Und ihre Angehörigen Trauma - Urachhaus

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Und ihre Angehörigen Trauma - Urachhaus
Minka Straube Martin Straube

  Trauma
Sprechstunde
       Ein Praxisbuch für Therapeuten, Betroffene
		                          und ihre Angehörigen
Urachhaus
Und ihre Angehörigen Trauma - Urachhaus
Straube
Trauma-Sprechstunde

                      Leseprobe
Minka Straube · Martin Straube

 Trauma
Sprechstunde
    Ein Praxisbuch für Therapeuten,
    Betroffene und ihre Angehörigen

    Urachhaus
ISBN 978-3-8251-5309-0

Erschienen 2022 im Verlag Urachhaus
www.urachhaus.de

  auch als eBook erhältlich
© 2022 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart
Umschlagbild: © Shutterstock / S. Myshkovsky
Inhalt

Die Grundhaltung im Umgang mit einem
traumatisierten Menschen. Anstelle eines Vorworts

Was ist ein Trauma? Wie es gesehen wurde,
gesehen wird oder nicht gesehen werden kann
  Spezifische Traumasymptome (PTBS)
     Intrusionen (Kriterium B nach DSM-5)
     Amnesien (Teil des Kriteriums D nach DSM-5)
     Vermeidung (Kriterium C nach DSM-5)
     Arousal (Kriterium E nach DSM-5)
     Dissoziative Störungen
     Eine Bemerkung zur ›Hysterie‹
  Vorstadien des PTBS und die verschiedenen Trauma-Arten
     Die Anpassungsstörung
     Das akute Belastungssyndrom
     Andere Traumafolgestörungen
     Unterschiedliche Trauma-Arten
     Naturkatastrophen oder von Menschen gemachte Katastrophen

Trauma-Anamnese und -Diagnostik:
Woran man ein Trauma erkennen kann
  Inhalte der Anamnese
  Intrusive und konstriktive Symptome
  Die Empathie
     Die emotionale oder biologische Empathie
     Die kognitive Empathie, empathic concern oder emotionale
     Empathie
     Soziale Empathie, empathic perspective taking oder
     die Fähigkeit zur Theory of Mind
  Beschreibung des Klienten

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Inhalt

Das Krankheitsbild aus menschenkundlicher Sicht
    Die vier Wesensglieder
      Die physische Organisation
      Die Lebensorganisation
      Die Empfindungsorganisation
      Die Ich-Organisation
      Die Bremer Stadtmusikanten
      Die vier Temperamente
      Die vier basalen Sinne
      Vier Formen der Zeit
    Das Trauma aus der Sicht der Dreigliederung des Organismus
      Die Veränderungen des Nervensystems
      Die Veränderungen des rhythmischen Systems
      Die Veränderungen des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems
    Die Besonderheit bei Kindern – das Entwicklungstrauma
      Zwischenbemerkung zur Biografie
      Dissoziationen – zweiter Teil
    Gibt es immer mehr traumatisierte Menschen?

Praktischer Teil
    Einführung
      Ein Praxisbeispiel von unseren Auslandseinsätzen
      Eine Übung für die Wahrnehmung der Wesensglieder
    Stützende Maßnahmen
      Der sichere Ort
      Übungen mit dem Tastsinn
      Künstlerische Methoden zum Stützen
      Spiele und Übungen zum Stützen
      Geschichten erzählen
      Distanzierungstechniken
    Schützende Maßnahmen
      Die Magie des Alltags
      Der Rhythmus
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Inhalt

  Rhythmusübungen
  Beziehung
  Übung zur Beziehung: einander wahrnehmen
  Gesprächsführungsübung
  Salutogenese
  Die Kunst als Lebenskräftestärkung
  Spiele, in denen man Gemeinsamkeit erlebt
  Spiele, die das Körperschema stärken
  Geschichten erzählen
Konfrontierende Maßnahmen
  Umgang mit aversiven Verhaltensmustern
  Notfallkoffer
  Die Bedeutung der Freude
     Übung zur Freude
  Emotions- oder Affektregulation
  Bewegung
     Bewegungsspiele
     Kunst: die Musik
     Kunst: die Malerei
     Geschichten erzählen
  Dissoziationsstopp
  Konfrontation mit dem Trauma
Fördernde Maßnahmen
  Die Temperaturkurve und die Träume
  Achtsamkeitsübungen
  Die Meditation
     Spiele und Übungen
     Künstlerische Übungen
     Geschichten erzählen
  Die Integration
  Ego-State-Interventionen
  Resilienz, Posttraumatic growth
  und die Lebensprozesse

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Inhalt

        Resilienz
           Akzeptanz
           Flexibilität
           Verlassen der Opferrolle
           Verantwortung übernehmen
           Netzwerke, Freundschaften und ›Belonging‹
           Aktive Zukunftsplanung mit der Bereitschaft,
           sich zu verändern
           Transzendenz: religiöser Glaube, Phantasie und Kunst
           Zusammenschau
           Resilienz und posttraumatisches Wachstum
           Rudolf Steiner und die Lebensprozesse

Medikamentöse Therapie
     Aconitum napellus D30
     Opium D30
     Helleborus niger D6
     Mistel
     Arnica D6–D12
     Cardiodoron® / Aurum comp.
     Neurodoron®
     Oxalis äußerlich und Argentum metallicum praeparatum inner-
     lich
     Argentum/Rohrzucker
     Olibanum comp.
     Kalium aceticum comp. D6 und Ferrum sidereum D20
     Mercurius solubilis, Mercurius vivus naturalis oder Nasturtium
     Mercurio cultum
     Natrium muriaticum
     Bitterstoffe
     Die Nachtkerze (Oenothera biennis)
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Inhalt

  Lavendel
  Aurum / Lavandula comp. Creme
  Johanniskraut

Sofortmaßnahmen bei akut-traumatisierten Menschen

Hilfe für Angehörige und Freunde traumatisierter Menschen
  Hilfen für die Familie bei traumatisierten Vorschulkindern
  Hilfen bei traumatisierten Schulkindern
  Hilfen bei traumatisierten Jugendlichen
  Die Besonderheit bei sexuellem Missbrauch
  Hilfen bei akuter Suizidgefahr

Lexikon der häufig verwendeten Begriffe

Literatur

Adressen

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Die Grundhaltung im Umgang
       mit einem traumatisierten
       Menschen
       Anstelle eines Vorworts

Trauma? Da denken wir an Flüchtlinge, die in Camps an den europä­
ischen Außengrenzen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben,
wir denken an Opfer von Gewalt, Vergewaltigung, Krieg und Folter. Je
mehr wir nur Extremsituationen in den Blick nehmen, können wir uns
das Thema gut vom Leibe halten, weil es uns ja nicht wirklich betrifft,
wenn wir nicht Opfer von Gewalt, Flucht, Krieg, Vergewaltigung usw.
sind.
   Die letzten Zeilen dieses Buches schreiben wir in der Zeit der
›Corona-­K rise‹. Selber durch viele Absagen von Veranstaltungen zur
Ruhe gezwungen, finden wir die Freiräume, dieses Buch zum Abschluss
zu bringen. Wir erleben in dieser Zeit, dass die häusliche Gewalt zu-
nimmt, dass Kinder vernachlässigt werden, dass Ehen in die Brüche
gehen, dass Ängste ein ungeahntes Ausmaß annehmen, Existenzen zer-
brechen, Suizide begangen werden, nahestehende Menschen sterben,
die man auf ihrem letzten Gang nicht begleiten durfte wegen der Qua-
rantäne. Freundschaften zerbrechen, weil die einen sich in Schwarzma-
lerei und/oder Verschwörungstheorien ergehen, den Übergang in dik-
tatorische Regime nicht nur in manchen Ländern sehen, sondern für ihr
Land befürchten. Die anderen erinnern sich noch gerne an die Bilder
singender Italiener auf den Balkons, sind angetan von Solidaritätsak-
tionen, Zusammenhalt, Kreativität, kluger Anpassung von Geschäfts-
leuten kleinerer Läden, die durch Kundennähe und Vertrauen ihre
Waren am Autofenster verkaufen, die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen
befriedigen und selber weiter existieren können, und sehen darin Hoff-
nungskeime für eine Erneuerung der Gesellschaft von innen. Manche,

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

besonders aus den ›neuen Bundesländern‹, haben Flashbacks aus der
Unsicherheit in der Zeit der Wende, ältere Menschen sehen sich erin-
nert an Tschernobyl und daran, dass man bei schönstem Wetter nicht
herausgehen konnte und man nicht wusste, welches Gemüse man noch
essen darf oder wie man die Kinder ernähren soll. Noch ältere müssen
an die letzten Kriegstage denken, an die Trümmer, die der Krieg hinter-
ließ, und an die schmerzhaften Lücken, die er in die Familien gerissen
hat, durch den Kampf an den Fronten oder die Bombennächte. Wenn
man das zusammennimmt, dann ist auch bei uns in Deutschland keine
Familie nicht betroffen von einem oder mehreren Einschlägen, ganz zu
schweigen von den Unfällen, den Selbstmorden, der häuslichen Gewalt,
die in vielen Familien zu den dunklen Kapiteln zählen.
   Das 21. Jahrhundert begann mit dem Flugzeugangriff auf die Twin
Towers in New York und auf das Pentagon in Washington. Das hat uns
erschüttert, aber es war dennoch weit weg jenseits des Atlantik, und als
dann Deutschland am Hindukusch verteidigt wurde, war auch das weit
entfernt. Es hat uns in Europa als Gesellschaft nicht wirklich getroffen,
wenngleich es für Einzelne (zum Beispiel Soldaten) ganz anders war.
Wir haben in unserem persönlichen Leben keine Einschränkungen er-
fahren.
   Als rund sieben Jahre später die große Finanzkrise kam, betraf es
zwar irgendwie alle Länder. Aber im Leben der meisten einzelnen Men-
schen hat sich scheinbar nicht viel verändert.
   Wieder sieben Jahre danach wurde die Not der Flüchtlinge allent-
halben sichtbar. Instinktiv spürten viele Menschen, dass es die Konse-
quenz des Handelns und des Nichthandelns der reichen Länder in den
Gebieten des Mittleren und Nahen Ostens und in Afrika war, die diese
Not hervorgebracht hat. Dieses Jahr 2015 hat uns und unsere Gesell-
schaft verändert. Die Frage, wie sich der Einzelne positioniert, wie die
Gesellschaft darauf reagiert, hat uns bewegt, und wenn nicht, war es
eine nicht leicht nachzuvollziehende Ignoranz.
   Jetzt, gut fünf Jahre später, mitten in der immer deutlicher werdenden
Klimakrise, kam Corona. Egal, wie richtig oder falsch die reale Gefahr

                                                                      13
Umgang mit einem traumatisierten Menschen

ist, egal, wie richtig oder falsch die ergriffenen Maßnahmen sind – sie
betreffen jeden. Angst, Einsamkeit und Depression nehmen zu. Hinter
Masken, im Homeoffice sind wir alleine, aber bei Gegendemonstratio-
nen ohne Abstand und ohne Maske in Gruppen, die von Rechts, Links,
ernsten Freiheitsengagierten, von verführerischen Verschwörungsthe-
oretikern gebildet sind, entstehen völlig neue Allianzen von Menschen,
die sonst nichts miteinander zu tun haben wollten. Die neue Situation
stellte die Kraft von Familien, mit Kindern ohne Ganztagsbetreuung
neben dem Homeoffice umzugehen, infrage, die Wirtschaft leidet, Kli-
niken leeren sich in Erwartung einer Überforderung, und es werden
lebenswichtige Operationen nicht mehr durchgeführt, die Suizidrate
steigt, die häusliche Gewalt nahm zu, die Reisetätigkeit stoppte, nur
Erntehelfer für den Spargel wurden eingeflogen, von der Evakuierung
von minderjährigen und unbegleiteten oder kranken Flüchtlingen wird
Abstand genommen. Wurde bislang eine neue Armut in Kauf genom-
men, nur damit die Wirtschaft floriert, so wurde jetzt die Wirtschaft
heruntergefahren, um die Schwächsten (ausgenommen Flüchtlinge, auf
die an den Grenzen teilweise sogar geschossen wird) zu schützen. Alles
dreht sich um. Jetzt sind die Einschläge des 21. Jahrhunderts, die sich in
konzentrischen Kreisen zusammengezogen haben, bei jedem Einzelnen
angekommen.
   Jedes Mal gab es Polarisierungen. Viele waren erschüttert nach 09/11,
in anderen Ländern wurde gejubelt. Viele fanden es richtig, sich militä-
risch zu engagieren, viele nicht. Nach der Finanzkrise dachten wir, dass
das Wirtschaften so nicht weitergeht, und wollten eine Korrektur. Stär-
kere Kräfte sorgten aber dafür, dass sich nichts änderte. Die ›Flücht-
lingskrise‹ war auch eine ›Willkommenskultur‹. Das Wort ›Gutmensch‹
wurde zum Schimpfwort, das Gute wurde so von manchen als verkehrt
erlebt, es wuchsen nationalistische Kräfte, die Gesellschaft polarisier-
te sich, die humanistischen Impulse versandeten und die Menschen
in Not, die vor Krieg, Hunger und Diktaturen fliehen mussten, ertrin-
ken im Mittelmeer oder werden unter katastrophalen Bedingungen in
überfüllten Camps belassen. Wenn man mehr Enttäuschung und damit

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

einhergehende Radikalisierung haben möchte, behandelt man Men-
schen so wie in Moria und anderen Camps. Und jetzt, in Corona-­Zeiten,
erleben wir Virologen, die den Lockdown empfehlen, andere Fachkolle-
gen meinen, das reiche nicht, wieder andere halten ihn für unnötig und
übertrieben. Man will sich an Wissenschaft halten, und jeder wählt sich
die Wissenschaftler, die das sagen, was man schon immer faktenfern
und vorwissenschaftlich-ideologisch glaubte.
   Die Corona-Pandemie bringt bislang nur Unsicherheit hervor, aber
plötzlich meinen viele, es zu ›wissen‹. Freundschaften, Familien zerbre-
chen daran. Egoismen werden wach, die Stimmung wird gereizter, für
Ängste hat jeder einen Grund: vor Krankheit, vor Bevormundung, vor
Jobverlust, vor Einsamkeit, vor Politik, vor Wissenschaft, vor Verschwö-
rungen, vor Verschwörungstheorien und sogar vor dem Mangel an Toilet-
tenpapier. Wonach soll man sich richten? Nach einzelnen Meinungen der
zerstrittenen Wissenschaft, nach der Sorge um gefährdete Menschen,
nach der Sorge um die Wirtschaft, nach einzelnen Parteien der zerstrit-
tenen Politik, nach der Sorge um Kinder, nach der Sorge um Bildung, um
Kultur, nach Freiheitsbestreben, ja, wonach? Gruppen mit bisherigem
Konsens polarisieren sich in dieser Frage: Mediziner, Virologen, Parteien,
Fußballfans, Anthroposophen, Heilpraktiker, Familien, Paare.
   Bei Angst oder einem Trauma spricht man davon, dass einem das
›Blut in den Adern gerinnt‹. Bei Corona tut es das buchstäblich. Sind wir
jetzt alle traumatisiert?
   Joseph Beuys hat im Jahr 1976 eine Installation ausgestellt mit dem
Titel zeige deine Wunde.
   Es sind zwei Liegen aus der Pathologie zu sehen, verschiedene Werk-
zeuge, Krankenhausutensilien, zwei Tafeln mit dem Schriftzug: »zeige
deine Wunde« und eingerahmt Ausschnitte aus einer italienischen Zei-
tung, u.a. mit der Überschrift: »der Kampf geht weiter«.
   Beuys sagte dazu: »Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offen-
baren muss, die man heilen will. Der Raum […] spricht von der Krank-
heit der Gesellschaft. […] Eine dynamische Entscheidungssituation ist
dargestellt.« Das Kunstwerk bleibe nicht bei der Verwundung stehen;

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

es enthalte darüber hinaus »Andeutungen, dass die Todesstarre über-
wunden werden kann […]. Etwas ist angelegt, das, wenn man genau
hinhört, einen Ausweg weist.« Wo eine Wunde ist, kann man heilen.
  So will auch dieses Buch aufdecken, denn es gibt mehr Traumata, als
man gemeinhin denkt. Erst was man aufgedeckt hat, kann man bear-
beiten. Und das ist auch möglich.
  Rudolf Steiner sagte in einem Vortrag, dass der Sinn der Erkrankung
die Heilung sei.1 Viele denken ja, dass die Erkrankung der Sinn einer
vorherigen Sünde ist. Steiner dreht das ins Positive.
  Jeder trägt seine Wunden. Viele machen nicht krank, aber einige
durchaus. Diese sind Herausforderungen für einen Heilungsprozess.
Kein Trauma ist ›heilbar‹ in dem Sinne, dass es uns geht, als sei nichts
geschehen. Aber Wunden können vernarben, Narben sind Lebensspu-
ren, Erfahrungen und können der Beginn einer Wandlung sein. Das
soll Traumata nicht schönreden. Überhaupt nicht und in keinem Fall.
Wenn aber ein traumatischer Prozess eingesetzt hat, ist jeder Schritt
aus dem tiefen Tal eine neu erworbene Kraft, die man sonst vielleicht
nie entfaltet hätte. Und wir kennen einige Menschen, die für die neu
erworbenen Fähigkeiten mit der Zeit dankbarer werden, während der
Schmerz, den sie erlitten haben, erträglicher wird. Wie Jakob im Al-
ten Testament mit seiner Wunde auch seinen Namen und damit seine
Bestimmung erhält, so wandeln sich Biografien, wenn andere Dinge
wichtig, neue Perspektiven ergriffen werden und neue Selbstwahr-
nehmungen wachsen.
  Wenn sich ein Mensch an uns wendet, der unter Beschwerden leidet,
die durch ein traumatisches Erlebnis entstanden sind, dann dürfen wir
ihm als Allererstes eine tiefe Hochachtung entgegenbringen. Denn er
hat überlebt, er hat, was mit ihm geschehen ist, nicht verdrängt, er hat
beschlossen, etwas zu tun. Eine Frau, die als Kind missbraucht wurde,
als Jugendliche zu Hause ausgerissen ist, sich zwischenzeitlich einer
kriminellen Bande angeschlossen hat, in der sie wieder vergewaltigt
wurde, bei Verwandten unterkam, die Schule beendet, eine Ausbildung
gemacht hat, in einer Krise in eine Klinik kam und mit schwersten Me-

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

dikamenten jahrelang behandelt wurde, mit heftigen Beschwerden sich
von den Medikamenten entwöhnt hat und es schaffte, ein kreatives Le-
ben zu führen, aber nun in Behandlung kommt, weil sie ihre Erlebnisse
bearbeiten will: Sie hat in ihrem Leben bereits mehr geleistet als die
meisten von uns!
   Wenn man viel mit Menschen nach einem Trauma zu tun hat, dann
darf man feststellen, dass das eine enorme Leistung ist. Andere betäu-
ben sich mit Drogen, weil sie es nicht aushalten (darunter fallen nicht
nur die illegalen Drogen oder der Alkohol, sondern auch viele Medika-
mente, die einen betäuben und lähmen – manchmal sind sie notwendig,
aber sie verringern oft den Druck, die Erlebnisse zu verarbeiten). Ande-
re haben sich das Leben genommen. Wer es schafft, sich seinen Wunden
zu stellen, verdient zuallererst unseren Respekt!
   Wir kennen Geschichten von Jugendlichen, die unbegleitet den wei-
ten Weg aus Afghanistan oder Syrien geschafft, die ihre Eltern verloren
und Gewalt erfahren haben, die sahen, wie Kammeraden unterwegs
gestorben sind. Hier in Europa erleben sie, dass sie angefeindet wer-
den, dass Flüchtlingsunterkünfte brennen. Und sie wollen dennoch aus
ihrem Leben etwas machen.
   Wer es dann schafft, aus dem tiefen Tal herauszukommen, nimmt Er-
fahrungen mit, die diejenigen, die nie eine solche Not erfahren mussten,
nie haben machen können. Wenn wir helfen dürfen, sollte uns bewusst
sein, dass wir einen bescheidenen Beitrag leisten. Das größere Werk
leisten sie selber. Wenn es gelingt, zu gesunden, dann wird es ihre Leis-
tung sein und nicht unsere.
   Manchmal kann man den Eindruck haben, dass man trotz intensiven
Bemühens nichts geschafft hat. Wir können verstehen, wenn es Helfer
gibt, die an der Aufgabe verzweifeln und das Gefühl haben, dass die
Mühe vergeblich war. Aber wir haben Menschen nach Jahren wieder-
getroffen, bei denen wir glaubten, nichts erreicht zu haben. Und nun
haben sie es geschafft, ein kreatives Leben zu führen. Die Frage, was
den Ausschlag gegeben hat, beantworten sie mitunter damit: »Es gab
einmal Menschen wie euch, die an mich geglaubt haben.«

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

  Was wissen wir schon davon, wann und ob das Früchte trägt, worum
  wir uns bemühen? Wir dürfen die Arbeit nicht tun, um uns im Nachhin-
  ein auf die Schulter klopfen zu können. Wir dürfen keine Erwartungen
  haben, wir dürfen nicht einmal glauben zu wissen, was für den anderen
  gut ist. Der andere geht nicht unseren Weg. Wir sollen versuchen, ihn auf
  seinem Weg zu begleiten.
  Dazu benötigen wir eine Grundüberzeugung: Egal welche Beschwerden
  der Mensch hat, der zu uns kommt, egal welches abweichende Verhalten
  er zeigt, egal ob er uns sympathisch ist oder nicht, egal wie wenig wir
  von seinen gesunden Anteilen wahrnehmen können: Im Kern ist der an-
  dere ein großartiger Mensch!

In Seminaren benutzen wir oft ein Bild: Im Märchen von Schneeweiß-
chen und Rosenrot taucht der Bär auf, vor dem die Mädchen Angst haben.
Irgendwann reißt das Bärenfell auf und die Mädchen sehen darunter
das goldene Königsgewand, denn es ist ein verzauberter Prinz! Vieles
von dem, was uns als Pathologie begegnet, viele vielleicht abstoßen-
de Verhaltensweisen – sie sind das Bärenfell. Aber uns interessiert die
Königstochter oder der Königssohn dahinter. Dieses Ich des Menschen
kann man nicht beschädigen. Man kann es hindern, dass es die Regie
des Lebens übernimmt, man kann bewirken, dass es eingeschlossen
wird in einem Fell voller aversiver Emotionen, voller Verhaltensmuster,
die im Sozialen Schaden anrichten, voller Selbstzweifel, Selbstunsicher-
heit, Scham und Schuldgefühle, voller Angst, Zwänge oder Aggression.
Aber wir dürfen nie vergessen, dass dahinter ein unbeschadetes Ich
steht, etwas Königliches und Einmaliges. Nicht der Mensch ist verkehrt,
sondern das, was er erlebt hat, was ihm angetan wurde, war verkehrt.
  Paul Celan hat dies in einem wunderbaren Gedicht zum Ausdruck
gebracht. Es heißt Mandorla. Mandorla ist das italienische Wort für
die Mandel. Früher gab es Heiligenbilder, auf denen der Heiligenschein
nicht nur über oder um den Kopf herum gemalt wurde, sondern man-
delförmig um den ganzen Körper des Heiligen herum. Diesen Heiligen-
schein nennt man in der Kunstgeschichte ›Mandorla‹, und diesen meint
auch Celan […].

18
Umgang mit einem traumatisierten Menschen

   Schauen wir auf einen Menschen, so haben wir davon auszugehen,
dass jeder von einer solchen Aureole, wie einer Mandorla, umgeben ist,
dass jeder Mensch als heilig anzusehen ist. Dazu stehen wir! Was wir in
diesem Heiligenschein sehen, ist vielleicht zunächst nichts. Auch dazu
haben wir zu stehen. Wenn wir im anderen das Menschsein nicht sehen,
so liegt es an uns – dennoch lassen wir uns den Glauben nicht nehmen,
dass der Heiligenschein gültig ist. Aus diesem Nichts schält sich lang-
sam etwas heraus, das Königliche des Menschseins, das dort steht und
steht. Unser Auge, unser Blick geht davon aus, dass der oder die andere
ein heiliges, heiles, kosmisches Wesen ist, dazu stehen wir. Auch wenn
wir es nicht sehen. Um diese Standfestigkeit im Glauben an das gesunde
Ich des Menschen, der vor uns steht, geht es in der Grundhaltung, die
wir dem anderen gegenüber aufzubringen haben. […]
   In der Regel sind die Symptome und Verhaltensweisen, die sich infol-
ge eines traumatischen Prozesses entwickeln, Strategien, um zu über-
leben. Ein Kind beispielsweise, das auffälliges Verhalten zeigt, fordert
Aufmerksamkeit, die es vielleicht während der traumatischen Erfah-
rung nicht ausreichend bekam. Für das Kind macht es Sinn, sich so zu
verhalten. Oder die Menschen entwickeln jetzt die Fähigkeit, die wäh-
rend des traumatischen Geschehens geholfen hätte: Damals erstarrten
sie, jetzt haben sie gelernt zu kämpfen – was damals nicht ging, jetzt
geht es, auch wenn es jetzt nicht erforderlich ist und die Aggression, die
jetzt ausgelebt wird, sozial destruktiv wirkt. Das Problem von heute
wäre gestern die Lösung gewesen. Aber es ist ein Schritt auf dem Weg
einer Selbstheilung und ist entsprechend wertzuschätzen. Da hat sich
in der Psychotraumatologie das ›Konzept des guten Grundes‹ heraus-
gearbeitet: Was der traumatisierte Mensch tut, macht für ihn Sinn. Sein
Verhalten ist eine Sprache, die wir verstehen wollen. Und es ist seine
Überlebensstrategie. In der fortbestehenden Angst vor weiterer Trau-
matisierung hat er diese Symptome habituiert, sich zur Gewohnheit
gemacht.
   Auch die prinzipielle Wertschätzung hängt damit zusammen: Er hat
überlebt, er hat sich, wie auch immer, ein Leben nach dem Trauma ein-

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

gerichtet. Wenn wir ihm die Wertschätzung nicht entgegenbringen,
wie soll er selber ein positives Selbstbild entwickeln? Zu einer solchen
Wertschätzung gehört auch, ihm ressourcenorientierte Möglichkeiten
zu bieten, an denen er wachsen und stolz auf sich sein kann.
   Ein weiterer Punkt ist Transparenz. Es ist notwendig, dass die Kinder,
Jugendlichen, aber auch Erwachsenen ein Gefühl von Berechenbarkeit
und Transparenz vermittelt bekommen. Dies gilt vor allem in Bezug auf
ihre eigenen Verhaltensweisen. Werden ihnen keine Erklärungen für
ihr eigenes Verhalten geboten, laufen sie Gefahr, sich selbst abzuwer-
ten.
   Ebenso die Partizipation. Es gibt unzählige Fälle, in denen Menschen,
die Opfer eines Traumas sind, nun zu Abhängigen, also wieder zu Op-
fern gemacht werden. So viel Selbstwirksamkeit wie möglich zuzulassen
ist Teil der Grundhaltung.
   Diese Haltung ist vielleicht das Wichtigste überhaupt. Alle Metho-
den, die in diesem Buch angesprochen werden, sind zwecklos, wenn sie
nicht aus dieser positiven, wertschätzenden, warmherzigen Haltung
heraus angewandt werden.

Wir haben uns zu diesem Buch entschieden, weil aus der Waldorfpä-
dagogik und Sonderpädagogik viele Gesichtspunkte, Methoden und
Möglichkeiten des Verstehens kommen, die alles, was bislang über das
Trauma erforscht wurde, nicht unwesentlich ergänzen können. Waldorf-
pädagogik basiert auf der Anthroposophie Rudolf Steiners. Dabei han-
delt es sich weniger um eine Lehre als um eine Methode. In ein Buch, das
er einem Freund schenkte, schrieb Rudolf Steiner einmal eine Widmung:

        Die Rätsel des Lebens lösen sich
        in der Wärme des nach Gedankenlicht
        strebenden Herzens. 2

Dieser kurze Satz fasst vieles zusammen, was über die Anthroposophie
als Methode zu sagen ist. Hier ist von Gedankenlicht und von der Wär-

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

me des Herzens die Rede. Wir sind auch gewohnt, von einem kühlen
Kopf zu sprechen und von der Dunkelheit unseres Herzens, dessen Ge-
fühle eben nicht die Klarheit und Logik des Denkens haben, die hier mit
Licht bezeichnet werden.
   Steiner stellt hier auf den Kopf, was wir im Studium gelernt haben:
Wir haben gelernt, mit der Kälte des Verstandes (Kopf) die Dunkelheit
der Gefühlswelt (Herz) zu erforschen. Hier soll es umgekehrt gehen:
Es soll nicht mit Begriffen etwas klassifiziert werden: »Das ist ADHS«,
»das ist Autismus« usw., um dann alles das, was wir über eine Diagno-
se wissen, dem anderen zuzuschreiben und damit Distanz aufzubauen.
Hier geht es darum, empathisch wie in den anderen hin­einzuschlüpfen.
»Wir brauchen als Erzieher eine Erweckung der lebendigen Menschen-
natur, die in sich das ganze Kind wieder erlebt …«3
   Aus diesem Mitgefühl heraus nach Gedanken zu suchen, die Licht in
das Wahrgenommene bringen, wäre der Weg, den er vorschlägt. Wenn
man den Satz völlig in sein Gegenteil verkehrt, klingt er zum Beispiel
so: »Die toten Antworten (statt der Rätsel des Lebens) verhärten sich
(statt lösen sich) in der Kälte (statt Wärme) des die Herzensdunkelheit
(statt Gedankenlicht) meidenden (statt strebenden) Kopfes (statt Her-
zens).« Und so wird beides wahr.
   Durch großen Fleiß und großartige Beobachtungsgabe ist eine Psy-
chotraumatologie entstanden, die in Begriffe gießt, was da erforscht
worden ist. Für eine Diagnostik ist das gut. Und diejenigen Menschen,
die mit traumatisierten Klienten umgehen, sind zum größten Teil groß-
artige und empathische Menschen. Nur haben wir besonders in der
Pädagogik erfahren müssen, dass es oft anders läuft. Ein Kind ist unru-
hig und zappelig, und schnell ist die Diagnose ADHS parat. Damit ist es
keine pädagogische Herausforderung mehr, sondern ein medizinisches
Problem, das mit einer psychotropen Substanz vordergründig aus der
Welt geräumt scheint. Auch in der Routine des klinischen Alltags müs-
sen wir immer wieder erleben, dass hinter der Diagnose der betroffene
Mensch verschwindet, sein Leid nicht mehr wahrgenommen wird und
er sich unverstanden fühlt.

                                                                    21
Umgang mit einem traumatisierten Menschen

  Wenn Pädagogen und Psychotherapeuten es schaffen, den anderen als
  ein Rätsel zu sehen, dessen individuelle Besonderheit erst erfasst wird
  durch eine geschulte Empathie, die nicht das Leid des anderen annimmt,
  auch nicht den anderen zum Opfer unserer Hilfe macht, sondern ver-
  sucht, den anderen wie von innen wahrzunehmen, die Dynamik des
  Geschehens, die Geste des Geschehens zu erleben, dann finden sich Ge-
  danken, Begriffe, mit denen eine bestmögliche Begleitung der uns an-
  vertrauten Menschen gelingen kann.

              Rembrandt van Rijn, Selbstporträt als Zeuxis,
                 1662, Wallraf-Richartz-Museum, Köln

In diesem Selbstbildnis porträtierte sich Rembrandt als Zeuxis. Zeuxis
ist ein griechischer Maler des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Von ihm
sagt man, er habe die schönsten Frauen seiner Zeit porträtiert, um dann

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

das Bildnis der Helena zu malen, indem er von jeder dieser Frauen die
schönsten Partien zu einem Bild zusammenfügte. Danach wollte er ei-
nen hässlichen Menschen malen. Der Kontrast aber zur zuvor gesehe-
nen Schönheit war so groß, dass er den Gegensatz nur aushielt, indem
er lachte, lachte – und sich schließlich zu Tode gelacht hat.
   Rembrandt schuf dieses Selbstporträt im Jahr 1662 nach einer Rei-
he allerschwerster Lebenskrisen. Er malte sich als Zeuxis vor der Staf-
felei, auf der Leinwand sehen wir das verbrauchte, alte Gesicht eines
›hässlichen‹ Menschen. Rembrandt hält den Malstock, malt also gerade
und wendet sich dem Modell zu, um Maß zu nehmen, und dabei lacht er
auch. Er schaut uns, den Betrachter, unmittelbar an – wir sind also das
Modell, er malt also uns als hässlichen Menschen!
   Sind wir hässlich? Sicherlich geht es hier nicht um das Äußere. Aber
hat nicht jeder Mensch Seiten in sich, auf die er nicht stolz ist? C. G. Jung
soll gesagt haben, dass kein Baum in den Himmel wachsen kann, wenn
seine Wurzeln nicht bis in die Hölle reichen. Diese dunklen Seiten in uns
scheint Rembrandt hier zu sehen. Aber lacht er uns aus?
   Nein, Rembrandt lacht uns nicht aus, sondern sieht uns aufmunternd
an. Er kennt alle Tiefen, alle Krisen, alle Verdüsterungen des mensch-
lichen Geistes und der Seele, er kennt Kranksein und dunkle Momen-
te. Sein Blick geht tief ins Innere und kann es sehen. Er lacht uns nicht
aus, sondern es ist, als wollte er sagen: »Das kenne ich – sei getrost,
das Leben geht weiter!« Dieser Blick kann uns aufbauen. Es ist ein Bild,
geeignet, es am Badezimmerspiegel aufzuhängen, denn wenn wir mor-
gens unser zerfurchtes und verschlafen-derangiertes Angesicht sehen
müssen, tut dieser Blick uns wirklich gut.
   Dabei ist Rembrandt nicht nur der Maler des Lichts, wie er oft genannt
wird, sondern noch mehr der Maler der Wärme! In diesem Bild kommt
ein warmes Gold aus der Herzgegend und wird nach oben immer lich-
ter, die hellste Stelle des Bildes ist die Stirn. Es ist wie die visualisierte
Darstellung des Spruches von Rudolf Steiner: »Die Rätsel des Lebens
lösen sich in der Wärme des nach Gedankenlicht strebenden Herzens.«
   Beispielsweise vor jedem Kontakt mit einem Klienten kann man sich

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

an diesem oder ähnlichen Bildern seine Grundhaltung deutlich machen
und erneuern.
   Diese Sichtweise entspricht einem Paradigmenwandel, den die Psy-
chotherapie bei der Behandlung des Traumas durchgemacht hat. Luise
Reddemann hat dies in ihrem Buch Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit
in psychodynamischen Therapien4 sehr gründlich historisch, philoso-
phisch und aus der eigenen Erfahrung belegt. Mitgefühl war in den
klassischen Psychotherapien, wenn auch individuell gehandhabt, eher
verpönt. Die Grundregel war in der Psychoanalyse Distanz, Abstinenz,
Neutralität und das Deuten. Dadurch entstand ein Gefälle zwischen
Therapeut und Klient, das bei traumatisierten Menschen teilweise re-
traumatisierend wirkte. Zudem ging von einem solchen Verhältnis eine
Kühle aus, die nicht der Warmherzigkeit entsprach, die ein Traumati-
sierter benötigt und von der Steiner in dem obigen Zitat spricht.
   Reddemann benutzt das Wort ›Mitgefühl‹, da Empathie ›Einfühlung‹
bedeutet und neutral ist. Auch Hass ist eine Form von Einfühlung. Auch
ein Folterknecht kann einfühlend wahrnehmen, wie und wo er am
meisten Schmerzen erzeugen kann. Im Altgriechischen bedeutete Em-
pathie etwas Negatives, wie Vorurteil oder Gehässigkeit.
   Mitgefühl setzt Einfühlung voraus, aber geht weiter, mit der positiven
Gestimmtheit helfen zu wollen. Reddemann versteht Mitgefühl als ein
Gefühl, das in Handlung übergehen will. Sie bezieht sich auf Phronesis
(griechisch: Klugheit); Platon und Aristoteles verstanden darunter die
praktische Weisheit, das Wissen um das ethisch Gute, Zuträgliche und
Angemessene. Das bedeutet, statt dem Klienten mit der technischen
Wissensbrille zu begegnen, eine sozial relevante Form der Weisheit
mit praktischer Klugheit anzustreben, eine Haltung, die beim Klienten
Hoffnung erzeugt.
   Luise Reddemann zitiert aus einem Interview mit Michael Eigen,
einem einflussreichen zeitgenössischen Psychoanalytiker, der sagt:
»Zu Beginn wusste ich nicht, dass es sich bei der Therapie um einen
unlösbaren Bruch handelt. Als ich anfing zu praktizieren, dachte ich,
er könnte repariert werden. Heute verstehe ich, dass es nicht geht. Sie

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

können versuchen, den Bruch zu mildern. Eigentlich glaube ich nicht an
Therapie. Therapie ist ein Weg, eine Hingabe, eine Suche ... Das Wort
›Behandlung‹ ist nicht richtig und unangemessen. Es sind andere Wor-
te, die ich mag: ›Fördern‹, ›Ermutigen‹. Es ist, wie wenn man ein Kind an
die Hand nimmt auf einem Weg, ihm Süßes bringt, es hält, nicht so sehr
wie ein Therapeut, eher wie ein Elternteil.«5 Das bedeutet, aufgrund
von Erfahrung, Wissen um den Zustand des Klienten und mit dem Ziel
zu helfen sich um neue Wege der Hilfe zu bemühen, die den klassischen
Regeln widersprechen.
   Dieses Zitat macht deutlich, dass die Grenze zwischen Therapie und
Pädagogik fließend ist und nicht genau bestimmt werden kann. So wen-
det sich dieses Buch ausdrücklich auch an Traumapädagogen. Es ist
eindeutig, dass der ausgebildete Therapeut, der nach einer Stabilisie-
rung behutsam in eine Traumakonfrontation führt und versucht, das
traumatische Erlebnis in das biografische Selbsterleben zu integrieren,
durchaus weiter führt, als es der Pädagoge kann. Therapeutisches wird
in diesem Buch vor allem insoweit angesprochen, wie es auch ein erfah-
rener Traumapädagoge anwenden kann oder insofern er davon wissen
sollte, um seinen Klienten empfehlen zu können, einen Therapeuten
aufzusuchen.
   Was Reddemann beschreibt und sich in ihrem therapeutischen Han-
deln bewährt hat, klingt an Steiners Frühwerk an, die Philosophie der
Freiheit und die Trilogie von »moralischer Intuition«, »moralischer
Phantasie« und »moralischer Technik«. 6 Von »moralischer Intuition«
spricht er als Fähigkeit, aus der Fülle der dem Einzelnen zur Verfügung
stehenden Ideen und Begriffe im konkret vorliegenden Fall diejeni-
gen schöpfen zu können, die ihm relevant erscheinen. Die »moralische
Phantasie« schafft die Verbindung der Ideen und Begriffe zu dem kon-
kreten Fall, und die »moralische Technik« ist die Fähigkeit, situativ an-
gemessen die Methoden und Worte zu finden, die sich dann als hilfreich
erweisen. Das bedeutet, keine Situation als Standard zu betrachten.
   Im ersten Teil dieses Buches werden die notwendigen Begriffe (zum
Beispiel Symptome usw.) der Psychotraumatologie erläutert, zugleich

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

wird an der einen oder anderen Stelle auch daran gerüttelt. Denn bei
jedem Menschen mit einem Trauma sieht es anders aus. Es gibt keine
historische und auch keine interkulturelle Konstanz in dem, wie Men-
schen auf ein traumatisches Geschehen reagieren. Und für so beweg-
liche und unterschiedliche Symptomatiken sind allzu starre Systeme
nicht immer angemessen.
   Wir halten die Menschenkunde Rudolf Steiners nicht für einen Ersatz
klassifizierender begrifflicher Systeme. Wir halten sie vielmehr für
eine Brille, um mit der Wärme des Herzens an diese Rätsel des Lebens
herantreten zu können.
   Begriffe, auch die der Anthroposophie, haben oft die Eigenschaft, sich
vor die Wahrnehmung zu stellen. Ein Beispiel soll dies deutlich machen.
   Nach einer abenteuerlichen und gefährlichen Skiabfahrt auf einem
vereisten steilen Waldweg, aus dem es kein Entrinnen gab, in den Wald-
arbeiter durch das Herunterschleifen von Bäumen einen Graben gezo-
gen hatten, der dann wie eine Bobbahn vereist war, mündete der Weg
auf eine Lichtung, just in dem Moment, als ein Unfall hätte passieren
müssen, denn es waren zwei Skifahrer, ein schwererer mit guten Skiern
und eine leichtere Person mit schlechteren Skiern, die vorneweg gefah-
ren war. In dem Moment, in dem der Hintermann die vor ihm fahrende
Frau eigentlich hätte umfahren ›müssen‹, endete die steile Fahrt auf
einem Plateau, das die Sicht auf einen unbewaldeten Berg freigab, der
ganz mit Schnee bedeckt war. Es war in Norwegen, die Sonne stand tief
und tauchte die sonnenbeschienene Seite in gold-gelb-orange Farben,
während die schattige Seite violett, blau und türkisfarben zu leuchten
schien. Ein fast übersinnlich wirkendes Schauspiel. Da rief einer von
beiden: »Schau mal, der weiße Berg!«
   Der Berg war alles andere als weiß! Eben dass der Berg nicht weiß
war, war die Besonderheit! Aber in uns ist das eine festgefahrene Ver-
bindung: Schnee ist eben weiß. Diese Begriffe waren stärker als die
Wahrnehmung der Farben!
   Darum ist es unser Bemühen, die Begriffe etwas aufzulösen und zu
Prozessen werden zu lassen, mit deren Hilfe wir die Dynamik des Ge-

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

schehens mehr nachempfinden können. Manch ein Leser wird dies ab-
lehnen und vielleicht als Verrat an Steiners Gedanken ansehen.
   Der Gebrauch der Menschenkunde in der Anwendung bei vielen kon-
kreten Einzelfällen verändert diese Menschenkunde in den Gedanken
des Anwenders. Erfahrung fließt herein, manches nur als Begrifflich-
keit Verstandene fließt auf der anderen Seite heraus. Sie wird individu-
eller. Sie bekommt gewissermaßen schwarze Ränder unter den Finger-
nägeln, sie betont manche Dinge mehr, andere vielleicht weniger.
   Um dies zu verdeutlichen, kann man sich – in Anlehnung an Rainer
Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge – zwei
Kinder vorstellen, die sich das gleiche Taschenmesser gekauft haben.
Vielleicht hat der eine die Klinge geputzt, den Holzgriff geölt und das
Messer dann in eine Vitrine auf ein Samtkissen gelegt, um sich jeden
Tag an dem Anblick zu erfreuen. Der andere hat damit geschnitzt, Äpfel
geschnitten, in der Erde gekratzt und versucht, damit Schrauben aufzu-
drehen. Es hat eben Gebrauchsspuren.
   Die Menschenkunde, die wir in diesem Buch vorstellen, hat solche
Gebrauchsspuren. Wir meinen damit nicht, Steiner korrigieren zu wol-
len oder dergleichen, sondern zu fragen: Ist es möglich, zu glauben, man
könne eine Menschenkunde haben, ohne sie zu gebrauchen? Und wenn
man sie gebraucht, wird Menschenkunde durch die Handhabung im-
mer individueller.
   So wird ein ausführlicher Blick auf die Konstitution des Traumati-
sierten mithilfe der Menschenkunde anhand der vier Wesensglieder
geworfen, der diese ›Gebrauchsspuren‹ am deutlichsten zeigt und auf-
deckt, dass ein Trauma immer den ganzen Menschen trifft.
   Die Psychotraumatologie hat Großartiges hervorgebracht. Beson-
ders die Hirnforschung hat tiefe Blicke in das ermöglicht, was durch ein
Trauma passiert und was sich langfristig im Gehirn dadurch verändert.
Heute wird das Gehirn betrachtet, als sei es das wichtigste Organ, weil
es über allem thront und den Rest des Organismus dirigiert. Dabei sind
es aber die rhythmischen Funktionen im Organismus, die eine autono-
me Regulation haben und heute zu dem Gesündesten zählen, was der

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

Mensch hat. Diese Rhythmen, die durch ein Trauma zerstört werden,
haben nach unserer Ansicht eine gleichwertige Wichtigkeit und Bedeu-
tung.
   Nun hängt im Organismus alles zusammen, und man kann keines der
Organe oder Systeme ohne die anderen denken. Aber sie haben doch
Autonomie. So fügen wir die rhythmischen Funktionen denen des Ner-
vensystems hier als gleichgewichtig hinzu, ebenso wie alles das, was
wir als Stoffwechsel-Gliedmaßen-System verstehen und als Grundlage
des Willens und der Motivation betrachten. Wir korrigieren nicht, was
erforscht und vielfältig beschrieben wurde, wir ergänzen es. Denn was
Rudolf Steiner als Menschenkunde beschrieben hat, ist eine Methode,
auf mehr zu blicken. Und wenn man es tut, sieht man dort etwas. Der
Körper ist eben kein Anhängsel des Gehirns, er besteht aus autonom ar-
beitenden Systemen. Ebenso sind die Seele und der Geist des Menschen
kein Anhängsel des Körpers, sondern es sind autonome Instanzen, die
betrachtet gehören.
   Auch in jüngeren Publikationen von anthroposophischen Autoren
zum Thema Psychotraumatologie wirkt es so, als ginge es um das Ge-
hirn. Dass es weit mehr ist, hat uns auch zu diesem Buch bewogen.
   Im zweiten Teil geht es darum, was man tun kann. Dies leiten wir aus
dem ab, was im ersten Teil erarbeitet worden ist. Hier fließen Erfah-
rungen aus der Notfall- und Traumapädagogik ein, die auf vielen Ein-
sätzen zusammen mit den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners
in Kriegs- und Krisengebieten gemacht wurden. Dasselbe gilt für Erfah-
rungen aus individuellen Beratungssituationen und therapeutischen
Prozessen, die in der psychotherapeutischen Arbeit von Minka Strau-
be und der ärztlichen Tätigkeit von Martin Straube gesammelt worden
sind.

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Umgang mit einem traumatisierten Menschen

Anmerkungen
1 Rudolf Steiner, Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse.
  Zweiter Teil (GA 59), Basel 22017.
2 Rudolf Steiner, Wahrspruchworte (GA 40), Dornach 92005, Seite 258.
3 Rudolf Steiner in der Waldorfschule. Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer
  (GA 298), Dornach 21980.
4 Luise Reddemann, Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen
  Therapien, Göttingen 2016.
5 Ebd., Seite 13.
6 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen
  Weltanschauung (GA 4), Dornach 161995.

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