Wandel der Versorgung 2019

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Wandel der Versorgung 2019
2. AUSGABE    DAS MAGAZIN DER

2019          KASSENÄRZTLICHEN
              BUNDESVEREINIGUNG

Wandel
der Versorgung
Vom Landarzt zum Patientenbus

   Medizinstudierende                Gesundheitspolitik       Gesundheit anderswo
 bvmd-Vizepräsident Martin        Gesetzesmaschinerie     Italien: Versorgung mit
 Gavrysh im Interview             auf Hochtouren          Nord-Süd-Gefälle
Wandel der Versorgung 2019
Editorial

    KBV Klartext
    Das Magazin der Kassenärztlichen
    Bundesvereinigung

    Erscheinungsweise:                                               Liebe Leserin, lieber Leser,
    vierteljährlich

    Herausgeber:                                                      der gesellschaftliche Wandel ist auch in der medizinischen
    Kassenärztliche Bundesvereinigung                                 Versorgung spürbar – in der Stadt und auf dem Land. Dort, wo
    Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvor-
    sitzender der KBV, V.i.S.d.P.)                                    Fachkräfte fehlen, bedarf es alternativer Konzepte. In unserem
                                                                      Titelthema (ab Seite 4) berichten wir über Beispiele und zeigen
    Redaktion:
    Alexandra Bodemer (Chefredakteurin),                              auf, wie medizinische Versorgung gewährleistet werden kann.
    Birte Christophers, Tabea Breidenbach,
    Tom Funke, Corina Glorius
                                                    Gerade in ländlichen Regionen fehlt es an Ärzten. Dieses Problem können
                                                    jedoch nicht die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) alleine lösen, hier
    Redaktionsbeirat:
    Dr. Roland Stahl
                                                    müssen Kommunen und KVen an einem Strang ziehen. Um frühzeitig Nachfolger
                                                    für die Praxis zu finden, werben schon heute Kommunen für ihre Region. Der
    Redaktionsanschrift:
    Kassenärztliche Bundesvereinigung
                                                    „Klartext“ begleitete sechs Medizinstudierende auf eine Ortsbegehung in die
    Redaktion Klartext                              brandenburgische Stadt Luckau. Wie die Stadt sich um den Nachwuchs bemüht,
    Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin
    Tel.: 030 4005-2205                             lesen Sie ab Seite 9.
    Fax: 030 4005-2290
    E-Mail: redaktion@kbv.de
    www.kbv.de                                      Im Interview erzählt Martin Gavrysh, „Vizepräsident für Externes“ der Bundes-
                                                    vertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd), was der Nach-
    Gestaltung:
    KloseDetering, Hamburg                          wuchs von einer Landarztquote oder gar der Idee eines Landarztstudienganges
                                                    hält. Außerdem sagt er uns, welche Lehrinhalte im Medizinstudium sinnvoll
    Druck:
    Druckerei Kohlhammer, Stuttgart                 wären und wie die Niederlassung wieder reizvoll werden könnte (ab Seite 16).
    Fotos:
    Titel: © iStock.com/36clicks/Klose Detering     Auf unserer Vertreterversammlung in Münster haben wir über das Terminservice-
    > S. 2: © Lopata/axentis.de > S. 3: © picture   und Versorgungsgesetz sowie weitere geplante Gesetzesvorhaben und deren
    alliance/Ulrich Baumgarten; Tabea Breiden-
    bach/KBV > S. 4: © picture alliance/Ulrich      Auswirkungen gesprochen. Auch die Einmischung der Politik mit ihren „innova-
    Baumgarten > S. 7: © picture alliance/Sven
    Simon; © Bendrich/Kassenärztliche Verei-
                                                    tiven Ideen“, die den Ärzten und Psychotherapeuten den Berufsalltag erschwe-
    nigung Hessen > S. 8: © iStock.com/chacha-      ren, war ein Thema, ebenso wie die Blockadehaltung des Spitzenverbands der
    mal; Dr. Stefan Lippmann > S. 9-11: © Tom
    Funke/KBV > S. 13: © picture alliance/dpa; Zi
                                                    Krankenkassen. Mehr zur VV lesen Sie ab Seite 14.
    > S. 14: © Tabea Breidenbach/KBV > S. 16: ©
    Tom Funke/KBV > S. 18: © Tom Funke/KBV >
    S. 19: © Thomas Reimer – stock.adobe.com;       In der Rubrik „Gesundheit anderswo“ schauen wir in dieser Ausgabe nach Süd-
    Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lip-      europa. In Italien gibt es eine kostenfreie Grundversorgung für alle Bürger, aber
    pe > S. 20: © picture alliance/Kay Nietfeld/
    dpa > S. 22: © picture alliance/Kay Nietfeld/   auch regionale Unterschiede. Was das für die Versorgung bedeutet, erfahren Sie
    dpa > S. 23: © iStock.com/Sasiistock > S. 24:   ab Seite 24.
    © picture alliance/Daniel Kalker > S. 25: ©
    KloseDetering > S. 26: © picture alliance/
    imageBROKER > S. 27: © KBV                      Ich wünsche Ihnen eine informative und anregende Lektüre.

                                                    Ihr Dr. Thomas Kriedel,
                                                    Mitglied des Vorstandes

          www.twitter.com/kbv4u                              KBV Klartext
                                                                                                         Die App KBV2GO!
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2   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Wandel der Versorgung 2019
Inhalt

Titel                                            Themen                                   Interview
                                                 12   TSVG: Was kommt wann?               16   bvmd-Vize Gavrysh: Landarztquote
4 Versorgung im                                                                                ist keine Lösung
                                                 14   Vertreterversammlung: Versorgung
Wandel: Vom Landarzt                                  den Experten überlassen
zum Patientenbus
                                                 20   Neue Gesetze am Fließband
                                                                                          Gesundheit anderswo
                                                 23   Bericht aus Brüssel: Mangelnde
                                                      Impfquoten in der EU                24   Italien: Versorgung mit
                                                                                               Nord-Süd-Gefälle

                                                 Reportage
                                                                                          Kurz gefasst
                                                 9    Medizinstudierende auf Expedition
                                                      in die Provinz                      13   Meldungen aus dem Bund

                                                                                          19   Meldungen aus den Ländern

                                                                                          27   Angeklickt und aufgeblättert

             Die Mitglieder der KBV-Vertreter-
          versammlung positionierten sich in
    Münster gegen die Einmischung von Politik
       und Krankenkassen in die Versorgung.
         „Man muss uns nur machen lassen“,
                            lautete der Tenor.

                                                                                                        KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019   3
Wandel der Versorgung 2019
TITEL

    Wandel der Versorgung – vom
    Landarzt zum Patientenbus
    Menschen werden älter, Ärzte also auch. Junge Menschen ziehen in die Stadt, Medizinstudierende
    also auch. Kombiniert ergibt sich die Herausforderung, die medizinische Versorgung in Deutschland,
    in der Stadt und auf dem Land, zu gestalten.

4   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Wandel der Versorgung 2019
D       orf sucht Arzt“ – „Arzt sucht
        Nachfolger“. So geht es vielen
        Gemeinden und Ärzten in ländli-
chen Gebieten. Der Grund: Junge Mediziner
zieht es in die Städte. Damit sind sie Teil
                                              schärft: Bis 2025 werden durch Anstellung
                                              und reduzierte Arbeitszeiten 11,8 Prozent
                                              der ärztlichen Arbeitszeit und damit der
                                              Versorgungskapazität wegfallen. Das
                                              Bundesarztregister der KBV zeigt: Die
                                                                                               psychotherapeutischen Versorgung – die
                                                                                               Differenz liegt hier zwischen den Berliner
                                                                                               Stadtteilen Marzahn-Hellersdorf (60,1 Pro-
                                                                                               zent) und Charlottenburg-Wilmersdorf
                                                                                               (415,4 Prozent) bei 355,1 Prozent.
eines gesamtgesellschaftlichen Trends –        Zahl der Ärzte hat 2018 zugenommen, um
die deutsche Gesellschaft ist urbanisiert:    1,5 Prozent zum Vergleichsjahr 2017. Da
77 Prozent der Menschen leben in Städten      jedoch viele in Teilzeit arbeiten, stieg die
oder Ballungsgebieten, nur 15 Prozent in      Kapazität insgesamt nur um 0,2 Prozent.
Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern.     „Es fehlt nicht nur an Ärzten, auch an ärzt-     Vom Dorfarzt zum Arztdorf
Attraktiver ist der städtische Raum, dort     licher Behandlungszeit – und das sowohl
gibt es Arbeit, öffentlichen Nahverkehr,      auf dem Land, als auch in Städten“, fasst        Der Gemeinsame Bundesausschuss hat
Einkaufsmöglichkeiten, Kulturangebote         Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender        kürzlich die Bedarfsplanungs-Richtlinie
sowie Kindergärten und Schulen. Wo die        KBV-Vorstandsvorsitzender, zusammen.             angepasst. Demnach sind ab 1. Juli diesen
Menschen wegziehen, schwindet hingegen                                                         Jahres rund 3.500 weitere Stellen in der
die Infrastruktur.                            Einige Gemeinden nehmen die Suche                Bedarfsplanung vorgesehen, davon etwa
                                              nach einem Hausarzt daher selbst in die          1.500 für Hausärzte. „Doch auch wenn es
„Ärzte sind häufig die letzten, die gehen –   Hand. Beispielsweise Kaltenkirchen, eine         einen Mehrbedarf an Ärzten gibt, wir kön-
davor haben längst schon der Bäcker vor       Kreisstadt mit gut 21.000 Einwohnern in          nen sie nicht aus dem Ärmel schütteln“,
Ort oder die Post geschlossen“, sagt Dr.      Schleswig-Holstein: 10.000 Euro bekommt          betont Gassen und ergänzt: „Planung auf
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender         ein Arzt, der sich dort niederlässt und für      dem Papier sieht gut aus, kann aber den
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung        fünf Jahre bleibt – es haben sich schon          Mangel als solchen nicht beseitigen.“ Der
(KBV). Es sind vor allem Ärzte der älteren    Interessenten gemeldet. „Bereits Klein-          Zuzug von Ärzten aus dem Ausland könne
Generation, die sich um die ebenfalls         städte sind auf der Suche nach Ärzten, das       und solle die Lücke nicht füllen. „Das kann
alternde (Land-)Bevölkerung kümmern           zeigt: Einen Arzt zu finden, das ist nicht       nicht die Lösung sein – wir sollten den
– so lange, bis sie selbst in den Ruhe-       nur ein Problem ländlicher Regionen“, so         sogenannten Braindrain, also die Ab-
stand gehen. Häufig arbeiten sie länger       Hofmeister. Land ist außerdem nicht gleich       wanderung hochqualifizierter Fachkräfte
und weit über ihr geplantes Rentenalter       Land. „Am Starnberger See wird sich              aus ihren Herkunftsländern, nicht auch
hinaus, denn einen Nachfolger zu finden       immer jemand niederlassen wollen, andere         noch unterstützen und so das Ausbluten
ist schwierig. Jeder dritte Hausarzt ist      Regionen sind einfach unattraktiv – für          der dortigen Versorgung billigend in Kauf
bereits über 60 Jahre alt, viele von ihnen    Ärzte und Bevölkerung gleichermaßen“,            nehmen“, so Gassen.
werden in den kommenden Jahren ihre           veranschaulicht KBV-Chef Gassen. Wäh-
Praxis abgeben wollen. Der demografische      rend also einige Landstriche entvölkert          „Wir müssen langfristig überlegen, wie wir
Wandel macht weder vor Ärzten noch vor        werden, prosperieren andere Gemeinden            mit den gesellschaftlichen Entwicklungen
ihren Patienten halt. Die durchschnittliche   und profitieren beispielsweise von der           umgehen und bis dahin die Ärzte strate-
Lebenserwartung der Deutschen liegt bei       Nähe zu Ballungsgebieten. Doch selbst            gisch so platzieren, dass sie die Versorgung
80,6 Jahren. Die Patienten werden immer       in einigen städtischen Gebieten, wo viele        für größere Gebiete sichern können“,
älter, haben oft multimorbide Krank-          Menschen auf engerem Raum leben, fehlt           betont Hofmeister. Dabei gebe es auch ganz
heitsbilder und brauchen umfassende           es an Ärzten. So droht Chemnitz, einer           praktische Dinge zu bedenken: „Insbeson-
Betreuung – nicht nur durch den Haus-         Mittelstadt mit 240.000 Einwohnern, die          dere in ländlichen Regionen ist eine Praxis
arzt, auch durch Fachärzte. Der doppelte      Unterversorgung.                                 erst ab einer gewissen Anzahl an Patienten
Strukturwandel betrifft ganz Deutschland                                                       überhaupt wirtschaftlich tragbar. Schon
und ändert auch die Anforderungen an das      In den Stadtstaaten und Metropolen liegt         deshalb können wir die Ärzte nicht dahin
Gesundheitssystem.                            die Versorgungsdichte zwar üblicherweise         schicken, wo alle wegziehen“, erläutert der
                                              auf insgesamt hohem Niveau, doch die Ver-        stellvertretende KBV-Chef. Der Wunsch
                                              teilung innerhalb der Stadtteile ist teilweise   nach einem Arzt in jedem Dorf sei heute
                                              sehr unterschiedlich. Die Kassenärztliche        häufig nicht mehr realisierbar, so Hofmeis-
                                              Vereinigung (KV) Berlin weist etwa für           ter. Es sei außerdem im Interesse der Pa-
Unterversorgung                               Kinderärzte in Berlin-Neukölln einen             tienten, dass ihr Arzt eine gewisse Anzahl
nicht nur auf dem Land                        Versorgungsgrad von rund 90 Prozent              an Behandlungen vornimmt und mit den
                                              aus, in Steglitz-Zehlendorf steht dem ein        Eingriffen vertraut ist, ergänzt er. Daher
Das Nachwuchsproblem wird durch den           Niveau von 184 Prozent gegenüber. Noch           könnte eine Konzentration von Ärzten in
Wandel der Versorgungsstruktur ver-           gravierender sind die Unterschiede bei der       Gemeinschaftspraxen, Mediznischen >

                                                                                                              KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019   5
Wandel der Versorgung 2019
TITEL

                                                  heute schon eine etwas längere Anfahrt in       ziger Kompetenzpfad Allgemeinmedizin)
       ARZT AM APPARAT                            Kauf“, sagt Hofmeister und ergänzt: „Blickt     und MiLaMed (Mitteldeutsches Konzept zur
                                                  man außerdem ins europäische Ausland,           longitudinalen Integration Landärztlicher
                                                  beispielsweise nach Schweden, so sind die       Ausbildungsinhalte und Erfahrungen in
        „Smart zum Arzt – lassen Sie sich         Entfernungen hierzulande gar nicht ver-         das Medizinstudium, siehe „Drei Fragen
        ohne Terminvereinbarung von               gleichbar.“ Aktuell liegt die durchschnit-      an“ auf Seite 8).
        einem kompetenten Arzt beraten:           tliche Anfahrtszeit zum Hausarzt für
        Komfortabel und absolut diskret           90 Prozent der Bevölkerung bei elf Minu-
        von zuhause aus via Telefon, App          ten, 99,8 Prozent müssen zu ihrer Hausarzt-
        oder Chat.“ So bewirbt die Kas-           praxis nur zehn Kilometer fahren.
        senärztliche Vereinigung Baden-                                                           Alternative Konzepte
        Württemberg ihr Modellprojekt                                                             und neue Ideen
        docdirekt, das seit April 2018 läuft.
        Zunächst auf die Stadt Stuttgart                                                          Die Herausforderungen, die eine zukünf-
        sowie den Landkreis Tuttlingen be-        Mit der Quote aufs Land?                        tige Versorgung im Angesicht der gesell-
        schränkt, wurde das Angebot nach                                                          schaftlichen Trends mit sich bringt, sind
        erfolgreicher Testphase inzwischen        Das jüngste „Berufsmonitoring Medizin-          längst ins Bewusstsein gerückt. Umfragen
        auf das ganze Bundesland ausge-           studierende“ der KBV und der Universität        wie das Berufsmonitoring Medizinstudie-
        weitet. Alle gesetzlich versicherten      Bayreuth hat ergeben, dass der ärztliche        rende 2018 zeigen zwar, dass das Interesse
        Patienten in Baden-Württemberg            Nachwuchs zwar gerne in Heimatnähe              an Allgemeinmedizin und hausärztlicher
        können docdirekt in Anspruch              bleibt, ländliche Gemeinden aber kaum in        Tätigkeit steigt – doch dieses Interesse will
        nehmen. Speziell für Telemedizin          Frage kommen. Mehrere Bundesländer ha-          gepflegt und muss unterstützt werden,
        geschulte Hausärzte beraten mon-          ben oder planen deshalb eine Landarztquo-       damit junge Ärztinnen und Ärzte sich
        tags bis freitags von 9 bis 19 Uhr        te im Studium. Die Idee: Zehn Prozent der       tatsächlich niederlassen. Neben Beratungs-
        per Telefon und/oder Video. Dem           Studienplätze könnten vorab an Bewerbe-         und Unterstützungsangeboten versuchen
        Projekt vorausgegangen war die            rinnen und Bewerber vergeben werden, die        KVen, Städte und Gemeinden, aber auch
        Aufhebung des Fernbehandlungs-            sich verpflichten, nach ihrem Abschluss für     Ärzte selbst, neue Wege zu gehen, um die
        verbotes durch die baden-württem-         bis zu zehn Jahre als Hausarzt in unterver-     Versorgung ihrer Region zu sichern und
        bergische Landesärztekammer.              sorgten beziehungsweise durch Unterver-         Nachwuchs zu werben: Ärzte inserieren
                                                  sorgung bedrohten ländlichen Regionen           auf ebay ihre Praxen oder verschenken die-
                                                  zu arbeiten. Halten sich die Studierenden       se gar, Gemeinden organisieren Landparti-
                                                  nicht an die vertragliche Vereinbarung,         en für Studierende, bei denen Politiker und
    Versorgungszentren (MVZ) oder Integ-          sind Strafzahlungen vorgesehen. Diese           Niedergelassene für ihre Region werben
    rierten Gesundheitszentren in größeren        können beispielsweise in Nordrhein-West-        (siehe Seite 9). KVen betreiben eigene Pra-
    Ortschaften sinnvoll sein, wo sie mehr        falen bis zu 250.000 Euro betragen.             xen, um jungen Ärzten die Vorteile einer
    Patienten behandeln und Eingriffe routine-                                                    Niederlassung schmackhaft zu machen.
    mäßig anbieten können. Bisher sind MVZ        „Bei der Quote besteht die Gefahr, dass         In diesen sogenannten Eigeneinrichtun-
    jedoch eher in Städten als auf dem Land       der Beruf ‚Landarzt‘ durch die gesonderte       gen werden Ärzte zunächst von der KV
    vertreten. „Das könnte sich ändern und        Studienplatzvergabe stigmatisiert wird          angestellt und damit von den Pflichten und
    eine Option für die Versorgung auf dem        – obwohl alle Studierenden die gleichen         Risiken einer Selbstständigkeit entlastet,
    Land darstellen“, so Hofmeister.              Kurse belegen und die gleiche, hochwertige      die Praxisräume sind voll ausgestattet. Die
                                                  Ausbildung erhalten“, warnt Hofmeister.         Ärzte können diese jederzeit auf Wunsch
    In eine ähnliche Richtung denkt auch die      Hinzu kommt: Die Studierenden stehen            übernehmen und sich selbstständig ma-
    Kassenärztliche Vereinigung (KV) Saar-        als fertig aus- und weitergebildete Ärzte       chen, um die Versorgung vor Ort langfristig
    land, die in ihrem Versorgungsbericht 2019    frühestens in zwölf Jahren für die Versor-      zu sichern. Gemeinden, Städte und KVen
    das Konzept der „Gesundheitsdörfer“ ins       gung zur Verfügung. Den prognostizierten        locken außerdem mit Stipendien für Stu-
    Spiel gebracht hat. Die Idee: Die medizini-   Bedarf an neuen Hausärzten decken sie           dierende und Investitionszuschüssen für
    sche Versorgung soll gezielt im Zentrum       auch dann nicht, wenn alle diesen Beruf         Praxen.
    einer Gemeinde gebündelt werden. In ein       ergreifen. Laut einer neuen Studie des Zen-
    solches Gesundheitsdorf integriert wären      tralinstituts für die kassenärztliche Versor-   Wenn es keinen Nachwuchs gibt, werden
    Ärzte, Apotheken, Rehabilitationsein-         gung fehlen bis zum Jahr 2035 pro Jahr bis      alternative Konzepte erprobt. Im nieder-
    richtungen, Wohnungen, Kindergärten,          zu 6.000 Studienplätze. Um für die Zukunft      sächsischen Leer hat die KV 2017 einen
    Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants, Spiel-    gewappnet zu sein, müssen also weiterge-        Patientenbus angeboten, der die Men-
    plätze, Fitness- und Freizeitmöglichkeiten,   hende Maßnahmen unternommen werden.             schen gegen einen geringen Fahrpreis
    um den Standort zu stärken und für den        Einige Universitäten versuchen, durch spe-      einsammelt, zum Arzt und wieder zurück
    ärztlichen Nachwuchs attraktiv zu gestal-     zielle Programme Studierende von Beginn         bringt – oder das Taxi zahlt, sollte wegen
    ten.„Die Wege zu solchen Zentren wären        an für die Themen Allgemeinmedizin und          Wartezeiten beim Arzt der Bus nicht mehr
    zwar etwas weiter, aber für einen bestimm-    Landarzt zu gewinnen, beispielsweise die        erreichbar sein. Auch in Bayern fährt ein
    ten Spezialisten nehmen die Leute auch        Uni Leipzig mit den Projekten LeiKa (Leip-      Ärztebus die Patienten zum Arzt. Umge-

6   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Wandel der Versorgung 2019
kehrt kommen in Nord- und Osthessen die
Ärzte zu den Patienten. Mit dem „Medi-
bus“ werden in festgelegter Reihenfolge
Gemeinden angefahren, die keine oder zu
wenige Hausärzte haben (siehe Kasten).
Der Bus ist wie eine Arztpraxis ausgestattet
und ermöglicht in den meisten Fällen eine
Vor-Ort-Behandlung.

Assistenz- und Delegationsmodelle wie
VERAH® oder „Agnes“ sind schon länger
Bestandteil der Versorgung und sollen
den Arzt entlasten. Sie können jedoch nur
bestimmte Aufgaben übernehmen und den
Arzt nicht ersetzen. „Oft wird Telemedizin
als Allheilmittel für die ländliche Versor-
gung genannt. Aber sie kann höchstens            keinen flächendeckenden Breitbandaus-           zent), doch auch der Wunsch nach Arbeit in
ein Add-on sein“, so KBV-Vize Hofmeister.        bau. Für eine erfolgreiche Digitalisierung      Anstellung ist groß (90,2 Prozent). Der Hin-
Die ersten Schritte sind getan, fast alle        des Gesundheitswesens, also auch der            tergrund: Sie legen Wert auf ihre Work-Life-
Ärztekammern haben hierfür ihre Berufs-          Hausarztpraxen hierzulande, brauchen            Balance und die Vereinbarkeit von Familie
ordnungen geändert und für Fernbehand-           wir erst einmal die nötige Infrastruktur“,      und Arbeit. Zudem schrecken Bürokratie,
lung geöffnet. Beispiel Videosprechstunde:       mahnt Dr. Thomas Kriedel, Vorstandsmit-         das finanzielle Risiko bei einer Nieder-
Sowohl Arzt als auch Patient sparen sich         glied der KBV.                                  lassung und die Angst vor drohenden
Weg und Zeit – und die Sprechstunde per                                                          Regressforderungen den medizinischen
Videochat ist zeitlich flexibler. Ärzte sollen                                                   Nachwuchs davon ab, sich selbstständig zu
künftig auf ihren Websites dafür werben                                                          machen. Auch kleinteilige Vorgaben, wie
dürfen. In Baden-Württemberg behandeln                                                           sie kürzlich durch das Terminservice- und
Ärzte ihre Patientinnen und Patienten be-        Zeiten ändern sich,                             Versorgungsgesetz für die Haus- und Fach-
reits per Telefon oder online (siehe Kasten      die Versorgung mit ihnen                        ärzte erlassen wurden, wirken sich negativ
auf Seite 6). Der Arzt sollte den Patienten                                                      aus. Selbst wenn Niederlassungswünsche
allerdings vorher schon mindestens einmal        Die Zeit für das Gespräch per Videoschal-       bestehen, möchten rund 43 Prozent der
gesehen haben, und viele Behandlungen            tung und die anschließende Dokumenta-           befragten Studierenden nicht auf dem Land
erfordern weiterhin, dass der Arzt den           tion wendet der Arzt dennoch auf – und          arbeiten – ein Drittel nicht einmal in einer
Patienten gegenüber sitzt und sie körper-        die Ressource Arztzeit ist knapp. Das liegt     Stadt mit 10.000 Einwohnern.
lich untersuchen kann. Auch die WHO ist          nicht nur daran, dass ältere Ärzte, die meist
der Ansicht, dass der persönliche Kontakt        52 Wochenstunden oder mehr in eige-             Doch immer wieder gibt es auch Erfolgsge-
durch Telemedizin nicht vollständig ersetzt      ner Praxis arbeiten, zunehmend aus der          schichten. Lokalzeitungen berichten, dass
werden kann. Telemedizinische Angebote           Versorgung ausscheiden. Auch der Trend          ein junger Arzt sich in einer Praxis in der
können die Versorgung ergänzen und auch          zur Anstellung mit weniger Stunden pro          ländlichen Region niedergelassen hat und
Patienten in ländlichen Regionen erreichen       Woche verschärft diese Entwicklung. Junge       nun dankbare Patienten versorgt. Solche
– zumindest in der Theorie. Denn dafür           Mediziner, das zeigt das Berufsmonitoring       Einzelfälle könnten sich in Zukunft häufen
gibt es eine Voraussetzung, die bisher nicht     Medizinstudierende, können sich eine            – hat doch der Trend der Urbanisierung
erfüllt ist. „In Deutschland gibt es noch        Niederlassung zwar gut vorstellen (74,3 Pro-    gestoppt, wie die Studie „Trend Reurba- >

   VON DORF ZU DORF

                                                                        Der Medibus, die mobile Arztpraxis der Kassenärztlichen
                                                                        Vereinigung Hessen, fährt seit Juli 2018 durch hessische
                                                                        Gemeinden. Der umgebaute Bus ist ausgestattet mit einem
                                                                        Wartebereich, einem Labor, einem EKG und einem kleinen Be-
                                                                        handlungsraum. Ein Facharzt für Allgemeinmedizin ist mit an
                                                                        Bord. Die mobile Praxis sorgt für die Sicherstellung der wohn-
                                                                        ortnahen allgemeinmedizinischen Versorgung und eine Ent-
                                                                        lastung der Hausärzte in ländlichen Regionen Nordhessens.
                                                                        Dazu fährt der Medibus nach einem festen Fahr- und Zeitplan
                                                                        verschiedene Gemeinden in der Region an, um die Patienten
                                                                        vor Ort zu versorgen. Das Projekt ist in Kooperation mit der
                                                                        Deutschen Bahn (DB) entstanden. Die DB sieht in dieser Form
                                                                        der Versorgung Potenzial für die Zukunft und plant, weitere
                                                                        Busse auszustatten und als mobilen Service anzubieten.

                                                                                                                KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019   7
Wandel der Versorgung 2019
nisierung?“ der Bertelsmann-Stiftung
    zeigt. Gründe hierfür: Auf dem Land ist
    das Wohnen günstiger, in der Umgebung
    und in Klein- und Mittelstädten gibt es
    durch lokale Firmen häufig eine größere
    Jobsicherheit als in Großstädten und die
    Natur ist nah. All diese Faktoren reizen
    auch viele Ärztinnen und Ärzte. Außerdem
    ist ihnen die Nähe zu Patienten wichtig, die
    sie im ländlichen Raum oft ein Leben lang
    begleiten können. Dabei ist das medizini-
    sche Spektrum an Erkrankungen groß und
    abwechslungsreich. KBV-Vize Hofmeister
    ist überzeugt: „Die Versorgung hierzulande
    ist gut, sie wird sich der gesellschaftlich-
    demografischen Entwicklung anpassen.“
    Dort, wo die Bedingungen attraktiv sind
    oder attraktiv gestaltet werden, wird es
    auch Infrastruktur geben und somit Ärzte
    – für die Patienten dann auch mal zwei
    Dörfer weiter fahren.

                                Tabea Breidenbach

        Der ärztliche Nachwuchs will meistens lieber in
               der Stadt als auf dem Land praktizieren.

                                      DREI FRAGEN AN ... DR. TOBIAS DEUTSCH,
                                      UNIVERSITÄT LEIPZIG, KOORDINATOR DES PROJEKTS MILAMED

                                                          Was versprechen Sie sich von einer           Außerdem möchten wir natürlich auch ein
                                                          explizit landärztlichen Ausrichtung des      Kennenlernen der Regionen selbst fördern,
                                                          Studiums?                                    um sie als möglichen späteren Arbeitsort
                                                                                                       attraktiv zu machen.
                                                          Es ist keineswegs so, dass das gan-
                                                          ze Studium landärztlich ausgerichtet         Wie reagieren Kommunen und Niederge-
    Gemeinsam mit der Uni Halle-Wittenberg                werden soll. Vielmehr sollen Lehrinhalte     lassene in den involvierten Regionen auf
    arbeitet die Uni Leipzig an dem Projekt               zur Versorgung im ländlichen Raum das        das Projekt?
    MiLaMed (Mitteldeutsches Konzept zur                  Curriculum an geeigneten Stellen ergän-
    longitudinalen Integration Landärztlicher             zen. Da werden unter anderem Schnitt-        Wir sind noch am Beginn des Projektes.
    Ausbildungsinhalte und Erfahrungen in                 stellenthematiken eine Rolle spielen, aber   Die Gewinnung neuer Lehrpraxen in den
    das Medizinstudium). Was verbirgt sich                auch aktuelle Versorgungskonzepte wie        Regionen ist eine der aktuell anstehen-
    dahinter?                                             Telemedizin oder die Delegation ärztlicher   den Aufgaben. Aus den Erfahrungen
                                                          Leistungen an qualifizierte Versorgungsas-   mit unseren bestehenden Lehrpraxen-
    Das vom Bundesgesundheitsministerium                  sistenten. Schön wäre, das Themengebiet      Netzwerken und auch aus einer von uns
    geförderte Lehrprojekt möchte die Beson-              möglichst im Längsschnitt und fächerüber-    durchgeführten Studie zur Bereitschaft von
    derheiten und Herausforderungen der Ver-              greifend einzubinden, damit die Studie-      Niedergelassenen zum Engagement in der
    sorgung außerhalb der Großstädte stärker              renden während ihrer Ausbildung immer        Studierendenausbildung wissen wir aber,
    in das Medizinstudium einbeziehen. Zu-                wieder damit in Kontakt kommen können.       dass da eine große Offenheit besteht.
    dem sollen Studierende in Zusammenar-                 Wir möchten den ärztlichen Nachwuchs         Die Möglichkeit, etwas für die Zukunft
    beit mit vier von Unterversorgung bedroh-             für diese Inhalte interessieren, im besten   der eigenen Region beizutragen, könnte
    ten Modellregionen Mitteldeutschlands                 Fall begeistern, und eventuelle Vorurteile   zusätzlich motivieren. Die bisher kontak-
    vermehrt für kleinstädtisch-ländliche                 hinsichtlich der Versorgung im ländlichen    tierten Kommunen und Landkreise sind
    Praktika gewonnen werden. Nach einer                  Raum abbauen. Praktika in regionalen         durchweg sehr an einer Zusammenarbeit
    einjährigen Entwicklungsphase möchten                 Krankenhäusern und Lehrpraxen mit enga-      interessiert. Vielerorts bestehen schon
    wir das Konzept zwei Jahre erproben und               gierten ärztlichen Rollenvorbildern können   tolle Initiativen, oft fehlt es jedoch an einer
    evaluieren.                                           da erfahrungsgemäß viel bewirken.            direkten Ansprache der Studierenden.
                                                                                                       Diese Lücke möchten wir schließen.

8   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Wandel der Versorgung 2019
REPORTAGE

Expedition in die Provinz
Um drohendem Ärztemangel auf dem Land etwas entgegenzusetzen, hat der Förderverein der
Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB) das „MHB-Mobil“ ins Leben gerufen. Es soll
Studierenden zeigen, wie vielfältig das brandenburgische Landleben ist. Mitte Mai machte das
Mobil in der Stadt Luckau halt.

L      uckau, eine Stadt in Branden-
       burg mit rund 9.700 Einwohnern,
       westlich gelegen vom touristisch
erschlossenen Spreewald, ist nicht einfach
zu erreichen. Eine direkte Zugverbindung
                                              dann, als die Gruppe in einem Sitzungs-
                                              saal des Rathauses Platz genommen hat,
                                              wird Lehmann deutlich: Er wolle Werbung
                                              machen für das Leben auf dem Land.
                                              Dieses sei vor allem familiär geprägt und
                                                                                               biete „Entschleunigung“ pur. Landärzte
                                                                                               würden in Luckau gesucht, er wisse von
                                                                                               mindestens drei Medizinern, die sich
                                                                                               derzeit nach einem Nachfolger umschau-
                                                                                               en. „Wir könnten uns eine individuelle >
gibt es nur zum acht Kilometer außerhalb
des Zentrums gelegenen Bahnhof im Orts-
teil Uckro. Möchte man hier mobil sein,
braucht man ein Fahrrad, ein Motorrad
oder ein Auto. Die Medizinstudierenden
kommen in einem grauen Multi-Van mit
der Aufschrift „MHB-Mobil“. Zunächst
noch zögerlich steigen die sechs angehen-
den Ärztinnen und Ärzte sowie der Vor-
sitzende des Fördervereins der MHB, Prof.
Günter Fleischer, aus dem Wagen und
betrachten den pittoresken Marktplatz, auf
dem gerade der Samstagsmarkt stattfindet.
Rundherum stehen bunt angestrichene
und mit Stuck verzierte Häuser aus dem
späten 17. Jahrhundert in der Sonne.
Vor den Studierenden liegt das Rathaus
der Stadt. Mit seinem orangen Anstrich,
seinen Türmen und Torbögen könnte es
auch in einer italienischen Kleinstadt
liegen. Den Ausflug der Studierenden hat
MHB-Fördervereinsvorsitzender Fleischer
zusammen mit der Kassenärztlichen
Vereinigung Brandenburg (KVBB) und
der Stadt Luckau organisiert. Dabei ist ein
Filmteam, das im Auftrag des Förderver-
eins den Tag dokumentiert.

Bürgermeister wirbt fürs
Landleben
Vor dem Rathaus warten der Bürgermeis-
ter von Luckau, Gerald Lehmann, und
Ordnungsamtschef Thomas Schäfer. Sie
unterhalten sich miteinander und grüßen
den einen oder anderen vorbeilaufenden
Passanten. „Willkommen in der Stadt
Luckau, Hauptstadt der Niederlausitz“,
sagt Lehmann freudestrahlend und sicht-
bar stolz, als die angehenden Ärztinnen
und Ärzte bei ihm ankommen. Später                            Marktplatz und Maibaum: Luckau empfing die Studierenden mit kleinstädtischer Idylle.

                                                                                                                  KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019     9
Wandel der Versorgung 2019
REPORTAGE

     finanzielle Unterstützung vorstellen, wir   zinstudierenden auf der leicht erhöhten       dass ich zurück möchte", erzählt Trabandt.
     könnten bei der Wohnungssuche helfen        Veranda des Hauses und unterhalten sich.      Er schätze den kurzen Weg zur Arbeit und
     oder beim Grundstückskauf“, verspricht      Jan Auswitz ist einer der Studierenden der    die Einarbeitungsmöglichkeit, die der
     Lehmann.                                    MHB. Er kommt aus Berlin, hat mittellan-      derzeitige Praxisinhaber Dr. Erhard Kiesel
                                                 ge dunkle Locken und trägt eine schwar-       ihm bietet. Davon würden am Ende beide
     Nach der Begrüßung durch den Bürger-        ze Brille. „Vor meinem Studium hatte          profitieren. Voraussichtlich im Sommer
     meister und einer kurzen Besichtigung der   ich das Vorurteil: Hinter Berlin hört die     2020 ist Trabandt mit seiner Facharz-
     alten Rathausgewölbe und Amtsstuben         Zivilisation auf. Momentan studiere ich in    tausbildung fertig und könnte die Praxis
     setzt sich der Tross in Bewegung. Flei-     Neuruppin, das ist schon sehr provinziell.    übernehmen. „Derzeit bekomme ich alle
     scher vom MHB-Förderverein kommt ins        Aber hier, das ist richtiges Land.“ Momen-    zwei Wochen Angebote aus der Region
     Erzählen: „Ich bin der Auffassung, dass     tan könne er sich das Leben auf dem Land      zur Praxisfortführung“, sagt er. Gut findet
     man während des Studiums unbedingt          noch nicht vorstellen: „Mir sind derzeit      der Vater von zwei Kindern, dass sich mit
     zu niedergelassenen Ärzten gehen sollte.    einfach die kulturellen Angebote, die         einer eigenen Praxis Familie und Beruf
     Krankenhäuser lernen die Studierenden       größere Städte bieten, noch zu wichtig.“      vereinbaren lassen.
     sowieso kennen, aber den Alltag in einer    Für Johanna Seifert aus der brandenbur-
     Landarztpraxis nicht! Zudem sollen die      gischen Stadt Senftenberg ist wichtig,        Mittlerweile ist es Nachmittag. Die warme
     Studierenden sehen, welche Freiheiten die   dass sie sich selbst entfalten und etwas      Mai-Sonne scheint den Studierenden ins
     eigene Praxis bietet.“                      bewegen kann. Die Medizinstudentin im         Gesicht, als sie von der Praxis in Cri-
                                                 neunten Semester mit schulterlangem           nitz zurück zum Van schlendern. Dort
                                                 Haar, einer geblümten Bluse, weiter ocker-    angekommen eröffnet Ordnungsamts-
                                                 farbener Hose und roten Samtlederschu-        chef Schäfer den Studierenden, dass sie
                                                 hen könnte sich durchaus vorstellen, aufs     die Möglichkeit haben, spontan zu den
     „Eine Bresche schlagen für die              Land zu ziehen. „Was aber mir persönlich      Stadtmeisterschaften der freiwilligen
     Niederlassung“                              ganz besonders wichtig ist, sind alle         Feuerwehr in Luckau zu fahren. „Wir
                                                 kulturellen Aspekte des Lebens, auch auf      wollen den Studierenden zeigen, dass wir
     Die erste Station ist die Praxis von Elke   dem Land. Ich möchte, dass alternative        ein lebendiges Vereinsleben haben“, sagt
     Wecke-Harbarth, Fachärztin für Innere       Lebensweisen akzeptiert werden und Leu-       Schäfer. Auf dem Fest herrscht ausgelas-
     Medizin. Die Praxis befindet sich nahe      te Unterstützung finden, die neue Projekte    sene Stimmung, es riecht nach Bratwurst.
     des Zentrums in einem sanierten Altbau      anstoßen", sagt sie.                          Es scheint fast, als sei die halbe Stadt hier
     mit dezentem cremefarbenen Anstrich,                                                      anwesend. Nur widerstrebend kehren die
     umgeben von Nadelbäumen. Eine                                                             Studierenden zum Van zurück.
     Backsteintreppe führt auf eine Veranda
     und weiter zum Eingang in die Praxis.                                                     Weiter geht es in Richtung Stadtzentrum,
     Diese wirkt freundlich und einladend.       Intakte Natur und                             mittlerweile ist es früher Abend und der
     Wecke-Harbarth, eine mittelgroße Frau       „lebendiges Vereinsleben“                     Zeitplan für die Stadtbesichtigung eng
     mit kurzen dunklen Haaren und in legerer                                                  gefasst. Der Van hält an einem großen Be-
     Freizeitkleidung, leitet zusammen mit       Nach der Besichtigung der ersten Praxis       sucherparkplatz. Ein Informationsschild
     einer Kollegin die Gemeinschaftspraxis      macht das MHB-Mobil halt an „Sielmanns        verkündet, dass Luckau im Jahr 2000 die
     für die Behandlung von Nieren- und Hoch-    Naturlandschaft Wanninchen“, einem
     druckkrankheiten. Geduldig beantwortet      alten, rund 3.000 Quadratmeter großen
     sie, bei laufendem Praxisbetrieb, alle      Braunkohletagebau, den sich nun die
     Fragen der Studierenden und bietet an,      Natur zurückerobern kann. Im Herbst ma-
     dass sie ohne Probleme ihre Praktika oder   chen hier sogar wieder Kraniche Station.
     das Praktische Jahr in der Praxis absol-    Gustav Stark, Student der MHB im dritten
     vieren können. „Wir würden sogar eine       Semester, stammt selbst aus einem Dorf in
     Einraumwohnung zur Verfügung stellen“,      der Nähe von Eisenhüttenstadt, er möchte
     preist Wecke-Harbarth ihr Angebot an.       in der Nähe bleiben und kann sich eine
     „Ich möchte eine Bresche schlagen für       Niederlassung vorstellen: „Die Landschaft
     die Niederlassung und das Leben auf dem     hier, besonders der See, ist schön. Mir ist
     Land, die ländlichen Regionen brauchen      wichtig, dass ich meinen Kindern eine
     engagierte junge Ärzte“, sagt Wecke-        intakte Natur weitergebe.“
     Harbarth. Sie macht darauf aufmerksam,
     dass auch auf dem Land der fachliche        Zurück aufs Land zog es René Trabandt.
     Austausch mit Kollegen möglich sei, in      Er ist 31 und Arzt in Weiterbildung zum
     Luckau zum Beispiel durch regelmäßig        Facharzt für Allgemeinmedizin in Crinitz,
     stattfindende Stammtische für Allgemein-    einem Nachbardorf von Luckau, wo die
     medizin und die Zusammenarbeit mit dem      Studierenden eine weitere Praxis kennen
     örtlichen Krankenhaus.                      lernen. „Ich komme vom Land und bin
                                                                                                         Vom Tagebau zum Naherholungsgebiet:
                                                 zum Studium an die Charité nach Berlin              "Sielmanns Naturlandschaft" gehörte eben-
     Nach dem Praxisbesuch stehen die Medi-      gegangen. Für mich war aber schnell klar,                falls zu den Stationen des MHB-Mobils.

10   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Internistin Dr. Wecke-Harbarth (rechts) warb beim Praxisbesuch für die Niederlassung auf dem Land.

Landesgartenschau ausgerichtet hat. Die      zung falsch sei. Eigentlich schätze er              Ob die Studierenden in Zukunft Landärz-
Stadtführerin wartet bereits und erklärt     das Familiäre an kleineren Städten: „In             tin oder Landarzt werden und in welcher
ausführlich und mit wahrer Freude die        Neuruppin treffe ich bei Spaziergängen              (Praxis-)Form sie dies tun werden, steht
Geschichte der Stadt. Es sei schön, junge    oftmals Freunde und Bekannte. Wenn                  derzeit noch in den Sternen. Wenn sie sich
Menschen durch die Stadt zu führen, sonst    dann noch der Dönermann deinen Namen                für das Landleben entscheiden sollten,
seien die Besuchergruppen immer älter.       kennt und grüßt, das ist für mich Hei-              ist eine private Investition aber definitiv
Die Reisegruppe nähert sich der Kirche       mat“, erzählt Auswitz. Thanh Hien Vu                notwendig: die in ein Fortbewegungsmit-
von Luckau. Innen ist es angenehm kühl.      eine in Dresden geborene Studentin im               tel. Denn der letzte Bus fährt an einem
Der Kantor der Gemeinde spielt für die       neunten Semester, sagt, dass dieser Tag             Samstag in Luckau um 18:53 Uhr.
Studierenden auf der Orgel zunächst zwei     ihr noch einmal verdeutlicht habe, was es
klassische Stücke um danach zwei ältere      bedeutet, als Landärztin zu arbeiten. „Ich                                                Tom Funke
Pop-Hits darzubieten. Andächtig lauschen     denke, die Arbeit als Arzt auf dem Land
die angehenden Mediziner, einer schließt     ist entspannter als in der Großstadt. Die
die Augen und wippt zu den Klängen.          Patienten sind dankbarer als in der Stadt,
                                             da sie wissen, dass man ihnen eine gute
                                             Grundversorgung bietet. Doch wenn man
                                             Arbeit und Privates trennen möchte, oder
                                             eine gewisse Anonymität schätzt, dann ist
Der Tag hinterlässt Eindruck                 das Land nichts für einen.“ Sie ergänzt,
                                             dieser Tag sei gut geeignet gewesen beste-
Die Exkursion geht zu Ende. Auf dem Weg      hende Vorurteile abzubauen: „Ich dachte
zum Abendbrot in den Luckauer Ratskeller     bis heute, das Land sei konservativ. Aber
ziehen die zukünftigen Ärztinnen und         das muss nicht immer stimmen. Wenn
Ärzte ihr Fazit. Auswitz erzählt, dass er    Leute da sind, die etwas auf die Beine
noch vor diesem Tag dachte, kleine Städte    stellen wollen, dann gibt es viel Abwechs-
seien ausgestorben. Er habe aber in seiner   lung. Mich hat zum Beispiel besonders
Studienstadt Neuruppin und besonders         überrascht, dass es hier in Luckau einen
in Luckau gemerkt, dass diese Einschät-      Montessori-Kindergarten gibt.“

                                                                                                                   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019      11
THEMA

     TSVG: Was kommt wann?
     Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) ist am 11. Mai in Kraft getreten. Der „Klartext“
     fasst für Ärzte und Psychotherapeuten wichtige Änderungen in einer Übersicht zusammen.

         REGELUNG                                                                                                                             WANN? WER?

     EXTRABUDGETÄRE VERGÜTUNG VON TSS-VERMITTLUNGSFÄLLEN
     Im Falle einer Vermittlung durch die Terminservicestelle (TSS) erhalten Ärzte und Psycho-                                                Alle Ärzte und Psychotherapeu-
     therapeuten die Leistungen im Arztgruppenfall* extrabudgetär und damit in voller Höhe vergütet.                                          ten, zu denen vermittelt wurde

                                                                                                                                              Alle Ärzte und Psychotherapeu-
     extrabudgetär.                                                                                                                           ten, zu denen vermittelt wurde
                                                                                                -
     Sofern die Behandlung aufgrund eines durch die TSS auf Basis des bundesweiten Ersteinschät
     zungsverfahrens festgestellten akuten Behandlungsbedarfs erfolgt, erhalten Ärzte und Psycho-                                             Alle Ärzte und Psychotherapeu-
     therapeuten die Leistungen im Arztgruppenfall* extrabudgetär vergütet.                                                                   ten, zu denen vermittelt wurde

     AUSWEITUNG DER ZUSTÄNDIGKEIT DER TSS
     Die TSS vermitteln auch Termine bei Haus- sowie Kinder- und Jugendärzten. Patienten benötigen für                                        Hausärzte, Kinder- und
     die Vermittlung keine Überweisung. Zudem sollen die TSS Versicherte bei der Suche nach „festen“                                          Jugendärzte
     Haus- sowie Kinderärzten unterstützen.

     Die TSS vermitteln Termine zur psychotherapeutischen Akutbehandlung innerhalb von zwei Wochen.
     Patienten benötigen hierfür eine Bescheinigung, dass eine Akutbehandlung erforderlich ist.                                               Psychotherapeuten

     TERMINVERMITTLUNG DURCH DEN HAUSARZT

     gefördert. Der Hausarzt stellt dem Patienten eine Überweisung aus.

     >
     voller Höhe vergütet. Dafür müssen sie den Überweisungsschein entsprechend kennzeichnen                                                  Fachärzte
     („HA-Vermittlungsfall“).

     >
     innerhalb von vier Kalendertagen zehn Euro extrabudgetär.                                                                                Hausärzte

     OFFENE SPRECHSTUNDEN
     Wohnortnahe und grundversorgende Fachärzte müssen mindestens fünf Stunden pro Woche als
                                                                                                                                              Augenärzte, Chirurgen, Gynäko-
                                                                                                                                              logen, HNO-Ärzte, Dermatologen,
                                                                                                                                              Kinder- und Jugendpsychiater, Ner-
                                                                                                                                              venärzte, Neurologen, Orthopäden,
                                                                                                                                              Psychiater, Urologen

     BEHANDLUNG NEUER PATIENTEN
     Die Aufnahme neuer Patienten durch Ärzte der grundversorgenden und unmittelbaren medizinischen
                                                                                                                                              Alle Arztgruppen, ausgenommen
     Praxis auf, werden alle Leistungen in dem jeweiligen Arztgruppenfall* extrabudgetär vergütet. Diese                                      Anästhesisten, Humangenetiker,
     Regelung ist bei fachübergreifenden Praxen auf maximal zwei Arztgruppen pro Praxis beschränkt.                                           Labormediziner, Mund-Kiefer-Ge-
                                                                                                                                              sichtschirurgen, Nuklearmediziner,
     * Arztgruppenfall: Alle Leistungen, die von derselben Arztgruppe (zum Beispiel Orthopäden) in derselben Arztpraxis innerhalb desselben
                                                                                                                                              Pathologen, Radiologen, Strahlen-
     Quartals an demselben Versicherten ambulant zulasten derselben Krankenkasse durchgeführt worden sind.                                    therapeuten

                                                                                                                                               Mehr Informationen zum
12   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019                                                                                                            TSVG finden Sie hier:
                                                                                                                                               www.kbv.de/html/tsvg.php
MELDUNGEN AUS DEM BUND

 BÄK informiert über
 Fernbehandlung
 Die Bundesärztekammer (BÄK) informiert mit einem
 ausführlichen Fragen-Antworten-Katalog über aus-
 schließliche Fernbehandlung. Mittlerweile hätten fast
 alle Ärztekammern entsprechende berufsrechtliche Neu-
 regelungen eingeleitet, sodass nun Ärztinnen und Ärzte       Bedarf an
 umfassend über die neuen Möglichkeiten informiert
 werden sollen, erklärte Dr. Josef Mischo, Vorsitzender
                                                              Studienplätzen steigt
 des Berufsordnungsausschusses der BÄK. Mischo stellte
 zudem klar, dass alle beruflichen Rechte und Pflich-         Jährlich fehlen bis zu 6.000 Medizinstudienplätze im
 ten von Ärztinnen und Ärzten auch im Rahmen einer            Fach Humanmedizin, wenn die aktuelle Versorgungs-
 ausschließlichen Fernbehandlung gelten. Ärzte müssten        leistung bis 2035 erhalten werden soll. Das ergab eine
 stets prüfen, ob der jeweilige Fall für eine ausschließ-     aktuelle Berechnung des Zentralinstituts für die kassen-
 liche Fernbehandlung in Frage komme oder nicht. Der          ärztliche Versorgung in Deutschland. Grundlage dafür
 Fragen-Antworten-Katalog sowie weitere Informationen         ist die Annahme, dass 75 Prozent der Studienanfänger
 sind unter www.baek.de/fernbehandlung abrufbar. (fun)        innerhalb von 15 Jahren ihren Facharzt machen. Erst dann
                                                              stünden sie als Ärztinnen und Ärzte für die Versorgung
                                                              zur Verfügung. Doch selbst wenn die Studienplatzkapa-
                                                              zitäten von derzeit 11.000 Plätzen ab dem kommenden
                                                              Jahr um 30 bis 50 Prozent erhöht würden, wären die Aus-
                                                              wirkungen aufgrund der Dauer der Aus- und Weiterbil-
                                                              dung erst nach 15 Jahren zu spüren. Auch Zuwanderung
                                                              löst das Problem nicht: Die Berechnung zeigt, dass der
                                                              vertragsärztliche Versorgungsgrad bis 2035 auf 74 Pro-
                                                              zent des heutigen Niveaus absinken könnte, selbst wenn
                                                              die Nettozuwanderung an Ärzten nach Deutschland auf
 Wissenschaftspreis                                           dem jetzigen Niveau bliebe. Allein eine Steigerung der
 ausgeschrieben                                               Zuwanderung um etwa 3.600 Fachärzte pro Jahr würde
                                                              das medizinische Versorgungsniveau in Deutschland bis
                                                              2035 stabilisieren. (tab/fun)
 Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in
 Deutschland (Zi) schreibt aktuell den Zi-Wissenschafts-
 preis zur regionalen Versorgungsforschung aus, mit dem
 exzellente wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet
 ausgezeichnet werden. Darunter fallen ausdrücklich auch     Rund 3.500 neue Arztsitze
 Arbeiten, die sich mit der Umsetzung von Maßnahmen
 zur Verbesserung der Versorgung beschäftigen, welche
                                                             möglich
 sich aus Ergebnissen regionalisierter Versorgungsfor-
 schung ergeben. Prämierte Arbeiten werden auf dem           Nach Umsetzung der neuen Bedarfsplanungsrichtli-
 Webportal www.versorgungsatlas.de veröffentlicht. Die       nie des Gemeinsamen Bundesausschusses können
 Forschungsergebnisse des Versorgungsatlas würden es         bundesweit 3.470 neue Niederlassungsmöglichkeiten
 ermöglichen, ärztlichen Organisationen und anderen          entstehen, zusätzlich zu den rund 3.440 derzeit offenen
 Akteuren im System, wie Krankenkassen oder Politik,         Niederlassungsmöglichkeiten. Von den neuen Nieder-
 konkrete Hinweise zu geben, an welchen Stellen Verbes-      lassungsmöglichkeiten entfallen 1.446 auf Hausärzte,
 serungen machbar wären, so Dr. Dominik von Stillfried,      rund 776 auf Psychotherapeuten, 476 auf Nervenärzte
 Geschäftsführer des Zi. Einsendeschluss für die Arbeiten    und 401 auf Kinder- und Jugendärzte. Künftig gibt es
 ist der 26. Juli 2019. Der Zi-Wissenschaftspreis ist mit    differenziertere und zusätzliche Instrumente für die Lan-
 7.500 Euro dotiert. (fun)                                   desebene, um die regionale und lokale Verteilung von
                                                             Vertragsärztinnen und Vertragsärzten sowie Psychothe-
                                                             rapeutinnen und Psychotherapeuten bedarfsorientierter
                                                             zu steuern. Die neue Richtlinie tritt am 1. Juli in Kraft.
                                                             (fun)

                                                                                                 KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019   13
THEMA

     „Versorgung denen überlassen,
     die sich auskennen!“
     Die Einmischung der Politik mit „innovativen Ideen“ für die Versorgung war eines der bestimmenden
     Themen auf der Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) am
     Vortag des Deutschen Ärztetages in Münster. Mit starken Vertragsarztpraxen sei die Versorgung
     gesichert, man müsse die Ärzte nur lassen, forderte der KBV-Vorstand.

     Z       u Beginn seiner Rede kritisierte der
             KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. And-
             reas Gassen die Blockadehaltung
     der Krankenkassen bei der Umsetzung des
     im Mai in Kraft getretenen Terminservice-
                                                    jedwede Regelung so zu verkomplizieren,
                                                    dass es de facto nicht zu mehr Geld, aber
                                                    dafür zu mehr Aufwand und Kontrolle
                                                    führen wird“, kritisierte Gassen. Auch
                                                    die Umsetzung der offenen Sprechstunde
                                                                                                 denen überlassen, die sich damit ausken-
                                                                                                 nen“, sagte Gassen dazu.

                                                                                                 Die drohende Fragmentierung der Versor-
                                                                                                 gung war ebenfalls Thema seines Berichts
     und Versorgungsgesetzes (TSVG). „Die mit       werde durch den GKV-Spitzenverband           an die VV. Die immer stärkere Ausdiffe-
     dem TSVG von Bundesgesundheitsminis-           erschwert.                                   renzierung der medizinischen Berufe und
     ter Spahn gemachte Zusage ‚mehr Geld für                                                    Ausbildungswege ist laut Gassen nicht
     mehr Leistung‘ lässt die Kassen offensicht-    Auch die „innovativen Ideen“ der Poli-       verkehrt, dennoch sei fraglich, wer das Zu-
     lich kalt. Deren Strategie scheint zu sein,    tik kritisierte der KBV-Chef. Ein Beispiel   sammenspiel aller Beteiligten organisiere.
                                                    sei der Plan des sächsischen Minister-       Als Beispiel nannte er den Direktzugang
                                                    präsidenten Michael Kretschmer, ein          zur Physiotherapie: „Ich erkenne selbst-
                                                    „Landarztstudium“ einzuführen, in dem        verständlich an, dass Physiotherapeuten
                                                    Studierende landärztlich und praxisnah       eine eigene hohe Expertise für ihr Fach
                                                    ausgebildet werden sollen. „Was macht        haben und dass sie diese so umfassend
                                                    dieser sächsische Landarzt mit seiner lo-    einsetzen möchten wie möglich. Aber es
                                                    kalen Qualifikation, wenn er seinen Beruf    muss allen klar sein, dass der Physiothera-
                                                    zufällig nicht mehr in Sachsen ausüben       peut beim Direktzugang auch die Budget-
                                                    will?“, fragte Gassen. Die Versorgung        verantwortung tragen muss – Regressbe-
                                                    brauche keine Halbärzte, sondern bessere     drohung und Haftung inklusive. Wenn ich
                                                    Rahmenbedingungen, die die Ärzte moti-       das deutlich mache, höre ich meistens:
                                                    vieren, sich in die ambulante Versorgung     ‚Oh, dann doch lieber nicht‘.“ Auch die
                                                    einzubringen. „Man sollte die Versorgung     Ausbildungsreform der Hebammen sieht

14   KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019
Gassen kritisch. Vorsorgeuntersuchungen       gegen – ebenso wie der Idee, hausärztliche       sind die Ärzte und Psychotherapeuten
seien ärztliche Tätigkeit. „Es gibt einen     Diagnosen abzuwerten. Eine klare Absage          selbst zuständig“, erklärte Kriedel. Man
Goldstandard, der sich bewährt hat – das      erteilte er der Aussage des stellvertreten-      dürfe diese Ebenen bei der Diskussion um
ist die ärztlich verantwortete Versorgung     den Vorstandsvorsitzenden der Techniker          die TI-Sicherheit nicht vermischen. Sonst
als Garant für eine hohe medizinische         Krankenkasse, Thomas Ballast, wonach             gerate man in Gefahr, Ross und Reiter zu
Qualität. Wenn das die Politik nicht mehr     Hausärzte entlastet würden, wenn sie gar         verwechseln.
will, dann soll sie es offen sagen. Man       nicht mehr kodieren müssten: „Diese Art
kann sich auch für eine andere Art medi-      von ‚Entlastung‘ brauchen wir Hausärzte          Kriedel wies darauf hin, dass 70 bis 80
zinischer Versorgung entscheiden, dann        nicht! Wir stellen und benennen Diagnosen        Prozent der Praxen bis Ende des zweiten
macht eben jeder, was er kann und der         – und Diagnosen, die in gleicher Weise und       Quartals 2019 an die TI angeschlossen sein
Patient sucht sich aus diesem fragmentier-    Qualität benannt sind, sind auch gleich viel     werden. Zu drohenden Sanktionen sagte
ten Angebot medizinischer Leistungen die      wert“, betonte Hofmeister.                       er, dass diejenigen, bei denen Installati-
zusammen, die er für richtig hält“, so der                                                     onsfristen aus äußeren Umständen nicht
KBV-Vorstandsvorsitzende.                     Beim Thema Digitalisierung warb der stell-       eingehalten werden können, auch nicht
                                              vertretende KBV-Chef für das softwarege-         sanktioniert werden dürften. Anders sei
Ein wenig „Demut“ und Realitätssinn erhofft   stützte Instrument SmED (Strukturierte           die Lage bei den Ärzten, die sich der TI
sich Gassen indes beim Thema Digitalisie-     medizinische Ersteinschätzung in Deutsch-        grundsätzlich komplett verweigern. Hier
rung. Die Telemedizin sei eine große Hilfe,   land), das für die Versorgung im Akutfall        sehe der Entwurf des Digitale-Versorgung-
aber nicht die Lösung aller Probleme: „Sie    eine deutliche Verbesserung bedeute.             Gesetz 2,5 Prozent Honorarabzüge für 2020
schafft keine neuen Ärzte und auch nicht      „Alle Welt redet von Digitalisierung in der      vor. Kriedel richtete in diesem Zusammen-
mehr Arbeitszeit“. Wichtig sei außerdem,      Gesundheitsversorgung. Wir reden nicht           hang einen Appell an die Ärzte: „Über die
dass telemedizinische Angebote in und         bloß, wir haben SmED und damit eine rea-         TI wird künftig ein großer Teil der Prozesse
durch die niedergelassenen Praxen gemacht     le, weltweit zugängliche nützliche digitale      laufen, die abrechnungs- und versorgungs-
würden und nicht durch Callcenter.            Lösung.“ In absehbarer Zeit könnten die          relevant sind, zum Beispiel das eRezept
                                              Patienten SmED selbst per App nutzen,            oder die elektronische Arbeitsunfähigkeits-
                                              kündigte Hofmeister an.                          bescheinigung. Wer sich bewusst der TI
                                                                                               verweigert, verweigert sich einem elemen-
                                                                                               taren Werkzeug der künftigen Versorgung.
Überschreiten der roten Linie                                                                  Das sollte jedem klar sein.“

Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender     Ross und Reiter
Vorstandsvorsitzender der KBV, kriti-         nicht verwechseln
sierte in seiner Rede Teile des Digitale-
Versorgung-Gesetzes (DVG), das an einigen     Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel ging        Digitale Versorgung etablieren
Stellen die rote Linie überschreiten würde.   in seiner Rede auf die aktuelle Diskussion
Die Krankenkassen würden unter dem            um die Sicherheit der Telematikinfra-            Im weiteren Verlauf der VV stimmten
Deckmäntelchen der „digitalen Innova-         struktur (TI) ein. Er stellte dabei klar, dass   die Delegierten über diverse Anträge ab.
tion“ in die Lage versetzt, direkt in das     Ärzte nicht die Betreiber der TI seien und       Unter anderem wurde das Bekenntnis zum
Versorgungsgeschehen einzugreifen. Aller-     deshalb nicht bei Haftungsfragen, die aus        Föderalismus und einem „Wettbewerb
dings hätten Krankenkassen ein Interesse      der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)           der Länder um das beste Versorgungskon-
an der Kassenlage. Umso wichtiger sei das     resultieren, belangt werden dürften. Man         zept“ betont. „Den regionalen Partnern
strukturelle Gegengewicht derjenigen, die     müsse grundsätzlich drei Ebenen bezüg-           der gemeinsamen Selbstverwaltung sind
die Patienten täglich medizinisch versor-     lich der Verantwortlichkeiten für die Sicher-    Freiräume bei der Etablierung von Versor-
gen, so Hofmeister. „Wir Vertragsärzte und    heit der TI unterscheiden. Die erste Ebene       gungskonzepten einzuräumen“, lautet die
Vertragspsychotherapeuten sind zuständig      betreffe den Konnektor und den darüber           klare Forderung der Vertreterversammlung.
für die ambulante Versorgung. Darauf fußt     laufenden Anschluss an die TI – hier läge
das gesamte System“, so der stellvertreten-   die Verantwortung klar bei der gematik           Außerdem wurde der KBV-Vorstand
de KBV-Chef.                                  und den Herstellern der TI-Komponenten,          beauftragt, sich im weiteren Gesetzge-
                                              so Kriedel.                                      bungsverfahren des DVG für den Aufbau
Kritik äußerte Hofmeister auch an den im                                                       einer gemeinsamen digitalen Versorgungs-
Faire-Kassenwahl-Gesetz (FKG) vorgesehe-      Die zweite Ebene betreffe die Anforderun-        struktur einzusetzen. Die VV lehnt digitale
nen Kürzungen bei Chronikerprogrammen,        gen aus der DSGVO. „Die in der DSGVO             Projekte ab, bei denen Vertragsärzte und
den DMP (Disease-Management-Program-          vorgesehene Datenschutzfolgeabschätzung          -psychotherapeuten nicht eingebunden
me): „Für die Versorgung von Chronikern       muss auch in Bezug auf die zentrale TI und       werden und nicht als gleichberechtigter
ist das keine gute Nachricht, vor allem       deren Dienste geleistet werden. Hierbei sind     Akteur auftreten.
deshalb nicht, weil schon die Maßnahmen       wir der klaren Auffassung, dass der Arzt
im TSVG negative Auswirkungen auf die         für diese Folgeabschätzung nicht zuständig                                 Birte Christophers
Versorgung chronisch kranker Menschen         ist“, sagte Kriedel. Die dritte Ebene betreffe
haben“. Der Risikostrukturausgleich soll      die allgemeine IT-Sicherheit in der Praxis
                                                                                                  Die Vorstandsreden und die
ebenfalls durch das FKG reformiert werden.    und die ordnungsgemäße Verwendung der
                                                                                                  verabschiedeten Beschlüsse der VV
Den in diesem Zusammenhang immer wie-         genutzten IT-Produkte. Dazu gehöre ein
                                                                                                  finden Sie hier:
der seitens der Krankenkassen erhobenen       geschützter Internetzugang der Praxis, das
                                                                                                  www.kbv.de/html/40561.php
Vorwürfen, Ärzte würden Diagnosen falsch      regelmäßige Update von Software oder ein
kodieren, trat Hofmeister entschieden ent-    Passwortmanagement. „Für diese Ebene

                                                                                                               KBV KLARTEXT > 2. AUSGABE 2019   15
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