Uli Schuster, Salzburg 22.1. (Redemanuskript ohne Bilder)

Die Seite wird erstellt Sebastian Klemm
 
WEITER LESEN
Uli Schuster, Salzburg 22.1. (Redemanuskript ohne Bilder)

Kurze Vorrede:

Wenn ich das Thema dieser Vorlesung richtig verstanden habe, dann geht es hier um Methoden
der Kunstvermittlung insbesondere im Zusammenhang mit einem Unterricht im Fach Bildneri-
sche Erziehung. Ich habe in Österreich nie unterrichtet, kann also nicht gut einschätzen, wie sich
das, was ich hier sagen werde, da einfügt.
Aber ich möchte vorab nicht verhehlen: Ich mag die Bezeichnung >Kunstvermittlung< im Zusam-
menhang mit Schulunterricht nicht, die sich seit ein paar Jahren als eine Aufgabe der Akademien
und Lehrstühle in der Ausbildung von Kunstlehrern im deutschen Sprachraum breit macht. Muse-
umspädagogen brauchen wir an den Schulen eher nicht.
Museumspädagogik muss sich in Deutschland und wohl auch in Österreich erst einmal selber er-
finden und nicht einfach von einem schwächelnden Schulfach
Besitz ergreifen. Kunstunterricht hat in der Schule nicht die Aufgabe Kinder und Jugendliche als
Museumskunden auszubilden. Wenn wir im Unterricht Kunst betrachten, dann tun wir das in ers-
ter Linie im Zusammenhang mit eigener bildnerischer Praxis. Wir versuchen Lösungen für eigene
bildnerische Probleme, Aufgaben aus dem Bildmaterial zu ziehen, das die Bildnerei der Profis zur
Verfügung stellt. Was Museen für Kunst halten und für museal, das interessiert eher am Rand.

Bildnerische Erziehung ist kein Training für Museumsbesuche. Wenn es im Bildunterricht auch
um historische Kunst geht, dann kommen wir nicht darum herum uns eines begrifflichen Reper-
toires zu bedienen, das die Kunstwissenschaft und Bildwissenschaft bereitstellen. Dabei sollten
wir doch nicht darauf verzichten, Denkmuster über Künstler, Kunstwerke, Kunstmuseum, Kunst-
markt insgesamt auf die Probe zu stellen für die Tauglichkeit im Unterricht. In diesem Sinn lassen
sich zumindest in der Oberstufe auch Aussagen in Schulbüchern hinterfragen nach dem Ge-
schichtsbild, das sie transportieren, nach der Auswahl der Künstler und Werke, die sie vorstellen
oder aussparen, nach der Vielschichtigkeit oder Schlichtheit, mit der sie das Phänomen Kunst aus-
breiten und durchleuchten oder was sie alles ausblenden, um ein möglichst harmloses, wider-
spruchsfreies Glanzbild über Kunst, Künstler und das Drumherum zu decken. Wir müssen Schü-
lern keine Kunst verkaufen . Trotzdem:

Mir scheint, dass die Kunst eine Menge interessanter Geschichten sozusagen in petto bereithält,
deren pädagogischer Nährwert von den Lehrbüchern und vermutlich auch vom Unterricht noch
nicht recht erkannt ist. Dazu gehört ein Bedürfnis von Künstlern der sog. klassischen Moderne, die
Kunst in zahllosen Ismen jeweils neu zu erfinden. Dazu gehört z.B. der Wettlauf um das erste Ab-
strakte Bild, den Kandinsky und Malewitsch austrugen. Dazu gehört eine biografische Dichtung,
beispielsweise zu Joseph Beuys, mit deren Hilfe im Schulbuch ein Interpretationsmuster für Filz
und Fett als künstlerische Materialien geschaffen wurde. Dazu gehören Mythen wie der des be-
gnadeten Schöpfers und Genies, des künstlerischen Midas, der jeden Farbklecks oder eine Fette-
cke in millionenschwere Kunst verwandelt. Sicher auch der Mythos vom unverstandenen Künstler
und seinen pharisäischen In-Frage-Stellern.

Kunstgeschichte hat sich in Schulbüchern lange einem Geschichtsverständnis unterworfen, dem
ein Konstruktionsmodell von Epochen und Stilen zugrunde lag, das einer Herrschaftsgeschichte
entlehnt ist, die es mit Dynastien und Feldzügen zu tun hat. Nationalstile, Formanalyse, und die
Verbeugungsübungen vor den Heldengestalten der Kunst und ihren museal präparierten Zeugnis-
sen sollten aber bei allem vom Lehrer beschworenen bildnerischen Augenschmaus oder künstleri-
schen Geistesblitz nicht blind machen, oder den Blick verstellen auf Mechanismen der Kunstwelt,
der sie auch ihr Dasein und Sosein verdanken.

                                                                                               11
Manche Geschichten zur Kunst werden in Schulbüchern und vermutlich auch im Unterricht immer
noch ausgespart. Zum Beispiel die Geschichte der künstlerischen Ausbildung, die Geschichte
des Kunsthandels und des Ausstellungswesens. Ich möchte einen Pfad aufzeigen, wie sich einige
stark simplifizierte Aussagen aus verschiedenen Schulbüchern zu vielleicht fachlich interessanten
Spaziergängen und Faktenchecks erweitern lassen.

                                             -----------

Wir schreiben das Jahr 2018. Vor hundert Jahren - genauer: am 6. November 1917 - begann in
    Russland die Oktoberrevolution. Am 9. November wurde meine Schwiegermutter geboren,
    am 17. November starb Auguste Rodin . Mein Vater feierte an Weihnachten seinen 11. Ge-
    burtstag. Etwas weiter zurück im Jahr 1917: Am 2. April 1917, erklärte Amerika dem Deut-
    schen Reich den Krieg. Ein paar Tage später, am 10. April wurde in New York eine Idee ge-
    boren und ein Kunststück aufgeführt, für das man Marcel Duchamp die Vaterschaft zu-
    schreibt: Fountain, ( Fontaine, Springbrunnen ) erblickte das Licht der Kunstwelt.
 „Duchamp...“, so kann man im Personenlexikon des österreichischen Schulbuchs ICONS 2 lesen,
„...gab der Dada-Bewegung, dem Surrealismus, später auch der Pop Art, dem Nouveau Réalisme
und der Konzeptkunst wichtige Impulse, und gilt als einer der einflussreichsten Künstler des 20.
Jahrhunderts.“ Man kann wohl mit Recht darauf bauen, dass er einen Platz in der Kunstge-
schichte verdient hat, und auch im Unterricht unseres Fachs in Österreich wie in Deutschland Ge-
schichten über ihn erzählt werden. Die Sichtung von Texten in Schulbüchern, zu einem nun hun-
dert Jahre zurückliegenden Kunstereignis, kann uns sagen, was über Duchamp und seinen Einfluss
auf die Kunst des 20. Jahrhunderts von heutigen Schulbüchern als vermittelnswert gehalten wird.
Aber sie kann uns vielleicht auch erhellen, was darüber hinaus vermittelt werden könnte, oder
vielleicht nicht erzählt wird, aber erzählt werden sollte oder könnte.

 Der Bildatlas zu Icons 2 berichtet: „Als Marcel Duchamp (....) im Jahre 1917 in einer New Yorker
Galerie eine Pissoir-Muschel präsentierte (Abb.18), war das ein Skandal. Ein simpler, alltägli-
cher Gebrauchsgegenstand auf einem Podest
entsprach nicht dem, was die Besucher einer Kunstausstellung erwarteten.“ (Icons Bildatlas S.
38 „Moderne“)

Ein bayerisches Schulbuch berichtet: "Duchamp"..."nahm ein im Handel erhältliches Pissoir,
stellte es mit der Seite, mit der es üblicherweise an der Wand befestigt wird, auf einen Sockel, si-
gnierte es mit dem Namen einer bekannten Sanitärfirma (R. Mutt) und nannte es
>Springbrunnen
1. Kunst ausstellen           (Folie)
Wir haben hier zunächst einen kleinen Dissens, der mir aber erlaubt ein Licht zu bringen in das
Ausstellungswesen von Kunst generell und insbesondere in Amerika 1917. Das österreichische
Schulbuch spricht von einer >Galerie< und einer >KunstausstellungGalerie< als Ausstellungsraum von ‚Fountain‘
vorzustellen?
Bild (Th. Allom ca.1844 Die Grande Galerie im Louvre)

Als >Galerie< bezeichnet man z.B. einen langen Gang, eine Wandelhalle. Wenn sie viel Wandflä-
che, die nicht von Fenstern durchbrochen ist, und Licht von oben
bietet, dann eignet sie sich gut, um dort Bilder zu hängen. Der Begriff reicht von der >Grande
Galerie< des Museums im Louvre bis zu speziellen Räumlichkeiten des Kunsthandels, die sich
gern ‚Galerie XY‘ nennen, wie beispielsweise diese hier:

Bild Die Sidney Janis Gallery New York 1953 mit einer „Dada Exhibition“

Museum oder Kunsthandel könnte man hier fragen? Galerien nennen bei uns Kunsthändler gerne
ihre Show-Räume, die manchmal eher den Charakter von umfunktionierten Wohnzimmern oder
Ladengeschäften haben. Um 1900 hatten solche Händler-Galerien auch meist noch Anschluss an
andere Erwerbszwecke, etwa ein Geschäft für Künstlerbedarf, wie bei dem legendären Pere Tan-
guy, einem Stuckateur, der 1873 in Paris einen Laden für Künstlerbedarf eröffnete, in der Rue
Clauzel No 14.Heute etwas aufgebrezelt: Rue Clauzel No 14. Eine Tafel über der Einfahrt, die ur-
sprünglich Vermutlich in einen Werkstatthof führte, erinnert an den Betrieb von Pere Tanguy.

Die Geschäftsidee war dort so: Die mittellosen Kleinkünstler vom Montmartre ( Pissarro, Monet,
Renoir, Gauguin, Toulouse-Lautrec, van Gogh, Cézanne)gaben dem Händler Bilder in Kommissi-
on für den Erwerb von vorgrundierten Leinwänden und Tubenfarben. Der Händler stellte die Bil-
der in seinem Verkaufsraum aus, und manchmal beteiligte er den Künstler auch noch an seinem
Verkaufserlös. Solche ‚Galerien‘ kannte man in Paris auch in Gasthäusern, Schänken, Cabarets, in
denen Künstler verkehrten ohne ihren Verzehr oder ihre Zeche immer bezahlen zu können.
Ein anderes, zeitnäheres Beispiel:
Bild Galerie 291, Fifth Avenue, New York City, Fotogalerie Alfred Stieglitz. In New York betrieb
der Fotograf Alfred Stieglitz von 1905-17 die legendäre >Galerie 291Galerie< auch in Verbindung mit
dem modernen Kaufhaus. 1912 wurde in Paris, nahe der alten Oper ein Gebäudekomplex mit ei-
ner 33 Meter hohen Jugendstil-Galeriehalle unter einer 40 Meter hohen, farbigen Glaskuppel er-
öffnet. Das Haus hatte eine Verkaufsfläche von 18.000 m² und wurde nach der Straße benannt, in
der es steht: Galeries Lafayette. Mit Kunstausstellung oder -handel hatte dieses Kaufhaus nichts zu
tun. In München gibt es seit vielleicht zwei Jahrzehnten eine >Galeria Kaufhof< mit einer klei-
nen Abteilung in der Nähe von Koffern und Schreibwaren, wo man Kunstdrucke kaufen kann, ge-
rahmt oder gerollt als Poster.

Sie haben’s gemerkt: Wir kamen von Bildern, die darauf warten Kunst zu werden, zum Kaufhaus,
wo sie erst einmal auf einen Käufer warten. Das ist für das späte 19.Jahrhundert gar nicht so weit
hergeholt. Den Zusammenhang haben schon die Weltausstellungen hergestellt, die sich in der Zeit
der Industrialisierung als technisch-industrielle und kunsthandwerkliche Leistungsschauen eta-
bliert haben. Die erste fand 1851 in London statt, in einem von Josepf Paxton extra dafür errichte-
ten Crystal Palace. Bis 1917 gab es bereits 17 solche Leistungsschauen des industriellen Wettbe-

                                                                                                33
werbs und des Kunsthandwerks. Bei solchen Messen geht es eher um großes Geschäft und die An-
bahnung von Geschäftsbeziehungen. Seit 1855 verschmolz in Paris die Weltausstellung der Indus-
trie und des Handwerks mit dem Kunst-Salon, der bis dahin, wie die Räume der Akademie Roya-
le, im Königspalast Louvre beherbergt war. Dem Industriepalast mit seinen technischen Errungen-
schaften wurde ab 1900 gleichwertig ein bürgerlicher >Grand Palais< der Schönen Künste an die
Seite gestellt, nicht als Museum, sondern als Ausstellungsgebäude für den Handel mit aktueller
Kunst, die vielleicht einmal in ein Museum einziehen wird. Das von den Schulbüchern als >Gale-
rie< oder >Ausstellung< bezeichnete Ereignis von 1917 in New York fand in diesem Gebäude statt
(auch ein ‚Palast‘ aber nicht für einen König):

Bild Grand Central Palace 1917
Der Grand Central Palace war ein 13 Stockwerke hohes Ausstellungsgebäude in New York City,
1911 erbaut im Zusammenhang mit dem nahe gelegenen Bahnhof. Die >First Industrial Aeroplane
Show< fand dort 1911 statt. Schiffsausstellungen, Blumen- und Hundeshows wurden dort veran-
staltet und 1917 hatte eine erst 1916 gegründete Vereinigung unabhängiger Künstler >Society of
Independent Artists< dort Räume gemietet für eine Art-Show ihrer Mitglieder. Die >Big Show<
zeigte 2125 Arbeiten von 1200 Künstlern und wurde am 10. April 1917 eröffnet.
Bild Die >Big Show< im Grand Central Palace 1917

Der Ausstellungsort 1917 trägt eher den Charakter einer Messehalle als den eines königlichen Pa-
lasts, eines Museums, oder einer Galerie. Und um eine Form des Kunsthandels ging es tatsäch-
lich 1917 im Grand Central Palace. Die ausgestellten Bilder standen allesamt zum Verkauf.

Bild Armory Show 1913
Um in großen Hallen die Ausstellungsflächen zu vermehren, kann man den Raum durch Stellwän-
de so aufteilen, dass sie auch für Bilderausstellungen tauglich werden. Die Erfahrungen hatte man
in New York schon bei der berühmten Armory Show von 1913 gemacht, mit der die europäische
Moderne nach Amerika exportiert wurde. Das Gebäude der Armory-Show war das Zeughaus eines
Infanterie-Regiments der Nationalgarde mit einer riesigen Halle, die z.B. als Exerzierplatz genutzt
wurde. Schon damals wurden die so gebildeten Kojen ‚Galleries‘ genannt.

Das amerikanische Verständnis von >Art< entspricht nicht völlig den Traditionen, die man in
Deutschland, aus unserer europäischen Kunstgeschichte heraus, mit >Kunst< verbindet. Amerika
fehlt dazu die akademische Tradition, die z.B. in der künstlerischen Ausbildung noch bis zum 2.
Weltkrieg einen scharfen institutionellen Trennstrich zog zwischen Kunstgewerbe und akademi-
scher Kunst. Eine solche Unterscheidung von Kunsthandwerk und Hochkunst ist dem englischen
Begriff >Art< nicht immanent. Duchamp kann man zitieren mit dem wohl spaßig gemeinten, aber
auch ein wenig herablassenden Satz: „The only works of art America has given are her plumbing
and her bridges“. (in: ‚The Blind Man‘)

So viel zunächst zum Ort des Ereignisses von 1917 und seinem gewerblichen Charakter. Ein nicht
unbedeutender Unterschied zum Museum: Dort kauft man keine Kunst und eine Vorstellung von
Preisen, also Käuflichkeit zu einem bezifferbaren Wert der ausgestellten Dinge, wird strikt vermie-
den. Das Museum sperrt sozusagen die Vergänglichkeit und die Verhandelbarkeit von Werten aus.
Andererseits: Was wäre so interessant an einem Springbrunnen oder einem auf dem Rücken lie-
genden Urinal in irgendeiner Galerie, dass man davon in einem Schulbuch berichten müsste?

Ich springe nun thematisch ein wenig - ganz im Bild eines Springbrunnens, vielleicht sogar eines
römischen Brunnens, von der Schaustellerei im Großen zur Präsentation im Detail. Frage: Wie soll
man sich die Präsentation von >Fountain< in der >Big Show> von 1917 vorstellen?

                                                                                                44
2. Sockel           (Folie)

Die eingangs vorgestellten Zitate aus Schulbüchern geben Hinweise auf die
Präsentation von „Fountain“:
 Ein simpler, alltäglicher Gebrauchsgegenstand auf einem Podest.
 ein umgekipptes Urinal auf einem Sockel
Obwohl das österreichische Schulbuch von einem >Podest< spricht, ist auf der dazu gezeigten Ab-
bildung von einem Podest nichts zu sehen. Bei einigen in Bayern verwendeten Lehrbüchern ist tat-
sächlich ein Sockel zu sehen, in anderen ist das Objekt vor einem blauen Farbverlauf und ohne So-
ckel oder erkennbares galerieartiges Umfeld gezeigt. Vielleicht lohnt es sich der Frage nach dem
Podest oder Sockel und seiner Bedeutung für Schulbücher ein paar Gedanken zu widmen.
Lassen Sie mich ein wenig ausholen: Wie wir beim Blick in die Galerie des Louvre sehen konnten,
wurden noch im 19.Jh. Leinwandbilder nicht nur in Augenhöhe der Betrachter präsentiert, sondern
in einer sogenannten >Petersburger Hängung< oder >Salonhängung< in mehreren Schichten
bis unter die Decke gestapelt. Unten die kleineren Formate, oben die großen, und sogar der Platz
über der Türe wurde genutzt.

Bild Die Eremitage Petersburg 1860
Diese >Salonhängung< sieht man heute in Museen kaum noch. Plastiken und vor allem kleinere
Objekte möchte der Betrachter gerne auf Augenhöhe begutachten können. Damit sie im Museum
nicht verstauben oder umgestoßen werden präsentiert man sie in Vitrinen, in Raumnischen oder
auf einem Sockel, der in der Regel vom Museum gestellt wird, wie auch die Wand für die Bilder.
Beide, die Wand wie der Sockel, werden nicht als Teil des mobilen Kunstwerks betrachtet und
auch nicht vom Künstler mitgeliefert. Bei einem Wandbild, z.B. einem Fresco, liegt die Sache et-
was anders. Nähern wir uns dem >Sockel von Fountain< auf einem kleinen Umweg:

Bild Galerie Ratton, Paris 1936
Das Foto von Man Ray, zeigt eine Vitrine „surrealistischer Objekte“ in der Galerie Ratton, Paris
1936 mit Objekten verschiedenster Künstler, die hier im gläsernen Käfig auf einen Käufer warten.
„Zwei Dinge gehören zusammen, obwohl sie gesellschaftlich weit auseinander zu liegen scheinen:
      die Museumsvitrine und das Schaufenster.“ Das schreibt Thomas Steinfeld am 3. Juli 2017
      in der Süddeutschen Zeitung. Die Franzosen und Italiener haben dafür ein gemeinsames
      Wort >vitrine< und >vetrinaReady-Made< erklären wollte, und von dem ein deutsches Schulbuch (Grundkurs2 von:
      Klant/Walch 1990 S.165) schreibt: Duchamp „entzog ... einem Flaschentrockner seine Ge-
      brauchsfunktion und stellte ihn ins Museum“.
Bild Flaschentrockner, Replik in der Galerie Ropac, Paris 2016

                                                                                              55
Einige der in dieser Vitrine in Ruhestellung versammelten Objekte haben sich heute aus solchem
Sammelsurium befreit, sind als Einzelstücke von viel magisch aufgeladener Leere umgeben,
etwa der Flaschentrockner (in einer der ungezählten Repliken) oder die Pelztasse.
Bild Pelztasse im Kunstmuseum Bern, 2006

Es ist wohl unbestreitbar, dass die Assoziation eines Sockels, von dem auch das eingangs zitierte
Schulbuch aus Bayern im Zusammenhang mit Fountain sprach, als Beigabe zu einer Plastik nicht
nur im Wortsinn etwas Erhebendes hat, sondern auch in der Wertvorstellung dem Ding einen hö-
heren Rang zuweist. So ist es auch nicht unerheblich, ob man in einer Ausstellung ein plastisches
Objekt, anders wie ein Bild an der Wand, umschreiten und von allen Seiten besehen kann, ob man
zu ihm aufblicken muss, oder auf es herabschaut, ob es hinter Glas verwahrt, oder durch Alarm ge-
schützt wird, was meist am Boden durch eine sichtbare Grenze der erlaubten Annäherung markiert
ist. Das alles sind kuratorische Mittel, die einerseits hochwertige Dinge von minderwertigen zu
unterscheiden helfen, andererseits auch für Scherze und Lachnummern etwas abgeben.

An dieser Stelle soll nun die Frage angesprochen werden, was es mit dem Sockel bei Duchamps
„Fountain“ auf sich hatte, den die Schulbücher für erwähnenswert halten, aber nicht immer für
zeigenswert. Die eingangs gezeigte Abbildung aus dem bayerischen Schulbuch findet sich in vie-
len Quellen zu Duchamp, mal als s/w-Abbildung, mal mit einem nostalgischen Braunton alter Fo-
tografien. Sie ist mehrfach als ein >historisches Dokument< bezeichnet, als eine Fotografie von
Alfred Stieglitz, die am 5. Mai 1917 erstmals in einer Druckschrift >The Blind Man No. 2< in s/w
mit dem Namen des Fotografen abgedruckt erschien. Das scheint die behaupteten Aussagen sozu-
sagen durch Zeitzeugenschaft zu belegen: „...er stellte es auf einen Sockel...“.
Bild Das Original von Stieglitz (NY., Privatbesitz)

Im bayerischen Schulbuch jedoch war der Sockel verkürzt, das Originalfoto also beschnitten. Das
Objekt ist jedenfalls leicht unsymmetrisch ins Bild gesetzt, und auch der Sockel ist nicht so auf die
Achsen des Objekts bezogen, wie etwa auf der Abbildung des Flaschentrockners aus der Galerie
Ropac. Im Hintergrund dieses historischen Fotos, das sich heute im Besitz des Museum of Mo-
dern Art in New York befindet, erahnt man eine Malerei, was die Vorstellung von der Ausstel-
lungssituation in einer Galerie oder einem Museum plausibel erscheinen lässt.

Wir erinnern uns an die >Galerie 291< in der Fifth Avenue New York, die vorher schon im Bild zu
sehen war. Mit überzeugenden Argumenten hat Heinz Herbert Mann diese Räume recherchiert als
den Ort, an dem das Foto entstanden sein muss, und zwar anhand seines Herstellers Stieglitz und
der Malerei, die man im Hintergrund bruchstückhaft sieht.
Bild Marsden Hartley „The Warriers“. Es ist ein Leinwandbild von Marsden Hartley, das den Titel
trägt >The Warriers< (Die Krieger).

Ich muss hier nun ein kleines Zwischenspiel einfügen. In der Gegenüberstellung von Hartleys
Kriegern und Stieglitz‘s Foto fällt ihnen vielleicht ein möglicher formaler Grund auf, warum
Stieglitz dieses - von einer Ausstellung Hartleys bei ihm noch gelagerte Bild - als Hintergrund für
seine Aufnahme gewählt haben mag. Was immer Hartleys flächige Komposition intendiert, eine
formale Verwandtschaft mit dem >Kontur< der Brunnenplastik ist kaum zu übersehen. Und der
aufmüpfige Scherzbold Stieglitz inszeniert damit den vordergründigen Springbrunnen als einen
Warrier, einen Krieger und erzählt mit Hartleys Assistenz ein hintergründiges Kampfgeschehen
mit seinem Foto. Eine Kampfansage durch einen Springbrunnen mindestens an die Ausstellungs-
macher der >Big Show
Da kann ich mir einen Verbesserungsvorschlag nicht verkneifen, weil mir Raffael eine besser ge-
eignete, klarere Umrisslinie geboten hätte als Bellini.

Derartige formale Überlegungen sind im übrigen in der Gedankenwelt von Fountain schon 1917
nicht völlig fremd. In der zweiten Ausgabe des >Blind Man< wird ein Ausstellungsbesuchers be-
schworen, dessen unschuldiges Auge, sein „innocent eye“ in der von Stieglitz sprechend ausge-
leuchteten und inszenierten Skulptur einen „Buddah of the bathroom“ zu erkennen glaubt, und
Beatrice Wood hat später den Buddah verwandelt in eine „Madonna“.

Eine Assoziation dieser Art hat sich Arthur C. Danto in seiner Schrift „Die Verklärung des Ge-
wöhnlichen“ noch 1981 gestattet, als er einen Ästheten und Bewunderer des Objekts >Springbrun-
nen< im Museum erdachte, der in seiner Verzückung ausruft: „Wie sehr es doch dem Kilimanscha-
ro gleicht! Wie das weiße Strahlen der Ewigkeit! Wie arktisch erhaben“. (S.148)

Zurück zum Foto von Stieglitz und dem dort zitierten Bild „The Warriers“:
Es ist 1913 entstanden und lagerte seit einer Ausstellung im Januar-Februar 1917 in der Galerie
von Stieglitz, wo auch Hartley selbst zeitweise wohnte. Jedenfalls war es nicht Bestandteil der Big
Show, in der von Hartley zwei andere Bilder zu sehen waren. Der Zeitpunkt, wann sich Fountain
im >291< von Stieglitz befand, lässt sich schwer bestimmen, aber Hartley hatte bei seinen Einrei-
chungen zur >Big Show< die Adresse von Stieglitz als seinen Aufenthaltsort angegeben. Und
Stieglitz schrieb an einen Kritiker nur eine Woche nach Beginn der >Big Show< dass dieser die
Fotografie und auch die „Fontaine“ selbst bei ihm sehen könne.(Tomkins S.220) Man kann also
davon ausgehen, dass die Intronisation oder Aufsockelung von Fountain bei Stieglitz und durch
ihn geschah, zumal es von Duchamps Präsentationsabsichten völlig andere Belege gibt.

Als Duchamp 1915 nach New York zog, wohnte er in den ersten Tagen bei Walter Pach und bezog
dann durch Pachs Vermittlung ein >Studio< in einem riesigen Appartement, das dem Millionärs-
und Kunstsammler-Ehepaar Louise und Walter Arensberg gehörte.
Bild Duchamp Studio in der 33 West 67th Street

Dort, in seinem >Studio< und privaten Wohnumfeld könnte dieses Selbstbildnis als Langzeitbe-
lichtung entstanden sein. Das Foto aus dem Philadelphia Museum of Art ist jedenfalls mit dieser
Adresse der Arensbergs versehen. Fountain und andere seiner Objekte, die Schneeschaufel, die
Krone eines Kleiderständers, sind hier in einer für plastische Objekte höchst eigenwilligen >Hän-
gung< zu sehen, die dem Sockel aus Stieglitz‘ Fotografie widerspricht.

Bild Janis Gallery in der West 57th Street New York
Dieses Bild war schon mal da. Ich bin nicht sicher, ob Ihnen dabei Fountain ins Auge sprang. Im
Jahr 1950, als Dada im Begriff war, in Amerika eine historische Größe zu werden, zeigte die Sid-
ney Janis Gallery in New York, also auch noch kein Museum, sondern die Galerie eines Kunst-
händlers, eine Ausstellung unter dem Titel >Challenge and Defy< (Herausforderung und Trotz).
Sidney Janis hatte für den bei der Auflösung des Ateliers von Stieglitz schon 1917 offenbar verlo-
ren gegangenen Springbrunnen, mit Erlaubnis von Duchamp angeblich in Frankreich(!) einen
gebrauchten Ersatz beschafft, den er nochmal drei Jahre später in einer Ausstellung zu >Dada
(1916–1923)< in ähnlicher Weise präsentierte. Das Foto vermittelt einen Blick in diese unter Mit-
arbeit von Duchamp kuratierte Ausstellung mit „Fountain“ über der Tür und ‚im Kopfstand‘
hängend.

Diese Art der Präsentation, die vermutlich Duchamp selbst veranlasste oder sogar selbst vornahm
zeigt, dass sich zu diesem Zeitpunkt weder die Notwendigkeit eines "Sockels" noch die "auf dem
Rücken liegende" Darbietung als zum Objekt gehörend verfestigt hatte, die auf Stieglitz' Foto-

                                                                                                77
grafie zu sehen ist. Fachterminus für diese Form der 'schwebenden Hängung' lautet >á la cimaise
= an der Hohlkehle< und weist auf eine Spezialität der schon besprochenen Salonpräsentation
hin.
Plastiken aber hatten zu keiner Zeit weder an der Wand, noch über der Tür oder an der Hohlkehle
einen ‚ordentlichen‘ Platz in temporären Ausstellungen oder Museen. Diese Replik landete
schließlich in der Sammlung von Walter Arensberg.
Nach Calvin Tomkins, einem der Biografen von Duchamp, waren die Ready Mades von Duchamp
in die Sphäre der Kunst gebracht worden, um die Kunst sozusagen „von ihrem Piedestal zu stür-
zen“ (Tomkins, Duchamp S.146). Manchen Bewohner, Besucher und Beschreiber der Kunstwelt
hat diese Botschaft bis heute offenbar nicht erreicht. Schulbücher halten den Sockel für bedeut-
sam. Frage: Verkörpert der Sockel einen Anspruch von Fountain mehr zu sein als ein notdürftiges
Ding?

Ich springe wieder einmal.
Von der Hohlkehle knapp unter der Decke in die Niederungen der Organisation, von der die Big
Show 1917 in New York organisiert wurde.

                                   3. Juryfrei                 (Folie)

Die "Society Of Independent Atrists Inc."(S.I.A.) in New York wurde 1917 gegründet und existiert
heute noch. Gründungsmitglied und einer der 21(!) Direktoren war Marcel Duchamp, der in den
Kunstkreisen von New York schon seit der Armory Show von 1913 eine gewisse Reputation be-
saß. Damals hatte sein Gemälde >Akt eine Treppe herabsteigend< seinen Namen mit dem Ku-
bismus verbunden und den >dernier cri< französischer Avantgarde nach Amerika schallen lassen,
begleitet vom Spott und Gelächter der lokalen Presse.

Ziel von Kunstvereinen war und ist es, für ihre Mitglieder Ausstellungs- und damit Verkaufsmög-
lichkeiten zu schaffen. Die Vereine sorgen in der Regel dafür, dass nicht jeder aufgenommen wird.
Man benötigt z.B. den Nachweis einer anerkannten Ausbildung, Referenzen durch angesehene
Mitglieder, ein öffentliches Renommee etc. So gesehen sind Kunstvereine elitäre Zirkel. Man hatte
den schlechten Erfahrungen der zahlreich im Verein vorhandenen Europäer mit ihrem heimischem
Ausstellungswesen und seiner Salontradition Rechnung getragen und den Zugang zur Big Show in
Amerika sehr demokratisch, nämlich monetär geregelt: Man zahlte einmalig einen Dollar um Ver-
einsmitglied zu werden und einen Jahresbeitrag von fünf Dollar, der einen berechtigte, zwei Wer-
ke in der jeweiligen Jahresausstellung zu zeigen. Der Verein mietete Räume zur Ausstellung an
(den Grand Central Palace), bestellte eine Hängekommission, besorgte einen Katalog, der da-
mals aus einer Liste der 1235 Teilnehmer(!) und ihrer 2125 Einreichungen(!) sowie aus über 300
fotografischen Reproduktionen bestand. Man wollte wohl auch den Franzosen jenseits des Atlantic
zeigen, was Demokraten von Juries, Ausstellungsverboten und dergleichen kontinentalen Zustän-
den hielten.

In der Hängekommission überzeugte das Argument, dass ein Weg durch die doch sehr groß und
auf Ermüdung des Publikums unvermeidlich angelegte Ausstellung keine Rangordnung darstel-
len darf. Die Aussteller sollten in alphabetischer Reihenfolge geordnet werden und durch Losent-
scheid wurde ein Buchstabe ermittelt, der den Anfang machen durfte. Das Los traf auf den Buch-
staben >RPseudonym< offenbar in freier Anlehnung an die Herstel-
lerfirma >Mott Works< signiert und ließ es durch eine Freundin zur Einreichung bringen. Auf dem
Packzettel der Einreichung sind die Langform des Signums und ein Wohnort lesbar: >Richard
Mutt - PhiladelphiaR.Mutt< und die Jahreszahl

                                                                                              88
>1917first name und se-
cond nameMeier SeppR.< voranstellte, dachte er wohl, ge-
mäß des Entscheids für die alphabetische Hängung ganz am Anfang der Ausstellung Fountain zu
platzieren. Das darf man wohl vermuten. Wenn dem so war, dann hatte er sich dabei verkalkuliert.
Die Ausstellung eröffneten laut Katalog zwei Bilder des amerikanischen Malers Bertrand Rasmus-
sen, mit den Titeln >Mother< und >The WidowSalon des In-
dépendants 1910< der Kunstkritiker, Journalist und Schriftsteller Roland Dorgelès mit einigen
Zechgenossen einen Scherz platziert, mit dem er seine Leser füttern konnte:

Bild Cabaret „Le lapin agile“
Bild Et le soleil se coucha sur l'Adriatique‘

Die Gruppe machte den Esel namens Lolo des Wirts Frederic Gerard einer Schänke (Cabaret) na-
mens >Le Lapin Agile< zum Impressionisten. Sie ließen ihn mit dem in Farbe getauchten
Schwanz eine Leinwand bemalen, die unter dem Titel >Sonnenaufgang über der Adria< ‚Et le so-
leil se coucha sur l'Adriatique‘ zur Ausstellung eingereicht wurde. Der Name des Künstlers: Joa-
chim-Raphael Boronali, ein Künstlername für >Aliburon< oder kurz >LoloManifest des Excessivismus<

Bild öffentliches Pissoir in Paris
Vielleicht in Ermangelung eines Esels in New York wählte Duchamp ein Objekt, das ihm als Fran-
zosen vielleicht sehr typisch für Amerika erschien. Aus Frankreich kannte er für den gleichen
Zweck, den das Pissbecken in Amerika erfüllte, nur die Pinkelrinne, die dort in aller Öffentlichkeit
männlichen Bedürfnissen Abhilfe gewährte. Daher vermutlich auch sein Lobgesang auf die für ihn
typisch amerikanische Kunst der Plummer.

                                       5. Skandal         (Folie)

Es ist eine zwar verbriefte, aber eigentlich nicht zu übersehende Tatsache, dass Fountain 1917 zur
Ausstellung bei den Independents eingereicht wurde, jedoch entgegen dem Reglement nicht zur
Ausstellung kam. Wer die Entscheidung letztlich traf und unter welchen Umständen sie zustande
kam scheint heute nicht mehr nachvollziehbar zu sein. Obwohl Duchamp Mitglied der Hängekom-
mission war, war er offenbar in diese Entscheidung nicht involviert worden, hat er sich vielleicht
auch absichtlich fern gehalten, um nicht als der Übeltäter identifiziert zu werden. Die Ausstellung
wurde am 9. April 1917 der Presse vorgeführt und einen Tag später fürs Publikum eröffnet.
Springbrunnen war nicht ausgestellt. Und eben das war -wenn überhaupt- der ‚Skandal‘. Nicht die
Presse, kein Besucher der Ausstellung erregte sich über ein Objekt, das ihren Kunstverstand an-

                                                                                                 99
geblich herausforderte, sondern die Clique um Walter Arensberg, Beatrice Wood und sehr verhal-
ten aus der vierten Reihe Duchamp, inszenierten einen >Skandal< aus der Tatsache, das die SIA
sich nicht an die von ihr aufgestellten Regeln hielt. Niemand weiß, wie heftig unter denen gestrit-
ten wurde, die diese Entscheidung trafen. Vielleicht war man sich auch recht schnell einig, dass
sowas gar nicht geht und eine Blamage und öffentliche Lachnummer für den Verein werden könn-
te, der
schließlich ernst genommen werden wollte und seine 1200 Aussteller nicht mehr dem Gelächter
des Publikums preisgeben wollte, als dies ohnehin bei einigen der ausgestellten Werke nahe lag.

Der historische >SkandalThe Blind Man
No.1.Skandal< behauptet, dass großes Publikumsinteresse
entfacht wurde, dass ein unreifes, dummes Kunstpublikum der Kunst und dem Künstler unrecht
getan haben, dass widersprechende Meinungen unter großer Erregung aufeinander prallten. Zu ei-
nem Skandal will man sich eine eigene Meinung bilden und möglichst lautstark Stellung beziehen.
So gesehen war Fountain 1917 eher ein Skandälchen. Aber als Inszenierung war hier ein Muster
nicht zum ersten Mal und nicht zum letzten Mal in der Kunstgeschichte aktiviert: Wie kann man
sich einen Platz in der Kunstgeschichte sichern?

                               6 . Kunstgeschichte          (Folie)

Um zu einem vorläufigen Ende zu kommen:
Auch ein älterer Witz lässt sich immer wieder mal neu erzählen. Nicht jeder kennt ihn schon und
manche Erzählweisen und Pointen reifen dabei ganz wunderbar oder wundersam aus. Anders als
das Gemälde von Boronali, das ein Scherz blieb und zumindest in die Schulliteratur zur Kunst
meines Wissens nicht, oder bestenfalls als >Spott< eingegangen ist, hat Fountain in seiner Rezep-
tionsgeschichte einen Wandel, einen Heilsweg durchlaufen, der von seinen Spendern zwar beab-
sichtigt, aber kaum garantiert werden konnte. Duchamp hat 1957, bei der „Convention of the
American Federation of Arts“ in Houston / Texas eine Idee des >
vom Zuschauer diskutiert oder akzeptiert, und noch weniger werden von der Nachwelt angenom-
men und geweiht. Letzten Endes mag der Künstler noch so sehr von allen Hausdächern herab-
schreien, er sei ein Genie – er wird das Verdikt des Zuschauers abwarten müssen, damit seine Er-
klärungen einen sozialen Wert bekommen und die Nachwelt ihn schließlich in den Handbüchern
der Kunstgeschichte erwähnt.“
 Bild Buchtitel Richter: „Dada Kunst und Antikunst“

Als sich der Blick der deutschen Kunstgeschichte nach dem 2. Weltkrieg verschämt von den Stan-
dards der Nazi-Staatskunst abwandte, erlebten einige mehr oder weniger ernsthafte Spaßmacher
der ersten beiden Jahrzehnte des 20.Jh. unter dem Sammelbegriff >Dada< eine Renaissance. In
Deutschland sorgte Hans Richter mit Hilfe von Werner Haftmann 1964 dafür, dass Dada aus der
Ecke der >Antikunst< sich unter die Fittiche von Kunst kuscheln konnte, salonfähig und museal
wurde. Richter war eher ein Gast in der Züricher Szene und später in New York gewesen. Aber er
konnte immerhin als kompetenter Zeuge gelten. Und als Geste der Wiedergutmachung an einer
von den Nazis auch verfolgten Cabaret-Tradition mit einer Tendenz zum Witzeln über das eigene
Metier, war Dada -zumindest in Deutschland- gut geeignet, an ein paar literarischen und bild-
künstlerischen Galionsfiguren des politischen Widerstands Genugtuung zu üben.

Richter machte aus den Züricher Cabaretisten von 1915eine weltumspannende Bewegung, die er
charakterisierte als eine sich von der Schweiz aus über New York, Berlin, Hannover, Köln, Paris
verbreitende internationale künstlerische Umwälzung. Er erfand >Post-Dada< und >Neo-Dada
brunnen‘ titulierte.“ So einfach funktioniert das nicht. Die Frage aber bleibt trotzdem: Wann hat
Duchamps Springbrunnen den Sprung ins Museum geschafft?

Die aus über 1000 Objekten bestehende Arensberg-Sammlung ging 1950 nach dem Tod der Arens-
bergs als Erbe an das Philadelphia Museum of Art und wurde 1954 eröffnet. Louise und Walter
Arensberg waren wohl die eifrigsten Sammler von Duchamps Werken.

Und nach Angaben des Museums enthält die Sammlung heute die Replik von Fountain, die Sidney
Janis für seine Galerie 1950 angeblich in Paris auf dem Flohmarkt (!) erstanden haben soll. Aber
wann die 1953 noch bei Sidney Janis ausgestellte Replik in die Sammlung Arensberg kam, nach-
dem Louise Arensberg 1953 und Walter Arensberg 1954 verstarben, das konnte ich nicht heraus-
finden.

Bild Sammlung von Nachkommen                Folie „Nachkommen

Museen in aller Welt haben erst seit den 1960er Jahren Repliken von Duchamps Ready-mades er-
worben oder als Leihgaben ausgestellt: Allen voran besorgte Ulf Linde mit Erlaubnis von
Duchamp in den 1960er Jahren zuerst für die Galerie Burén eine Replik, die danach ins Moderna
Museet in Stockholm kam. Arturo Schwarz, ein Mailänder Galerist, brachte 1964 ganze Serien
von Repliken in den Kunsthandel. Tomkins (S.497) spricht von einer Auflage von 8 Stück je
Ready-made, aber anders als Sidney Janis ließ er etwa die Serie der Fountaines von einem Kera-
miker dem „Original“ (Vorbild war Stieglitz‘ Fotografie) entsprechend extra herstellen. Darüber
hinaus hat eine stattliche Zahl von Künstlern die Welt der Kunst um eine ganze Heerschar von Ge-
schwistern bereichert, bis hin zu den vergoldeten Exemplaren von Sherrie Levine seit 1991.

Ich glaube, es ist nicht falsch zu sagen, dass die Geburt von Fountain als ein riesiger Spass von de-
nen verstanden war, die die Sache durchführten oder daran anderweitig beteiligt waren. Dass sich
der Spaß in einigen Erzählungen der Kunstgeschichte in Ernst verwandelt hat, das kann man auch
daraus lernen, dass Schulbücher die lustige Seite der Geschichte ignorieren, oder dass ein Attentä-
ter (Pierre Pinoncelli) 2007 für die Beschädigung einer Replik (aus der Serie des Arturo Shwarz)
von Fountain aus dem Museum im Centre Pompidou durch einen Hammerschlag zu einer Geld-
strafe von 14.352 € verurteilt werden konnte. Die Süddeutsche Zeitung vom 10./11.2.07 bezifferte
den „Wert des Kunstwerks“ auf geschätzte 2,8 Millionen €.

                                      Fazit
Meine Idee zu Duchamps Fountain war: den Sockel hat der Stieglitz hinzugezwitschert. Das Zei-
serl Duchamp hatte Fountain‘s Nest unter der Hohlkehle oder über der Tür gebaut. Da geht es
nicht um verschiedene Narrative höchstens um „alternative Fakten“. Für Duchamp waren die
Ready-mades seit seiner Ankunft in Amerika sozusagen ein 'schwebendes Verfahren'. Mal auspro-
bieren, was daraus werden kann. Dazu passt der Name Ready-made, der erst in Amerika aus der
Taufe gehoben wurde, als es den Flaschentrockner in Paris schon nicht mehr gab.

Dazu passt die Bitte per Brief 1916 aus New York an seine Schwester Suzanne, dem in Paris ver-
bliebenen Metallgestell mit seinem Namen ein Signet und damit eine Autorenschaft zu verabrei-
chen. Dazu passt die Art und Weise, wie er das Pissbecken, die Schneeschaufel, den Huthaken in
seinem ‚Atelier‘ bei den Arensbergs in seinem Zimmer – von der Decke hängend- verwahrte und
Fountain noch in den 1950er Jahren bei Sidney Janis ausstellte.

Dass dann Arensberg mit seinem Geld (Blankoscheck), Stieglitz mit seinem Foto, dem Sockel und
Hartley’s Kriegerbild, Beatrice Wood mit ihrem Sex (Underwood) und ihren Texten in 'Blind Man'
die Sache >Fountain< auf eine Erzählschiene gebracht haben, die schließlich bei Arturo Schwarz
und Konsorten, sowie im Museum von Philadelphia etc.... landete und mit einigem Abstand auch
in unseren Schulbüchern, entspricht genau dem, was Duchamp in seinem Text über den

                                                                                                  112
                                                                                                   2
kreativen Akt - in meinen Augen völlig richtig - gesagt hat: Der 'Betrachter' erst macht daraus das,
was schließlich zu Geschichten und zur >Geschichte< wird. Und das Schulbuch textet einen wört-
lichen "Sockel" hinzu, den es in der Abbildung nicht einmal zeigt: eine verbale ‚Hebamme‘ für
große Kunst, der die Andacht von Schülern gebührt oder zumindest auf ihr Staunen spekuliert.

Klee hat es einmal als Aufgabe oder Merkmal von Kunst bezeichnet, etwas sichtbar zu machen.
Vielleicht ist es heute einen Appell an die Kunsterziehung wert, Schülern auch ein paar schräge
Blicke und Gedanken auf, hinter, oder neben Künstler und Werke zu werfen. Schauen oder Be-
trachten allein erzeugt noch keinen Durchblick. Und der Seher war schon bei den Griechen mit der
Gnade der Blindheit gesegnet.

Das Bildmaterial ist sämtlich im Internet zu finden
Ausnahme: Seiten aus Schulbüchern

Literatur
Richter Hans, „Dada Kunst und Antikunst“, Köln 1964
Heinz Herbert Mann, „Marcel Duchamp 1917“, München 1999
Calvin Tomkins, "Duchamp", Wien/München, 1999
Kammerlohr, „Kunst im Überblick“, München 2004
Kammerlohr, „Epochen der Kunst 5“, München 1997
Klant/Walch, "Grundkurs Kunst 2", Braunschweig 1990
Winfried Nerdinger, „Perspektiven der Kunst“, München 1990
Eva Maria Kaifenheim, „Aspekte der Kunst“, München 1979
Zacharias Alfred, „Kleine Kunstgeschichte abendländischer Stile“, München 1957-63
Süddeutsche Zeitung vom 10./11.2.2007
Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2017

                                                                                                 113
                                                                                                  3
Sie können auch lesen