Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen - Pathogenese und individualisierte Behandlung - Deutsches Ärzteblatt
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MEDIZIN Übersichtsarbeit Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen – Pathogenese und individualisierte Behandlung Nima Etminan, Arnd Dörfler, Helmuth Steinmetz U nrupturierte intrakranielle Aneurysmen (IA) im Zusammenfassung Sinne dieses Artikels sind erworbene fokale sakkuläre Ausstülpungen der Gefäßwand typi- Hintergrund: In Deutschland leben schätzungsweise 2 Millionen Erwachsene mit scherweise an arteriellen Teilungsstellen. Ihre Präva- einem unruptierten intrakraniellen Aneurysma (IA). Im Falle einer Ruptur kann eine lenz liegt für die Länder Mitteleuropas bei 3,2 % lebensbedrohliche Subarachnoidalblutung die Folge sein. Wird ein asymptomati- (95-%-Konfidenzintervall [1,9; 5,2]) der Erwachse- sches IA im Rahmen einer bildgebenden Diagnostik zufällig entdeckt, so stellt sich nen, was bedeutet, dass in Deutschland circa 2 Mil- die Frage, wie weiter vorzugehen ist. lionen Menschen ein Hirnaneurysma haben (1). Methode: Diese Arbeit basiert auf einer selektiven Literaturrecherche in PubMed Im Gegensatz zu den sakkulären IA sind pädiatri- mit dem Suchbegriff „unruptured intracranial aneurysms“, welche im Juli 2019 sche, mykotische, fusiforme, dissezierende oder IA erfolgte, sowie auf einer Abfrage beim Statistischen Bundesamt zur Häufigkeit der in Assoziation mit Kollagenkrankheiten eigene Enti- Entlassdiagnose „zerebrales Aneurysma“ unter Ausschluss der Diagnose täten mit unterschiedlicher Pathogenese, klinischem „Subarachnoidalblutung“ in Deutschland (2005–2017). Verlauf und Behandlung, sodass sie in dieser Arbeit nicht thematisiert werden. Ergebnisse: Zwischen 2005 und 2017 zeigte sich in Deutschland eine 2,3-fache Unrupturierte IA können über viele Jahre asymp- Zunahme der diagnostizierten und/oder stationär behandelten Patienten mit einem tomatisch bleiben, aufgrund einer lokalen Kompres- unrupturierten IA. Dem mittleren 5-Jahres-Rupturrisiko von circa 3 % steht das sion von Hirnnerven symptomatisch werden oder Risiko einer endovaskulären oder mikrochirurgischen Behandlung von circa 4 % aufgrund einer Ruptur eine lebensbedrohliche Sub- gegenüber. Dies unterstreicht, wie notwendig präzisere Daten zum Rupturrisiko und arachnoidalblutung (SAB) verursachen. Metaanaly- Algorithmen zur individualisierten Beurteilung der IA sind. Risikofaktoren wie sen von populationsbasierten Studien belegen, dass IA-Morphologie, arterielle Hypertonie, aktives Rauchen und Alkoholkonsum die Inzidenz der aneurysmatischen SAB zwar „nur (> 150 g/Woche) können das in den meisten Fällen relativ geringe Rupturrisiko noch“ 6 pro 100 000 Einwohner pro Jahr beträgt, die deutlich erhöhen. Wachsende Aneurysmen haben ein 12-mal höheres Rupturrisiko als größenstabile. Verlaufskontrollen bei einem zunächst abwartenden Verhalten Letalität in Europa jedoch weiterhin bei 35 % liegt sind daher äußerst wichtig. (2, 3). Von den Überlebenden kehrt nur ein Drittel in ihr zuvor gewohntes Leben zurück (2). Der daraus Schlussfolgerung: Die Beratung von Patienten mit unrupturierten IA sollte auf resultierende Verlust an „qualitätsadjustierten“ Le- den Einzelfall zugeschnitten erfolgen. Wichtig ist gegebenenfalls, vorliegende bensjahren ist aufgrund des durchschnittlichen Er- Risikofaktoren zu behandeln. Wie effektiv eine Blutdrucksenkung in Kombination krankungsalters von nur 50–60 Jahren vergleichbar mit der Einnahme von Acetylsalicylsäure ist, um inflammatorische Ereignisse mit dem Verlust durch ischämische Schlaganfälle (4). in den Gefäßwänden zu reduzieren, wird in einer aktuell rekrutierenden klinischen Wegen des breiten Einsatzes und der zunehmen- Phase-III-Studie untersucht. den Sensitivität bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) und der Compu- Zitierweise tertomografie (CT) werden unrupturierte IA zuneh- Etminan N, Dörfler A, Steinmetz H: Unruptured intracranial aneurysms— mend häufiger entdeckt. Die daraus resultierende pathogenesis and individualized management. Diskussion, wie weiter vorzugehen ist, wird durch Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 235–42. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0235 Unsicherheiten über das Ruptur- und Therapierisiko sowie „Mentalitätsunterschiede“ bei Patienten wie Behandelnden mitbestimmt (5, 6). Im Zeitraum zwi- schen 2005 und 2017 zeigte sich in Deutschland eine 2,3-fache Zunahme der diagnostizierten und/oder stationär behandelten Patienten mit einem unruptu- rierten IA, darunter ein hoher Anteil älterer Personen (> 69 Jahre) (Grafik 1 a und b). Neurochirurgische Klinik, Universitätsklinikum Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim, Diese Arbeit beruht auf einer selektiven Literatur- Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg: Prof. Dr. med. Nima Etminan recherche in der Datenbank PubMed mit dem Such- Abteilung für Neuroradiologie, Universitätsklinikum Erlangen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: Prof. Dr. med. Arnd Dörfler begriff „unruptured intracranial aneurysms“, welche Klinik für Neurologie, Zentrum der Neurologie und Neurochirurgie, im Juli 2019 durchgeführt wurde. Es gab keine Be- Universitätsklinikum/Goethe-Universität Frankfurt: Prof. Dr. med. Helmuth Steinmetz schränkung hinsichtlich des Veröffentlichungszeit- Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020 235
MEDIZIN GRAFIK 1a Entstehung von intrakraniellen Aneurysmen Intrakranielle Aneurysmen sind eine komplexe Erkran- 166 000 kung, bei deren Entstehung genetische und erwor- Anzahl UIA (gesamt) bene, bekannte und unbekannte Risikofaktoren eine 144 000 Anzahl UIA (männlich) Rolle spielen, die sich gegenseitig verstärken dürften. Anzahl UIA (weiblich) Intrakranielle Aneurysmen sind insbesondere mit 122 000 Bindegewebserkrankungen wie dem Marfan- oder Ehlers-Danlos-Syndrom, der autosomal-dominanten 100 000 polyzystischen Nierenerkrankung oder angeborenen kardiovaskulären Fehlbildungen wie der Koarktation 8 000 der Aorta oder der bikuspiden Aortenklappe assoziiert, jedoch nicht mit extrakraniellen Aneurysmen, zum 6 000 Beispiel der Aorta (7, 8). Die familiäre Häufung deutet auf eine genetische 4 000 Disposition hin, die sich aber in den bisherigen genom- weiten Studien und Metaanalysen nur in schwachen 2 000 Assoziationen sporadischer IA mit speziellen Genloki widerspiegelt. Diese Genloki scheinen vor allem für 0 grundlegende Mechanismen der Endothelreparatur und 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 des Strukturerhalts von Gefäßwänden verantwortlich zu sein (9). Zudem bleibt unklar, ob die familiäre Dis- position (Tabelle) für IA wirklich auf die „Vererbung“ von Aneurysmen oder eher auf eine hereditäre Neigung GRAFIK 1b zur Ausbildung von beziehungsweise Vulnerabilität ge- genüber Risikofaktoren zur Ausbildung von IA, das 12 000 heißt Bluthochdruck und Rauchen, zurückzuführen ist. > 69 Jahre Eine hierzu kürzlich publizierte Studie aus Finnland 10 000 30–69 Jahre zeigt, dass schon diese Risikofaktoren selbst eine höhe- 0–29 Jahre re Prävalenz bei Kindern von je zwei betroffenen El- 8 000 ternteilen mit sporadischen oder familiären IA haben und eine hohe Konkordanz bei monozygoten Zwillin- 6 000 gen solcher Eltern aufweisen (10). Intrakranielle Aneurysmen entstehen bevorzugt an 4 000 arteriellen Teilungsstellen – auch in Abhängigkeit von den arteriellen Teilungswinkeln beziehungsweise dem 2 000 Vorhandensein anatomischer Varianten, wie etwa Hy- poplasien oder Fenestrationen (11). Es ist wahrschein- 0 lich, dass derartige angeborene Veränderungen eine 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Veranlagung zur späteren Ausbildung eines IA darstel- len. Eine solche Veranlagung realisiert sich dann je Häufigkeit der stationären Entlassdiagnose „inzidentelles Aneurysma“ in nach weiteren vorliegenden kardiovaskulären Risiko- Deutschland von 2005–2017 faktoren über lokale hämodynamische Faktoren und a) allgemeine und geschlechtsspezifische Verteilung der diagnosebezogenen Fallgruppen andere Endothelnoxen, zum Beispiel nichtlaminarer (DRG) I67.* (zerebrales Aneurysma) exklusive I60.* (Subarachnoidalblutung) zwischen Fluss, verstärkte pulsatile Druckwirkung bei Hyperto- 2005 und 2017. UIA, unrupturiertes intrakranielles Aneurysma b) Altersverteilung der DRG I67.* (zerebrales Aneurysma) exklusive I60.* nie und erhöhter Scherstress durch unphysiologische (Subarachnoidalblutung) zwischen 2005 und 2017 (Quelle: Statistisches Bundesamt, DRG- Flussprofile an Bifurkationen. Infolge des Zusammen- Statistik 2019, www.destatis.de). Die gewählte Therapie ist nicht bekannt. wirkens solcher Risikofaktoren kann die Lamina elasti- ca interna einreißen, welche unter physiologischen Be- dingungen die strukturelle Integrität der Gefäßwand wahrt. Für die Entstehung eines IA stellt dieses Einrei- raumes und der Sprache der Artikel. Zudem erfolgte ßen ein Schlüsselereignis dar (7). eine Abfrage beim Statistischen Bundesamt zur Häu- Unter der fortschreitenden Wirkung der Risikofak- figkeit der Entlassdiagnose „zerebrales Aneurysma“ toren kommt es im weiteren Verlauf zunächst auf mi- exklusive der Diagnose „Subarachnoidalblutung“ in kroskopischer Ebene zur Distension der Gefäßwand. Deutschland zwischen 2005 und 2017. Unsere Arbeit Eine lokale endotheliale Dysfunktion, Veränderun- versucht, anhand der in den letzten Jahren erheblich gen der glatten Muskelzellen, eine Apoptose, eine verbesserten wissenschaftlichen Datenlage Wege Entzündung sowie Störungen der extrazellulären Ma- aufzuzeigen, wie rationale Entscheidungen im Ma- trix führen letztlich zu einem vaskulären Remodeling nagement unrupturierter IA getroffen werden kön- und zur makroskopischen Ausbuchtung im Sinne ei- nen. nes IA (7). 236 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020
MEDIZIN TABELLE Übersicht aller patienten- und aneurysmaspezifischen Risikofaktoren für eine Aneurysmaruptur Risikofaktor Veränderung des Evidenz- geografische Region*2 Rupturrisikos (95-%-KI) grad patientenspezifisch modifizierbar arterielle Hypertonie HR 1,4 [1,1; 1,8] IIa Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) HR 1,3 [0,9; 1,9] IIa Japan (30) HR 7,9 [1,3; 47,4] IIb Japan (UIA-Größe < 5 mm) (31) Rauchen (aktiv) RR 2,2 [1,3; 3,6] IIa Europa (inkl. Finnland), Asien (inkl. Japan), Nordamerika (32) HR 3,2 [1,3; 7,6] IIb Finnland (33) Alkohol (> 150 g/Woche) RR 2,2 [1,5; 2,8] IIa Europa (inkl. Finnland), Asien (inkl. Japan), Nordamerika (32) nicht modifizierbar Alter (≥ 70 Jahre) HR 1,44 [1,05; 1,97] IIa Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) Alter (< 50 Jahre) HR 5,23 [1,03; 26,52] IIb Japan (UIA-Größe < 5 mm) (31) Alter (pro 10 Jahre) HR 0,62 [0,39; 0,99] IIb Finnland (33) geografische Lokalisation IIa Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) USA, Europa exklusive Finnland Referenz Japan HR 2,8 [1,8; 4,2] Finnland HR 3,6 [2,0; 6,3] Anamnese einer Subarachnoidalblutung Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) HR 1,4 [0,9; 2,2] IIa aus einem anderen Aneurysma weibliches Geschlecht RR 1,6 [1,1; 2,4] IIa Europa (exkl. Finnland) (34) multiple Aneurysmen HR 4,9 [1,6; 14,7] IIb Japan (UIA-Größe < 5 mm) (31) Familienanamnese 17-fache Erhöhung IIb Nordamerika (35) (≥ 2 erstgradig Verwandte mit UIA oder SAB) aneurysmaspezifisch Größe < 5,0 mm Referenz 5,0–6,9 mm HR 1,1 [0,7; 1,7] IIa Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) 7,0–9,9 mm HR 2,4 [1,6; 3,6] 10,0–19,9 mm HR 5,7 [3,9; 8,3] ≥ 20,0 mm HR 21,3 [13,5; 33,8] Lokalisation ICA HR 0,5 [0,3; 0,9] MCA Referenz IIa Europa (inkl. Finnland), Japan, Nordamerika (15) ACA inkl. AComA HR 1,7 [0,7; 2,6] PCA HR 1,9 [1,2; 2,9] PComA HR 2,1 [1,4; 3,0] irreguläre Aneurysma-Morphologie/ HR 1,5 [1,0; 2,2] IIa Japan (17, 30) Lobulierung OR 4,8 [2,7; 8,7] IIb Europa (36) Aneurysmawachstum 12-fach IIIb USA (19) > 1 mm in serieller Bildgebung 1 Gadoliniumanreicherung in der Aneurysmawand HR 9,2 [2,9; 29,0]* IIIb Europa (37) *1 Dieser Wert bezieht sich auf die Aneurysma-Instabilität, das heißt das Aneurysmawachstum oder die Aneurismaruptur. *2 Die signifikanten Unterschiede bezüglich des Rupturrisikos im Hinblick auf geografische Lokalisation (Nordamerika und Europa exklusive Finnland versus Finnland versus Japan) haben zur Folge, dass z. B. Daten aus Japan oder Finnland ggf. nur mit Einschränkungen auf Deutschland übertragbar sind. Zur Veranschaulichung des variablen Risikos in Abhängigkeit von der geografischen Region werden verschiedene Studien aufgeführt. ACA inkl. AComA, „anterior cerebral arteries“ inkl. „anterior communicating artery“; HR, Hazard Ratio; ICA, „internal carotid artery“; KI, Konfidenzintervall; MCA, „middle cerebral artery“; OR, Odds Ratio; PCA, „posterior cerebral artery“; PComA, „posterior communicating artery“; UIA, unrupturiertes intrakranielles Aneurysma; RR, relatives Risiko; SAB, Subarachnoidalblutung Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020 237
MEDIZIN Abbildung 1: Entstehung und mögliche Entwicklung von unrupturierten intrakraniellen Aneurysmen am Beispiel des Arteria communicans anterior (AcomA)-Komplexes, bei unilateraler Hypoplasie des A1-Segmentes über die Zeit: a) Entstehung und fortschreitendes Wachstum bis zur Ruptur b) Entstehung und fortschreitendes Wachstum ohne Ruptur innerhalb des Beobachtungszeitraums c) Entstehung und Ruptur ohne rezentes Wachstum d) Ruptur eines kürzlich entstandenen, sehr kleinen De-novo-Aneurysmas (modifiziert nach Etminan, Rinkel [7]) Klinische Symptome und radiologische Diagnose und damit ein deutlich höheres Rupturrisiko haben. Sie Nach den klinischen Erfahrungen der Autoren werden sollten daher dringend behandelt werden. die meisten unrupturierten IA zufällig diagnostiziert. Die Sensitivität der MR-Angiografie (MRA) zur De- Die häufigsten Symptome, welche über die Bildgebung tektion eines IA beträgt 95 % [89; 98], ihre Spezifität mittels MRT oder CT zu einer Zufallsdiagnose eines IA 89 % [80; 95]; die Sensitivität der CT-Angiografie führen, sind chronische Kopfschmerzen und Schwindel (CTA) beträgt 95 % [93; 96], ihre Spezifität 96 % [93; (5). Seltenere klinische Korrelate, insbesondere größe- 98] – jeweils verglichen mit dem „Goldstandard“ der rer unrupturierter IA, sind neurologische Defizite auf- intraarteriellen digitalen Subtraktionsangiografie (in- grund der lokalen raumfordernden Wirkung, wie zum traarterielle DSA) (12, 13). Für kleinere Aneurysmen Beispiel Lähmungen der Augenmuskelnerven (Ptose, < 3 mm ist die Sensitivität der nichtinvasiven Gefäß- Mydriasis oder Doppelbilder). Es wird angenommen, darstellung deutlich geringer: für die CTA 61 % [51; dass IA, die innerhalb von Tagen oder Wochen zu kom- 70 ] und für die MRA 38 % [25; 53 ] (14). Die intraar- pressiven Ausfällen führen, im Wachsen begriffen sind terielle DSA bleibt aufgrund der hohen Auflösung da- 238 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020
MEDIZIN her der Goldstandard zur genaueren Beurteilung von IA, sollte aber aufgrund der Strahlenbelastung sowie ihrer Invasivität kritisch und stets hinsichtlich der Kon- sequenz indiziert werden. Für Verlaufskontrollen von IA sollten nichtinvasive Modalitäten, vorzugsweise die MRA, präferiert wer- den. Diese kann zwischen 0,3 und 17,8 % betragen (Mittelwert 3,4 %), jedoch zum Teil mit breiten Konfi- denzintervallen (15). Rupturrisiko Die Bezifferung des Rupturrisikos unrupturierter IA ist eines der umstrittensten Themen der neurovaskulä- a b ren Medizin. Das liegt einerseits an der heterogenen Abbildung 2: Fallbeispiele und komplementäre Anwendung des PHASES-und UIATS-Scores Studienqualität (Kohortenstudien oder Fall-Kontroll- a) Dreidimensionale Rekonstruktion einer digitalen Subtraktionsangiografie bei einem 43-jähri- Studien) und andererseits an der unterschiedlichen gen Patienten mit inzidentellem Aneurysma der A. carotis interna links, weiteres inzidentel- Patientenselektion (Clipping oder Coiling außerhalb les Aneurysma der A. carotis interna rechts (nicht abgebildet, 4 mm), das als Zufallsbefund der Studien). Große geografische Unterschiede er- im Rahmen einer Kopfschmerzabklärung diagnostiziert wurde. Risikofaktoren: Rauchen, po- schweren eine Bewertung zusätzlich. sitive Familienanamnese für intrakranielle Aneurysmen/Subarachnoidalblutung. Größe des Die größte Metaanalyse zur Einschätzung des indivi- Aneurysmas: 20,1 mm, irreguläre Morphologie, Aspect Ratio > 1,6. PHASES-Score: 10 Punkte, das heißt 5-Jahres-Rupturrisiko von 5,3 %. UIATS-Score: 17 Punkte zugunsten der duellen Rupturrisikos unrupturierter IA basiert auf präventiven Behandlung versus 14 Punkte zugunsten der konservativen Behandlung. Bei sechs prospektiven Kohortenstudien, darunter die einer Differenz von 3 Punkten entspricht dies einer eindeutigen Empfehlung für die präventi- große International Study of Unruptured Intracranial ve Behandlung des Aneurysmas. Aneurysms (ISUIA) und die Unruptured Cerebral b) Dreidimensionale Rekonstruktion einer digitalen Subtraktionsangiografie bei einer 64-jähri- Aneurysms Study (UCAS Japan). Diese Metaanalyse gen Patientin mit inzidentellem Aneurysma der A. cerebri media rechts, das als Zufallsbe- überblickt insgesamt 8 382 Patienten mit 10 272 Aneu- fund im Rahmen einer Abklärung bei paranoider Schizophrenie diagnostiziert wurde. Risiko- rysmen über 29 166 Patientenjahre (15–17). faktoren: arterielle Hypertonie. Aneurysmagröße: 2,5 mm, reguläre Morphologie. PHASES- Dabei konnten sechs unabhängige Risikofaktoren Score: 3 Punkte, das heißt 5-Jahres-Rupturrisiko von 0,7 %; UIATS-Score: 4 Punkte zu- gunsten der präventiven Behandlung versus 10 Punkte zugunsten der konservativen Be- für eine Ruptur identifiziert werden: handlung. Bei einer Differenz von 6 Punkten ergibt dies die Empfehlung eines konservati- ● Aneurysmagröße ven Managements. ● Aneurysmalokalisation ● vorherige Ruptur eines anderen Aneurysmas ● Lebensalter ● arterielle Hypertonie Wachstum von intrakraniellen Aneurysmen ● geografische Herkunft. Ein wachsendes IA geht in den PHASES-Score leider Basierend auf diesen sechs Faktoren erlaubt der so- nicht ein, ist aber äußerst relevant für den weiteren Ver- genannte PHASES-Score eine Abschätzung der Rup- lauf. Es unterliegt denselben Risikofaktoren – vor allem turwahrscheinlichkeit eines unrupturierten IA in den Rauchen und arterielle Hypertonie – wie die Aneurys- nächsten fünf Jahren (15). Sie kann zwischen 0,4 % maneubildung. In einer Metaanalyse vergrößerten sich und 17,8 % betragen, jedoch zum Teil mit breiten Kon- 9 % aller unrupturierten IA während einer mittleren Be- fidenzintervallen. Aufgrund der unvollständigen Daten- obachtungszeit von 2,8 Jahren (18). Das Langzeitrisiko erfassung in den zugrunde liegenden Studien fließen je- für ein Aneurysmawachstum betrug circa 45 % über 19 doch zusätzliche, relevante Faktoren wie Rauchen, irre- Jahre. Das Risiko der Ruptur eines wachsenden IA ist guläre Aneurysmaform, familiäre Aneurysmen oder die dabei um den Faktor 12 erhöht (7, 19). Somit ist ein Qualität der Risikofaktorbehandlung in den PHASES- Aneurysmawachstum eine wichtige prognostische Score nicht ein. Für all diese Risikofaktoren ist ein hö- Kenngröße und begünstigt stark die Entscheidung für ei- heres beziehungsweise additives Rupturrisiko anzuneh- ne präventive Ausschaltung des Aneurysmas. men (7). Die größte Analyse des individuellen Wachstumsri- Die signifikanten Unterschiede bezüglich des Rup- sikos unrupturierter IA basiert auf zehn prospektiven turrisikos hinsichtlich der geografischen Lokalisation Kohortenstudien und Daten von insgesamt 1 507 Pa- (Nordamerika und Europa außer Finnland versus Finn- tienten mit 1 909 Aneurysmen, welche über 5 782 Pa- land versus Japan) führen dazu, dass beispielsweise tientenjahre beobachtet wurden (20). Dabei wurden fol- Daten aus Japan oder Finnland nur eingeschränkt auf gende unabhängige Risikofaktoren für eine Größenzu- Deutschland übertragbar sind (15). nahme identifiziert: Weitere Risikofaktoren zur Abschätzung des Ruptur- ● vorherige Ruptur eines anderen Aneurysmas risikos, welche durch weitere populationsbasierte oder ● Aneurysmalokalisation Fall-Kontroll-Studien erarbeitet wurden, sind in der Ta- ● Lebensalter belle zusammengefasst. Die unterschiedlichen Szena- ● geografische Herkunft rien der Entstehung und des Verlaufs von IA sind in Ab- ● Größe des Aneurysmas bildung 1 dargestellt. ● Form des Aneurysmas. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020 239
MEDIZIN KASTEN lem Morbidität (Modified Ranking Scale > 2) und Mortalität nach einem Jahr, neue neurologische Dos und Don’ts in der Beratung von Patienten mit Defizite am 30. Tag nach der Behandlung und eine unrupturierten Aneurysmen Hospitalisierung von mehr als fünf Tagen. Der primäre Endpunkt wurde bei 5 von 48 Patienten im mikro- – Beraten Sie über das Risiko, die Risikofaktoren und darüber, dass das chirurgischen Arm und bei 10 von 56 Patienten im en- kurzfristige Rupturrisiko klein ist (7). dovaskulären Arm erreicht (Odds Ratio[OR] 0,54 – Motivieren Sie zur Nikotinabstinenz und beraten Sie über zusätzliche [0,13; 1,9]). Im chirurgischen Arm zeigten sich häufi- Hilfe bei Entwöhnung und Entzug (6). ger neu aufgetretene neurologische Defizite (OR 3,12 – Behandeln Sie eine arterielle Hypertonie (6). [1,05; 10,57]) und eine höhere Anzahl von Patienten – Konsultieren Sie ein spezialisiertes neurovaskuläres Zentrum mit interdis- mit einer Hospitalisierung von mehr als fünf Tagen ziplinären Sprechstunden. (OR 8,85 [3,22; 28,59]). Bezüglich Morbidität und – Bedenken Sie die Möglichkeit eines Studieneinschlusses in PROTECT-U Mortalität gab es keinen relevanten Unterschied zwi- bei „nichtbehandlungswürdigen“ Aneurysmen (29). schen den beiden Modalitäten (3,6 % bei Coiling ver- sus 4,2 % bei Clipping) nach einem Jahr, sodass eine ● Don’ts evidenzbasierte Antwort auf die Frage „Coiling oder – Vermeiden Sie emotionalisierende Formulierungen, wie zum Beispiel „die Clipping?“ noch aussteht. Zeitbombe im Kopf“(7). Daten zum Behandlungsrisiko unrupturierter IA – Vermeiden Sie Risikobeurteilungen aufgrund eines einzelnen Kriteriums und seinen Determinanten wurden kürzlich in einer wie Aneurysmadurchmesser oder -lokalisation (6). großen Metaanalyse nichtrandomisierter Studien auf- – Raten Sie nicht zu Einschränkungen bei Sport, Geschlechtsverkehr, gezeigt (22). Es konnten insgesamt 114 Studien sowie Schwangerschaftswunsch oder Flugreisen (6, 38, 39). Daten von 106 433 Patienten und 108 263 IA einge- – Empfehlen Sie kein Screening Familienangehöriger außer in Fällen mit schlossen werden. Das Komplikationsrisiko wurde de- zwei oder mehr ebenfalls betroffenen erstgradigen Verwandten (6). finiert als „jegliches neurologisches Defizit nach The- rapie“ und betrug in den 74 Studien zur endovaskulä- ren Therapie 4,96 % [4,00; 6,12] und die Mortalität 0,30 % [0,20; 0,40]. Nach mikrochirurgischer Thera- pie betrug das Komplikationsrisiko in den 54 Studien Auf diesen einfach zu erhebenden sechs Variablen 8,34 % [6,25; 11,10] und die Mortalität 0,10 % [0,00; basiert der ELAPPS-Score. Er schätzt die Wahrschein- 0,20]. Einschränkend muss zu dieser Metaanalyse er- lichkeit eines Aneurysmawachstums in den nächsten wähnt werden, dass ein hoher Anteil der eingeschlos- drei oder fünf Jahren (20). senen Studien monozentrisch oder retrospektiv ist und die Daten keinen direkten Vergleich zwischen der mi- Behandlungsrisiko krochirurgischen und der endovaskulären Therapie Als ausschaltende Behandlungsverfahren stehen das zulassen. mikrochirurgische Clipping und die endovaskulären Somit bleibt die Frage nach der risikoärmsten und Therapieoptionen, vorzugsweise die Coilembolisation effektivsten „aktiven“ Behandlungsmethode unruptu- des Aneurysmas („Coiling“), aber auch zunehmend rierter IA mindestens bis zum Abschluss der CURES- neue Verfahren wie das Ballon-assistierte Coiling, das Studie weiterhin offen. Zudem wird auch diese Studie Stent-gestützte Coiling oder der Einsatz von Flow-Di- unscharfe, oft lokale Variablen, wie zum Beispiel die vertern zur Verfügung. Im Allgemeinen wird der mi- der individuellen Behandlungserfahrung, nicht messen krochirurgischen Behandlung eine höhere Invasivität können. Ebenso wenig wird dadurch die folgende, jeder und den endovaskulären Verfahren ein höheres Rezi- „aktiven“ Behandlung vorgeschaltete Frage der Indika- divrisiko zugesprochen. tion beantwortet werden. Neben einer Vielzahl retrospektiver, monozentri- scher Studien oder Industrie-basierter Registerstudien Beobachtung oder präventive Ausschaltung? gibt es bis dato nur eine unabhängige, randomisierte Diese Frage sollte für jeden Patienten mit einem unrup- kontrollierte Studie zum Behandlungsrisiko bezie- turierten IA individuell und in einem interdisziplinären hungsweise zum Behandlungserfolg bei Patienten mit spezialisierten zerebrovaskulären Team diskutiert wer- unrupturierten IA. Vorläufige Daten dieser aktuell den. Die Antwort kann aufgrund der Menge an Daten noch rekrutierenden Canadian Unruptured Endovas- zum Ruptur- und Behandlungsrisiko schwierig sein. Da cular versus Surgery (CURES)-Studie wurden 2017 die Schwellenwerte für die präventive Aneurysmabe- publiziert (21). Patienten mit unrupturierten IA wur- handlung über die letzten Jahre weitestgehend verlas- den in zwei Gruppen randomisiert: Clipping oder jeg- sen wurden, sind Beurteilungssysteme erarbeitet wor- liche endovaskuläre Behandlung. Primäre Endpunkte den, welche eine objektivere und individuellere Bera- waren dabei ein Behandlungsversagen, definiert als tung als früher ermöglichen. eine Aneurysmaruptur, eine Unmöglichkeit mit der Der PHASES-Score gestattet eine Schätzung des in- zugewiesenen Modalität behandeln zu können oder dividuellen 5-Jahres-Rupturrisikos unrupturierter IA ba- ein radiologisch nachgewiesener Aneurysmarest nach sierend auf einigen Risikofaktoren, allerdings ohne eine einem Jahr. Die sekundären Endpunkte waren vor al- Abwägung des geschätzten Therapierisikos. Der Unrup- 240 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020
MEDIZIN tured Intracranial Aneurysm Treatment Score (UIATS) ermöglicht dagegen eine Abwägung von Ruptur- gegen Kernaussagen Therapierisiko und bezieht dabei auch psychologische Aspekte wie die Angst vor einer Aneurysmaruptur mit ● Bei der Aneurysmaentstehung wirken Anlagefaktoren und vaskuläre Risikofaktoren ein (Fallbeispiele in Abbildung 2). Er beruht auf einem zusammen, hier insbesondere Bluthochdruck und Rauchen. Letztere haben auch Konsensprojekt von 39 interdisziplinären Aneurysma- für das Wachstum und die Ruptur eines intrakraniellen Aneurysmas eine hohe Be- spezialisten und einer anschließenden Validierung durch deutung und sind behandelbar. 30 weitere Aneurysmaspezialisten (23). ● Für die Schätzung des individuellen Risikos einer Ruptur zufällig entdeckter intra- Sofern eine präventive Aneurysmaausschaltung ge- kranieller Aneurysmen steht der datenbasierte PHASES-Score zur Verfügung. Er ba- wählt wird, sollte die am besten geeignete Modalität in- siert auf einfach erhebbaren Faktoren wie Aneurysmagröße, Aneurysmalokalisation, nerhalb des interdisziplinären Teams besprochen wer- vorherige Ruptur eines anderen Aneurysmas, Lebensalter und arterielle Hypertonie. den. Basierend auf den aktuell verfügbaren Daten aus ● Bei Therapieentscheidungen ist das Rupturrisiko gegen das Behandlungsrisiko un- nichtrandomisierten Studien ist das einfache Coiling ter Einbeziehung von Lebenserwartung und Begleiterkrankungen abzuwägen. Hier- gegenüber dem mikrochirurgischen Clipping zu bevor- bei hilft der expertenbasierte UIATS-Score. zugen. Ausnahmen bilden vor allem unrupturierte IA der Arteria cerebri media oder bei jungen Patienten ● In den meisten Fällen zufällig entdeckter unrupturierter Aneurysmen ist das 5-Jah- (< 40 Jahre), und zwar wegen des niedrigeren Rezidiv- res-Rupturrisiko niedriger (median circa 3 %) als das Risiko einer prophylaktischen risikos des Clippings. Die höhere perioperative Morbi- Ausschaltung. dität älterer Patienten oder solcher mit Komorbiditäten ● Sofern zunächst gegen eine operative oder endovaskuläre Aneurysmaausschaltung sind Faktoren, die eher für das endovaskuläre Coiling votiert wird, sollten eine risikomindernde konservative Behandlung und Größenkon- sprechen. Höhere komplette Verschlussraten und die trollen des Aneurysmas am besten mittels MR-Angiografie erfolgen. Beim Timing größere „Langlebigkeit“ sprechen insbesondere bei des Bildgebungsintervalls kann der ELAPSS-Score helfen. breitbasigen oder komplexen unrupturierten IA für das Clipping. Generell sollten IA der hinteren Zirkulation endovaskulär behandelt werden, da das operative Be- handlungsrisiko bei diesen Patienten deutlich höher als das endovaskuläre Behandlungsrisiko ist. Obwohl ein 1980 und 2010 weltweit um insgesamt etwa 40 % abge- „Zentrumseffekt“ bisher nur für rupturierte IA gezeigt nommen hat (3). werden konnte, sollte bei der Entscheidung für die bes- Daneben scheint der medikamentösen Behandlung te Therapiemodalität immer auch die individuelle Ex- der Inflammation in der Aneurysmawand eine zuneh- pertise der Behandelnden und des Zentrums einbezo- mende Bedeutung bei der Reduktion des Rupturrisikos gen werden (24). zuzukommen. Verschiedene experimentelle und klini- Sofern das Aneurysma zunächst beobachtet wird, sche Studien belegen, dass insbesondere Acetylsalicyl- kann der ELAPSS-Score der Wachstumswahrschein- säure (ASS) aufgrund ihrer antiinflammatorischen Ei- lichkeit eines IA für drei oder fünf Jahre bei der Pla- genschaften protektiv auf die Aneurysmastabilität wirkt nung der Bildgebungsintervalle helfen (20). Wir ver- (25, 26). Während einer Kohortenstudie bei 1 691 Per- weisen auf weitere Grundsätze der Beratung von Pa- sonen mit IA, welche aus anderen medizinischen Grün- tienten mit einem unrupturierten IA (Kasten). den mit ASS behandelt wurden, zeigte sich eine deutli- che Risikoreduktion für eine Aneurysmaruptur (OR Senkung des Rupturrisikos durch konservative 0,27 [0,27; 0,67]) im Vergleich zu dem Kollektiv ohne Therapien ASS-Behandlung (25). Diese Daten konnten nachfol- Sofern keine additiven Risikokonstellationen jenseits gend im Rahmen von populationsbasierten Studien bei der sechs Faktoren des PHASES-Scores vorliegen (Ta- über 200 000 Personen mit IA und niedrig dosierter belle), ist das gemittelte Rupturrisiko von IA relativ ASS-Langzeittherapie gestützt werden. Es zeigte sich niedrig (0,1–2 % über fünf Jahre in der PHASES-Ko- im Gesamtkollektiv eine mehr als 20-prozentige Re- horte) und somit deutlich niedriger als das Risiko einer duktion der Inzidenz aneurysmatischer Blutungen (27). prophylaktischen Ausschaltung. Solche Patienten soll- Die ASS-Behandlung von Patienten mit erlittener ten, sofern sie zustimmen, in der Regel zunächst mittels Aneurysmablutung ist auch nicht mit ausgedehnteren MR-Angiografie (Methode der Wahl) „beobachtet“ Subarachnoidalblutungen oder einer schlechteren Prog- werden. Initial empfehlen wir Untersuchungsintervalle nose assoziiert (28). von 6–12 Monaten, die bei stabiler Aneurysmagröße auf Intervalle von drei Jahren ausgedehnt werden kön- Ausblick nen. Neben der Beobachtung des IA ist die Behandlung Diese beiden konservativen Strategien für Patienten der Risikofaktoren einer Ruptur bedeutsam, hier vor al- mit unrupturierten IA (Blutdrucksenkung, ASS) be- lem des Blutdrucks und des Rauchens. dürfen weiterer wissenschaftlicher Überprüfung. Dies Diese Annahme stützend konnte eine unlängst erfolgt aktuell in der prospektiven, randomisierten, durchgeführte Metaanalyse mit Daten von mehr als nichtkommerziellen Phase-III-Studie PROTECT-U 8 000 Personen aus 32 Ländern zeigen, dass die Inzi- in Deutschland, den Niederlanden, in Kanada und denz aneurysmatischer SAB parallel zum systolischen Finnland (www.protect-u-trial.com, clinicaltrials.gov: Blutdruck und zur Prävalenz des Rauchens zwischen NCT03063541) (eTabelle) (29). Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020 241
MEDIZIN Interessenkonflikt 25. Hasan DM, Mahaney KB, Brown RD Jr, et al.: Aspirin as a promising agent for Prof. Etminan erhielt Drittmittel von der Dr. Rolf M. Schwiete Stiftung (Mannheim) decreasing incidence of cerebral aneurysm rupture. Stroke 2011 ; 42: 3156–62. zur Durchführung der PROTECT-U-Studie. 26. Hasan DM, Chalouhi N, Jabbour P, et al.: Evidence that acetylsalicylic acid Prof. Dörfler erhielt Vortragshonorare von den Firmen Medtronic, Microvention, attenuates inflammation in the walls of human cerebral aneurysms: preliminary ßPenumbra und Batt. results. J Am Heart Assoc 2013; 2: e000019. 27. Cea Soriano L, Gaist D, Soriano-Gabarro M, Bromley S, Garcia Rodriguez LA: Prof. Steinmetz erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. Low-dose aspirin and risk of intracranial bleeds: an observational study in UK general practice. Neurology 2017; 89: 2280–7. Manuskriptdaten eingereicht: 12. 9. 2019, revidierte Fassung angenommen: 6. 2. 2020 28. 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Etminan N, Brown RD Jr, Beseoglu K, et al.: The unruptured intracranial aneurysm treatment score: a multidisciplinary consensus. Neurology 2015; 85: 881–9. serung der schmerzfreien Gehstrecke durch Cilostazol 24. Lindgren A, Burt S, Bragan Turner E, et al.: Hospital case-volume is associated with oder Naftidrofuryl ist signifikant (IIb), aber mit 50–100 m case-fatality after aneurysmal subarachnoid hemorrhage. Int J Stroke 2019; 14: nach einem Jahr gering (3–8).“ MWR 282–9. 242 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020
MEDIZIN Zusatzmaterial zu: Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen – Pathogenese und individualisierte Behandlung Nima Etminan, Arnd Dörfler, Helmuth Steinmetz Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 235–42. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0235 eTABELLE Eckdaten PROTECT-U-Studie Sponsor und Leiter Universität Heidelberg der klinischen Prüfung (LKP) LKP: Prof. Dr. med. Nima Etminan, Klinik für Neurochirurgie, Universitätsklinikum Mannheim, Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68167 Mannheim Tel: 0621–3832360. E-Mail: nima.etminan@umm.de Ziel der Studie Prüfen, ob die intensivierte Blutdrucknormalisierung in Kombination mit ASS das Risiko der Aneurysmaruptur oder des Aneurysmawachstums (ein etabliertes Surrogat für das erhöhte Rupturrisiko) im Vergleich zur alleinigen Standard-Blutdrucknormalisierung senkt. Studientyp multizentrische, randomisierte und kontrollierte Phase-III-Studie PROBE- Design („prospective, randomized, open-label trial with blinded outcome assessment“) Intervention(en) experimentelle Intervention: Intensivierte Blutdrucknormalisierung (Ziel: < 120 mm Hg) plus 100 mg ASS täglich Kontrollintervention: Standard-Blutdrucknormalisierung (Ziel < 140 mm Hg) Verlaufsbeobachtung pro Patient: Minimum von drei Jahren unter Behandlung Dauer der Intervention pro Patient: Alle Patienten verbleiben drei Jahre nach Einschluss des letzten Patien- ten oder bis zum Zeitpunkt des primären Endpunkts Ein- und Ausschlusskriterien Haupteinschlusskriterium: Patienten mit intraduralen, sakkulären nichtrupturierten Aneurysmen, welche primär nicht prophylaktisch operativ oder endovaskulär behandelt werden sollen. Hauptausschlusskriterium: Patienten mit 1) einer bereits bestehenden täglichen Medikation mit ASS, 2) einer Kontraindikation für ASS inklusive Schwangerschaft, 3) einer schweren chronischen Niereninsuffizienz Endpunkte primärer Endpunkt: Aneurysmaruptur oder -wachstum (Zunahme des Durchmessers in jegli- cher Achse um ≥ 1 mm) in der seriellen Bildgebung (entweder 2 Mag- netresonanz- oder Computertomografien nach ≥ 3 Jahren) sekundäre Endpunkte: – Veränderungen des absoluten Aneurysmavolumens (automatisierte Analysen) bzw. der Aneurysmamorphologie (Entwicklung von Aussackungen) – Entwicklung von De-novo-Aneurysmen in der seriellen Bildgebung – neurochirurgische oder endovaskuläre Aneurysmabehandlung im Ver- lauf – kardiovaskuläre Ereignisse (jeglicher ischämischer oder hämorrhagi- scher Schlaganfall, Herzinfarkt oder jeder Tod vaskulärer Genese) – spontane extrakranielle Blutungen, welche eine Hospitalisierung erfor- dern – jeglicher Tod aufgrund von anderen Ursachen – Beurteilung von Sicherheit: unerwünschte oder schwere unerwünschte Nebenwirkungen Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 14 | 3. April 2020 | Zusatzmaterial I
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