die Familie die im 19. und frçhen 20. Jahrhundert noch fehl- durch Erwerbsarbeit ernåhrt, und der Frau und ten, aber heute dafçr verantwortlich sind, dass vor- Mutter als zuståndig fçr den Binnenraum von handene und mægliche Bedçrfnisse nicht hinrei- Haushalt und Familie war zwar niemals vællig die chend in zu leistende Erwerbsarbeit umgesetzt Regel. Aber seit den 1970er Jahren erodiert, was werden und somit nicht hinreichend zur Entste- davon existierte. Vieles, was im 19. und frçhen hung von Arbeitsplåtzen fçhren. 20. Jahrhundert vornehmlich von Frauen im Haus erledigt wurde, ist zum Gegenstand von Erwerbs- Es bleiben zwar Zweifel: Wird das fçr den markt- arbeit oder zur Aufgabe sozialstaatlicher Tråger wirtschaftlichen Regelungsmechanismus absolut geworden. Der Rçckgang der durchschnittlichen zentrale Wachstum nachfragewirksamer Bedçrf- Kinderzahl hat die familiåren und håuslichen Auf- nisse in seiner Wirkung auf Psyche, Umwelt und gaben stark reduziert. Die schnell steigende Frau- sozialen Zusammenhalt nicht mittelfristig doch zur enerwerbsarbeit ist teils Antrieb, teils Folge dieser schwer ertråglichen Last? Soll man dieses Wachs- Entwicklung. Dem tragen tief greifende Ønderun- tum, diese Ausweitung, diese ståndige Neuschæp- gen im Sozial-, Arbeits-, Steuer- und Eherecht fung von Bedçrfnissen wirklich wollen? Welcher Rechnung. Die Einstellungen wandeln sich. Es Bedçrfnisse und welcher nicht? Und kænnte es handelt sich um eine Revolution, die noch nicht sich nicht doch herausstellen, dass zentrale Bedçrf- abgeschlossen ist. Aber sie fçhrt zur weiteren Ver- nisse der Gegenwart und Zukunft (wie Pflege, breitung und Universalisierung von Erwerbsarbeit, nicht zu ihrem Ende. 8 Vgl. Hansjærg Siegenthaler, Arbeitsmarkt zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht im Zeitalter modernen 9 Vgl. die Beitråge von Karin Hausen, Hans Bertram, Mar- Wirtschaftswachstums, in: J. Kocka/C. Offe (Anm. 1), S. 88 ± tin Kohli, Gçnther Schmid, Alain Supiot und Karl Ulrich 109. Mayer, in: ebd, S. 265 ± 409. Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001 12
Andererseits geht es um die tendenzielle Fragmen- cen, beispielsweise zur Verknçpfung von Erwerbs- tierung der Arbeit in Raum und Zeit. Es geht um arbeit mit anderen Tåtigkeiten, zur Verbindung erst ansatzweise erkennbare Verånderungen, von Arbeit und Freizeit, zur Vereinbarung von deren Ausmaû oft çbertrieben wird, aber doch um Beruf und Familie, auch neue Mæglichkeiten, das bemerkbaren Wandel: Wåhrend 1970 die Relation Verhåltnis der Geschlechter zueinander weniger zwischen vollzeitbeschåftigten Arbeitnehmerinnen ungleich und produktiver zu gestalten. Wird erst- und Arbeitnehmern einerseits und der Summe der mals eine ¹androgyne Gesellschaftª (Hans Ber- Teil- und Kurzzeitbeschåftigten, der befristet und tram) mæglich? Jedenfalls werden die Berufsbio- geringfçgig Beschåftigten etwa 5 : 1 betrug, ver- graphien von Månnern und Frauen einander schob sie sich bis 1996 auf 2 : 110. Die Elastizitåt åhnlicher. Die Zeit, die im Durchschnitt eines der Erwerbsarbeit und die Fluiditåt der Arbeits- Lebens fçr Erwerbsarbeit aufgewendet wird, hat verhåltnisse nehmen zu, die ærtliche und zeitliche sich seit dem 19. Jahrhundert halbiert ( bei riesi- Fragmentierung der Arbeitsplåtze schreitet voran. gen Unterschieden von Fall zu Fall, von Schicht zu Die Organisation der Unternehmen nimmt Netz- Schicht). Erwerbsarbeit ist heute verbreiteter als werkcharakter an, die Beschåftigten mçssen einen frçher und åhnlich unverzichtbar wie frçher. Aber græûeren Teil des Risikos selbst çbernehmen, die ihr relatives Gewicht im Leben der einzelnen Bindung an den einzelnen Betrieb scheint sich zu Menschen nimmt ab: drohender Bindungs- und lockern. Die Flexibilitåtszumutungen an die Ein- Sinnverlust oder neue Freiheits- und Gestaltungs- zelnen steigen. Neue Formen partieller und oft- chance? Man bedenke: Arbeit, speziell abhångige mals prekårer Selbståndigkeit entstehen, statis- Erwerbsarbeit, war nie nur Selbstverwirklichung tisch sinkt der Selbståndigenanteil derzeit nicht und Lust, sondern immer auch Abhångigkeit und mehr. Der Arbeitsplatz verliert seine ehemals Last. Fçr die meisten Arbeiten gilt das auch heute. klare Abgrenzung, læst sich bisweilen auf. Die neuen Kommunikationsmittel erlauben neue For- men der Heimarbeit. Ein neues Zeitregime ent- steht in den Grauzonen zwischen Arbeits- und IV. Fazit Freizeit, mit Teilzeit und Gleitzeit, mit neuen Frei- heitschancen und Abhångigkeiten. Manche dieser Die massenhafte Arbeitslosigkeit muss nicht dau- Verånderungen seit den 1970er Jahren kehren ern. Vom ¹Ende der Arbeitª oder auch nur vom Trends der letzten zwei Jahrhunderte um! Was all ¹Ende der Erwerbsarbeitª zu sprechen fçhrt in die dies bedeutet, ist noch nicht vællig klar. Irre. Doch die Erwerbsarbeit wird elastischer, poræser, fluider. Sie verliert ihre monopolartige Auf der einen Seite befçrchten einige11, dass aus Dominanz. Das Verhåltnis von Arbeits- und der Flexibilisierung und Fragmentierung der Geschlechterordnung, von Arbeitsplatz und Fami- Arbeitsverhåltnisse eine bedrohliche Erosion der lie/Haushalt, von Arbeit und sonstigem Leben ord- individuellen Identitåten und des sozialen Zusam- net sich neu. Der Begriff der Arbeit hatte sich im menhalts folgt, auch politische Verunsicherung 19. und 20. Jahrhundert auf Erwerbsarbeit einge- und Xenophobie. In der Tat scheint die Bindungs- engt. Nun erweitert er sich wieder, ein semanti- kraft, die sozial strukturierende, kulturell verbin- scher Prozess auf praktischer Grundlage. Eigenar- dende und vergesellschaftende Kraft der Arbeit in beit, Hausarbeit, ehrenamtliche Arbeit gewinnen den letzten Jahrzehnten stark abgenommen zu an Boden, ohne die Erwerbsarbeit zu verdrången. haben. Der viel diskutierte Niedergang der Arbei- Die fçr die herkæmmliche Arbeitsgesellschaft terbewegungen legt davon Zeugnis ab. kennzeichnende Engfçhrung von Erwerbsarbeit einerseits, Einkommen, Ansehen, Sicherheit und Auf der anderen Seite enthalten die gegenwårtigen Lebenssinn andererseits hat sich zu lockern begon- und zu erwartenden Wandlungen auch neue Chan- nen. Entsteht dadurch Raum fçr eine Arbeitsge- sellschaft neuer Art, auf der Basis eines verbreiter- 10 In Westdeutschland. Vgl. Kommission fçr Zukunfts- fragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (Hrsg.), ten Verståndnisses von Arbeit? Oder wird die Erwerbståtigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Ent- gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit insgesamt wicklung, Ursachen, Maûnahmen. Leitsåtze, Zusammenfas- abnehmen? Wenn ja, was tråte an ihre Stelle? sung und Schlussfolgerungen, Mçnchen 1998, S. 46. Zukçnftige Chancen und Gefahren sind erkenn- 11 Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998; John Gray, Die falsche bar, ihr wahrscheinliches Mischungsverhåltnis Verheiûung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen, dagegen noch nicht. Viel hångt davon ab, was wir Berlin 1999. tun. 13 Aus Politik und Zeitgeschichte B 21 / 2001
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