Tuberkulose in der Schweiz - Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen
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Impressum Lungenliga Schweiz (LLS) Institutionelle Autoren Chutzenstrasse 10 Bundesamt für Gesundheit Postfach Nationales Zentrum für Mykobakterien 3000 Bern 14 Pädiatrische Infektiologiegruppe Schweiz info@lung.ch Staatssekretariat für Migration www.lungenliga.ch Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz Auskunft Tuberkulose Schweizerisches Kollegium für Hausarztmedizin Kompetenzzentrum Tuberkulose Lungenliga Schweiz Chutzenstrasse 10 Schweizerische Unfallversicherung Suva Postfach Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie 3007 Bern Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrische Tel. 031 378 20 50 Pneumologie tbinfo@lung.ch Schweizerische Gesellschaft für Pneumologie www.tbinfo.ch Schweizerische Gesellschaft für Spitalhygiene Tuberkulose-Zentrum LUNGE ZÜRICH, Lungenliga Herausgeber Zürich Lungenliga Schweiz Bundesamt für Gesundheit Einzelautoren, einschliesslich Vertreter der institutio- nellen Autoren Otto D. Schoch (koordinierender Autor), Jürg Barben, Christoph Berger, Erik C. Böttger, Jean-Marie Egger, Lu- kas Fenner, Peter Helbling, Jean-Paul Janssens, Annette Koller Doser, Jesica Mazza-Stalder, Stefan Neuner-Jehle, Laurent Nicod, Nicole Ritz, Matthias Schlegel, Mattias Tschannen, Bea Začek, Stefan Zimmerli Hintergrund Grundlage des vorliegenden Handbuchs sind aktu- elle internationale Leitlinien zur Diagnose und Be- handlung der Tuberkulose. Diese Fassung stellt eine Aktualisierung der Publikation «Tuberkulose in der Schweiz – Leitfaden für Fachpersonen des Gesund- heitswesens» von 2014 dar und ersetzt gleichzeitig die 3. Auflage (4 / 2011) des «Handbuch Tuberkulose». Nachdruck mit Quellenangabe gestattet
Inhalt 1 Die Rolle des behandelnden Arztes 4 8 Meldeverfahren, epidemiologische Überwachung und Outcome-Monitoring 43 2 Epidemiologie 6 8.1 Meldeverfahren und epidemio- logische Überwachung 3 Ü bertragung, Pathogenese und 8.2 Überwachung der Ergebnisse klinisches Bild 11 der Tuberkulosebehandlung 3.1 Übertragung 3.2 Pathogenese 9 BCG-Impfung 46 3.3 Klinisches Bild 3.4 Radiologischer Befund 10 Tuberkulose und Asylsuchende 49 4 L atenteInfektion mit M. tuberculosis 15 11 F inanzielle Aspekte und Gesetzes- 4.1 Infektion und Fortschreiten zur manifesten grundlagen 51 Erkrankung 11.1 Krankenversicherung 4.2 Indikationen für die Testung 11.2 Unfallversicherung asymptomatischer Personen auf eine latente 11.3 Gesundheitsämter Infektion 11.4 Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen 4.3 Indirekte immundiagnostische Tests auf eine 11.5 Privatpersonen latente Infektion mit M. tuberculosis 11.6 Besondere Situationen 4.4 Wahl der Test-Art 4.5 Behandlungsoptionen bei latenter 12 Informationen und nützliche Adressen 56 Infektion mit M. tuberculosis 12.1 Broschüren und sonstige Materialien 5 Umgebungsuntersuchung 23 12.2 Im Internet 5.1 Ablauf einer Umgebungsuntersuchung 12.3 Tuberkulose-Hotline für 5.2 Grenzen der Umgebungsuntersuchung medizinische Fachpersonen 6 Diagnose der Tuberkulose 29 13 Literatur 58 6.1 Überlegungen bei Patientinnen und Patienten mit möglicher Tuberkulose 6.2 Probenentnahme bei Personen mit einer möglichen Tuberkulose 6.3 Mikrobiologische Methoden 7 Behandlung der Tuberkulose 34 7.1 Standard-Behandlungsregime 7.2 Therapie der resistenten Tuberkulose 7.3 Besondere Situationen 7.4 Verlaufskontrolle während der Behandlung 7.5 Isolierung
1 Die Rolle des behandelnden Arztes www.tbinfo.ch | Version 1.2021 4 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 1 | Die Rolle des behandelnden Arztes 1 Die Rolle des behandelnden Arztes Der Arzt spielt bei der Behandlung der Tuberkulose sowohl in Bezug auf die unmittelbare medizinische Versorgung erkrankter Personen als auch hinsichtlich der epidemiologischen Aspekte eine entscheidende Rolle. Er ist das unverzichtbare Bindeglied zwischen der Gesundheit des Einzelnen und der öffentlichen Gesundheit. u den Aufgaben des behandelnden Arztes, der Z • s ich zu vergewissern, dass die erkrankte Person behandelnden Ärztin gehört es: sich während des gesamten vorgesehenen Be- handlungszeitraums an die verordnete Therapie • a n Tuberkulose zu denken, wenn eine Person Zei- hält und diese gut toleriert, und dem kanton- chen und / oder Symptome aufweist, die mit Tu- särztlichen Dienst allfällige Therapieunterbrüche, berkulose vereinbar sind, insbesondere, wenn sie mangelnde Therapietreue oder Therapieabbrüche einer entsprechenden Hochrisikogruppe angehört (Nichterscheinen zur Kontrolle) zu melden. (z. B. Personen aus einem Land mit hoher Tuber- kulose-Inzidenz, erst kürzlich erfolgter Kontakt mit • die Therapieadhärenz bis zum Behandlungsende einem ansteckenden Tuberkulosefall, immunge- zu fördern. Das soziale Umfeld ist zu berücksich- schwächte Personen). tigen und die erkrankte Person soll durch alle an der gesundheitlichen Wiederherstellung beteiligten • r asch die notwendigen diagnostischen Untersu- Personen die erforderliche Unterstützung erhalten, chungen (Röntgenaufnahme des Thorax, mikro- damit eine zuverlässige Behandlungstreue gewähr- biologische Untersuchungen und andere gezielte leistet ist. Tests je nach klinischem Bild) durchzuführen oder den Patienten, die Patientin an eine erfahrene • s icherzustellen, dass der Tuberkulosefall geheilt Kollegin bzw. einen erfahrenen Kollegen oder ein wurde, indem er bzw. sie in allen Fällen die ent- Fachzentrum zu überweisen. sprechenden Kontrolluntersuchungen durchführt oder durchführen lässt und den kantonsärztlichen • jeden Tuberkulosefall sofort bei Therapiebeginn Dienst über das Behandlungsergebnis informiert. beim zuständigen Kantonsarztamt zu melden. • afür zu sorgen, dass alle Personen, die längeren d Kontakt mit einem infektiösen Tuberkulosefall hatten, getestet werden (Umgebungsuntersu- chung). Die Umgebungsuntersuchung erfolgt in Absprache mit dem kantonsärztlichen Dienst und in Zusammenarbeit mit der für die Tuberkulosebe- kämpfung zuständigen kantonalen Einrichtung, in der Regel der kantonalen Lungenliga. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 5 | 61
2 Epidemiologie www.tbinfo.ch | Version 1.2021 6 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 2 | Epidemiologie 2 Epidemiologie Die Tuberkuloseinzidenz geht in der Schweiz, ebenso einem respiratorischen Material gemeldet. wie in vielen anderen westeuropäischen Ländern, seit Bei den im Ausland geborenen Personen handelte es mindestens 150 Jahren zurück. Im Jahr 2007 wurde sich überwiegend um junge Erwachsene, bei denen mit 478 gemeldeten Fällen der bislang niedrigste sich die Migrationsmuster und bis zu einem gewissen Stand erreicht, auf den in den darauffolgenden Grade auch die vorherrschenden epidemiologischen Jahren wieder ein leichter Anstieg folgte. Im Jahr Verhältnisse der Herkunftsländer widerspiegelten. 2017 wurde mit einer Inzidenz von 6,5 Fällen auf 100’000 Einwohner (554 gemeldete Fälle) ein Abbildung 2-2 zeigt die Altersverteilung der Fälle neuerlicher Rückgang verzeichnet. Von diesen nach Herkunft (Ausland vs. Schweiz). Im Fünfjahres- Betroffenen waren 77% nichtschweizerischer Her- zeitraum von 2012 bis 2016 waren in 52 Fällen kunft, d. h. sie besassen eine ausländische Staatsbür- Kinder unter fünf Jahren betroffen. Davon waren 37 gerschaft und / oder waren im Ausland geboren nichtschweizerischer Herkunft (ausländische Staats- (Abbildung 2-1). Im Jahr 2015, dem letzten Jahr, für bürgerschaft und / oder im Ausland geboren). Sieben das solche Daten vorliegen, traten 34% aller gemel- dieser Kinder waren im Ausland und 28 in der deten Fälle bei Asylsuchenden oder Flüchtlingen auf. Schweiz geboren (in zwei Fällen war das Geburtsland nicht bekannt). In 70% der Tuberkulosefälle war die Lunge betroffen (Jahr 2017). Von den Fällen mit Lungenbefall waren 91% kulturell bestätigt; bei 50% wurde von den Labors ein positives mikroskopisches Resultat aus 900 Total 800 Foreign Swiss 700 Unknown origin 600 500 400 300 200 100 0 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Abbildung 2-1. Dem Bundesamt für Gesundheit gemeldete Tuberkulosefälle in der Schweiz, nach Herkunft, 1995 – 2017. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 7 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 2 | Epidemiologie In der Schweiz unterliegen die Ergebnisse der Resis- Sowohl die Anzahl als auch der Anteil der geschätz- tenzprüfung der Meldepflicht. Der Anteil der multire- ten medikamentenresistenten Tuberkulosefälle sind sistenten Tuberkulose (MDR-Tuberkulose) an allen besorgniserregend (Abbildung 2-4 und 2-5), bei gemeldeten und getesteten Fällen lag jahrelang bei gleichzeitig bedenklichen Finanzierungslücken in der 2%, seit 2013 bei 3%. globalen Tuberkulosebekämpfung. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt die weltweite Tuberkulose-Inzidenz seit einigen Jahren langsam ab. Im Global Tuberculosis Report von 2018 schätzt die WHO die Anzahl Neuer- krankungen im Jahr 2017 auf zehn Millionen, von denen 9% auf Menschen mit HIV-Infektion entfielen [1]. Die jährliche Zahl der Tuberkulose-Neuerkrankun- gen auf 100’000 Einwohner (die Inzidenz) ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Während die geschätzte Inzidenz in den meisten hoch entwickelten Ländern unter zehn liegt (in den USA sogar nur bei 3,1), ist sie in der grossen Mehrzahl der Länder höher. In einigen Ländern im südlichen Afrika und in Asien liegt sie über 500 und reicht bis 665 (Abbildung 2-3). 400 Swiss 350 Foreign Unknown Number of cases in 5 years 300 250 200 150 100 50 0 04 09 14 19 24 29 39 44 49 54 59 64 69 74 79 84 89 94 4 95 –3 – – – – – – – – – – – – – – – – – – ≥ 00 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 5-year age groups Abbildung 2-2. Dem Bundesamt für Gesundheit im Zeitraum von 2012 bis 2016 gemeldete Fälle nach Alter und Herkunft (gesamt n = 2716). www.tbinfo.ch | Version 1.2021 8 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 2 | Epidemiologie Abbildung 2-3. Zahl der jährlichen Tuberkulose-Neuerkrankungen pro 100’000 Einwohner (Inzidenz) im Jahr 2019. World Health Organiz- ation, Global Tuberculosis Report 2020 [1]. Abbildung 2-4. Prozentuale Verteilung der multiresistenten Tuberkulose bei nicht vorbehandelten Patientinnen und Patienten. World Health Organization, Global Tuberculosis Report 2020 [1]. Die Zahlen beziehen sich auf das jeweils letzte Jahr, für das Daten vorliegen (von Land zu Land unterschiedlich). Die Daten decken den Zeitraum von 2005 bis 2020 ab. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 9 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 2 | Epidemiologie Abbildung 2-5. Prozentuale Verteilung der multiresistenten Tuberkulose bei vorbehandelten Patientinnen und Patienten. World Health Organization, Global Tuberculosis Report 2020 [1]. Die Zahlen beziehen sich auf das jeweils letzte Jahr, für das Daten vorliegen (von Land zu Land unterschiedlich). Die Daten decken den Zeitraum von 2005 bis 2020 ab. Für die hohen Anteile vorbehandelter TB-Fälle mit RR-TB in Belize, Guam und São Tomé und Príncipe sind lediglich eine geringe Zahl gemeldeter Fälle verantwortlich. (Bereich: 1 – 8 gemeldete vorbehandelte TB-Fälle). www.tbinfo.ch | Version 1.2021 10 | 61
3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild 3.1 Übertragung 3.2 Pathogenese 3.3 Klinisches Bild 3.4 Radiologisches Bild www.tbinfo.ch | Version 1.2021 11 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 3 | Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild 3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild Im vorliegenden Dokument bezieht sich der Begriff mit tuberkulöser Mastitis zurückzuführen; eine aeroge- «Infektion mit Mycobacterium tuberculosis» (abge- ne Übertragung ist ebenfalls möglich. Meist (in 60%) kürzt M. tuberculosis) im Einklang mit der aktuellen sind Schweizerinnen und Schweizer im Alter von über Fachliteratur auf einen Zustand ohne Zeichen und 65 Jahren betroffen, während die meisten der übrigen Symptome der Tuberkulose (abgesehen von positiven Fälle bei Erwachsenen mit Migrationshintergrund aller Ergebnissen in den Tests auf eine Infektion mit Altersgruppen auftreten. Die Fälle bei älteren Schwei- M. tuberculosis) (Kapitel 4), während der Begriff zer Personen sind auf eine Reaktivierung von Infekti- «Tuberkulose» die Erkrankung bezeichnet (mit mani- onen zurückzuführen, die weit in der Vergangenheit festen Zeichen und / oder Symptomen). erworben wurden. 3.1 Übertragung 3.2 Pathogenese Die Tuberkulose wird durch einen pathogenen Ver- Phagozytierte M.-tuberculosis-Bakterien sind in der treter des Mycobacterium-tuberculosis-Komplexes Lage, ihre Zerstörung in den Makrophagen zu verhin- verursacht (M. tuberculosis, M. bovis, M. africanum dern. Sie können sich daher im Inneren der Makro- und M. canettii). Die für den Menschen nicht patho- phagenzelle vermehren, bei deren Zerfall freigesetzt genen Spezies M. bovis BCG und M. microti zählen werden und eine lokale Entzündungsreaktion hervor- ebenfalls zu diesem Komplex. Die Übertragung von rufen. Die freigesetzten Erreger werden wiederum von M. tuberculosis erfolgt aerogen, über kleinste Bron- anderen Makrophagen phagozytiert, die als antigen- chialsekret-Tröpfchen (Tröpfchenkerne, engl. «droplet präsentierende Zellen fungieren können, was schliess- nuclei»), die lebende Erreger enthalten. Personen mit lich zur Sensibilisierung von Lymphozyten führt. In der Atemwegstuberkulose setzen bei respiratorischen Folge kommt es entweder Vorgängen, insbesondere Husten und Sprechen, Tröpfchen unterschiedlicher Grösse frei. Die kleins- • zur Eradikation der Mykobakterien oder ten dieser Tröpfchen können in der Luft schweben und dort durch Verdunstung zu Tröpfchenkernen • z um Persistieren der Mykobakterien und zur werden, die ein oder mehrere Tuberkulosebakterien Granulombildung. enthalten. Diese Tröpfchenkerne sind klein genug, um längere Zeit (Stunden) in der Luft zu verbleiben. Bei Personen, die aufgrund eines positiven immunolo- Einatmung erreichen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit gischen Tests als latent mit M. tuberculosis infiziert die Alveolen, wo sie sich an der Zellwand ablagern bezeichnet werden (Kapitel 4.1), sind weder krank und von Gewebemakrophagen phagozytiert werden noch in der Lage, M. tuberculosis zu übertragen. Die können. Innerhalb von geschlossenen Räumen gibt überwältigende Mehrzahl solcher latent infizierten es daher keine sichere Distanz zwischen der Patientin Personen entwickelt zeitlebens keine Tuberkulose. Mit- oder dem Patienten und den exponierten Personen, da hilfe geeigneter Testsysteme (Tuberkulinhauttest oder in der Raumluft auch auf Distanz noch erregerhaltiges Interferon-Gamma-Test) kann eine immunologische Aerosol vorhanden sein kann oder sogar, wenn die Reaktion ausgelöst werden; diese stellt das einzige betroffene Person den Raum bereits verlassen hat. Die Zeichen einer stattgehabten Infektion mit Beurteilung des Übertragungsrisikos in einer bestimm- M. tuberculosis dar. ten Situation ist entscheidend für die Planung einer Umgebungsuntersuchung (Kapitel 5). Bei einem kleinen Teil der Personen mit subklinischer oder latenter M.-tuberculosis-Infektion entwickelt Die seltenen Fälle von Tuberkulose durch M. bo- sich eine Tuberkulose (durch M. tuberculosis bedingte vis (1,3% der Fälle in der Schweiz im Zeitraum von klinische Manifestationen und / oder Veränderun- 2008 – 2017) sind in der Regel auf die orale Aufnahme gen im Röntgenbild), wobei das Risiko in den ersten von Erregern über unpasteurisierte Milch von Kühen beiden Jahren der Infektion am höchsten ist. Das www.tbinfo.ch | Version 1.2021 12 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 3 | Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild Risiko des Fortschreitens von der Infektion zur mani- festen Erkrankung ist stark erhöht bei Säuglingen und Kleinkindern, bei Personen mit HIV-Infektion und bei medikamentöser Immunsuppression, z.B. nach Organ- transplantation. Das Risiko ist bei anderen chronischen Zuständen ebenfalls erhöht, z.B. bei Silikose, chroni- scher Niereninsuffizienz, Diabetes, Rauchen, Unte- rernährung etc.; sowie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Nur Patientinnen und Patienten mit unbehandelter Tuberkulose der Lungen und Atemwege können die Erreger aushusten und so möglicherweise andere Personen infizieren. Bei Kindern unter zehn Jahren ist dies selten. Die Gefahr einer Übertragung steigt, wenn Husten mit Auswurf vorliegt, wenn der Aus- wurf eine grosse Anzahl an Erregern enthält (was bei kavernöser Lungentuberkulose in der Regel der Fall ist) und wenn eine physikalische Kraft (in erster Abbildung 3-1. Thoraxröntgenaufnahme eines Patienten mit Linie der Husten) grosse Mengen kleinster Tröpfchen sputummikroskopisch positiver Lungentuberkulose. Ausgedehnter bilateraler Befall mit asymmetrischen Infiltraten, miliaren Verschat- produziert. tungen und Kavernenbildung. 3.3 Klinisches Bild fallen durch längeres Fieber und Gedeihstörungen Die Tuberkulose betrifft meist das Lungenparen- auf. Der klinische Verdacht gründet deshalb auf chym (Lungentuberkulose), kann aber infolge der epidemiologischen und klinischen Faktoren, bei lymphatischen und hämatogenen Ausbreitung auch denen die Wahrscheinlichkeit einer Tuberkulose andere Organe befallen (extrapulmonale Tuberkulo- erhöht ist – z. B. Herkunft der betroffenen Person, se). Die häufigsten extrapulmonalen Formen sind Dauer der Symptome, einschlägige Expositions- Lymphknoten-, Pleura-, Knochen- und Gelenkstu- anamnese –, sowie auf radiologischen Befunden. berkulose. Disseminierte Formen (Miliartuberkulose, Schwindendes Interesse und damit immer lücken- Erkrankung mit Mehrorganbefall) und Meningitis haftere Kenntnisse über Tuberkulose bergen die treten hauptsächlich bei immungeschwächten sowie Gefahr einer verzögerten Diagnosestellung mit bei sehr jungen und sehr alten Personen auf. entsprechender Häufung fortgeschrittener Krank- Die Tuberkulose verläuft klinisch meist langsam heitsformen. fortschreitend mit lokalen (bei pulmonalen Formen: Husten, geringer Auswurf) und allgemeinen (Fieber, Unwohlsein, Erschöpfung, Nachtschweiss, Appetit- 3.4 Radiologischer Befund und Gewichtsverlust) Zeichen und / oder Sympto- men. In der Frühphase der Erkrankung sind die Deutliche Auffälligkeiten in der (konventionell-radio- Symptome häufig nur schwach ausgeprägt und logischen oder computertomographischen) Thorax- diese Symptomarmut kann zu falschen Schlüssen aufnahme sind in der Regel der wichtigste Hinweis auf verleiten. Pathognomonische klinische Zeichen oder das Vorliegen einer Lungentuberkulose. Bei asymmet- Symptome gibt es bei der Tuberkulose nicht. Ältere rischen Infiltraten in den Oberfeldern (Abbildung 3-1), Patientinnen und Patienten weisen häufig weniger insbesondere mit kavernösem oder mikronodulärem und atypischere Symptome auf; Kinder wiederum Muster, besteht Tuberkuloseverdacht. Atypische www.tbinfo.ch | Version 1.2021 13 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 3 | Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild Lokalisationen (Infiltrate in den Unterfeldern) finden sich häufiger bei immungeschwächten und älteren Personen. Kinder mit Lungentuberkulose fallen radio- logisch häufig durch hiläre Lymphadenopathie und Lungeninfiltrate auf. Obwohl keine spezifischen Empfehlungen für einen systematischen Einsatz vorliegen, kann die Computer- tomographie (CT) (konventionell oder niedrig dosiert) eine sinnvolle ergänzende Abklärung zur konventio- nellen Thoraxröntgenaufnahme darstellen (Abbildung 3-2). Die CT besitzt eine erheblich höhere Nach- weisempfindlichkeit für kleine kavernöse Läsionen, blütenbaumförmige Infiltrationen oder Verschattungen Abbildung 3-2. Computertomographische Thoraxaufnahme eines in den apikalen oder retrokardialen Abschnitten des Patienten mit Lungentuberkulose. Dickwandige Kavität im oberen Segment des rechten Unterlappens mit Blütenbaumzeichen. Lungenparenchyms; die Aufnahmen können damit Hinweise auf eine Lungentuberkulose geben. Miliare Muster sind mithilfe der CT besser erkennbar und eine mediastinale oder hiläre Adenopathie mit inhomogen dichter Darstellung, die auf nekrotische Veränderun- gen hindeutet, sind charakteristische Befunde bei der Tuberkulose der mediastinalen Lymphknoten. Nach eventuell lange zurückliegender Primärinfektion kön- nen kleine periphere und hiläre Knoten (mit oder ohne Verkalkung) erkennbar sein. Bei Symptomen oder falls eine Behandlung einer latenten M.-tuberculosis Infek- tion erwogen wird, kann der Ausschluss einer aktiven Tuberkulose nötig sein. Kein radiologisches Bild ist spezifisch für die Tuberku- lose. Der radiologische Befund gestattet keine Unter- scheidung zwischen bakteriologisch aktiver (mit Bakte- rienvermehrung), inaktiver (Bakterien im Ruhezustand) oder ausgeheilter (keine oder avitale Bakterien) Lun- gentuberkulose. Bevor Infiltrate aufgrund des radiolo- gischen Befunds lediglich als Tuberkulosevernarbungen interpretiert werden, müssen eine klinische Anamnese erhoben und Tuberkulosezeichen und -symptome ausgeschlossen werden sowie die Untersuchung von Material aus den Atemwegen negativ ausfallen. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 14 | 61
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis 4.1 Infektion und Fortschreiten zur manifesten Erkrankung 4.2 Indikationen für die Testung asymptomatischer Personen auf eine latente Infektion 4.3 Indirekte immundiagnostische Tests auf eine latente Infektion mit M. tuberculosis 4.4 Wahl der Test-Art 4.5 Behandlungsoptionen bei latenter Infektion mit M. tuberculosis www.tbinfo.ch | Version 1.2021 15 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis 4 Latente Infektion mit M. tuberculosis 4.1 Infektion und Fortschreiten zur zung von Gamma-Interferon aus T-Gedächtniszellen manifesten Erkrankung in Anwesenheit von Zellwandantigenen von Myko- bakterien des M.-tuberculosis-Komplexes. Zwischen einer Infektion mit M. tuberculosis und der Ein positives Ergebnis in einem der beiden Tests weist klinischen Manifestation einer Tuberkulose können auf einen früheren Kontakt mit mykobakteriellen Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte liegen; die In- Antigenen oder auf eine früher stattgehabte Myko- kubationszeit der Tuberkulose lässt sich nicht eindeu- bakterien-Infektion hin, ist aber kein Nachweis für tig definieren. Hingegen gilt nicht automatisch das weiterhin vorhandene lebende Mykobakterien. Aus Prinzip «einmal infiziert, immer infiziert». Mittlerweile diesem Grund können weder der Tuberkulinhauttest liegt umfassende bakteriologische, histopathologi- noch IGRAs zwischen einer M.-tuberculosis-Infektion sche, immunologische und epidemiologische Evidenz und der manifesten Erkrankung unterscheiden. dafür vor, dass die lebenslange Persistenz lebender Bakterien nicht die Regel, sondern eher eine wichtige Es ist daher etwas irreführend, bei einem positiven Ausnahme darstellt. Tuberkulinhauttest oder IGRA von einer laten- ten Infektion mit M. tuberculosis (insbesondere Mit keinem der derzeit verfügbaren Tests lässt sich im US-amerikanischen Sprachgebrauch auch als bestimmen, ob eine klinisch gesunde Person, bei der «latente Tuberkulose-Infektion» oder kurz «LTBI» Verdacht auf eine latente Infektion mit M. tuberculo- bezeichnet) zu sprechen: Was anhand dieser Tests sis besteht, tatsächlich Trägerin lebender Erreger ist. nachgewiesen wird, sind die immunologischen Spu- Die verfügbaren Tests stützen sich auf durch M. ren eines früheren Kontakts mit mykobakteriellen tuberculosis induzierte Immun-Gedächtniszellen. Das Antigenen oder einer früheren Infektion mit einem immunologische Gedächtnis kann lebenslang beste- Mykobakterium. Sie liefern daher keinen eindeuti- hen bleiben. Belege dafür sind die persistierende gen Beleg für eine persistierende Infektion mit den positive Testreaktion nach bakteriologisch ausgeheil- lebenden Erregern. Die Gefahr einer Progression ter Tuberkulose sowie die langanhaltende Tuberku- zur Tuberkulose ist aber nur dann gegeben, wenn lin-Reaktivität und deren nur allmähliches Nachlassen lebende Mykobakterien vorhanden sind. Daher nach einer BCG-Impfung. ist es nicht weiter überraschend, dass sowohl der Tuberkulinhauttest als auch IGRAs relativ schlech- M. tuberculosis und andere Mykobakterien (z. B. te Prädiktoren im Hinblick auf eine zukünftige Umweltmykobakterienarten und insbesondere M. Tuberkuloseerkrankung darstellen (die überwie- bovis BCG) induzieren eine verzögerte, von sensibili- gende Mehrheit der positiv getesteten Personen sierten T-Lymphozyten vermittelte zelluläre Immun- entwickelt zeitlebens keine Tuberkulose). Hingegen antwort. Diese Sensibilisierung lässt sich nachweisen verbessert sich mit abnehmender effektiver Präva- durch: lenz einer M.-tuberculosis Infektion der negative Vorhersagewert, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass • e inen Tuberkulinhauttest (empfindlich für eine Viel- eine Person mit negativem Ergebnis im Tuberku- zahl von Mykobakterienarten); oder linhauttest bzw. im IGRA keine Tuberkulose entwi- ckelt (ausgenommen Fälle, in denen eine Anergie • einen Bluttest (Interferon Gamma Release Assay, vorliegt). IGRA; empfindlich für eine eingeschränkte Zahl an Mykobakterienarten, jedoch nicht für M. bovis Bei der Bewertung des Risikos einer latent infizierten BCG). Person, eine Tuberkulose zu entwickeln, sind folgen- de Faktoren zu berücksichtigen: Beim Tuberkulinhauttest wird die In-vivo-Akkumula- tion von T-Gedächtniszellen an der Injektionsstelle des PPD-Antigens (von engl. Purified Protein Deriva- tive) gemessen. Der IGRA misst in vitro die Freiset- www.tbinfo.ch | Version 1.2021 16 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis • das Alter der Person; 4.2 Indikationen für die Testung asymptomatischer Personen auf • die seit dem Erwerb der Infektion verstrichene Zeit; eine latente Infektion • die Intaktheit des zellulären Immunsystems; Tests auf eine latente Infektion sind grundsätzlich nur dann sinnvoll, wenn nach einem positiven Testergeb- • t horaxradiologische Hinweise auf vernarbte Tuber- nis auch eine Behandlung gegen die latente Infektion kuloseherde, z. B. verkalkte thorakale Granulome erfolgt; diese Empfehlung ist mit der Patientin oder dem oder Lymphknoten (bei nicht gegen Tuberkulose Patienten vor der Testdurchführung zu erörtern. vorbehandelten Personen). Tests auf eine latente Tuberkulose-Infektion sind zu Bei einer persistierenden Infektion hängt das Risiko folgenden Zwecken zur Feststellung einer möglichen der Progression zur Tuberkulose von der Qualität der Infektion mit M. tuberculosis angezeigt: Immunantwort der infizierten Person ab. Bei frisch infizierten Personen, insbesondere Kindern unter fünf • ei Personen, die vor Kurzem mit einer an infektiö- b Jahren, immungeschwächten Personen (HIV, Behand- ser Lungentuberkulose erkrankten Person Kontakt lung mit TNF-alpha-Hemmern etc.) oder Personen hatten (Umgebungsuntersuchung). mit Diabetes, Niereninsuffizienz oder Silikose ist das Risiko des Fortschreitens zur Tuberkulose höher. In • ei immungeschwächten Personen (Ausgangs- b diesen Fällen ist daher eine medikamentöse Prävention untersuchung bei Personen mit HIV-Infekti- vorrangig angezeigt. Das Tuberkulose-Risiko ist in den on, vor immunsuppressiver Behandlung, z.B. ersten zwei Jahren nach der Ansteckung am höchs- mit TNF-Hemmern, oder vor einer Organ ten und nimmt dann ab, verschwindet aber nie ganz transplantation). (siehe Abbildung 4-1). Ferebee S H, Mount F W. Am Rev Respir Dis 1962;85:490-521 Ferebee S H, Adv Tuberc Res 1970;17:28-106 40 Initial prevalence Cases per 1’000 persons Incidence during follow-up 30 5-year cumulative: 64 per 1’000 20 10 0 0 2 4 6 8 10 12 Year of observation Abbildung 4-1. Prävalenz und Inzidenz von Tuberkulose bei frisch infizierten Kontaktpersonen im selben Haushalt, nach dem zeitlichen Abstand seit der Feststellung des Indexfalls. Studie des United States Public Health Service. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 17 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis • ei Personen mit erhöhtem Risiko einer beruflichen b ven Therapie der M.-tuberculosis-Infektion an einen Exposition (Beschäftigte im Gesundheits- oder Spezialisten oder eine Spezialistin zu überweisen. Sozialwesen und Laborpersonal) als Eingangstest vor Antritt einer Beschäftigung in einer derartigen Die Reihenuntersuchung asymptomatischer Einwan- Umgebung, nachdem diese einer Risikobewertung dererkinder auf eine Infektion mit M. tuberculosis unterzogen wurde. ausserhalb von Umgebungsuntersuchungen (siehe Ka- pitel 5) ist aufgrund unzureichender Daten umstritten. Reihenuntersuchungen auf eine latente Infektion durch systematische Testung (Screening) sind der- zeit in keiner Situation ausser den oben genannten 4.3 Indirekte immundiagnostische angezeigt (schlechter Vorhersagewert eines positiven Tests auf eine latente Infektion mit Testergebnisses bei ungezieltem Screening). M. tuberculosis 4.2.1 Kontrolltests bei Beschäftigten im 4.3.1 Tuberkulinhauttest (THT) Gesundheitswesen In der Schweiz kommt es häufig zu Lieferengpässen bei In allen Einrichtungen des Gesundheitssystems und Tuberkulin. Daher werden vorzugsweise IGRAs ein- anderen Einrichtungen mit Tuberkulose-Risiko ist der gesetzt, ausgenommen bei Kindern unter fünf Jahren Arbeitgeber für die Risikobewertung zuständig. Bei (siehe unten). Beschäftigungen mit erheblich erhöhtem Risiko einer Exposition gegenüber ansteckenden Tuberkuloseformen Tuberkulin enthält eine Vielzahl unterschiedlicher my- sind angemessene Schutzmassnahmen zu ergreifen kobakterieller Peptide, von denen die meisten auch in (Kapitel 7.5). Darüber hinaus sollte in Arbeitsumgebun- M. bovis BCG sowie in geringerem Umfang in einigen gen mit erhöhtem Risiko ein Test bei Beschäftigungsan- anderen Umweltmykobakterienarten zu finden sind. tritt erfolgen. Routinemässige Kontrolltests werden bei Beschäftigten im Gesundheitswesen nicht empfohlen Zur Durchführung wird ausschliesslich die intradermale (siehe Kapitel 4.3.2, letzter Absatz). Technik empfohlen. Eine Dosis von 0,1 ml Tuberkulin PPD RT23 (zwei 2 Tuberkulineinheiten) wird intrader- Tests sind nach Kontakt mit einem potenziell infektiö- mal an der Beugeseite des Unterarms injiziert. Zur Injek- sen Fall durchzuführen, d. h. im Rahmen einer Umge- tion wird eine 1-ml-Spritze mit Kurzschliffnadel (26 G) bungsuntersuchung (siehe Kapitel 5), und lediglich bei verwendet, die mit der angeschrägten Seite nach oben Personen mit negativem Antrittstest. zeigend in die oberste Hautschicht eingeführt wird. 4.2.2 Kinder mit Migrationshintergrund unter Die Induration wird 48 bis 72 Stunden nach der Verab- fünf Jahren aus Ländern mit hoher reichung gemessen. Dazu wird der Querdurchmesser, Tuberkulose-Prävalenz d. h. der senkrecht zur Unterarm-Längsachse gemessene Kontrovers diskutiert werden Asylsuchende unter fünf Durchmesser der Induration, in Millimetern erhoben. Bei Jahren, die in die Schweiz einwandern. Eine Arbeits- der Messung darf nur die Induration erfasst werden; all- gruppe der pädiatrischen Infektiologiegruppe Schweiz fällige Ödeme oder Erytheme bleiben unberücksichtigt. (PIGS) hat 2016 eine Leitlinie verabschiedet, die emp- fiehlt, diese Kinder beim erstmaligen Kontakt mit dem Bei der Wahl eines Schwellenwerts für die Bezeichnung Gesundheitssystem einer Untersuchung (Screening) einer Reaktion als «signifikant» oder «positiv» werden auf Tuberkulose (aktive Erkrankung) mittels Tuberkulin- Sensitivität und Spezifität des Tests gegeneinander hauttest zu unterziehen [2]. Dies soll der Erkennung der abgewogen. Tuberkulose bereits in den Frühstadien der Erkrankung dienen. Laut dieser Empfehlung ist ein Kind mit positi- Die Sensitivität des Tuberkulinhauttests ist konstan- vem Tuberkulinhauttest zur angemessenen Beurteilung ter als seine Spezifität, die von Kreuzreaktionen mit und Behandlung der Tuberkulose bzw. einer präventi- anderen Mykobakterien abhängt. Bei Nichtberücksich- www.tbinfo.ch | Version 1.2021 18 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis tigung anergischer oder partiell anergischer Personen kontrollen (Hintergrund-Interferon) und Positivkontrol- (Personen, die trotz Infektion mit M. tuberculosis nicht len (Mitogen-Stimulation). Die technischen Vorgaben angemessen auf Tuberkulin reagieren können) ist die des Herstellers für die Gewinnung und den Transport Sensitivität bei einem Indurationsdurchmesser von 10 der Proben sind unbedingt einzuhalten. Insbesondere Millimetern oder mehr ca. 90%, bei einem Durchmesser dürfen die Blutproben nicht niedrigen Temperaturen von 5 Millimetern oder mehr ca. 99%. Dabei ist stets zu ausgesetzt werden (Lymphozytenhemmung). Bei beachten, dass für die höhere Sensitivität eine geringere Kindern unter fünf Jahren ist der Anteil nicht verwertba- Spezifität in Kauf genommen werden muss, d. h., dass rer Resultate höher. Der Stellenwert von IGRAs bei mehr Personen positiv getestet werden, obwohl sie Säuglingen und Kleinkindern wird derzeit noch kontro- nicht infiziert sind. vers diskutiert. Bei der gezielten Umgebungsuntersuchung wird emp- IGRAs verfügen generell über eine höhere Spezifität als fohlen, Kontaktpersonen ab einem Indurationsdurch- der Tuberkulinhauttest, sind aber mit anderen Nach- messer von 5 Millimetern als «positiv» mit weiterem teilen behaftet, z. B. Schwankungen der Testreaktivität Abklärungsbedarf im Hinblick auf eine Tuberkulose und im Zeitverlauf, wodurch häufiger als beim Tuberkulin- eine präventive Therapie einzustufen. Je gezielter eine hauttest «Konversionen» und «Reversionen» auftreten. Umgebungsuntersuchung erfolgt (d. h., je enger sie Angesichts der festgestellten Spezifitätsmängel von sich auf die am stärksten exponierten Kontaktpersonen IGRAs in Reihenuntersuchungen sollten die Grenzwerte konzentriert), desto besser ist der Vorhersagewert eines dieser Tests neu bewertet und «Grauzonen» genauer positiven Tuberkulinhauttests, da mit einer höheren definiert werden (vgl. Kapitel 4.2.1). Darüber hinaus ist Prävalenz tatsächlicher Infektionen gerechnet werden die diagnostische Zuverlässigkeit von IGRAs bei Kindern kann. geringer als bei Erwachsenen. Entsprechend niedrige Grenzwerte wurden auch für an- dere Gruppen mit besonders hohem Tuberkuloserisiko 4.4 Wahl der Test-Art empfohlen (z. B. Personen mit HIV-Infektion). Empfehlungsgrundlage 4.3.2 Interferon Gamma Release Assays (IGRAs) Die Empfehlungen des vorliegenden Abschnitts spiegeln IGRAs (zwei kommerzielle Tests sind derzeit bei Swiss- die tatsächliche Praxis in der Schweiz, die Lücken des medic registriert) weisen nur zwei (oder drei) Peptide aktuellen Wissensstands sowie die Diskordanzen in den von pathogenen Spezies des M.-tuberculosis-Komple- Empfehlungen internationaler Fachgesellschaften (z. B. xes nach. Diese Peptide kommen bei M. bovis BCG Leitlinien des britischen National Institute for Health and und M. microti nicht vor (sind jedoch vorhanden in Care Excellence [NICE], Canadian Thoracic Society) wi- M. marinum, M. kansasii und M. szulgai). Die Ergeb- der. Mit zunehmendem Kenntnisstand wird vermutlich nisse von IGRA-Bluttests werden daher durch eine eine entsprechende Anpassung dieser Empfehlungen frühere BCG-Impfung oder die häufigsten Umweltmy- erforderlich. kobakterienarten nicht beeinflusst. Gegenüber dem Tuberkulinhauttest weisen IGRAs eine vergleichbare Momentan sind beim Test auf eine latente Infektion drei Sensitivität, jedoch eine höhere Spezifität auf. IGRAs Strategien möglich: messen die Konzentration des von Lymphozyten nach Inkubation einer Blutprobe mit spezifischen Peptiden • Nur IGRA als einziger Test. freigesetzten Interferon-gamma. Das Testergebnis wird entweder in Internationalen Einheiten / ml (QuantiFE- • Nur Tuberkulinhauttest als einziger Test RON-TB® Gold In-Tube) oder als Zahl der Interfe- (Kontaktpersonen unter fünf Jahren). ron-gamma-produzierenden Lymphozyten / 250’000 Zellen (T-SPOT®.TB) angegeben. Neben den spezifi- • Tuberkulinhauttest mit anschliessender IGRA- schen Peptiden enthalten IGRA-Testkits auch Negativ- Bestätigung eines positiven Ergebnisses. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 19 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis Aufgrund von Lieferengpässen bei Tuberkulin, kann Kosten für den zweistufigen Test und die noch nicht dieses Verfahren möglicherweise in Zukunft nicht mehr ausreichend charakterisierten Leistungsmerkmale durchgeführt werden. der beiden Testsysteme. Der Einfluss einer früheren BCG-Impfung auf den Tuberkulinhauttest hängt Nur IGRA hauptsächlich vom BCG-Impfstamm, dem Alter zum Im Allgemeinen ist ein IGRA bei vergleichbarer Sensiti- Zeitpunkt der Impfung, der seit der Impfung ver- vität spezifischer als der Tuberkulinhauttest, insbeson- strichenen Zeit und einem möglichen Booster-Effekt dere bei BCG-geimpften Personen. Daher verlässt man durch Infektionen mit Umweltmykobakterien ab. sich bei Erwachsenen immer häufiger ausschliesslich Der zweistufige Ansatz ist jedoch ressourcenintensiv auf einen IGRA. – nicht allein deshalb, weil er zwei Tests vorsieht, son- dern auch, weil bis zum Vorliegen eines endgültigen Bei BCG-geimpften Kindern unter fünf Jahren mag Ergebnisses mindestens zwei Termine nötig sind. der alleinige Einsatz eines IGRA besonders vorteilhalt erscheinen. Aufgrund einer relativ hohen Rate an nicht Die Aussagekraft der Tests ist bei immungeschwäch- verwertbaren Ergebnissen und der Schwierigkeiten mit ten Personen eingeschränkt der Entnahme von venösem Blut bei Kleinkindern (sie- Diverse Regimes zur iatrogenen Immunsuppression he unten) kann jedoch keine allgemeine Empfehlung und mit Immunschwächung einhergehende Krank- zur Verwendung von IGRAs anstelle des Tuberkulin- heiten beeinflussen das Verhalten des THT und der hauttests bei dieser Altersgruppe ausgesprochen wer- IGRAs. In solchen Situationen steigt die Zahl der den. IGRAs können allerdings in ausgewählten Fällen falsch-negativen (THT, IGRA) und unklaren (IGRA) und in Situationen, in denen der THT nicht verfügbar Testergebnisse. Der Einfluss immunsuppressiver Medi- ist, zum Einsatz kommen. kamente auf die Testergebnisse ist nicht vorhersagbar; die Auswirkung einer HIV-Infektion scheint mit der Nur Tuberkulinhauttest Anzahl der CD4-Zellen zusammenzuhängen. Immun- Bei der Beurteilung von Kindern unter fünf Jahren wird geschwächte Kontaktpersonen mit unklarem Tester- vorzugsweise der Tuberkulinhauttest verwendet, da gebnis, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Infekti- bei dieser Altersgruppe die Zuverlässigkeit von IGRAs on an sich jedoch hoch ist, sollten behandelt werden, nicht ausreichend erwiesen ist. In einigen Studien als läge eine Infektion vor. wurde mit IGRAs im Vergleich zu älteren Kindern eine sehr hohe Rate an nicht verwertbaren Ergebnissen festgestellt. 4.5 Behandlungsoptionen bei latenter Infektion mit M. tuberculosis Bei immunkompetenten Personen ist der Tuberkulin- hauttest als einzige Testmethode ausreichend und bei Personen, die als infiziert mit M. tuberculosis ein- negativem Ergebnis gleichwertig mit einem IGRA. Bei gestuft sind und bei denen die erhöhte Gefahr des Kontaktpersonen unter fünf Jahren ist es akzeptabel, Fortschreitens zur Tuberkulose besteht, sollten eine ein positives THT-Ergebnis nicht durch einen IGRA zu präventive Therapie (auch «Behandlung der latenten bestätigen und nach Ausschluss einer aktiven Tuberku- Infektion mit M. tuberculosis» genannt) erhalten, lose eine präventive Therapie einzuleiten. wenn sie keine tuberkuloseverdächtigen Zeichen oder Symptome aufweisen. Auf Grundlage klinischer Stu- Tuberkulinhauttest mit anschliessender IGRA-Bestäti- dien stehen hierfür drei Therapieregime mit ähnlicher gung eines positiven Ergebnisses Wirksamkeit zur Auswahl: Bei dieser Strategie wird nach einem positiv resultie- renden Tuberkulinhauttest zusätzlich ein IGRA durch- geführt, um ein falsch-positives Ergebnis und damit eine unnötige präventive Therapie auszuschliessen. Nachteile der sequenziellen Testung sind die höheren www.tbinfo.ch | Version 1.2021 20 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis • Isoniazid täglich während 9 Monaten; oder Leberenzymtests bei Studienbeginn, insbesondere falls eine Kombinationsbehandlung mit Isoniazid und • Rifampicin täglich während 4 Monaten; oder Rifampicin geplant ist. Bei normalen Werten zu Stu- dienbeginn wird eine monatliche Kontrolle der Leber- • Isoniazid und Rifampicin während 3 Monaten. werte nur bei Personen mit vorbestehender Leberer- krankung, anamnestisch bekanntem regelmässigem Obwohl die Wirksamkeit von Isoniazid in klinischen Alkoholkonsum oder einer Behandlung mit anderen, Studien bei 6-monatiger Behandlung geringer ist als bekanntermassen leberschädigenden Medikamenten bei längerer Behandlungsdauer, empfehlen die Welt- empfohlen. gesundheitsorganisation und die britische NICE-Leit- linie eine sechsmonatige Isoniazid-Behandlung als Das Risiko arzneimittelinduzierter Leberfunktionsbe- Alternative zu den oben genannten Regimen. einträchtigungen muss gegen den Nutzen der prä- ventiven Therapie abgewogen werden. Bei Personen Für die präventive Therapie mit Isoniazid liegt über alle jeden Alters mit entsprechendem Risiko einer Progres- Altersgruppen hinweg die umfassendste Erfahrung aus sion zur Tuberkulose (z. B. bei frisch erworbener Infek- einschlägigen Studien vor. Die Studien zu Rifampicin tion) dürfte dieses das zu erwartende Hepatitisrisiko waren weitgehend auf Erwachsene beschränkt. Den- überwiegen, sofern keine vorbestehenden Leberschä- noch werden die hier genannten Regime unabhängig den bekannt sind. von der Altersgruppe in allen Fällen empfohlen, in denen eine präventive Therapie für notwendig erach- Mögliche Wechselwirkungen zwischen LTBI-Behand- tet wird. Für alle Regime gelten die entsprechenden lungen und Begleitmedikationen sind zu berück- Vorsichtsmassnahmen bei Patientinnen und Patienten sichtigen. Die Resorption von Rifampicin wird durch mit akuten oder chronischen Leberfunktionsstörungen. Einnahme zusammen mit – insbesondere fettreichen In diesen Fällen ist die Beiziehung einer Fachärztin – Speisen und bei Einnahme von Antazida erheblich bzw. eines Facharztes angezeigt. reduziert. Isoniazid weist Wechselwirkungen mit den meisten Antiepileptika (erhöht deren Serumkon- Ein ebenso wirksames Regime zur Behandlung der zentration), oralen Antikoagulanzien (Acenocuma- latenten Infektion mit M. tuberculosis, das in den USA rol) und Glukokortikoiden auf. Rifampicin weist als eingesetzt wird, bildet die direkt observierte Therapie Cytochrom-Induktor ein breites Interaktionsspektrum mit Isoniazid und Rifapentin einmal wöchentlich über auf; es vermindert die Wirksamkeit von oralen Kontra- zwölf Wochen. Rifapentin ist jedoch in der Schweiz zeptiva, Opiaten, Antiepileptika, Glukokortikoiden und (und in Europa) nicht zugelassen und nicht erhältlich. anderen hepatisch metabolisierten Wirkstoffen. Die Dosierung dieser Arzneimittel ist vom behandelnden Kontaktpersonen, bei denen vermutlich eine Infektion Arzt entsprechend anzupassen. Gebärfähige Frauen durch einen Indexfall mit Isoniazid-resistenter Tuber- sind darauf hinzuweisen, dass hormonale Verhü- kulose vorliegt, ist eines der Regime auf Basis von tungsmittel während der LTBI-Behandlung mit Rifam- Rifampicin anzubieten; im Falle eines Kontakts mit ei- picin und im ersten Monat danach unwirksam sind. nem multiresistenten Tuberkulose-Fall ist ein Facharzt oder eine Fachärztin mit einschlägiger Erfahrung zu Es wird empfohlen, alle Begleitmedikationen eines konsultieren. Patienten oder einer Patientin unter Rifampicin oder Isoniazid anhand einer entsprechenden Software oder Bei korrekter Einhaltung kann die präventive Therapie einer einschlägigen Website auf allfällige mögliche einer latenten Infektion mit M. tuberculosis das Risiko Wechselwirkungen zu prüfen. einer Progression zur Tuberkulose um bis zu 90% senken. Die Verträglichkeit der präventiven Therapie Eine Schwangerschaft stellt, unabhängig vom gewähl- und die Therapieadhärenz müssen regelmässig klinisch ten Regime, keine Kontraindikation für die LTBI-Be- kontrolliert werden. Manche Experten befürworten handlung dar. Vielmehr rechtfertigt das in der Peri- www.tbinfo.ch | Version 1.2021 21 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 4 | Latente Infektion mit M. tuberculosis und Postpartalphase bestehende geringfügig erhöhte Risiko einer Tuberkulose-Reaktivierung zusätzlich die Behandlung der Mutter in der Schwangerschaft. Weder Isoniazid noch Rifampicin weisen in irgendei- nem Schwangerschaftsstadium teratogene Wirkungen auf. Im Falle einer Behandlung mit Isoniazid wird die ergänzende Verabreichung von Vitamin B6 empfohlen. Auch Stillen ist mit einer Isoniazid- und / oder Rifam- picin-Therapie vereinbar. Im Falle einer Behandlung mit Isoniazid wird die ergänzende Verabreichung von Vitamin B6 an das Neugeborene empfohlen. Beide Wirkstoffe gehen in geringen Mengen in die Mutter- milch über. www.tbinfo.ch | Version 1.2021 22 | 61
5 Umgebungs untersuchung 5.1 Ablauf einer Umgebungsuntersuchung 5.2 Grenzen der Umgebungsuntersuchung www.tbinfo.ch | Version 1.2021 23 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 5 | Umgebungsuntersuchung 5 Umgebungsuntersuchung Das Ziel einer Umgebungsuntersuchung ist, alle Kon- tum stammen oder bronchoskopisch gewonnen taktpersonen einer an ansteckender Lungentuberkulose werden (Bronchialaspiration oder bronchoalveoläre erkrankten Person zu ermitteln, welche infiziert wurden Lavage). Ein europäisches Konsensusgremium kam oder bereits an Tuberkulose erkrankt sind. Bei frisch ausserdem – ohne Vorliegen eindeutiger Evidenz infizierten Personen lässt sich das Risiko einer Tuberku- – überein, dass ein relevantes Risiko einer Infekti- loseerkrankung durch eine präventive Therapie deutlich on mit M. tuberculosis nur bei Kontaktpersonen senken. Die Umgebungsuntersuchung bezweckt in besteht, die sich in den drei Monaten vor Behand- erster Linie, dass die einzelnen Kontaktpersonen von lungsbeginn länger als insgesamt acht Stunden einer präventiven Therapie profitieren. Zwar mögen mit einer ausstrichpositiven Person im gleichen Umgebungsuntersuchungen auch bis zu einem gewis- Raum aufgehalten haben. sen Grade eine epidemiologische Wirkung haben, doch ist dies nicht ihr eigentlicher Zweck. Umgebungsun- • uberkulosepatientinnen und patienten, deren T tersuchungen rechtfertigen einen verhältnismässigen Atemwegssekrete in der mikroskopischen Aus- Aufwand, aber keine Zwangsmassnahmen. strichuntersuchung negativ sind und die lediglich kulturell oder in Nukleinsäure-Amplifikationtests In manchen Fällen, insbesondere, wenn es sich bei dem (z.B. Xpert® MTB / RIF Assay) ein positives Ergebnis Tuberkulose-Fall um ein Kind unter fünf Jahren handelt, zeigen, stellen ein geringeres Risiko dar. In solchen besteht das Ziel der Umgebungsuntersuchung darin, Fällen gelten lediglich enge Kontaktpersonen (z.B. eine Infektionsquelle zu finden. Als Infektionsquelle Familienangehörige oder im selben Zimmer oder kommen in der Regel über zwölf Jahre alte Personen Haushalt bzw. in derselben Wohnung lebende Per- infrage. Sie sollten einer Thoraxröntgenuntersuchung sonen) als gefährdet, ebenso wie andere Personen unterzogen werden, insbesondere, wenn Symptome mit einer kumulativen Expositionsdauer von über vorliegen. 40 Stunden in geschlossenen Räumen in den drei Monaten vor Behandlungseinleitung. Das Risiko einer Infektion mit M. tuberculosis hängt weitgehend von folgenden exogenen Das Risiko einer Progression zur Tuberkulose hängt Faktoren ab: weitgehend von endogenen Faktoren ab. In Kapitel 4.1 wird darauf näher eingegangen. • der Konzentration von M. tuberculosis in der Umgebungsluft und In der Schweiz sind die kantonsärztlichen Dienste zuständig dafür, dass Umgebungsuntersuchungen • er Expositionsdauer, d. h. der gesamten d durchgeführt werden. Speziell geschultes, erfahrenes (Atem-)Zeit in dieser Luft. Personal (in der Regel von der kantonalen Lungenliga oder einer für Infektionskontrolle zuständigen Spital- Übertragungsquellen für M. tuberculosis: abteilung) ist damit beauftragt, in enger Zusammen- arbeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behan- • n Tuberkulose erkrankte Personen, deren Atem- A delnden Arzt und dem kantonsärztlichen Dienst. wegssekrete M. tuberculosis enthalten, sind potenzielle Überträger, allerdings nicht alle in Indikationen für die Durchführung einer Umge- gleichem Masse. Eine potenzielle Übertragungs- bungsuntersuchung: quelle ist definitionsgemäss ein Patient oder eine Patientin, in dessen oder deren Atemwegssekret- • n Lungentuberkulose Erkrankte mit mikroskopisch A proben unter dem Mikroskop säurefeste Stäbchen- positivem Ausstrich (spontanes oder induziertes bakterien nachgewiesen werden (ausstrichpositive Sputum bzw. mittels bronchoalveolärer Lavage oder Personen). Aus praktischen Gründen können die Bronchialabsaugung gewonnene Proben). entsprechenden Proben von spontanem (ohne Induktion produziertem) oder induziertem Spu- www.tbinfo.ch | Version 1.2021 24 | 61
Tuberkulose in der Schweiz | Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesen Kapitel 5 | Umgebungsuntersuchung • n Lungentuberkulose Erkrankte mit mikrosko- A Anschliessend werden alle auf der Liste erfassten Per- pisch negativem Sputumausstrich, die lediglich ein sonen kontaktiert und nach Symptomen befragt. Wenn positives Resultat in der Kultur oder im Nuklein tuberkuloseverdächtige Symptome vorliegen, sind säure-Amplifikationstest haben. Bei solchen Index- unverzüglich angemessene Abklärungen vorzunehmen fällen beschränkt sich die Umgebungsuntersuchung (siehe unten). Wenn keine Symptome vorliegen, wer- auf enge Kontaktpersonen (Personen mit mehr als den Kinder unter zwölf Jahren und immungeschwächte 40-stündiger kumulativer Expositionsdauer) und Personen innerhalb eines Zeitraums von einigen Tagen Kinder unter fünf Jahren. einem Tuberkulinhauttest oder einem IGRA unterzogen. Alle anderen Kontaktpersonen werden frühestens nach • Tuberkulosefälle bei Kindern unter fünf Jahren, mit zwei Monaten getestet. Obwohl eine Testkonversion dem Ziel, die Infektionsquelle zu finden. von negativ nach positiv unter Umständen bereits zwei Wochen nach der Exposition feststellbar ist, kann bei einer Wartezeit von zwei Monaten davon ausgegangen 5.1 Ablauf einer Umgebungs- werden, dass die Mehrzahl der Personen, deren Test untersuchung von negativ zu positiv konvertiert, erkannt wird. Da das Risiko der Progression zur aktiven Erkrankung in den Zunächst wird eine Liste aller Personen erstellt, die im zwei Monaten nach der Exposition – abgesehen von Zeitraum von drei Monaten vor der Diagnose bzw. dem Säuglingen und immungeschwächten Personen – sehr Behandlungsbeginn einen räumlich und zeitlich relevan- gering ist, ist eine Wartezeit von zwei Monaten bis zur ten Kontakt zur erkrankten Person hatten (wie in den Durchführung eines IGRA oder THT vertretbar. obigen Boxen, in Kapitel 3.1 und unter [3] beschrie- ben). Die Liste der Kontaktpersonen wird zusammen Ungeachtet der Intensität und Dauer der Exposition mit der erkrankten Person erstellt. Dies erfordert ver- werden die Kontaktpersonen unterteilt in diejenigen, trauensbildende Massnahmen, Fachwissen, Taktgefühl bei denen eine sofortige Abklärung erforderlich ist, und und wiederholte Besuche, eventuell unter Beiziehung Kontaktpersonen, bei denen die Untersuchung zurück- von Dolmetschern oder Gemeindevertretern. Die An- gestellt wird. onymität des Indexfalls muss soweit möglich gewahrt bleiben. Lebt die Indexpatientin oder der Indexpatient 5.1.1 Kontaktpersonen, bei denen die Untersuchung in einem institutionellen Rahmen (Pflegeheim, Emp- keinen Aufschub duldet (Tabelle 5-1) fangszentrum für Asylsuchende, Obdachlosenheim), • Bei Kontaktpersonen mit tuberkuloseverdächtigen wird die Liste mit Unterstützung einer zuständigen Zeichen oder Symptomen ist möglichst umgehend Person der Institution zusammengestellt. In Akutpflege- eine medizinische Abklärung (einschliesslich Tho- abteilungen von Spitälern werden Umgebungsuntersu- raxröntgenaufnahme) erforderlich. Immungeschwäch- chungen an Personal und Mitpatienten in Koordination te Personen sollten ebenfalls schnell zur klinischen mit den Abteilungen für Infektionskontrolle und den Beurteilung ihrer behandelnden Ärztin oder ihrem arbeitsmedizinischen Diensten geplant. behandelnden Arzt zugewiesen werden. Mit Blick auf eine möglichst zweckmässige Planung der • inder unter zwölf Jahren und immungeschwächte K Umgebungsuntersuchung wird die Liste so zügig wie Personen haben bei der Umgebungsuntersuchung möglich erstellt (in den ersten Tagen nach Behandlungs- Vorrang und werden zeitnah getestet. Sofern keine beginn und Meldung). Nach Möglichkeit werden die Symptome vorliegen, besteht dafür ein Spielraum von Kontaktpersonen nach Expositionsgraden in Gruppen einigen Tagen. unterteilt (d. h. Dauer und Intensität der Exposition, wobei die Intensität hauptsächlich von der Mykobakte- rienkonzentration in der Raumluft abhängt, wie in den obigen Boxen und in Kapitel 3.1 beschrieben). www.tbinfo.ch | Version 1.2021 25 | 61
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