UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020

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UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
UNSER DFF
Neue Räume schaffen –
   Ein Projektbuch

                        NOVEMBER 2020
                        KINOPROGRAMM
                         DEUTSCHES
                         FILMINSTITUT
                         FILMMUSEUM
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
VORWORTE           Unsere Türen so weit wie möglich öffnen                      2

                                                                                     INHALTSVERZEICHNIS
                   Ellen Harrington

                   Am Ende eines langen Weges steht hoffentlich:                4
                   ein Haus für den Film für Alle
                   Christine Kopf

                   Das DFF und die neue Stadtgesellschaft                       9
                   Aida Ben Achour

                   Über virtuelle „Dritte Orte“, ungeplante Projekt-Wendungen   10
                   und die Kraft der Begegnung im digitalen Raum
                   Barbara Dierksen

KOOPERATIONEN      MiA                                                          16
                   Migrantinnen fit für den Arbeitsmarkt

                   Al Karama                                                    34
                   Familienbildung im KiFaZ Nordwest

                   Über den Tellerrand                                          58
                   Volunteer Rockets, Tandem-Programm von:
                   Über den Tellerrand Frankfurt e.V.

                   Projektwoche                                                 66
                   Unser DFF – Ein Ausstellungsprojekt mit Jugendlichen in
                   außergewöhnlichen Zeiten

ZUKÜNFTIGE KOOPERATIONSPARTNER                                                  80

FRANKFURTER FILMSCHATZ                                                          82
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Unsere Türen
VORWORT

          so weit
          wie möglich
          öffnen
          Ellen Harrington

          Ellen Harrington
          Direktorin des DFF –
          Deutsches Filminstitut
          & Filmmuseum
2
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Kulturerbe-Institutionen stehen heute          Im Zentrum steht dabei immer das Ziel,

                                                                                              VORWORT
vor gewaltigen Aufgaben. Hinter den            Publikum zu gewinnen und in unsere Ak-
Kulissen setzen wir als DFF unermüdlich        tivitäten einzubinden. Dies spiegelt sich in
die Arbeit des Sammelns und Bewahrens          unserer täglichen Arbeit mit Akteur:innen
von Film und filmbezogenen Objekten            der Stadtgesellschaft, Studierenden, Fa-
fort. Unsere wichtigste Aufgabe aber ist       milien und allen anderen Besucher:innen
es sicherzustellen, dass diese Bilder und      sowie in unseren Ausstellungen, Film-
Objekte lebendig und relevant für die          reihen, Publikationen, Bildungsmaterialien,
nächsten Generationen bleiben, die in          Onlineformaten und zahlreichen anderen
einer sich wandelnden, von Migration und       Angeboten. Im Fokus steht hier immer,
unterschiedlichen kulturellen Identitäten      unser Team und die Öffentlichkeit auf
geprägten Stadtgesellschaft aufwachsen.        Augenhöhe zusammenzubringen.
Nur so können wir die Zukunft unseres
gemeinsamen kulturellen und künstle-           Ich möchte Sie ermutigen, die schönen,
rischen Erbes sichern, auch im Angesicht       bewegenden Arbeitsergebnisse der Teil-
der Covid-Pandemie, die die Welt auf den       nehmer:innen des Projekts zu erkunden
Kopf gestellt hat, und der langfristigen       und über das wichtige Postulat nachzu-
Herausforderungen im Hinblick auf die          denken, wonach das DFF tatsächlich und
Umwelt, die wirtschaftliche Stabilität und     in erster Linie den Besucher:innen gehört.
die demokratischen Werte.                      Ich bin sehr dankbar für die Bereitschaft
                                               der Teilnehmer:innen, ihre Geschichten
Um sich diesen wichtigen Aufgaben zu           mit uns zu teilen. Für sein großes Engage-
stellen, muss das DFF – Deutsches Film-        ment danke ich auch dem Projektteam
institut & Filmmuseum mit der Zeit gehen       unter der Leitung von Barbara Dierksen,
und seinen Auftrag immer wieder neu be-        das dieses Projekt trotz der pandemiebe-
kräftigen. Die Filmbildung und -vermittlung    dingten Verschiebungen und Lockdown-
ist eine der tragenden Säulen unserer          Beschränkungen zum Erfolg geführt hat.
Aktivitäten und spielt eine zentrale Rolle     Was das Team gemeinsam mit den Teil-
in unseren Bemühungen, das Haus im             nehmer:innen unter diesen Bedingungen
Kontext einer modernen Stadtgesellschaft       geleistet hat, ist bemerkenswert.
offener und interessanter zu gestalten.
Nur wenn wir unsere Türen so weit wie
möglich für ein diverses Publikum öffnen
und ehrliche Meinungen zulassen, können
wir unserem Anspruch gerecht werden.

Das jüngste Filmbildungsprojekt „Unser
DFF“ kann als Beispiel für unser Vorhaben
gesehen werden, offen und vorurteils-
frei neue Formate zu erforschen, die es
Menschen ermöglichen, in einer wertschät-
zenden Atmosphäre kreativ zu werden,
sich auszudrücken und die Kunstform
zu erleben, die wir lieben: das Kino. Das
Projekt ist Teil eines größeren Vorhabens
innerhalb des DFF, unserem Auftrag im
Hinblick auf Vielfalt, Inklusion und Zugäng-
lichkeit nachzukommen. Wir werden die
nächsten Jahre weiter daran arbeiten, unsere
Haltung und unsere Angebote von Grund
auf zu überprüfen. Unsere Teilnahme am
360°-Programm der Kulturstiftung des
Bundes, unsere Diversity-Arbeitsgruppen
und unser Strategieentwicklungsprozess
„Vision 2025“ sind einige der Maßnahmen,
mit denen wir hoffen, echte und nachhaltige
Veränderungen zu bewirken. Auch das Pro-
jekt „Unser DFF“ steht für dieses Vorhaben.
                                                                                              3
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Am Ende
VORWORT

          eines langen
          Weges steht
          hoffentlich:
          ein Haus
          für den Film
          für Alle
          Christine Kopf

          Christine Kopf
          Leiterin Filmbildung
          und -vermittlung
          Co-Leiterin Strategische
          Entwicklung
4
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Ein Junge sitzt an einem Tisch am Rand         Das DFF, das älteste filmwissenschaft-

                                                                                                                         VORWORT
einer Straße. Aus vielen Schüsseln füllt       liche Institut der Republik, wird unter
er hochkonzentriert Schicht um Schicht         anderem von der Beauftragten des Bun-
farbigen Sand in eine Flasche. Es ent-         des für Kultur und Medien gefördert. Wir
stehen filigrane Kunstwerke: zarte Blumen,     haben offiziell den Auftrag, das nationale
feine Muster. Der Regisseur Khaled Mzher,      Filmerbe zu sammeln, zu bewahren und
der den Jungen in Jordanien gefilmt hat,       lebendig zu halten. So steht es in unserer
unterstützt unser Schauen auf besondere        Satzung. Aber was genau ist in unserer Mi-
Weise. Zunächst sind seine dokumenta-          grationsgesellschaft 2021 das „nationale“
rischen Aufnahmen schwarz-weiß, dann,          Filmerbe? Darüber müssen wir uns drin-
Stück für Stück, entdecken wir die Vielfalt    gend neu verständigen, und dafür haben
der Farben des auf 16mm gedrehten              wir im Projekt „Unser DFF“ den Frankfurter
Films. COLOR MAKER heißt das 2017 ent-         Filmschatz angelegt: damit wir als Haus
standene kurze Werk, in den Titel gehen        von unseren Besucher:innen lernen kön-
der Regisseur und der junge Sandkünstler       nen, was wir für sie bewahren sollen. Die
dann auch gemeinschaftlich ein.                Ergebnisse sind komplex, sie lassen sich
                                               mit dem schlichten Strickmuster „Natio-
In einem Workshop des Projekts „Unser          nalität“ nicht mehr abbilden. Eines sagen
DFF“ waren Jugendliche aufgefordert,           sie uns aber sicher: Wir müssen Cinema-
Gegenstände im Foyer des DFF auszu-            tographien jenseits des westeuropäischen
stellen, die für sie persönlich eine hohe      Kinos und Hollywoods noch deutlich mehr
Bedeutung haben. In einer durchsichtigen       Raum geben. Andernfalls würde unser
Halbkugel ist nun eine sehr kleine Flasche     Haus auf Dauer uninteressant.
mit farbigem Sand zu sehen, gestaltet als
Anhänger, mit der Aufschrift „Jordan“. Ein     Deutschland hat lange gebraucht, um an-
Erinnerungsstück an den Großvater.             zuerkennen, dass es ein Einwanderungs-
                                               land ist. Die Erkenntnis spiegelt sich noch
Ich musste sofort an den Film COLOR            kaum in unseren Kulturinstitutionen, die
MAKER denken. Wir arbeiten in mehreren         doch gerade weltoffen, modern und inno-
Projekten mit künstlerischen Kurzfilmen        vativ sein sollten. Aber nein, sie verharren,
von Khaled Mzher, die immer auch das           sie bewegen sich in nur kleinen, zäh
analoge Material, auf dem sie entstanden       erkämpften Schritten. Mark Terkessidis
sind, thematisieren. 1 Wir haben fest-         bescheinigte ihnen schon 2010 in seiner
gestellt, dass Kinder und junge Menschen       Publikation „Interkultur“ eine „gläserne
mit familiärem Bezug zur arabischen Welt       Decke“, die echte kulturelle Teilhabe ver-
in ihnen (auch) ein Stück Heimat sehen,        hindert. Die Kulturstiftung des Bundes leg-
sie können „andocken“. 2 Dass uns in der       te 2018 das Programm 360° (www.360-
Vermittlung Fragen dieser Art beschäfti-       fonds.de) auch deswegen auf, weil sich
gen, hat damit zu tun, dass unser Haus für     eben von allein gar nichts tut. Auch das
Filmkultur in Frankfurt steht. Diese Stadt     DFF, in einer ehemaligen Bürgervilla am
fällt bei Soziolog:innen in die Kategorie      Mainufer im Herzen Frankfurts gelegen,
„super-divers“. Anders ausgedrückt: 70         fühlt sich keinesfalls automatisch offen        1
                                                                                                Zum Beispiel im
Prozent aller Frankfurter Kinder unter         für alle an, obwohl unser Gründer Hilmar        „MiniFilmclub“ und
sieben Jahren haben Verwandte in der           Hoffmann sich das immer gewünscht hat.          bei unserem neuen
ganzen Welt. Vermittlung heißt in diesem       In der Tradition seines Diktums „Kultur für     digitalen Bildungsan-
Kontext – und vielleicht ja auch immer und     alle“ (bei dem er damals allerdings noch        gebot „Filmspielplatz“,
                                                                                               das wir im November
ganz generell – vor allem eines: der sorg-     nicht das Einwanderungsland im Sinn hat-        launchen werden.
fältige Aufbau persönlicher Beziehungen,       te) ist der Eintritt für junge Menschen bis
ein aktives „ins Haus holen“ einzelner         18 Jahre in Frankfurter Museen seit 2017        2
                                                                                                 Vgl. Alejandro Bach-
Menschen, das Ausloten gemeinsamer             kostenlos. Das mag werbewirksam sein,           mann: Im Kino das Ge-
                                                                                               fühl haben, die erste
Interessen, jenseits von zahlenorientier-      ist aber nur der erste Schritt auf einem
                                                                                               oder zweite Heimat
tem Audience Development. Das ist ein          langen Weg.                                     wiederzuentdecken.
nachhaltiger und uns erfüllender Prozess,                                                      In: Perspektiven Früh-
aber einer, der viel Zeit braucht. Ich danke   Das DFF nimmt seit Sommer 2019 am               kindlicher Filmbildung.
Barbara Dierksen, Hien Mai und Julian          Programm 360° teil, wir haben zwei              Themenheft 1: Filmäs-
                                                                                               thetik und Kinomagie
Namé für ihr unermüdliches Engagement          Kolleg:innen, die uns auf unserem langen        – Erfahrungen mit dem
für das Projekt „Unser DFF“, allen Corona-     Weg zur wirklichen Öffnung zur Seite ste-       MiniFilmclub, Frankfurt
Widrigkeiten zum Trotz.                        hen. In der Filmbildung und -vermittlung        2020, S. 19–26.
                                                                                                                         5
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
verorten wir uns in der „transformativen        immer überraschenden Menschen, die
VORWORT

                                    Kulturvermittlung“, in unserem Leitbild ver-    in keine Schubladen passen. Da gibt es
                                    schreiben wir uns einem diskriminierungs-       die Vertreter:innen einer empowerten,
                                    kritischen Vermittlungsansatz, kulturelle       jungen postmigrantischen Generation,
                                    Teilhabe für ein diverseres Publikum sind       die wenig Geduld haben mit unserer, aus
                                    zentrales Ziel und Motivation unserer           ihrer Sicht, behäbigen Lernreise. Oder
                                    Aktivitäten und Projekte.                       die Frau aus dem Reinigungsteam des
                                                                                    DFF, die, nachdem wir die Kommunikation
                                    Also alles eitel Sonnenschein im DFF?           über ein Übersetzungsprogramm auf
                                    Weit gefehlt. Die Disziplin, der sich Kine-     dem Handy hergestellt und sie nach
                                    matheken wie unsere verpflichtet fühlen, ist    ihren Lieblingsfilmen für den Frankfurter
                                    die Filmwissenschaft. Die Geschichte und        Filmschatz gefragt haben, eine Liste mit
                                    Theorie des Mediums Films haben wir als         cinephilen Meisterwerken von Polanski
                                    Kurator:innen, Archivar:innen und Vermitt-      bis Pawlowski schickt.
                                    ler:innen studiert. Im Ankündigungstext der
                                    Tagung „Screen Worlds: Decolonising Film        Ich schreibe jetzt eine Plattitüde auf, weil
                                    and Screen Studies“ wird mit Bezug auf          es mir wichtig erscheint, dies angesichts
                                    Robert Stams Film Theory: An Introduction       des Standes der gegenwärtigen Diskus-
                                    die historische Beziehung des Films zu Im-      sion in Kulturinstitutionen festzuhalten: Es
                                    perialismus, Kolonialismus und Rassismus        gibt sie nicht, die Zielgruppe „Menschen
                                    als das am wenigsten erforschte Gebiet          mit Migrationserfahrung“ 4.
                                    der Filmwissenschaft beschrieben. Weiter
                                    heißt es dort: „This is, in spite of the fact   In den USA gehören die Museen den
                                    that the film medium, since its invention in    reichen Mäzen:innen, ihre Namen
                                    the late 1800s, was powered by White pat-       schmücken einzelne Säle. Ein deutsches
          3
            Vgl. https://           riarchal privilege and racist representations   Museum gehört den in diesem Land
          screenworlds.org/
                                    of Africans, Asians, indigenous communi-        lebenden Menschen. Sie bezahlen
          submissions/call-for-
          submissions-decoloni-     ties and, in particular, Black people – and     unsere Arbeit mit ihren Steuern. Vor uns
          sing-film-and-screen-     which are still evident today in films and      steht die Mammut-Aufgabe, unser Haus
          studies/                  filmmaking practices. The discipline of Film    so umzubauen, dass es zukünftig für
                                    and Screen Studies also remains mostly          diese potenziellen Besucher:innen noch
          4
            Vgl. https://glossar.   Eurocentristic in its historical, theoretical   Relevanz hat. Wo sind die Filme und das
          neuemedienmacher.
          de/glossar/menschen-
                                    and critical frame-works, despite import-       dazugehörige Non-Film-Material von
          mit-migrationshinter-     ant, ongoing critiques by Third cinema,         BIPoC 5 oder auch einfach nur von Frauen
          grund-mh/                 Black and other film scholars, and despite      in unserer Sammlung? Was machen wir
          5
                                    the attempts of world cinema scholars to        mit Bias (d.h. Verzerrungen) und rassis-
           Black, Indigenous        expand the field.“ 3                            tischen Begriffen in alten Filmkritiken in
          and People of Color,
          vgl. https://glossar.                                                     unseren Datenbanken? Wie gelingt es
          neuemedienmacher.         Wir sind nicht nur in dieser Disziplin sozia-   uns, mit dem eigenen Rassismus kritisch
          de/glossar/people-of-     lisiert, als Cinephile pflegen wir darüber      umzugehen, wie verlassen wir kollektiv als
          color-poc/                hinaus eine leidenschaftliche Beziehung         Team und nicht nur einzeln „Happyland“ 6,
          6                         zu „unserer“ Kunstform (vgl. unser Mission      wie erkennen wir unseren „White Gaze“ 7,
            „Happyland“ nennt
          Topoka Ogette den         Statement: „Film ist alles. Alles ist Film“).   wie verändern wir unsere eingefahrenen
          „Zustand, in dem wei-     Einsichten und Veränderungen tun weh.           Praktiken? Wie können wir in unserem
          ße Menschen leben,        Das Erbe, das wir laut unseres kulturellen      vollen Alltag mit seinen Mühen der orga-
          bevor sie sich aktiv      Auftrags bewahren, lebendig halten und,         nisatorischen Ebene, mit dem sich an den
          und bewusst mit Ras-
          sismus beschäftigen“
                                    speziell in unserer Abteilung, an ein junges    Universitäten rasant entwickelnden Dis-
          (vgl. Topoka Ogette:      Publikum vermitteln wollen: Es ist voller       kurs mithalten (und wenn uns das nicht
          exit RACISM , Münster     Stereotypen und Rassismen, es ruft (auch)       gelingt, wie ist es dann weiterhin möglich,
          2017, 2019, S. 21ff.).    Verletzungen hervor. Die Intersektionalität,    talentierte Nachwuchskräfte für das Haus
          7                         also der Umstand, dass Menschen von             zu gewinnen?); mit welchen historischen
           „White Gaze”
          bezeichnet ein            mehreren unterschiedlichen Diskrimi-            Filmen können wir arbeiten, ohne Stereo-
          Phänomen, das immer       nierungsformen betroffen sind, macht            typen zu reproduzieren; wie diversifizie-
          dann auftritt, wenn       unsere Aufgabe noch komplexer. Während          ren wir langfristig unser Team?
          Weißsein als Standard     Marketingagenturen hoffen, ihren Alltag
          angenommen wird
          (vgl. https://rosa-mag.
                                    mit Kund:innen-Typologien zu verein-            Ohne unsere 360°-Agent:innen, Aida Ben
          de/was-ist-der-white-     fachen, machen wir als Vermittler:innen         Achour und Rabih El-Khoury, ohne ihre
          gaze/).                   Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen,         Expertise und Erfahrung, ihr situiertes
6
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Filmstill aus COLOR MAKER
(Deutschland/Jordanien 2017, R: Khaled Mzher)

7                                               VORWORT
UNSER DFF Neue Räume schaffen - Ein Projektbuch - NOVEMBER 2020
Wissen und ihre persönlichen Netzwerke,
VORWORT

          vor allem aber ohne ihre Bereitschaft,
          sich mit uns trotz unserer Sozialisation
          voller Privilegien und unserer Wissens-
          lücken als ein Team zu fühlen und die
          Aufgabe gemeinsam anzugehen, hätte
          ich schon längst aufgegeben. Ich bin ihnen
          auf vielen Ebenen zum Dank verpflichtet.

          Was kann ich konkret tun? In den Bereich
          meines Handlungsspielraums gehört: in
          den Publikationen der Filmvermittlung kei-
          nen glatten Text, wie „ach so divers“ unser
          Haus sei, zu veröffentlichen. Sondern
          stattdessen immer wieder die Brüche, Lü-
          cken, Schmerzen transparent zu machen,
          ehrlich zu bleiben. Mit dem Team und mir
          selbst geduldig zu sein, und viel Raum für
          Diskussion und Lernen einzubauen – aber
          auch nicht zu geduldig. Die Balance und
          unseren Weg generell immer wieder
          neu auszuhandeln, permanent an unserer
          Haltung und unserem Wissensstand zu
          arbeiten, viel zuzuhören. Dem institu-
          tionellen, kanonisierten Wissen und den
          anerkannten Beständen der DFF-Archive
          in einer Geste der Erneuerung ein Kalei-
          doskop von persönlichen Geschichten,
          neuen Wissensbeständen und auch per-
          sönlichen Objekten (hier kommt die kleine
          Flasche mit dem Sand wieder ins Spiel)
          gegenüberzustellen. Die Vielfalt an Pers-
          pektiven und das permanente Kontextu-
          alisieren zur Methode zu erheben. Nicht
          müde und mürbe werden, angesichts von
          Widerständen (von Gendersternchen bis
          Disney-Disclaimern 8). Sich der Wut von
          Menschen mit Diskriminierungserfahrung        8
                                                          Disney Enterprises,
          zu stellen, auch wenn es weh tut und es       Inc. stellt einigen
          einfacher wäre, ihr auszuweichen.             seiner Filme seit 2019
                                                        und in verschärfter
                                                        Form seit Herbst
          Der Soziologe Aladdin El-Maafalani
                                                        2020 einen Disclaimer
          schreibt, dass Konflikte ein gutes Zeichen    voran, der vor rassis-
          seien – lassen sie doch darauf schließen,     tischen Stereotypen
          dass Menschen mit Migrationsgeschichte        in den Zeichentrick-
          in einer Gesellschaft angekommen sind,        Klassikern warnt (vgl.
                                                        z.B. https://www.faz.
          die von der Beteiligung der Vielen lebt       net/aktuell/wirt-
          und alle mitnehmen möchte. Das macht          schaft/unternehmen/
          mir Mut. Und wenn ich dann sehe, wie an-      disney-warnt-vor-ras-
          geregt die Frauen von der Projektgruppe       sismus-in-seinen-film-
                                                        klassikern-17010750.
          des Eltern-Kind-Zentrums Al Karama
                                                        html). Anlässlich der
          über den ägyptischen Film YOMEDDINE           aktuellen Ausstellung
          (Ägypten/Österreich/USA 2018, R: A.B.         „The Sound of Disney.
          Shawky) in unserem Kino diskutieren           1928-1967" im DFF
          oder wie die jungen Teilnehmer:innen der      haben wir uns gefragt,
                                                        wie wir uns in der Aus-
          Projektwoche sich unser Café ausmalen,        stellung und bei der
          bin ich voller Hoffnung auf eine offene       begleitenden Filmreihe
          Gesellschaft.                                 dazu positionieren.
8
Das DFF und               Migration hat das Zusammenleben in

                                                                        VORWORT
                          Frankfurt am Main entscheidend geprägt
                          und wird es auch in Zukunft prägen:

die neue                  Mehr als 70% der hier heranwachsenden
                          Kinder und Jugendlichen haben eine

Stadtgesell-
                          Migrationsgeschichte. Für die Kulturinsti-
                          tutionen der Stadt heißt das, dass sie sich
                          die Frage stellen müssen, wer eigentlich

schaft
                          die Zielgruppen der Bildungsarbeit,
                          der Programme und Ausstellungen sind
                          und ob diese adäquat erreicht werden.
                          Es bedeutet darüber hinaus, etwa für
Aida Ben Achour           das DFF – Deutsches Filminstitut & Film-
                          museum, den Blick nach innen zu richten
                          und kritisch zu hinterfragen, welche
                          Veränderungen vorgenommen werden
                          müssen, um als Institution auch in
                          Zukunft ein lebendiger Ort für Filmkultur
                          für alle zu sein.

                          Das DFF hat es sich mit der Teilnahme
                          am Programm 360° – Fonds für Kulturen
                          der neuen Stadtgesellschaft zur Aufgabe
                          gemacht, Menschen mit Migrationsge-
                          schichte stärker anzusprechen und Wege
                          für ihre aktive Teilhabe zu schaffen.
                          Auch das Projekt „Unser DFF“ hat es sich
                          zum Ziel gesetzt, die neue Stadtgesell-
                          schaft und die Wünsche, die Frankfur-
                          ter:innen mit internationaler Geschichte
                          an ein Haus wie das DFF haben, besser
                          kennenzulernen. Das 360°-Team des
                          DFF hat dem Projektteam dabei geholfen,
                          Kooperationspartner zu finden, die
                          verschiedene Blickwinkel und Erfahrun-
                          gen in das Projekt einbringen konnten.

                          Es sind vor allem die Perspektiven der
                          Menschen mit Migrationsgeschichte
                          und -erfahrung, denen das Projekt auf
                          den Grund gehen will. Es geht aber
Aida Ben Achour           auch um die Wünsche und Bedürfnisse
DFF Outreach Managerin    der verschiedenen Altersgruppen:
im Programm 360° –        Was vermissen die Jungen, die Alten und
Fonds für Kulturen der    diejenigen, die mitten im Leben stehen?
neuen Stadtgesellschaft   Sind wir zugänglich genug, sympathisch
der Kulturstiftung des    genug, flexibel genug, um sie alle zu
Bundes                    erreichen? Um diese Erkenntnisse
                          zu gewinnen, haben wir das Projektteam
                          bei seiner Arbeit sehr gerne unterstützt.
                                                                        9
Unser DFF
VORWORT

          Über virtuelle „Dritte
          Orte“, ungeplante
          Projekt-Wendungen
          und die Kraft
          der Begegnung im
          digitalen Raum
          Barbara Dierksen

          Barbara Dierksen
          Projektleiterin „Unser DFF”
          Projektmanagerin Film-
          bildung und -vermittlung
10
Als die Idee und das Konzept zu „Unser      Teilnehmer:innen keine digitalen End-

                                                                                         VORWORT
DFF“ im Frühjahr 2019 entstand, wusste      geräte zur Verfügung. Zudem existierten
noch niemand von einem Virus namens         Sprachbarrieren, die mitunter eine zusätz-
Covid-19 und welche Auswirkungen es         liche Vermittlung erforderten. Formate,
auf die gesamte Welt und damit auch auf     in denen ein persönlicher Austausch
den Kulturbetrieb haben würde. Auch         notwendig ist und Vertrauensverhältnisse
wenn das Thema Corona für viele über-       erst entstehen müssen, können nicht ein-
strapaziert sein mag, muss ein Bericht      fach schnell verändert oder gar ersetzt
über das Projekt damit beginnen, wie        werden. Die persönliche Begegnung, die
sehr es sich durch die Folgen der Pande-    bei unserem Projektansatz die Kern-
mie verändert hat.                          voraussetzung war – sie war nicht mehr
                                            möglich.
„Unser DFF“ startete mit der Zielset-
zung, das Haus diverser und inklusiver      So mussten wir uns von den ursprüng-
zu machen und gemeinsam mit Teilen          lichen Projektpartnern, mit denen
der Stadtgesellschaft an einer Öffnung      über mehrere Monate ein regelmäßiger
des Museums zu arbeiten. Anfang des         Austausch stattgefunden hatte und
Jahres 2020 waren wir in den Startlö-       Workshop-Ideen entwickelt wurden, ver-
chern: Wir hatten alle Kooperationspart-    abschieden (dazu mehr auf den Seiten
ner und Gruppen gefunden, Workshops,        80/81) – mit Ausnahme des Familienbil-
Veranstaltungen und Ausstellungen           dungszentrums „Al Karama“, mit dem wir
gemeinsam entwickelt und geplant. Im        im Oktober 2020, kurz vor dem zweiten
März sollte die praktische Arbeit mit       Lockdown, zwei Veranstaltungen reali-
der ersten Projektgruppe beginnen –         sieren konnten, aus denen schließlich ein
und dann kam der erste Lockdown.            eindrucksvolles Fotoprojekt hervorging.
Wie alle im Kulturbereich war auch ich
hoffnungsvoll, dass wir bald wieder         Der Entscheidung für eine Überführung
unsere Arbeit aufnehmen können, und         des Projekts in ein digitales Format
so verschoben wir die geplanten Aktivi-     gingen einige schlaflose Nächte voraus,
täten für ein paar Monate. Ende des         Zweifel an der Übertragbarkeit in einen
Jahres 2020 wurde schließlich klar, dass    virtuellen Raum ausgerechnet in diesem
das Projekt nur dann noch eine Chance       Projekt, intensive Umdenkprozesse.
auf Realisierung haben würde, wenn wir      Doch konnten wir neue Partner gewin-
uns von Begegnungen im realen Raum          nen, mit denen digitale Formate möglich
verabschiedeten und uns stattdessen         waren. Neue Projektideen wurden be-
in den virtuellen Raum begäben. Diese       sprochen und gemeinsam konzipiert, und
Entscheidung fiel bei diesem Projekt aus    mit zwei Gruppen nahmen wir schließlich
mehreren Gründen besonders schwer:          Anfang des Jahres 2021 die digitale
Wir wollten ja der Frage nachgehen,         Workshoparbeit auf: mit „MiA – Mig-
welche Veränderungen notwendig sind,        rantinnen fit für den Arbeitsmarkt“ und
um unser Haus offener und einladender       mit „Über den Tellerrand“. Diese beiden
zu gestalten und es stärker zu einer        wertvollen Partner hätten wir sonst –
Begegnungszone zu machen. Doch wie          zumindest bei diesem Projekt – nicht
kann das gelingen, wenn das Haus ge-        kennengelernt. Dass unsere anfänglichen
schlossen ist und die Beteiligten weder     Zweifel in eine solch bereichernde Zu-
das DFF noch das Projektteam persön-        sammenarbeit mündeten mit Partnern,
lich kennenlernen können? Wir konnten       mit denen wir schon jetzt gemeinsame
also weder in das DFF einladen, um den      Pläne für die Zukunft geschmiedet ha-
Beteiligten die Möglichkeit zu geben, den   ben, ist ein großer Gewinn des Projekts.
Museumsraum zu entdecken und das
Team kennenzulernen, noch Workshops         Die vierte „Unser DFF“-Gruppe bestand
in den Institutionen und Vereinen in den    aus sieben Jugendlichen, die sich zu ei-
unterschiedlichen Stadtvierteln abhal-      ner Projektwoche in den Osterferien zu-
ten. Neben diesen für sich genommen         sammenfanden. Die Jugendlichen ließen
schon „außergewöhnlichen“ Umständen         sich dabei auf eine ungewöhnliche und
erschwerten verschiedene Gegeben-           für alle Beteiligten schwierige Konstel-
heiten im Hinblick auf die Gruppen eine     lation ein: Gemeinsam mit dem Projekt-
Überführung ins Digitale. So hatten viele   team erarbeiteten sie eine Ausstellung
                                                                                         11
im sogenannten „Luftraum“ im Foyer           Format charakterisiert, den Zugang zum
VORWORT

                                    des DFF, ohne das DFF vorher von innen       Projekt vielleicht sogar erleichterte. Die
                                    gesehen zu haben, und ausschließlich         Gesichter von zwei jugendlichen Teilneh-
                                    digital zugeschaltet – ein bemerkens-        mer:innen etwa habe ich bis heute nicht
                                    werter Einsatz nach langen Monaten des       gesehen, da sie ihre Kameras nicht ein-
                                    Home-Schoolings vor dem PC.                  geschaltet hatten – und gerade sie teilten
                                                                                 sich besonders offen mit. Es gab in den
                                    Führt man sich all diese ungewöhnlichen,     virtuellen Treffen der Gruppen viele un-
                                    herausfordernden Umstände vor Augen          erwartete und überraschende Momente:
                                    und trägt die Erfahrungen dieser Zeit zu-    konfliktreiche Situationen und gesell-
                                    sammen, so ist es überraschend, dass ge-     schaftspolitische Diskussionen, aufwüh-
                                    rade der Projekt-„Endspurt“ einen solch      lende Lebensgeschichten, miteinander
                                    wertvollen Lern- und Erfahrungsschatz        geteilte Sorgen. Situationen, die irgendwo
                                    barg. Die Lernerfahrungen, die aus der       in den Zwischenräumen der mensch-
                                    Zusammenarbeit mit den einzelnen Pro-        lichen und institutionellen Beziehungen
                                    jektgruppen hervorgegangen sind, lassen      stattfinden. Als uns die Jugendlichen am
                                    sich in den jeweiligen Kapiteln nachlesen    dritten Tag der Projektwoche ihre persön-
                                    – und deshalb seien hier stellvertretend     lichen Lieblingsobjekte zeigten, die sie
                                    nur drei mir besonders wichtige genannt:     ausstellen wollten und die auch hier im
                                    Ein diverses Projektteam wie das unsere      Buch zu sehen sind, waren wir überrascht
                                    erleichterte es den Teilnehmer:innen,        von der Auswahl und der Offenheit,
                                    Beziehungen und eine vertrauensvolle         mit der sie ihre teils sehr persönlichen
                                    Kommunikation aufzubauen. Für eine gute      Geschichten mit uns teilten. Dies war
                                    Kommunikation mit einer Gruppe mit un-       einer von vielen Momenten, in denen das
                                    terschiedlichen Sprachkenntnissen ist die    in partizipativen Bildungsprojekten viel-
                                    Unterstützung durch eine vermittelnde        beschworene „gegenseitige Lernen vom
                                    Person unerlässlich. Und, es mag banal       anderen“ plötzlich so viel mehr war als
                                    klingen, aber wir machten alltäglich diese   ein evaluiertes „Gelerntes“, das später in
                                    Erfahrung: Instant-Messaging-Dienste         einem Sachbericht auftaucht.
                                    sind für einen Austausch innerhalb eines
                                    solchen Projekts, in dem die Grenzen         Selten bin ich in meinen Projekten inhalt-
                                    zwischen Privatem und Beruflichem            lich so nah an den für meine Arbeit zentra-
                                    oft verschwimmen, nahezu unverzicht-         len Wunsch gekommen, das DFF als einen
                                    bar, E-Mail-Verkehr ist dagegen nahezu       gesellschaftlich relevanten „Third Place“ 1
          1
           „Third Place“ wurde      bedeutungslos. Das Projekt hat in aller      zu etablieren. Als einen Ort, an dem ein
          von dem amerikani-        Deutlichkeit gezeigt: Es kostet Zeit und     (gesellschaftlicher) Austausch quer durch
          schen Soziologen Ray                                                   alle Altersgruppen und biografischen und
                                    Nerven, aber es ist immer lohnend und
          Oldenburg geprägt als
          ein Ausdruck für einen    gewinnbringend, sich (auch unabhängig        sozialen Hintergründe möglich ist. Ein
          öffentlichen und für      von einer Pandemie) auf neue Gegeben-        vertrauter Begegnungsraum und Bezugs-
          alle zugänglichen drit-   heiten einzustellen und mit Abstand auf      punkt, an dem Themen wie Film und Kino
          ten Ort der Begegnung     im Vorfeld definierte Projektpläne, die      neben solchen wie Herkunft, Identität
          neben dem Zuhause
                                    für Anträge zielgenau und überzeugend        und Migration stehen, an dem aber auch
          und dem Arbeitsplatz.
          Vgl. Ray Oldenburg:       formuliert werden müssen, zu blicken.        Gespräche über persönliche, alltägliche
          The Great Good Place:                                                  Erlebnisse ihren Platz haben. Und mir
          Cafés, Coffee Shops,      Inwieweit müssen (Museums)Räume              scheint, dass die Intensität der digitalen
          Community Centers,        tatsächlich von den Beteiligten vor Ort      Begegnungen den Nachteil des nicht-per-
          Beauty Parlors,
          General Stores, Bars,     „erfahren“ werden, um über sie zu spre-      sönlichen Kontakts aufgewogen hat und
          Hangouts, and How         chen, um sie zu beurteilen, um eigene        eine Form des virtuellen „Third Place“
          They Get You Through      Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken         geschaffen werden konnte.
          the Day, New York         und mögliche Leerstellen zu benennen?
          1989. Inzwischen gibt
                                    Sind die auf diesem Weg formulierten         Wie kann es weitergehen, wie wünschen
          es auch in Deutsch-
          land Versuche, „Dritte    Perspektiven weniger hilfreich, nur weil     wir uns, dass es weitergeht? Zunächst
          Orte“ in Museen zu        sie nicht im realen Raum selbst geäußert     einmal gilt es, die Kommunikation mit
          etablieren. Das Kölner    wurden? Oder kann es vielleicht genau        den Projektteilnehmer:innen nicht abrei-
          Rautenstrauch-Joest-      andersherum sein? Wir machten in allen       ßen zu lassen. Die vielen ausgesprochenen
          Museum in Köln etwa
          öffnet sein Foyer für
                                    Gruppen die Erfahrung, dass gerade die       Einladungen in unser Haus einzulösen, die
          Treffen von Migrant:in-   Möglichkeit der Anonymität des digitalen     Ideen der Teilnehmer:innen peu à peu
                                    Raums und die Distanz, die das digitale      umzusetzen, und, irgendwann hoffentlich,
12

          nenorganisationen.
Ausstellungsansicht: Unser DFF – Ein Ausstellungsprojekt mit Jugendlichen in
     Workshop im Eltern-Kind-Zentrum Al Karama   außergewöhnlichen Zeiten

13                                                                                                                              VORWORT
14                                                                                                        VORWORT

Ausstellungsansichten: Unser DFF – Ein Ausstellungsprojekt mit Jugendlichen in außergewöhnlichen Zeiten
auch die Pläne mit den zu Beginn

                                                                      VORWORT
beteiligten Projektpartner:innen zu ver-
wirklichen. Das also weiter zu verfolgen,
was uns unserem Ziel, ein offenes und
einladendes Haus für alle zu sein, ein
weiteres Stück näherbringt: die auf-
gebauten Beziehungen kontinuierlich
zu pflegen, Räume des Dialogs und der
Diskussion zur Verfügung zu stellen
und unser Museum damit weiter auch
strukturell zu verändern und zukunfts-
fähig zu gestalten. Ganz im Sinne eines
„Liquid Museums“, das seine Inhalte,
Konzepte und Methoden nicht als eine
starre, zu erhaltende Realität ansieht,
sondern das bereit ist, sich gemeinsam
mit einem neuen Publikum für Verände-
rungen einzusetzen. Es war, glaube ich,
Nina Simon 2, die sagte, dass man ein
gelungenes kollaboratives Projekt daran
erkennt, was nach seinem Ende passiert.
Ich hoffe sehr, dass wir diesen Test be-
stehen und es uns gelingt, Ressourcen
und Finanzen dafür bereitzustellen.

Mein Dank geht an alle Projektteil-
nehmenden für ihr Vertrauen, ihren Mut
und ihre bereichernden Geschichten.
Samah Affani, Aicha Bah-Diallo und
Leonie Pohlmann danke ich für ihre
engagierte Vermittlung der Projektgrup-
pen. Einen großen Dank auch an Aida
Ben Achour und Rabih El-Khoury für
ihre Leidenschaft und Geduld, mit der
sie meine Kolleg:innen und mich in auf-
regenden und mitunter anstrengenden
interkulturellen Lernprozessen unter-
stützen. Und ganz besonders herzlich
danke ich meinem Team, Hien Mai und
Julian Namé, das mit großer Klugheit,
Sensibilität und unglaublichem Esprit
dieses wichtige Projekt gemeinsam mit
mir gestaltet hat. „It never should have
happened”, scherzten wir gegen Projekt-
ende über „Unser DFF“. Aber wie gut,
dass es dennoch passiert ist.

                                            2
                                              Nina Simon ist Exper-
                                            tin für partizipative
                                            Museumsformate und
                                            Autorin von The
                                            Participatory Museum
                                                                      15

                                            (2010).
16   MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                     MiA
                    den Arbeitsmarkt
                    Migrantinnen fit für
Das Projekt MiA –       Das Projekt MiA – Migrantinnen fit für

                                                                           MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
                        den Arbeitsmarkt wird gemeinsam
Migrantinnen fit für    von beramí berufliche Integration e.V.

den Arbeitsmarkt        und jumpp – Ihr Sprungbrett in die
                        Selbständigkeit, Frauenbetriebe e.V.
begleitet zugewan-      umgesetzt und durch die SKala-Initia-
                        tive gefördert.
derte Frauen aus
Frankfurt und dem       Während jumpp unternehmerisches
                        Denken und Handeln vermittelt,
Rhein-Main-Gebiet       entwickelt beramí bedarfsgerechte
und unterstützt sie     Qualifizierungsangebote und bietet
                        berufliche Beratung an.
bei der Suche nach
einer passenden         beramí e.V.
                        Nibelungenplatz 3
                                                 jumpp –
                                                 Frauenbetriebe e.V.

Beschäftigung. Zu den   60318 Frankfurt
                        www.berami.de
                                                 Hamburger Allee 96 HH
                                                 60486 Frankfurt

Angeboten des                                    www.jumpp.de

Programms gehören       www.mia-frankfurt.de

Ausbildungen, Um-
schulungen, Weiter-
bildungen und
Qualifizierungen.

                        Wie sah die Zusammenarbeit im
                        Projekt „Unser DFF" aus?

                        Die Gruppe tauschte sich bei digitalen Treffen
                        aus. In individuellen Schreib- und Fotoprojekten
                        widmeten sich die Teilnehmenden den Themen
                        Herkunft, Heimat und Migration sowie der Rolle
                        von Film und Fotografie.

                        Teilnehmerinnen:
                        Andrea Mamani Meneses, Dorina Ciubotaru,
                        Fatimat Olafusi, Kristela At Nikolla, Nevin Bal
                        Vagelakos, Samia Moussa, Simone Rodriguez
                        Stöhr, Svetlana Zhukova, Waheeda Shahid
                                                                           17
Wer trifft sich beim      Welche Erfahrun-
                                                                                                   Geschichten
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                              Projekt MiA –             gen habt Ihr im Pro-

                                                                                                   von uns
                                              Migrantinnen fit für      jekt „Unser DFF” ge-
                                              den Arbeitsmarkt?         macht?
                                              Welche Bedürfnisse        Unsere Teilnehmerin-
                                              und Wünsche bringen
                                              die Menschen mit?
                                              Im MiA-Projekt treffen
                                                                        nen haben ihre Ideen
                                                                        eingebracht, konnten
                                                                        auf eine sehr wert-
                                                                                                   Frankfurter-
                                              sich Frauen mit Migra-
                                              tions- und Fluchterfah-
                                              rung mit unterschied-
                                                                        schätzende Art mitdis-
                                                                        kutieren und sich mit
                                                                        Musik, Film und Kine-
                                                                                                   innen
                                              lichen Bildungshinter-    matografie beschäfti-
                                              gründen und Berufs-       gen. Sie hatten eben-
                                              erfahrungen aus dem       falls die Gelegenheit,
                                              Rhein-Main-Gebiet.        neue Menschen ken-
                                              Sie werden unab-          nenzulernen, sich mit
                                                                                                   Die Frauen der Projektgruppe
                                              hängig vom Aufent-        ihnen zu vernetzen und     MiA – Migrantinnen fit für den
                                              haltsstatus und Leis-     die Sprache zu üben.
                                              tungsbezug durch ein
                                                                                                   Arbeitsmarkt teilten mit dem
                                              individuell ausgerich-    Wie könnte eine wei-       DFF-Team ihre vielfältigen
                                              tetes und modular auf-    tere Zusammen-
                                              gebautes Programm         arbeit mit dem DFF
                                                                                                   Erfahrungen im Zusammenhang
                                              bei der beruflichen       aussehen?                  mit Migration und dem Leben
                                              Integration in den Ar-    Wir könnten uns vor-
                                              beitsmarkt unterstützt.   stellen, die Zusam-
                                                                                                   in Frankfurt und tauschten sich
                                                                        menarbeit mit dem          über die Bedeutung von Museen
                                              Welche Rolle spie-        DFF weiterzuführen,
                                              len die Orte Museum       wenn die Rahmenbe-
                                                                                                   und Kultur in ihrem Alltag aus.
                                              und Kino in Euren         dingungen stimmen          Sie setzten verschiedene indivi-
                                              Aktivitäten? Welche       und wir interessierte
                                              Rolle spielen Filme im    Teilnehmerinnen fin-
                                                                                                   duelle Schreib- und Foto-Projekte
                                              Alltag Eurer Arbeit?      den. Dazu werden wir       um. Entstanden sind Texte
                                              Filme spielen eine sehr   Gespräche in naher
                                              große Rolle im Alltag     Zukunft führen.
                                                                                                   und Bilder mit konkretem Bezug
                                              von Migrantinnen, weil                               zum DFF und der Frage, wie sich
                                              sie ihnen die Möglich-
                                              keit bieten, die Spra-
                                                                                                   das Haus für ein diverses Publi-
                                              che zu hören und neue                                kum öffnen kann. Darüber hinaus
                                              Wörter kennenzuler-
                                              nen. Kinos spielen eine
                                                                                                   schrieben die Teilnehmerinnen
                                              größere Rolle als Mu-                                Texte, die um die Themen
                                              seen, weil ein Kinobe-
                                              such weniger exklusiv
                                                                                                   Herkunft, Heimat und Migration
                                              erscheint.                                           kreisen und die Rolle von
                                              Warum seid Ihr Teil
                                                                                                   Film und Fotografie beleuchten.
                                              des Projekts
                                              „Unser DFF“?
                                              Wir wollten unseren
                                              Teilnehmerinnen die
                                              Gelegenheit bieten,
                                              neuen Menschen zu be-
                                              gegnen und positive Er-
                                              fahrungen zu sammeln.     Aicha Bah-Diallo
                                                                        ist zuständig für den
                                                                        Bereich Arbeitsmarkt-
                                                                        integration und Pro-
                                                                        jektleiterin bei jumpp –
18

                                                                        Frauenbetriebe e.V.
Michaels Mama

                                                                                                                     MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
Samia Moussa

Ich kam als junge Frau im Nov-        Mein Lieblingsessen zum Früh-          Als mein Sohn im Kindergarten war,
ember nach Deutschland. Der          stück waren Saubohnen, genannt          ereignete sich Folgendes: Eines
Himmel war bedeckt und ich habe      „Ful“. Diese gab es hier in Frankfurt   Tages klopften seine Spielkame-
die Sonne stark vermisst. Als die    am Main leider nicht zu kaufen.         raden und fragten nach Michael.
Sonne eines Tages schien, rannte     Eines Tages war ich in der Klein-       „Hier gibt es keinen Michael“, ant-
ich barfuß mit einem Nachthemd       markthalle und entdeckte diese          wortete ich. Währenddessen kroch
bekleidet auf die Straße, um die     an einem Stand für Blumen. Voller       mein vierjähriger Sohn von hinten
Sonne zu begrüßen. Der Nachbar       Freude nahm ich den Beutel in die       zwischen meinen Beinen durch,
gegenüber schimpfte mit mir, ich     Hand. Ein älterer Mann kam auf          ignorierte mich und ging zu seinen
solle schnell wieder ins Haus ge-    mich zu und fragte, was ich denn        Freunden. Als er nach dem Spielen
hen und sagte: „Das ist hier nicht   damit wolle? Ich antwortete ihm:        nach Hause kam, sprach ich ihn
wie in Ägypten.“                     „Die sind für mich.“ Er riss mir den    darauf an, warum er seinen Namen,
                                     Beutel kopfschüttelnd aus der           Omar, geändert habe. Er antworte-
                                     Hand und sagte: „Das ist nicht für      te: „Ich bin Deutscher und ich gehöre
                                     Menschen. Hast du ein Pferd?“           zur deutschen Armee!“ Ich zog ihn
                                     „Nein“, sagte ich und riss den Beutel   vor den Spiegel und sagte: „Wir sind
                                     an mich: „Wir essen das zum Früh-       Ägypter, haben schwarzes Haar
                                     stück.“ Widerwillig verkaufte er mir    und hellbraune Haut!“ Er überlegte
                                     die getrockneten Saubohnen und          kurz und meinte, das könne man
                                     ich war überglücklich.                  ändern.

                                                                                                                     19
Eine Stadtführung
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                              Kulissen, die die Stadt bewegen –
                                              Alle Wege führen zum DFF
                                              Simone Rodriguez Stöhr

                                                                                              1    Hauptbahnhof

                                                                                              2    Kaiserstraße
                                                                       10
                                                                                              3    Moselstraße

                                                                                              4    Münchener Straße /
                                                                                                   Moselstraße
                                                       5               8
                                                                   7
                                                                            9                 5    Rotes Haus

                                                                                              6    Weißfrauenkirche
                                                   2
                                               1           4
                                                               6                              7    Fürstenhof
                                                                                11
                                                                                              8    Märchenbrunnen
                                                   3
                                                                                              9    Schauspielhaus /
                                                                                                   Städtische Bühnen

                                                                                         12   10   Neue Mainzer Straße

                                                                                              11   Nizza

                                                                                              12   DFF – Deutsches
                                                                                                   Filminstitut & Filmmuseum

                                               2                                     5
20
1 Gestartet wird am Haupteingang      6 Weiter geht es zur Weiß-

                                                                                  MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
des Frankfurter Hauptbahnhofs,        frauenkirche: Auf dem Dach der
der 1880 erbaut wurde. „Kathed-       Weißfrauenkirche prangen die
ralen der Technik“ werden solche      Leuchtbuchstaben „Mensch“, eine
Hauptbahnhöfe auch genannt.           Idee des Künstlers Mirek Macke.
                                      Alteingesessene Frankfurter:innen
2 Lässt man den Bahnhof hinter        kennen diese noch von dem
sich, blickt man direkt auf die       Schriftzug des Frankfurter Be-
Kaiserstraße, die, wie der Name       kleidungsgeschäfts M. Schneider,
bereits vermuten lässt, als Pracht-   das schon lange geschlossen ist.
straße geplant wurde. Blickt man      Die Buchstaben MENSCH sollen
umher, so ist es jedoch nicht mehr    aufzeigen, wer in der Kirche im        8
so leicht, den einstigen Glanz des    Mittelpunkt steht. Neben Gottes-
Boulevards von damals zu erken-       diensten finden hier auch Kultur-
nen. In den 1980er Jahren hatte       veranstaltungen, Ausstellungen
Frankfurt die größte Drogenszene      und Diskussionen statt.
Europas.
                                      7 Der Gutleutstraße folgend
3 Unweit der Kaiserstraße ver-        Richtung Anlagenring. Linker Hand
steckt sich eine unscheinbare,        befindet sich in der Gallusanlage
aber bedeutende Gedenktafel           der Fürstenhof – heute eine
für Oskar Schindler, der durch        Commerzbank, früher bekannt als
den Spielberg-Film SCHINDLERS         Hotel Fürstenhof Esplanade, das
LISTE der breiten Öffentlichkeit      Grand Hotel am Bahnhof. Betreiber
bekannt wurde. Er rettete 1.200       war Louis Bolle Ritz.
Jüd:innen vor dem Konzentra-
tionslager. Von 1958 bis 1974 lebte   8+9 Der Märchenbrunnen
er in diesem Haus in Frankfurt.       am Schauspielhaus zeigt eine
                                      Nymphe, im Volksmund
4 Biegt man in die Münchener          auch Mainweibchen genannt.
Straße ab, fällt an der Ecke zur
Moselstraße ein klassizistischer      10 Blick hoch zur Skyline. Diese
Prachtbau auf: das „Kronprinzen-      Ansicht ist das Titelbild der 2018
palais“, das noch an den Glanz        erstmals ausgestrahlten Fernseh-
aus vergessenen Zeiten erinnert.      serie BAD BANKS, deren Drehort
Die Münchener Straße hieß früher      Frankfurt war.                         10
Kronprinzenstraße und war ein
Pendant zur Kaiserstraße.             11 Die Nizza, eine Parkanlage mit
                                      mediterranem Flair, stellt durch ihr
5 Spiderman wacht über das            gutes Mikroklima eine Art kleiner
Frankfurter Bahnhofsviertel.          Palmengarten à la Französische
Früher gab es insgesamt sieben        Riviera dar.
dieser großen Figuren, die in der
ganzen Stadt an Hausfassaden          12 Das DFF – Deutsches Film-
kletterten. Davon sind heute nur      institut & Filmmuseum bietet
noch vier übrig geblieben. Eine be-   mit seinem prominenten Standort
findet sich am roten Haus, einem      einen perfekten Blick auf das
Erotik-Etablissement. Man fragt       Treiben am Mainufer.
sich, wie man diese beeindrucken-
de Figur so oft übersehen konnte.
                                                                                  21
Unser perfekter Tag im DFF
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                              Andrea Mamani Meneses
22
Ich                                    Wir verbinden unterschiedliche         mich in ihre Welt mitnimmt und

                                                                                                                                                                       MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
                                       Situationen und Lebensereignisse       mir zeigt, was sie schon alles kann.

packe
                                       mit „Koffer packen“. Oft glückliche,   Doch wollte sie in meine Welt?
                                       oft auch schmerzhafte Momente.
                                                                              Wie ist das, wenn man im Kinder-

meinen                                 Im Sommer 1970 kam meine Mut-
                                       ter mit einem Koffer in Deutsch-
                                       land an. Einige Jahre später
                                                                              garten erzählt: „Ich war im Sommer
                                                                              in der Türkei. Ich habe dort eine
                                                                              große Schwester.“ Wie war das,

Koffer                                 wurde Opa krank, es waren seine
                                       letzten Tage. Meine Eltern muss-
                                                                              als ich „Ich packe meinen Koffer“
                                                                              spielte: Packte ich etwas für meine

und
                                       ten schnell in die Türkei fliegen.     Schwester ein?
                                       Meine Mutter war schwanger.
                                       Meine Schwester wurde dort             1986. Mein Bruder hat nun zwei

nehme                                  geboren. Dann wurden die Koffer
                                       wieder gepackt, nur zwei.
                                                                              ablas zu Hause. Oma blieb allein.

mit…
                                       Meine Schwester blieb bei Oma.         Der Dokumentarfilm KOFFER-
                                                                              KINDER. ZURÜCKGELASSEN IN
                                       Sommer 1980, drei Urlaubskoffer.       DER TÜRKEI (Deutschland 2013,
                                       Für Mama, Papa und für mich            R: Anke Kültür) und das Projekt
Nevin Bal                              als Baby. Abla blieb bei Oma.          „Generation einskommafünf“ der
                                                                              Frankfurter Künstlerin Olcay Acet
Vagelakos                              Ich muss vier Jahre alt gewesen        geben Betroffenen den Raum,
                                       sein, als ich Süßigkeiten für          ihren Koffer zu öffnen.
                                       meine Schwester einpackte. Sie
                                       war meine „abla“, meine große          Ich trage meinen Familienkoffer
                                       Schwester. Für mich war sie die        und nehme ihn immer mit.
                                       türkische Pippi Langstrumpf.
                                       Ich beneidete ihre natürliche Art
                                       und ihre Abenteuerlust. Ich trug
                                       Kleidchen, hatte Zöpfe mit vielen
                                       Haarspangen. Ich erinnere mich,
                                       wie sie im Hof werkelte und
                                       aus Äpfeln und Stöcken etwas
                                       bastelte. Sie mochte keine Kleider
                                       und Röcke. Mit Puppen spielte
                                       sie auch nicht. Ich wollte, dass sie

„Kofferkinder“
                                                                                                                  Blog von Nevin Bal Vagelakos: www.kulturnomadin.de

In den 1960er und 70er Jahren
kamen viele Türk:innen als
sogenannte Gastarbeiter:innen
nach Deutschland – oft mit der
Absicht, nach wenigen Jahren
in die Heimat zurückzukehren.
Kinder blieben bei Verwandten
in der Türkei zurück. Der Nachzug
von Familienangehörigen war
im Anwerbeankommen zwischen
Deutschland und der Türkei
zunächst ausdrücklich ausgeschlos-
sen worden. Viele Gastarbeiter:innen
blieben länger als geplant und
wurden in Deutschland ansässig.
Erst Jahre später wurden die
                                                                                                                                                                       23

Kinder von ihren Eltern nachgeholt.
Brief an
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                              die Zukunft
                                              Svetlana Zhukova

                                              Zu Beginn meines Briefes möchte ich dem        Preis für die Freiheit erwies sich leider als
                                              Team des DFF für die Möglichkeit danken,       sehr hoch. Viele bis dahin wichtige Dinge
                                              an diesem Projekt teilzunehmen.                verloren ihren Wert. Aber ich war damals
                                                                                             24 Jahre alt und machte mir keine Ge-
                                              Ich bin in der russischen Kleinstadt           danken, weder über die Ursachen noch
                                              Konakowo, am malerischen Ufer der Wol-         über die Folgen der Ereignisse. Arbeits-
                                              ga gelegen und 100 Kilometer von Moskau        losigkeit, Unsicherheit, Verzögerungen
                                              entfernt, geboren. Meinen Bericht würde        bei Lohnauszahlungen, Probleme bei der
                                              ich gerne mit einem meiner Lieblingsfilme      Lebensmittelversorgung, Insolvenzen,
                                              des Regisseurs Sergio Leone ES WAR             Auseinandersetzungen zwischen kriminel-
                                              EINMAL IN AMERIKA verknüpfen. Dieser           len Gruppen usw. Eine Zeit lang arbeitete
                                              Film hat mich zutiefst beeindruckt und         ich auf einem Markt. In jeder Stadt gab
                                              bleibt bis heute ein Meisterwerk. Es geht      es damals solche Märkte. Jedes Mal,
                                              darin um Freunde, ihre Kindheit und das        wenn ich mir den Film ES WAR EINMAL
                                              Erwachsenwerden in einem armen jüdi-           IN AMERIKA ansah, begriff ich, dass die
                                              schen Viertel in New York. Um Liebe und        amerikanische Große Depression zu uns
                                              Verrat. Der Film kam zuerst in Amerika im      in den 90er Jahren kam.
                                              Jahr 1984 auf die Leinwand. Bei uns in der
                                              UdSSR lief er in den Kinos ab 1989. Der        In meinem Leben gab es auch Verände-
                                              „Eiserne Vorhang“ wurde bereits entfernt,      rungen. Ich ließ mich scheiden, fand eine
                                              und mit der versprochenen Freiheit über-       neue Arbeit und zog meine Tochter alleine
                                              fluteten Konsumwaren und Filmproduktio-        groß. Als Managerin arbeitete ich auf
                                              nen unser Land.                                Provisionsbasis. Neue Freunde kamen
                                                                                             in mein Leben, einige gingen wieder,
                                              An dieser Stelle möchte ich die erste          mit anderen bin ich immer noch gut
                                              Parallele ziehen und gedanklich die            befreundet. So eine Zeit war das – die
                                              geniale Musik von Ennio Morricone, und         Zeit der Veränderungen. Die heranwach-
                                              zwar „Poverty“, als Hintergrund benutzen.      sende Generation träumte nicht davon,
                                              Alles, was mit meinem Erwachsenwerden          Kosmonaut:in, Wissenschaftler:in oder
                                              zu tun hat, verdanke ich meinem Heimat-        Ärzt:in zu werden, sondern Geschäftsfrau
                                              land und meinen Eltern, an die ich mit         oder Geschäftmann, Manager:in oder,
                                              Liebe und Dankbarkeit zurückdenke. Als         noch schlimmer: Gangster.
                                              Kind wuchs ich ganz normal auf, ging zur
                                              Schule, nutzte viele Freizeitangebote, trieb   Anfang der 2000er Jahre erfuhr ich aus
                                              Sport im Verein und besuchte eine Musik-       den Medien, dass einer meiner Spiel-
                                              schule. Die Sommerferien verbrachte            kameraden aus dem Dorf meiner Oma
                                              ich bei meiner Oma auf dem Land, wo            Mitglied einer bekannten kriminellen
                                              ich mit Freunden viele sorglose Stunden        Vereinigung geworden war. Nach einem
                                              verlebte. Die Lebensgeschichten dieser         Aufsehen erregenden Prozess wurden er
                                              Freunde sind sehr unterschiedlich. Gegen       und sein Bruder zu mehreren Jahren Haft
                                              Ende der sogenannten Perestrojka zog           verurteilt. Und wieder wurde mir beim
                                              ich nach Moskau um, heiratete und bekam        wiederholten Anschauen des Films klar,
                                              meine Tochter Dascha, mein Herzens-            dass in ihm eine Art Schlüssel zur Wirk-
                                              glück. In den 90er Jahren veränderte           lichkeit, ein Code versteckt ist, mit dessen
                                              sich das Leben dramatisch, es ähnelte          Hilfe ich die Realität jedes Mal anders
24

                                              immer mehr einem Gangsterfilm. Der             wahrnehmen konnte. Das Leben ist nicht
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
rosarot, es richtet alles ein, wie es sich   trotz aller Schwierigkeiten lebenswert.

                                                                                              Übersetzung aus dem Russischen: Irina Bastian
gehört, es bestraft und belohnt.             Immer wieder sehe ich meinen Lieblings-
                                             film an und kehre zusammen mit Noodles
Mein Leben ging weiter… Meine Tochter        in die Vergangenheit zurück, erinnere
wurde erwachsen und ich begegnete            mich an alle, die ein Teil meines Lebens
Luigi, einem guten Mann, mit dem ich mein    waren, die wieder gegangen oder die ge-
Leben verbunden habe. Ich zog zu ihm         blieben sind. Ich verstehe, dass die Men-
nach Süditalien. Apulien ist eine wunder-    schen eigentlich überall von denselben
schöne Gegend an der Ionischen und der       Sachen träumen, aber aus unerfindlichen
Adriatischen Küste mit atemberauben-         Gründen Fehler begehen.
den Naturbildern, mit fantastischer Ar-
chitektur und natürlich mit weltbekannter    Erinnern Sie sich an die Szene, als wir plötz-
Küche! Die Sommersaison beeindruckt          lich mit dem Protagonisten zusammen um
mit lokalen Festen, die Menschen sind        ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit
fröhlich und genießen die Natur. In jener    versetzt werden? Er ist wieder an den Orten
Zeit klang in mir erneut die zauberhafte     seiner Kindheit und Jugend und sucht das
Musik „Amapola“ des genialen italieni-       Verlorengegangene: Liebe, Freundschaft,
schen Komponisten Ennio Morricone            wichtige Menschen in seinem Leben. Aber
an, ja genau, die Filmmusik aus ES WAR       nichts im Leben kann man zurückholen,
EINMAL IN AMERIKA. Die Italiener:innen       es gibt nur die Chance, es zu bewahren.
verstehen es, das Leben zu genießen.         Ich möchte einfach allen wünschen, das zu
Aber auch sie haben Probleme.                bewahren, was wir haben.

Die Krise von 2008 ließ uns nach Öster-
reich umziehen. Zuerst war es Innsbruck,
das Leben in den Bergen im Winter.
Genauso prächtig wie das Meer, nur
eingefroren! Dann kam Wien im Frühling
und im Sommer. Die Erinnerungen daran
bleiben für immer. Die Wiener Oper,
Schlösser und Parks im Duft der blühen-
den Rosen. Open-Air-Konzerte mit Blas-
kapellen und Opernsänger:innen. Ich war
glücklich mit meinem Mann und dachte
an die Szene aus dem Film, als Deborah
Noodles fragt: „Wartest du schon lange?“
– „Das ganze Leben“, antwortet er.
Von dieser Antwort träumen alle Frauen.
Das Leben bleibt nicht stehen.

Wir sind nach Frankfurt am Main in
Deutschland umgezogen, wo wir immer
noch leben. In der Zeit war meine Tochter
bei uns zu Besuch. Sie arbeitet als Erzie-
herin und studiert Psychologie. Ich lerne
                                                                                                                                              25

Deutsch, das Leben geht weiter und ist
Gedicht
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                                            Dorina Ciubotaru

                                                           Prima dată
                                                           Ti-am călcat astăzi pragul pentru prima dată.
                                                           Pe timp de pandemie, acum chìnd ai putini vizitatori.
                                                           M-ai onorat cu mari vedete din umbra-ti luminată.
                                                           Cu ele-ai dovedit ìn suflet să-mi cobori.

                                                           Acum mi-am oprit pasul,
                                                           cu autograful tău să îmi ating gìndirea.
                                                           Să meditez în taină, ascultìnd bătăile ce-mi clacsonează‘n vene.
                                                           Păşesc muzeu cu tine-n timp, pentru a-ti vedea menirea,
                                                           şi văd cum te înalti din mit, cu multe fenomene.

                                                           Prin modul tău, cu fabuloasele şi cu străvechile creatii,
                                                           prevăd schimbări spectaculoase, şi'năltătoare.
                                                           Prin multitudinea de-aspecte, vei insufla perceptii,
                                                           şi dorul de-a te vizita, pe nimeni nu-l va opri din cale.

                                                                                                    Erstes Mal
                                              Übersetzung aus dem Rumänischen: Jacqueline Tendler

                                                                                                    Heute bin ich zum ersten Mal über deine Schwelle getreten.
                                                                                                    In der Pandemiezeit, jetzt, wo du wenige Besucher hast.
                                                                                                    Aus deinem beleuchteten Schatten hast du mich mit großen Stars beehrt.
                                                                                                    Mit ihnen hast du bewiesen, dass du in meine Seele hinabsteigen kannst.

                                                                                                    Jetzt bin ich stehengeblieben,
                                                                                                    um meine Gedanken mit deinem Autogramm zu berühren,
                                                                                                    um heimlich nachzudenken, während ich meinem Herzschlag lausche, der in den Venen pulsiert.
                                                                                                    Ich schreite mit dir, Museum, durch die Zeit, um zu sehen, was deine Aufgabe ist,
                                                                                                    und merke, wie du aus dem Mythos aufsteigst mit vielen phänomenalen Menschen.

                                                                                                    Dank deiner Art, mit den fabelhaften und den uralten Schöpfungen,
                                                                                                    sehe ich spektakuläre und erbauende Veränderungen kommen.
                                                                                                    Durch die Vielfalt der Aspekte wirst du Wahrnehmungen einhauchen,
                                                                                                    und die Sehnsucht, dich zu besuchen, wird so groß sein, dass niemand
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                                                                                                    auf seinem Weg aufgehalten werden kann.
Fotografische Interpretationen

                                 MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
Kristela At Nikolla

                                 27
Fotografische Interpretation
MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT

                                              Kristela At Nikolla
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Gedicht

                                                                                                                                                        MiA · MIGRANTINNEN FIT FÜR DEN ARBEITSMARKT
Dorina Ciubotaru

                                                  O noapte la muzeu
                                                  Frate, vreau cu tine să stăm aici pe noapte,
                                                  să ne prezentăm în rol de păcălici.
                                                  S‘alergăm prin sute de istorisiri și arte,
                                                  să ne facem farse cu mai multi amici.

                                                  Poate, vom putea să schimbăm opinca,
                                                  ca să-ntrăm și noi într-un DISNEYLAND.
                                                  Mi-aș dori să lepăd pentru totdeauna,
                                                  masca de COVID, într-un basm abracadabrant.

                                                  Ș-apoi să-i salut pe Olaf, Terk și Simba,
                                                  și pe Pocahontas, Woody și Tarzan.
                                                  Vreau s-o văd pe Jasmine, Alice, Belle, Elsa,
                                                  și pe Gofy, Stitch și pe Fa-Mulan.

                                                  Să m-arunc în părul frumoasei Rapunzel,
                                                  într-o atmosferă magică s-adorm.
                                                  Iar cu Cinderella să cătăm castelul,
                                                  unde a dansat cu printul sempitern...

      Eine Nacht im Museum
      Bruder, ich möchte, dass wir mit dir über Nacht hier bleiben
      und uns [den anderen] in der Rolle von Spaßmachern vorstellen.
      [Ich möchte, dass wir] durch Hunderte von Geschichten und
                                                                                                  Übersetzung aus dem Rumänischen: Jacqueline Tendler

      Meisterwerke rennen und mit mehreren Freunden Spaß haben.

      Vielleicht können wir die Schuhe wechseln,
      damit auch wir in ein DISNEYLAND eintreten.
      Ich würde mir wünschen, in einem Zaubermärchen
      die Corona-Maske für immer loszuwerden.

      Und dann möchte ich Olaf, Terc und Simba grüßen
      und Pocahontas, Woody und Tarzan.
      Ich möchte Jasmine, Alice, Bela, Elsa
      und auch Goofy, Stitch und Fa-Mulan sehen.

      Ich möchte mich in die Haare der schönen Rapunzel
      vergraben und in einer magischen Umgebung einschlafen.
      Und mit Aschenputtel suchen wir das Schloss,
                                                                                                                                                        29

      wo sie mit dem unsterblichen Prinzen getanzt hat…
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