Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit
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26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger ZÜRICH Stadt Region Züritipp Abo Zürcher Jugendliche und Corona Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit Während der Pandemie bleibt Jugendlichen in ihrer Freizeit, ausser am Bahnhof rumhängen, wenig übrig, wie ein Freitagabend in Winterthur zeigt. Sascha Britsko Publiziert: 23.01.2021, 10:09 93 https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 1/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger Früher kam die Polizei, wenn sie wirklich etwas angestellt haben. Jetzt werden Jugendliche bereits kontrolliert, wenn sie zu nahe zusammenstehen. Foto: Sascha Britsko «Es ist so frustrierend!», ruft Timmy und vergräbt den Kopf in den Händen. Es ist Freitagabend, kurz vor neun Uhr, und der 17-Jährige sitzt im Thurbo von Winterthur nach Bülach. Er und seine Freunde sind an diesem Abend schon einmal https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 2/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger hin und her gefahren, sie werden es noch etwa viermal tun, bevor sie nach Hause gehen. Denn so vertreiben sie sich das Wochenende: Sie fahren Zug. Jeden Freitag, jeden Samstag, von 19 Uhr bis kurz vor Mitternacht. 20 Minuten dauert die Fahrt, dazwischen 10 Minuten «Rauchpause», und dann geht es wieder zurück. «Der Zug ist beheizt, es hat eine Toilette, und trinken ist auch erlaubt. Es ist der perfekte Ort für uns», sagt Timmy. Mit dem Zugfahren haben die Freunde vor einigen Wochen angefangen, als die Temperaturen fielen und die Sauflust stieg. Normalerweise wären sie jetzt draussen, vielleicht im Eulachpark, vielleicht vor dem Salzhaus, dem «Salzi». Aber seit es eisig wurde, lässt es sich dort kaum aushalten. In eine Bar zu sitzen, geht nicht, zu jemandem nach Hause gehen ist auch tabu. Bleiben also der Zug oder Zu-Hause- Sitzen. Letzteres wollen sie auf keinen Fall. «Die wichtigste Zeit unseres Lebens wird uns einfach gestohlen.» Timmy, 17 Jahre alt Timmy, Monika, Lorenzo, Dario sitzen zusammen im Abteil: Manche heissen wirklich so, manche nicht. Unmöglich zu sagen, wer seinen richtigen Namen preisgibt. Etwa zwölf Jugendliche zwischen 17 und 21 Jahren haben sich an https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 3/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger diesem Freitagabend auf vier Abteile verteilt. Sie kommen aus Wiesendangen, Pfungen, Elgg, Eglisau, Töss. Einer von ihnen, er nennt sich Dario, feiert heute seinen 21. Geburtstag. So habe er sich seine Feier nicht vorgestellt, sagt er, lieber wäre er in eine Bar gehockt, hätte ein Bier bestellt und den restlichen Abend das Glas unter dem Tisch mit mitgebrachtem Dosenbier aufgefüllt. Aber jetzt verbinden sie eben die drei grossen Boom-Boxen miteinander und spielen in einer Lautstärke Trap-Musik. Er wolle noch jeden Tag geniessen, bis er in einigen Monaten ins Militär einrücken müsse. Aber zuerst schiessen sie sich ab. https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 4/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger Trotz Corona haben Jugendliche ihre Grundbedürfnisse: Sie wollen Werte und Menschen ausserhalb der Familie kennen lernen. Foto: Sascha Britsko Die Namen sind vielleicht falsch, aber die Ängste sind echt – auch wenn sie beinahe von den riesigen Markenlogos auf ihren Pullis überblendet werden. Werden sie nächste Woche noch das Haus verlassen dürfen? Wie lange wird es die Firma, bei der sie gerade in Ausbildung sind, noch geben? Und werden sie nach der Lehre einen Job finden? https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 5/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger «Die wichtigste Zeit unseres Lebens wird uns einfach gestohlen», beklagt sich Timmy. Viele Jugendliche fühlen zurzeit gleich. Das zeigen nicht nur die wöchentlichen Eskalationen an den städtischen Brennpunkten wie den Bahnhöfen oder in den Stadtpärken. Das bestätigt auch Mireille Stauffer, Jugendbeauftragte der Stadt Winterthur. Was die Jugend fühlt, fasst sie am Telefon in Worte: «Es geht ihnen momentan wirklich nicht gut. Alles in ihrem Leben ist unsicher.» Die Jugendlichen würden diese Gefühle unterdrücken, sagt Stauffer, täten so, als würde es sie nicht interessieren. Doch die Ängste blieben. Stauffer sagt: «Die Jugendpsychiatrie und alle ambulanten Therapiemöglichkeiten sind zurzeit voll ausgebucht.» Jugendtreffs nur für unter 16-Jährige Vor einigen Wochen kam es am Bahnhof Winterthur zu einem Gerangel. Als die Polizei in Vollmontur und mit Schreckschusspistolen einschritt, waren Timmy und seine Freunde in der Nähe. Sie hingen rum beim «Salzi», es floss Wodka, es wurde Marihuana geraucht, ein normaler Abend eben. Timmy schoss sich ab, der Notruf musste ihn abholen und ins Krankenhaus einliefern. Die Rechnung für Notruf und Spitalbehandlung beläuft sich auf rund 1000 Franken, die Hälfte wird von der Versicherung übernommen. Er erzählt das nicht ohne Stolz und lächelt verschmitzt. Der Wodka lässt sein kantiges Gesicht weich wirken. https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 6/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger «Geil, die andere Hälfte können wir ja dann versaufen», sagt Lorenzo und lacht. Lorenzo, ein rotbäckiger 17-Jähriger, ist heute quasi der Barkeeper. Er gibt Jägermeister, Whiskey oder Wodka mit Sprite, Fanta oder Powerade aus. Hauptsache farbig, Hauptsache stark. Lorenzo greift in den Migros-Sack neben sich, zieht ein blaues Softgetränk heraus und füllt das Powerade in einen Plastikbecher. Er mischt Wodka dazu und nimmt einen grossen Schluck. Hauptsache farbig, Hauptsache stark: Wodka mit Powerade und Jägermeister. Foto: Sascha Britsko https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 7/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger «Der einzige Ort, an dem sich Jugendliche zurzeit treffen können, ist der digitale Raum», sagt die Jugendbeauftragte Stauffer. Viele Jugendliche hätten sich mit der Situation abgefunden, würden ihre Kontakte seit einem Jahr über Videogames oder Facetime pflegen. «Das sind aber nicht ihre Bedürfnisse», schiebt Stauffer nach. Junge Erwachsene zwischen 16 und 24 befänden sich in einer wichtigen Entwicklungsphase. Sie müssten rausgehen, Erfahrungen sammeln, soziale Kontakte knüpfen können. «Man trifft sich, und manchmal trinkt und kifft man: Auch das ist typisches Jugendverhalten.» Dem stehen die Corona- Massnahmen diametral gegenüber. Stauffer führt aus: «Wir als Gesellschaft verlangen von den Jugendlichen, sich in dieser Lage anders zu verhalten – und sie richten sich danach. Aber Jugendliche haben immer noch ihre Grundbedürfnisse: Sie wollen Werte und Menschen ausserhalb der Familie kennen lernen. Und weil das nicht geht, setzt sich Frust an: Sie fühlen sich einsam und im Stich gelassen. Schliesslich versuchen sie, diese Gefühle über Konsum und lautes oder provokatives Verhalten auszugleichen.» Die Jugendarbeit versucht, dieses Verhalten, so gut es geht, aufzufangen. Ob Jugendtreffs als soziale Institution oder als Freizeitangebot eingestuft werden, entscheiden die Kantone selbst. Als soziale Institution dürfen sie offenbleiben, als Freizeitangebot müssen sie schliessen. In Zürich dürfen sie offenbleiben, wie letzte Woche bekannt wurde. Doch die Lage ist verzwickt: Die Jugendtreffs sind nur für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre weiterhin geöffnet. Jugendliche über 16 sind junge Erwachsene und müssen https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 8/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger sich entsprechend an die bundesrechtlichen Corona- Massnahmen halten. Stauffer sagt: «Es gäbe eigentlich Räume und Personal auch für ältere Jugendliche, aber wir dürfen sie nicht oder nur für kleine Gruppen öffnen und müssen die älteren Jugendlichen deshalb oft wegschicken.» «Zu Hause fühle ich mich so allein» Yasi und Fabienne torkeln über die Strasse. Es ist kurz vor 22 Uhr, die beiden 16-jährigen Frauen hängen seit drei Stunden am Bahnhof Winterthur herum und trinken mit ihren Freunden Cola mit Captain Morgan. Sie und ihr Freundeskreis versammelten sich in der Post gegenüber der Bahnhofshalle, weil das der einzige Raum ist, der offen und beheizt ist. Beide sagen: Wenn es einen Ort gäbe, wo sie hingehen könnten, sie würden es tun. «Ich brauche Unterhaltung», sagt Yasi, schwarze Brille, Bob, die Haare dunkelrot gefärbt. Sie ist vor ein paar Monaten 16 geworden, mitten in der Corona-Zeit. Das Clubleben kennt sie nicht. Zu Hause rumsitzen ist trotzdem keine Option. «Da fühle ich mich so allein.» Aus Angst davor, dass bald die Ausgangssperre kommt, holt sie alles vor. «Jetzt sind wir einfach Freitag und Samstag unterwegs.» «Man trif sich, und manchmal trinkt und kif man: Auch das ist typisches Jugendverhalten.» https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 9/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger Mireille Stauffer, Jugendbeauftragte Winterthur Der Ablauf ist immer der gleiche: Die Jugendlichen kommen in Gruppen am Bahnhof an. Kurz vor 19 Uhr decken sie sich mit Alkohol ein, laufen mit Turnschuhen und kurzen Socken umher und trinken, um sich warm zu halten. Sie schauen: Wo hat es andere Cliquen, Freunde oder Bekannte? Lässt sich eine Clique nieder, werden aus 5 Leuten schnell 10, werden 20, werden 30, werden 40. «Verpasst die Polizei den Moment, die Gruppe aufzulösen, bildet sich schnell eine grosse Menschenansammlung, ein Hotspot», sagt die Jugendbeauftragte Mireille Stauffer. Diese Eingriffe der Polizei sind aktuell nötig, senken aber die Hemmschwelle für Provokationen. Stauffer erklärt: «Wenn einen die Polizei früher aufgescheucht hatte, dann weil man etwas gemacht hat, was wirklich daneben war. Jetzt werden die Jugendlichen aufgescheucht, wenn sie zu siebt zusammenstehen. Das ist ja normalerweise nicht wirklich ein Vergehen.» Folgen für die Jugendlichen schwer abzuschätzen «Natürlich ist es ein Spiel», sagt Fabi, ihre roten Wangen glänzen im Licht der Laterne. «Es geht um Trotz, um Wut, die sich bei uns angestaut hat. Wir können nichts für die Situation, müssen uns aber fügen. Tun wir es nicht, werden wir verurteilt.» Und dann wird ihre Stimme ein bisschen leiser: «Ich fühle mich die ganze Zeit verurteilt.» https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 10/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger Plötzlich sprintet ein breiter Mann mit Leuchtweste und der Aufschrift «Sicherheit» auf dem Rücken über die Strasse. Er steuert zur Post und fängt an, angeregt mit einigen Jugendlichen zu diskutieren. Er holt sie auf die andere Strassenseite, reiht sie nebeneinander auf und kontrolliert ihre Ausweise. Wütend läuft Yasi rüber und will wissen, was vorgefallen ist. https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 11/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger «Ich fühle mich die ganze Zeit verurteilt.» Jugendliche provozieren, um ihren Unmut auszudrücken. Foto: Sascha Britsko Sie kommt zurück und erzählt, dass anscheinend jemand eine Flasche in Richtung der Sicherheitskräfte geworfen habe und die Versammlung aufgelöst werde, weil sie sich nicht in der Post aufhalten dürfe. Welche Folgen die Corona-Zeit auf die Zukunft der Jugendlichen haben wird, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Die Jugendbeauftragte Stauffer geht davon aus, dass es in den nächsten Jahren zu mehr Lehrabbrüchen, einem Bildungsdefizit und zu einer höheren Jugendarbeitslosigkeit kommen wird. «Und wenn die Jugendarbeitslosigkeit steigt, wird das auch zu mehr Jugendgewalt führen. Das sind bekannte Triggerfaktoren.» Yasi, Fabi und ihre Freunde müssen nun jedenfalls den Bahnhof verlassen. Es ist Freitagabend, kurz vor Mitternacht. Für die nächsten 24 Stunden haben sie Bahnhofsverbot. Publiziert: 23.01.2021, 10:09 93 Kommentare Schreiben Sie einen Kommentar 1500 Ich habe die Kommentar- Regeln gelesen und akzeptiere Kommentar abschicken https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 12/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger diese. Sie sind angemeldet als: gunse Ändern P.c. vor 23 Stunden Könnte man den Jugendlichen nivht ein paar Baucontainer, welche sie selber gestalten könnten, hinstellen? Diese könnten sie Gruppenweise für den Abend mieten. 5 | 1 | Antworten | Melden Alle Kommentare anzeigen MEHR ZUM THEMA Abo Psychische Notlagen Abo Junge in der Pandemie Weshalb Jugendliche am Er ist Zürichs Star der stärksten unter Corona Generation Tiktok leiden Joung Gustav blödelt am Stadelh Junge Menschen wie Anja und Lisa mit Ausgehfreudigen herum. Milli aus dem Kanton Zürich treffen die haben seine Clips in den sozialen Massnahmen gegen die Pandemie Medien gesehen. Nun verändert hart. Die Jugendpsychiatrie der Corona die Szene. Universität Zürich ist derzeit voll 18.01.2021 ausgelastet. 07.01.2021 https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 13/14
26.1.2021 Zürcher Jugendliche und Corona – Trinken gegen den Frust, provozieren gegen die Einsamkeit | Tages-Anzeiger Startseite Kontakt E-Paper Impressum AGB Datenschutz Abo abschliessen Alle Online-Medien von Tamedia © 2021 Tamedia AG. All Rights Reserved https://www.tagesanzeiger.ch/trinken-gegen-den-frust-provozieren-gegen-die-einsamkeit-354090054528 14/14
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