ORDINARY HEROES. FILME VON ANN HUI PIONIERINNEN DES ARABISCHEN DOKUMENTARFILMKINOS COLLECTION ON SCREEN. THE OTHER - MÄRZ BIS 2. MAI 2023
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2. MÄRZ BIS 2. MAI 2023 ORDINARY HEROES. FILME VON ANN HUI PIONIERINNEN DES ARABISCHEN DOKUMENTARFILMKINOS COLLECTION ON SCREEN. THE OTHER www.filmmuseum.at
Willkommen im Österreichischen Filmmuseum Das Österreichische Filmmuseum widmet sich seit 1964 der Sammlung, Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des Mediums Film in all seinen Aspekten. Das beinhaltet ganz zentral die Ausstellung und Vermittlung von Film – als Kunstform, Kulturtechnik und Zeitdoku- ment – in unserem Kinosaal, dem »Unsichtbaren Kino« in der Albertina. Wir sind bestrebt, Werke aus der Geschichte des Films im jeweili- gen Originalformat und in den weltweit bestmöglich erhaltenen Filmkopien (35mm bzw. 16mm) zu zeigen. Aus konservatorischen oder kuratorischen Gründen ergibt sich aber immer öfter die Not- wendigkeit, auch auf Film hergestellte Werke digital vorzuführen, weil kein Filmmaterial zugänglich ist. Filme werden bei uns grundsätzlich in ihrer originalen Sprachfas- sung gezeigt und gegebenenfalls untertitelt. Für unsere internatio- nalen Gäste weisen wir Vorführungen in englischer Sprache bzw. englischer Untertitelfassung gesondert aus. Screenings in English or with English subtitles are marked with this symbol ★ INHALT Allgemeine Informationen 2 Ordinary Heroes Filme von Ann Hui 3 Permissible Dreams Pionierinnen des arabischen Dokumentarfilmkinos 16 Collection on Screen Joe Hisaishi, Filmkomponist 31 Collection on Screen The Other – Ich ist ein/e Andere/r/s 36 Sanja Iveković Works of Heart (1974–2022): Artist’s Choice Nr. 3 49 Kino für die Kleinsten Cinemini on tour: Lass uns tanzen! 51 Werkstattgespräche mit Filmpionierinnen Elfi Mikesch 52 Collection on Screen Meets Filmpionierinnen 54 Schule Friedl Kubelka Final Screening Klasse 22/23 55 Collection on Screen Lav Diaz – Teil 4 56 Treibgut Eumig: Vom Funken zur Projektion 57 Zyklisches Programm Was ist Film 45–62 59 Spielplan. Alle Filme von 2. März bis 2. Mai 2023 65 Dank 71 Impressum 72 Innerhalb eines Themas sind die Filme in der Reihenfolge ihrer Programmierung geordnet.
ALLGEMEINE INFORMATIONEN SPIELORT/VEREINSSITZ 1010 Wien, Augustinerstraße 1 TICKETS Kassa: geöffnet ab einer Stunde vor Beginn der ersten Vorführung Mitglieder: 6 Euro Ohne Mitgliedschaft: 10,50 Euro Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre: 6 Euro Studierende mit Mitgliedschaft: 5 Euro / Regelmäßige Programme (Collection on Screen, Was ist Film, Treibgut, Werkstattgespräche mit Filmpionierinnen): 3 Euro Studierende ohne Mitgliedschaft: 9,50 Euro Zehnerblock für Mitglieder: 45 Euro KAUFEN ODER RESERVIEREN SIE IHRE TICKETS ONLINE www.filmmuseum.at TELEFONISCHE KARTENRESERVIERUNG T 01/533 70 54 MITGLIEDSCHAFTEN 2023 Jahresmitgliedschaft: 15 Euro Jahrespartnermitgliedschaft: 25 Euro Fördernde Mitgliedschaft: ab 70 Euro Fördernde Partnermitgliedschaft: ab 120 Euro VORTEILE FÜR ALLE MITGLIEDER Ticket 6 statt 10,50 Euro, Zehnerblock 45 Euro, postalische Zusendung des Programmhefts und freier Eintritt am Geburtstag. ZUSÄTZLICHE VORTEILE FÜR FÖRDERNDE MITGLIEDER Exklusive Einladungen zu Vorpremieren und zu Führungen in Partnermuseen, freier Eintritt zu ausgewählten Vorstellungen. BÜRO/BIBLIOTHEK 1010 Wien, Hanuschgasse 3, Stiege 2, 1. Stock Büro: T 01/533 70 54, E-Mail office@filmmuseum.at Bibliothek: Benutzung nur mit Voranmeldung: e.streit@filmmuseum.at; Katalog online unter: www.filmmuseum.at/bibliothek/online-recherche FILMBAR IM FILMMUSEUM Die aktuellen Öffnungszeiten entnehmen Sie bitte unserer Website www.filmmuseum.at/besuch/filmbar ANREISE Wir freuen uns, wenn Sie zur Anreise öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad nutzen. ABKÜRZUNGEN UT Untertitel ZT Zwischentitel Veranstaltungen mit Gästen oder Einführungen ★ English language or subtitles FILMTEXTE VON Christoph Huber, Boris Nelepo, Andrea Pollach, Julia Pühringer, Elisabeth Streit, Alexis Tioseco, Harry Tomicek, Janneke van Dalen, Stefanie Van de Peer, Tom Waibel, Katja Wiederspahn, Constantin Wulff, Stefanie Zingl MÄRZ / APRIL 2023 2
2. MÄRZ BIS 29. APRIL 2023 Ordinary Heroes Filme von Ann Hui Im Jahr 2020 wurde Ann Hui bei den 77. Filmfestspielen von Venedig The Golden Era mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Erstmals (2014) ging dieser renommierte Preis an eine Regisseurin, aber für Hui ist selbst das nur eine weitere Zeile in ihrem Lebenslauf. Die Hong Kong Film Academy hat vier ihrer Filme in die Liste der hundert besten chi- nesischen Filme aller Zeiten aufgenommen (The Secret [1979], The Spooky Bunch [1980], Summer Snow [1995] und Boat People [1982]). Dass sie sechsmal in der Kategorie Beste Regie gewonnen hat, ist der bisherige Rekord bei den Hongkong Film Awards. Seit der Einführung dieser Preisverleihung vor vier Jahrzehnten gab es nur zwei Filme, die in allen wichtigen Kategorien eines Jahres gewonnen haben und bei- de wurden von Ann Hui inszeniert (Summer Snow sowie A Simple Life [2011]). Hui nahm an den wichtigsten Filmfestivals teil: Cannes, Venedig MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 3
und Berlin. Zudem wurde sie 1997 als letzte Hongkongerin mit dem Our Time Will Most Excellent Order of the British Empire ausgezeichnet. Doch trotz Come (2017) all dieser Anerkennung bleibt Ann Hui eine schwer fassbare Figur. Sie wurde 1947 in Anshan in der Mandschurei geboren, kurz bevor die Stadt von der Volksbefreiungsarmee eingenommen wurde. Zu- sammen mit ihrer japanischen Mutter und ihrem chinesischen Vater zog Hui zwei Jahre später nach Macau, als sie fünf Jahre alt war, ließ sich ihre Familie schließlich in Hongkong nieder. Hui studierte Litera- tur an der Universität von Hongkong, bevor sie 1972 an die London Film School ging. Nach ihrer Rückkehr assistierte sie dem einflussrei- chen Filmemacher King Hu und war unter anderem für das Korrektur- lesen der englischen Untertitel für sein Martial-Arts-Meisterwerk A Touch of Zen (1971) zuständig. Anschließend arbeitete sie für das Fernsehen und führte Regie bei Dokudramen, Nachrichtensendun- gen und kurzen Spielfilmen. Die Neue Welle in Hongkong wurde von Regisseur*innen geprägt, die vom Fernsehen auf die große Lein- wand wechselten. Hui ist die Pionierin dieser Welle und die einzige Frau der ersten Generation der Bewegung. Mit 28 Spielfilmen zählt sie neben Tsui Hark zu den produktivsten Filmemacher*innen der Gruppe. MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 4
Motive wie die Vergänglichkeit und die Suche nach einem Zuhause, die Anstrengungen um den familiären Zusammenhalt, ein sinnliches Erinnern an die Vergangenheit oder das Ringen um eine eigene Iden- tität schöpft Ann Hui aus ihrer Biografie. Sie zeigt die Verwüstungen und Wirren des 20. Jahrhunderts sowie deren Spuren, die sie bei Menschen hinterlassen haben, mit einer solchen Klarheit und Emoti- onalität, dass man ihre Filmografie als Schlüssel zum ostasiatischen Kino verstehen kann. In Interviews spricht Hui gewöhnlich bescheiden über sich selbst als Künstlerin, reklamiert aber die Absicht, eine Chro- nik des Lebens in Hongkong schaffen zu wollen, durchaus für sich. Ann Hui ist eine Filmemacherin, deren Gesamtwerk größer ist als die Summe ihrer einzelnen Filme. Ihre Werke bilden verschiedene Zyklen, die sich aufeinander beziehen. In der Tradition eines Hong- kong-Kinos, das populäre Genres künstlerisch interpretiert, machen Genrefilme etwa die Hälfte von Huis Filmografie aus: Action, Geister geschichten, Melodramen, Thriller, Kriegsdramen und Horror. Zudem ist sie wahrscheinlich die einzige Re- gisseur*in im ostasiatischen Kino, die solch ein detailliertes Panorama aktivistischer Bewegungen und so- zialer Einrichtungen zeigt. Schon in ihrer Fernseharbeit beschäftigt sie sich ausführlich mit Themen wie Flucht, Sozialarbeit oder Korruption und tut dies in Folge auch in ihren Kinofilmen. Als eine Regisseurin, die eine intensive Zusammenarbeit mit ihren Ann Hui Schauspieler*innen pflegt, kann ihre Filmografie als Verzeichnis der wichtigsten Protagonist*innen des Hongkong-Kinos gelesen wer- den: Andy Lau, Josephine Siao, Chow Yun-fat, Maggie Cheung, Cora Miao, Deanie Ip, Anita Mui, Michelle Yeoh, Jacky Cheung und Lee Kang-sheng, um nur einige zu nennen. Das Kino selbst wird selten zum Thema ihrer Filme, aber A Simple Life – in dem ein Filmprodu- zent immer wieder aufs Festland reist, um in China an historischen Filmen zu arbeiten – dient als bittere Metapher für die Filmindustrie Hongkongs und ihren Niedergang. MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 5
Wie viele Filmemacherinnen ihrer Generation zögert auch Ann Hui, Love After Love sich als Feministin zu bezeichnen. Dennoch gehören ihre besten Ar- (2020) beiten zu den Höhepunkten eines feministischen Kinos. In Interviews hat Hui erklärt, dass es ihr »einfach leichter fällt, sich mit weiblichen Charakteren zu identifizieren«. Frauen sind in ihrem Kino oft die trei- bende Kraft. Über Politik spricht sie in der Regel nur ungern, da sie sich nicht als Expertin sieht. Dennoch ist fast jeder ihrer Filme tief in einen politischen und historischen Kontext eingebettet. Ihre formale Methode basiert auf einer Polyphonie von Stimmen und einer Vielzahl von Blickwinkeln. Dabei kann es sich um innere Mo- nologe der Figuren handeln, um Briefe, die sie schreiben, um ihre ge- äußerten Gedanken oder um Interviews. Ihre Berufung als Chronis- tin, ihre beachtliche Fernseharbeit, ihre Themenvielfalt, insbesondere ihre Aufmerksamkeit für Minderheiten und Entrechtete aller Couleurs, Aktivist*innen und soziale Strukturen, stellen sie in die Nähe von Re- gisseur*innen wie Želimir Žilnik. Im Gegensatz zu Žilnik ist sie jedoch keine aktivistische Filmemacherin, sondern vielmehr eine Beobach- terin, die daraus ihre Themen schöpft. Was ist Politik? Wie kann Aktivismus aussehen und was kann In Kooperation sein Ziel sein? Für Ann Hui scheint das Streben nach Liebe und Zärt- mit Red Lotus Asian Film lichkeit, auch wenn es vergebens ist, eine politische Geste zu sein. Festival Vienna (Boris Nelepo) red-lotus.org MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 6
Tin shui wai dik yat yu ye (The Way We Are) Ann Hui. HK, 2008, DCP, Farbe und sw, 90 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ Das Aufkommen der Digitaltechnik eröffnete eine neue Phase in Ann DONNERSTAG Huis Arbeit. The Way We Are, ihr digitales Debüt, ist eine fast intime 2.3. / 20.30 Chronik der Freundschaft zwischen zwei älteren Nachbarinnen: die In Anwesen- eine ist eine alleinerziehende Mutter, die im Supermarkt arbeitet, die heit von Ann Hui andere eine einsame Großmutter, der der Kontakt zu ihrem Enkel ver- wehrt wurde. Als Schauplatz für ihre erste Arbeit mit der HD-Technik SAMSTAG wählte Hui die Satellitenstadt Tin Shui Wai in den New Territories von 1.4. / 20.30 Hongkong, die wegen ihrer sozialen und kriminellen Probleme als »Stadt der Traurigkeit« bekannt ist (auch Pedro Costas wechselte zum digitalen Bild, um die armen Außenbezirke von Lissabon einzu- fangen). Dieser herzerwärmende Film, der auf Chinesisch Der Tag und die Nacht von Tin Shui Wai heißt, ist Huis Einstieg in den Mikro- kosmos dieser Satellitenstadt. Im darauffolgenden Jahr drehte sie dort Night and Fog (2009), ein Drama über häusliche Gewalt. (B. N.) Yi ma de hou xian dai sheng huo (The Postmodern Life of My Aunt) Ann Hui. HK/CN, 2006, DCP (von 35mm), Farbe, 111 min. Mandarin mit engl. UT ★ Ann Hui sagte in einem Interview, eine ihrer Begabungen sei das FREITAG komische Fach als Darstellerin. Dieser Film macht deutlich, dass sie es 3.3. / 18.00 auch als Regisseurin blendend beherrscht. Die ehemalige Englisch- In Anwesen- lehrerin Ye Rutang (Siqin Gaowa) – eine Art traurige Clown- oder heit von Ann Hui Pierrette-Figur – lebt allein in einer Mietwohnung im anspruchsvollen Shanghai und gerät in die Fänge einiger Betrüger*innen. Einer von DONNERSTAG ihnen, der Schönling Pan Zhichang (Chow Yun-fat in einer komischen 6.4. / 20.30 Rolle!), scheint Yes Leben ein Stück weit mit ihr teilen zu wollen. Selbst durch und durch fehlbar, ist sie dennoch eine würdevolle Kämpferin für ein gutes Leben im Schlechten. Trotzig – und wahn witzig – verteidigt sie ihre Integrität und bietet den korrumpierenden gesellschaftlichen Verhältnissen die Stirn. Bis zu der schmerzlichen Erkenntnis am Ende des Films, dass unsere Physis im Alter eine Grenze markiert, die noch die größten Lebensentscheidungen auf den Prüf- stand stellt. (K. W.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 7
Tao Jie (A Simple Life) Ann Hui. HK/CN, 2011, DCP, Farbe, 118 min. Mandarin mit engl. UT ★ Nach The Postmodern Life of My Aunt Ann Huis zweiter hypnotischer SAMSTAG Film mit Kameramann (und Regisseur) Yu Lik-wai, der auch mit 4.3. / 18.00 Regisseuren wie Lou Ye und Jia Zhang-ke gearbeitet hat: Tao Ah (Deanie Ip), als Adoptivkind aufgewachsen, hat vier Generationen der Familie Leung gedient und ist nun die Haushälterin von Roger Leung (großartig: Andy Lau), der geboren wurde, als sie schon viele Jahre im Haushalt tätig war. Roger, Filmproduzent und Single, trifft sich in Peking mit einigen Vertreter*innen der Hongkonger Filmwelt (Gastauftritte von Tsui Hark, Sammo Hung u. a.). Als er nach Hause zu- rückkehrt, liegt Tao Ah bewusstlos in der Wohnung. Im Krankenhaus wird ein Schlaganfall festgestellt, weshalb Tao ihre Arbeit beenden und in ein Altersheim ziehen möchte. Das ist der Anfang eines lang- wierigen Kampfes um Selbstbestimmung und Würde im Alter. Nicht zuletzt aufgrund der langjährigen persönlichen Beziehung zwischen Deanie Ip und Andy Lau geht dieser Film, ganz sanft und leise, tief unter die Haut. (K. W.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 8
Fung gip (The Secret) Ann Hui. HK, 1979, DCP (von 35mm), Farbe, 85 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ In ihrem Spielfilmdebüt, das zum Meilenstein der Hongkonger Neuen MITTWOCH Welle wurde, untersucht Ann Hui einen Doppelmord und versucht, 8.3. / 18.00 die Ereignisse, die zu diesem Verbrechen führten, zu rekonstruieren. Dabei ließ sie sich von Filmen von Alain Resnais und Roman Polanski SAMSTAG ebenso inspirieren wie vom italienischen Giallo. Ihre Masterarbeit an 8.4. / 20.30 der Universität von Hongkong widmete Ann Hui dem Werk von Alain Robbe-Grillet. Wenn einer ihrer Filme durch ihr Studium beeinflusst Courtesy Hong wurde, dann ist es The Secret mit seiner avantgardistischen Montage. Kong Film Archive Mehr als eine Stilübung ist das die erste Annäherung an ihre komplexe Erzählweise, bei der unterschiedliche Blickwinkel n ebeneinander existieren und es keine singuläre Wahrheit gibt (wie in The Golden Era). Auch wenn The Secret zur inoffiziellen »Trilogie der trauernden Geister« gehört, ist er kein übernatürlicher Film, a nders als sein Nach- folger The Spooky Bunch (1980), in dem Hui mystische Motive, Horror, anthropologische Studien und exzentrische Komödie verwebt. (B. N.) Tau ban no hoi (Boat People) Ann Hui. HK, 1982, 35mm, Farbe, 109 min. Kantonesisch/Vietnamesisch/Japanisch/Englisch mit frz./engl. UT ★ Einer der bekanntesten Filme von Ann Hui bildet den Abschluss ihrer DONNERSTAG »Vietnam-Trilogie«. Anders als es der Titel vermuten lässt, schildert 9.3. / 20.30 Boat People Ereignisse, bevor die Flüchtenden versuchen, die Grenze auf dem Wasserweg zu überqueren. Drei Jahre nach dem Krieg wird MITTWOCH ein japanischer Fotojournalist (George Lam) – der als Erzähler durch 12.4. / 20.30 den Film führt – vom Ho-Chi-Minh-Regime eingeladen, das Leben in Vietnam zu dokumentieren. Auf eigene Faust besucht er eine ge- Courtesy BFI schlossene Wirtschaftszone, in der die Menschen »umerzogen« wer- National Archive den. Der französische Filmtitel spricht für sich selbst: Ticket to Hell. Als Boat People aus dem Wettbewerb in Cannes zurückgezogen wurde, kam es zu einem Skandal. Die linke Presse geißelte Boat People als antikommunistische Propaganda. Den vietnamesischen Emigrant*in nen waren die Darstellungen der Verbrechen des Regimes zu wenig deutlich. Boat People lässt sich auch als Vorwarnung für die Zukunft Hongkongs lesen, die Ironie dabei ist, dass Hui eine der ersten Hong- konger Regisseur*innen war, die auf dem Boden der Volksrepublik China, auf der Insel Hainan, drehte (woraufhin der Film in Taiwan ver- boten wurde). (B. N.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 9
Qing cheng zhi lian (Love in a Fallen City) Ann Hui. HK, 1984, 35mm, Farbe, 93 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ Eine zarte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Einmarsches der FREITAG japanischen Truppen in Hongkong 1941. Wie bei Ann Huis Eighteen 10.3. / 18.00 Springs (1987) und Love After Love (2020) basiert auch dieses Dreh- buch auf einem Text der chinesisch-amerikanischen Autorin Eileen SAMSTAG Chang (ihre Erzählungen waren später auch Vorlagen für Regisseure 22.4. / 20.30 wie Stanley Kwan, Hou Hsiao-hsien und Ang Lee). Wieder steht eines der Leitmotive im Werk von Hui im Mittelpunkt, die »reife« Liebe: Bai Courtesy Hong Liu-su (Cora Miao) sitzt im Kreis der Familie in Shanghai, die sich Kong Film Archive darin einig ist, dass Liu-su in die Familie des seit Jahren von ihr ge- schiedenen Mannes zurückkehren soll. Nach seinem Tod soll sie nun ihr Erbteil beanspruchen. Die Situation ist so unerträglich, dass sie die Möglichkeit, nach Hongkong zu gehen, rasch ergreift, nicht zu- letzt weil sie einen Mann kennengelernt hat (ein umwerfender Chow Yun-fat als Fan Liu-yuan), der ihr gefallen könnte. Doch ihr Herz scheint bei seinem Anblick zögerlich, sehr zögerlich. (K. W.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 10
Shanghai jiagi (My American Grandson) Ann Hui. HK, 1991, 35mm, Farbe, 100 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ My American Grandson ist eine gefühlvolle Komödie über einen her- SAMSTAG anwachsenden Jungen, der von seinen in die USA ausgewanderten 11.3. / 18.00 Eltern zu seinem Großvater nach Shanghai geschickt wird. Es war Huis erster Ausflug in jene Metropole, die zu einer der Hauptstädte ihres SAMSTAG Kinos werden sollte. Auch wenn es sich bei My American Grandson 15.4. / 20.30 um eine leichtere Variante ihres autobiografischen Song of the Exile (1990) handelt, ist das Thema der Emigration ebenso zentral (die Courtesy Hong Hongkonger*innen verließen das Land in den 1990er Jahren in gro- Kong Film Archive ßer Zahl). Übrigens hat auch Želimir Žilnik eine Tragikomödie über kulturelle Unterschiede gedreht, The Second Generation (1983), in der sich ein in Westdeutschland aufgewachsener Junge in Jugo slawien nicht zu Hause fühlen, aber auch in der neuen Heimat nicht zu sich selbst finden kann. My American Grandson ist die erste von drei Kollaborationen von Hui mit Mark Lee Ping-bing, dem Kamera- mann der meisten Filme von Hou Hsiao-hsien und Wong Kar-wais In the Mood for Love. (B. N.) Ji dao zhui zong (Zodiac Killers) Ann Hui. HK, 1991, 35mm, Farbe, 97 min. Kantonesisch/Japanisch/Mandarin mit engl. UT ★ Exil und Vertreibung sind wiederkehrende Motive im Werk von An MONTAG Hui, die auch in Zodiac Killers – diesmal im Genre des Actionfilms – 13.3. / 18.00 eine wesentliche Rolle spielen. Der in Japan gedrehte Film erzählt die Geschichte junger Hongkonger*innen, die in Yakuza-Bandenkriege FREITAG verwickelt sind. In diesem eleganten Pendant zu The Story of Woo 21.4. / 20.30 Viet (1981) ist das nächtliche T okio in Huis charakteristische Blautöne getaucht. Die Regisseurin bleibt ihrer Methode treu, sich frei zwi- Courtesy Hong schen Genre und Arthouse zu bewegen. Das Drehbuch stammt von Kong Film Archive Raymond To, Autor von Tsui Harks Shanghai Blues und Peking Opera Blues und Lehrer von Andy Lau, der hier die Hauptrolle spielt, und Wu Nien-jen, der als Drehbuchautor und Schauspieler ein wesentlicher Mitarbeiter von Hou Hsiao-hsien und Edward Yang war. Ann Hui schließlich arbeitete hier zum dritten und letzten Mal mit dem Kamera mann David Chung (The Secret, Boat People) zusammen. (B. N.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 11
Nu ren si shi (Summer Snow) Ann Hui. HK, 1995, 35mm, Farbe, 101 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ Wie der Filmtheoretiker David Bordwell feststellte, trug Ann Hui FREITAG wesentlich »zum humanistischen Weltkino bei, das von Regisseuren 17.3. / 18.00 wie Kurosawa, Kiarostami und Satayajit Ray geprägt wurde«. Zwei Meisterwerke über das Altern und die Pflege kranker Menschen be- DONNERSTAG stätigen diese Einschätzung. Eines davon ist Summer Snow, in dem 30.3. / 20.30 die Protagonistin neben ihren Pflichten im Haushalt, der Erziehung ihres Sohnes und ihrer Arbeit in einem Büro auch noch die Pflege ihres an Alzheimer erkrankten Schwiegervaters übernehmen muss. Dazu kommt, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz angesichts effizien- ter und schneller scheinender Computer zunehmend überflüssig fühlt. Hauptdarstellerin Josephine Siao, die ihre Schauspielkarriere in den 1960er Jahren im Alter von vier Jahren begann, wurde für Summer Snow auf der Berlinale 1995 als beste Darstellerin ausgezeichnet. A Simple Life (2012) bildet ein thematisches Diptychon mit Summer Snow, dessen chinesischer Titel übersetzt »A Woman at Forty« be- deutet – in Anlehnung an July Rhapsody (2002), der im Original »A Man at Eighty« heißt. (B. N.) You ling ren jian (Visible Secret) Ann Hui. HK, 2001, 35mm, Farbe, 98 min. Kantonesisch mit engl. UT ★ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befand sich das Hongkong-Kino in SAMSTAG einer schwierigen Lage. Sie wurde nicht nur durch die Umwandlung 18.3. / 18.00 der ehemaligen Kolonie in eine »Sonderverwaltungszone« am 1. Juli 1997 beeinträchtigt, sondern auch durch die Weltwirtschaftskrise von MONTAG 1998, die mit dem Zusammenbruch des Hongkonger Immobilien- 17.4. / 20.30 marktes begann. Die Industrie, die noch vor kurzem Hunderte von Filmen pro Jahr produziert hatte, reduzierte die Produktion im Jahr 2000 auf nur noch dreißig Filme. Ann Hui begann das Jahrzehnt mit Visible Secret, einem unheimlichen Horrorfilm über einen jungen Friseur namens Peter (Sänger und Schauspieler Eason Chan), der sich mit dem seltsamen Mädchen June trifft, das behauptet, Ge- spenster zu sehen. Natürlich hat alles Unglück, das ihnen passiert, mit einem Fluch aus der Vergangenheit zu tun. June wird von Schau- spielerin und Model Shu Qi verkörpert, die auch in Hou Hsiao-hsiens Millennium Mambo (2001) und The Assassin (2015) zu sehen ist. Abe Kwong, der Drehbuchautor von Visible Secret, führte im darauf folgenden Jahr bei einem Sequel selbst Regie. (B. N.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 12
Visible Secret (2001) Nan ren si shi (July Rhapsody) Ann Hui. HK, 2002, DCP (von 35mm), Farbe, 103 min. Kantonesisch mit Mandarin/engl. UT ★ Eine elliptische Erzählung über die verschlungenen Pfade der Liebe, MONTAG die Ann Hui, Meisterin der leisen Töne, als Film im Film mit federleich- 20.3. / 20.30 ter Hand zu inszenieren weiß: Lam Yiu-kwok (Jacky Cheung) setzt einiges daran, seinen jugendlichen Schüler*innen die Schönheiten SONNTAG der chinesischen Literatur näher zu bringen. Es geht locker zu in sei- 23.4. / 20.30 nem Unterricht, er ist unkonventionell und scherzt gerne. Eine Schü- lerin ist besonders fasziniert, schnell wird klar, sie erträumt sich viel mehr mit ihm. Yiu-kwok wiederum ist außerhalb des Unterrichts ziemlich eingespannt mit zwei halbwüchsigen Söhnen und einer um- werfenden Frau an seiner Seite (Anita Mui als Lam Man-ching), große Sprünge können sie sich mit seinem Gehalt aber nicht erlauben. Als jedoch Yiu-kwoks und Man-chings alter Lehrer auf den Plan tritt, wird plötzlich ein paar Kapitel in der Biografie des Paares zurückgeblättert und es tritt ein Drama zutage, das ihrer Liebe von Anfang an zugrunde lag. (K. W.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 13
Ming yue ji shi you (Our Time Will Come) Ann Hui. CN/HK, 2017, DCP, Farbe, 133 min. Mandarin mit engl. UT ★ Die Premiere dieses Spionage-Kriegsdramas fiel mit dem 20. Jahres- MITTWOCH tag der Übergabe Hongkongs zusammen. Our Time Will Come spielt 22.3. / 20.30 zur Zeit der japanischen Okkupation der Stadt und porträtiert den Widerstand im Untergrund. Eine junge Lehrerin (gespielt vom chine- sischen Star Zhou Xun) schließt sich einer Mission zur Rettung des Schriftstellers Mao Dun an. Das Motiv der chinesischen Poesie, das bereits in Song of the Exile (1990) und July Rhapsody (2002) auf- tauchte, wird hier weitergeführt. Reale Ereignisse sind für Ann Hui oft ein Ausgangspunkt, die sie mitunter in semidokumentarische Rah- menhandlungen übersetzt (hier in Form von Schwarz-Weiß-Seg- menten, in denen Hui die Rolle einer Filmemacherin übernimmt, die Zeitzeug*innen interviewt). Wie zu einem Mosaik lassen sich manche Filme von Ann Hui zusammenfügen, die zur gleichen filmischen Zeit spielen: die leidenschaftliche Liebesgeschichte in Love in a Fallen City (1984) und die Lebensgeschichte der Heldin in The Golden Era (2014), die irgendwo nebenan im Sterben liegt. Our Time Will Come ist die vierte Zusammenarbeit mit Yu Lik-wai, dem Kameramann der meisten Filme von Jia Zhangke und selbst Regisseur. (B. N.) Huang jin shi dai (The Golden Era) Ann Hui. CN/HK, 2014, DCP, Farbe, 177 min. Mandarin mit engl. UT ★ Es heißt, Ann Hui ist in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Zitate SAMSTAG aus der chinesischen Literaturgeschichte an der Tagesordnung waren. 25.3. / 20.30 Zudem hat sie selbst Literatur studiert. Die (Wieder-)Entdeckung feministischer Schriftsteller*innen aus der Ahn*innengalerie chinesi- scher Literatur ist allerdings Ann Huis ureigenster Beitrag zum (nicht nur) filmischen Gedächtnis des Landes. The Golden Era erzählt die Lebensgeschichte von Xiao Hong (1911–1942, in der Hauptrolle: Tang Wei) ganz ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr mit Mut zur Lücke und dem brennenden Anliegen, das Schaffen der Autorin in die zeitgenössischen politischen Diskurse in China einzubetten: die Geburt der modernen chinesischen Literatur revisited. Für das größ- tenteils uninformierte westliche Publikum entsteht hier der Auftrag, ja, die Verpflichtung, sich einzudenken und, ja, vielleicht auch nach- zulesen, was die Menschen im China der 1930er und 40er Jahre be- wegt hat. Ann Huis Einladung, dieses Abenteuer zu wagen, ist jeden- falls überzeugend. (K. W.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 14
Di yi lu xiang (Love After Love) Ann Hui. CN, 2020, DCP, Farbe, 144 min. Mandarin mit engl. UT ★ Eileen Chang, auf deren Kurzgeschichte der Film basiert, war eine MONTAG kühne Literatin, die in ihren Arbeiten die Lebens- und Liebesverhält- 27.3. / 20.30 nisse der vorrevolutionären chinesischen Bourgeoisie verewigt hat. Ann Hui nimmt sich der Geschichte mit einer Inszenierung an, die je- FREITAG derzeit die Möglichkeit einer Neuinterpretation eröffnet. Die Identifi- 14.4. / 20.30 kation mit den Figuren der Handlung ist nicht erforderlich oder er- wünscht: Weilong, einem jungen Mädchen aus Shanghai, geht das Geld aus. Um ihr Studium bezahlen zu können, bittet sie die Tante um Hilfe. Diese führt ein zwielichtiges Leben, und Weilong wird immer mehr in das Buhlen der Tante um die Gunst der Reichen und Mächti- gen hineingezogen. Als sich Weilong dann auch noch zu Playboy George Chiao hingezogen fühlt, führt die Tante durch Intrigen eine Hochzeit herbei. Um die Beziehung am Leben zu erhalten, muss Wei- long jedoch ihre Seele verkaufen. Ein wahrhaft schwüles Drama um »Schuld und Sühne«, mit kühlem Kopf inszeniert. (K. W.) Shu jian en chou lou (The Romance of Book and Sword) Ann Hui. HK/CN, 1987, 35mm, Farbe, 94 min. Mandarin mit dt. UT Eine der ersten Hongkong-Produktionen, die auf dem chinesischen MITTWOCH Festland mit überwiegend chinesischen Schauspieler*innen gedreht 19.4. / 20.30 wurde und eine Adaption des gleichnamigen Buches von Louis Cha, der unter dem Pseudonym Jin Yong bekannt ist. Nach seinen Werken SAMSTAG wurden rund hundert Wuxia-Filme gedreht (darunter Ashes of Time 29.4. / 18.00 [1994] von Wong Kar-wai). Huis Interpretation des Genres stellt die Kampfkünste auf eine realistischere, alltäglichere Weise dar, ohne Courtesy fliegende Held*innen. Die Geschichte spielt im 18. Jahrhundert, wäh- Arsenal – Institut für Film und rend der Herrschaft der Qing-Dynastie, die die geheime Gesellschaft Videokunst der Roten Blüten zu stürzen versucht, um die Herrschaft des Han- Volkes wiederherzustellen. Ein politisches und philosophisches Para- doxon ganz im Sinne von Ann Hui steht im Mittelpunkt des Films: Lohnt es sich, einen blutigen Krieg mit dem einzigen Ziel zu entfes- seln, das Qing-Reich zu stürzen? Ihr Fazit fällt bitter aus: Die Schlech- tigkeit der großen Politik führt unweigerlich zu Verrat und Nieder lage. (B. N.) MÄRZ / APRIL 2023 Ordinary Heroes. Filme von Ann Hui 15
23. MÄRZ BIS 29. APRIL 2023 Permissible Dreams Pionierinnen des arabischen Dokumentarfilmkinos Permissible Dreams stellt historische Dokumentarfilme arabischer Filmemacherinnen vor und würdigt die Vielfalt und die Innovations- kraft ihrer inspirierenden Arbeit. Wenn man an feministisches Film- schaffen denkt, dann zuerst an europäische und US-amerikanische Werke aus den 1970ern. So großartig diese Arbeiten unbestritten sind, als Europäer*innen können wir viel mehr über die Welt lernen, wenn wir uns auch von einer westlichen Perspektive wenig beachte- teten Gegenden zuwenden. Permissible Dreams will dieser konstan- ten Vernachlässigung entgegenwirken, indem der Fokus auf die Rolle von Frauen aus der arabischen Welt und ihre Filme gerichtet wird, jüdische, berberische und anderer nicht-arabische Filmemacherinnen eingeschlossen. Damit präsentieren wir die Vielfalt des politischen und feministischen Filmschaffens aus jenem Gebiet, das als Naher Osten, arabische Welt oder Südwestasien und Nordafrika bekannt ist. So wollen wir eine kritische Auseinandersetzung mit der anhalten- den (west-)europäischen Dominanz anstoßen, die sich nicht nur in den Bereichen Finanzierung und Infrastruktur manifestiert, sondern auch auf Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen auswirkt: Oft sind es die Filmemacherinnen selbst, die Lobbyarbeit leisten müssen, um ihr filmisches Erbe zu sichern. Permissible Dreams widmet sich einigen der mutigsten und interes- santesten Dokumentarfilmen von arabischen Regisseurinnen, die ab den späten 1960ern Frauengeschichte(n) aufzeichneten. Dieses Pro- gramm zeigt Filme, die der Zensur zum Opfer gefallen sind, und Filme, die – versehentlich oder absichtlich – ignoriert wurden; Filme, die verboten wurden, auf Schwarzen Listen standen oder einfach in den Regalen von staatlichen Archiven verschwanden. Diese Archive erhielten (und erhalten immer noch) nicht die Unterstützung oder Finanzierung, die sie benötigen würden, um das Filmerbe zu be wahren. Auch die Machart und die Themen der Filme selbst bewegten sich oft im Spannungsfeld von (Selbst-)Zensur und anderen Widerstän- MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 16
den, was sie nicht nur inhaltlich, sondern auch formal aktivistisch und Beyrouth, politisch macht. Der Titel dieser Schau, Permissible Dreams, spiegelt ma ville / Beirut Madinati (Beirut, diesen Zusammenhang wider: Die Filmemacherinnen loten mit unter- My City, 1982, schiedlichen formalen Strategien die Grenzen des Erlaubten aus. Wie Jocelyne Saab) Aziza, eine von Ateyyat El Abnoudy interviewte Frau, im Film Permissible Dreams sagt: »Ich träume nie von Dingen, die ich mir nicht leisten kann. […] Meine Träume sind verwirklichbar.« Damit liefert sie die Inspiration für Abnoudys subversive Herangehensweise an politische Realitäten. Für manche mag es überraschend sein, dass arabische Frauen schon seit der Erfindung des Kinos Filme machten; tatsächlich produzierte Aziza Amir bereits in den 1920ern populäre ägyptische Filme und spielte in ihnen mit, während Haydée Chikly aus Tunesien ihre e igenen Drehbücher schrieb und in ihren Filmen, die ihr Vater inszenierte, ebenfalls Hauptrollen übernahm. Als arabische Frauen – nicht zuletzt dank der leichteren Verfügbarkeit von Aufnahmegeräten – dann ver- mehrt zur Kamera griffen, wurde die Welt gerade von revolutionären Bewegungen rund um die Entkolonialisierung erschüttert. Die späten MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 17
1960er waren eine Zeit, in der Künstler*innen und Aktivist*innen aus dem globalen Süden die Auseinandersetzung mit der visuellen Kultur neu belebten: Der Film wurde zu einem Instrument der Emanzipation von Nationen, Gemeinschaften und Menschen. Frauen griffen selbst- bewusster als je zuvor zur Kamera und stellten sicher, dass ihre Anlie- gen und Prioritäten auch auf der Leinwand vertreten waren. Filmemachen ist in der arabischen Welt oft eine Sache des Idealis- mus und des Aktivismus, insbesondere für Frauen. Trotz vieler prakti- scher und ideologischer Schwierigkeiten haben Regisseurinnen Wege gefunden, in ihren Filmen dissidente Haltungen auf unterschiedlichste Arten zu verhandeln. Folglich sind alle Filme in diesem Programm – ob sie nun experimentell, essayistisch oder poetisch sind – an sich politisch. Damit sind diese Filmpionierinnen, deren Geschichte wir nachzeichnen, eine Inspiration für ihre Protagonist*innen, ihr Publikum und die Filmemacherinnen, die in ihre Fußstapfen traten. Permissible Dreams stellt Regisseurinnen aus mehreren Ländern in den Mittelpunkt: Ateyyat El Abnoudy aus Ägypten, Jocelyne Saab und Heiny Srour aus dem Libanon, Selma Baccar aus Tunesien, Assia Djebar aus Algerien, Mai Masri, Layaly Badr und Khadijeh Habashneh aus Palästina, Izza Génini aus Marokko und Hala Alabdallah Yakoub aus Syrien. Dass wir diese Filmemacherinnen als Pionierinnen be- zeichnen, hat mehrere Gründe. So war Izza Génini zwar nicht die ers- te Dokumentarfilmemacherin in Marokko (das war Farida Bourquia), aber in über zwanzig Filmen hat Génini einen einheitlichen Stil ent wickelt und wiederkehrende Themen behandelt, darunter das kultu- relle Erbe, ethnische Vielfalt und Musik. Darüber hinaus hat sie einen wesentlichen Beitrag zum weltweiten Vertrieb von marokkanischen Dokumentarfilmen geleistet. Manche dieser Pionierinnen begannen erst spät mit ihrer filmi- schen Arbeit, wie etwa Hala Alabdallah Yakoub, die 2006 erstmals Regie führte, nachdem sie vorher als Produzentin und Koregisseurin tätig war. Andere, wie etwa Assia Djebar, waren in ihrem Land bis in die 2000er die einzigen Frauen, die Dokumentarfilme drehten. In Algerien etwa ist das Filmemachen immer noch ein komplexes und gefährliches Unterfangen, weswegen mitunter im Exil oder grenz- überschreitend gearbeitet wird. Auch in Palästina gibt es nicht viele ortsansässige Filmemacherin- nen, da es äußerst schwierig ist, die Mittel zu finden, um innerhalb der besetzten Gebiete Filme zu machen, und viele Palästinenser*in- MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 18
nen im Exil leben. Mai Masri, eine im Libanon lebende Palästinen Al-Sandawich serin, war die erste Frau, die ihre Landsleute in Flüchtlingslagern (The Sandwich, 1975, Ateyyat porträtierte und damit eine Richtung skizzierte, der andere Filmema- El Abnoudy) cherinnen innerhalb und außerhalb Palästinas folgten. Ateyyat El Ab- noudy wird auch als »Mutter des ägyptischen Dokumentarfilms« be- zeichnet, denn in Ägypten waren Anfang der 1970er vor allem Filme aus dem »Goldenen Zeitalter« der 1940er und 1950er beliebt. Jocelyne Saab arbeitete zunächst als Journalistin, als das libanesische Kino parallel zum ägyptischen Kino (in dem viele libanesische Stars aktiv waren) ein schnelles Wachstum verzeichnete. Als der lang andau- ernde libanesische Bürgerkrieg begann, wandte sie sich dem Doku- mentarfilm zu. Permissible Dreams zeigt, wie die Filmemacherinnen ihre dissi- denten Filmpraktiken und Ideale, ihren kulturellen und politischen Widerstand an Orten entwickelten, an denen Zensur, konservative Moralvorstellungen und fehlende Investitionen die Produktion und den Vertrieb von Dokumentarfilmen erschweren. Sie alle verbindet eine pragmatische Haltung in ihren jeweiligen Lebens- und Arbeits- kontexten sowie eine daraus resultierende künstlerische und subver- sive Kraft. (Stefanie Van de Peer) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 19
Fatma 75 Selma Baccar. TN, 1975, DCP, Farbe, 60 min. Arabisch mit engl. UT ★ Fatma 75 ist der bekannteste femi- nistische Dokumentarfilm aus der arabischen Welt. Der kraftvolle Essay schildert feministische Geschichte, wobei er sowohl tunesische als auch nichtarabische Tabus und stereoty- pe Ansichten über arabische Frauen in Frage stellt. Fatma 75 stellt klar, welch wichtige Rolle Frauen in der DONNERSTAG tunesischen Geschichte spielten. Die historische Auseinandersetzung 23.3. / 20.30 mit weiblichen Perspektiven und Erfahrungen zieht sich durch das Ge- samtwerk von Selma Baccar, die mit Fatma 75 als erste tunesische FREITAG Frau einen abendfüllenden Film realisiere. Baccar studierte Psycholo- 21.4. / 18.00 gie und entdeckte ihr Interesse am kollektiven Filmemachen in ihrem örtlichen Amateurfilmclub. Während der tunesischen Jasminrevolution (2011) wurde sie in das Gremium gewählt, das für die Ausarbeitung einer neuen tunesischen Verfassung für die Zeit nach dem Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali zuständig war. Derzeit schreibt sie ihre Memoiren. (S. P.) Café du genre Aïta Izza Génini. FR/MA, 1988, DCP, Farbe, 28 min. Französisch/Arabisch mit engl. UT ★ Les Almées, danseuses orientales (Belly Dancers, Oriental Dancers) Jocelyne Saab. FR, 1989, DCP, Farbe, 26 min. Französisch mit engl. UT ★ Café du genre (1 + 5) (Gender Café [1 + 5]) Jocelyne Saab. FR, 2013, DCP, Farbe, 4 + 4 min. Französisch mit engl. UT ★ Musik und Tanz als politischer Ausdruck: Izza Géninis erster Kurzfilm FREITAG Aïta schildert das Wanderleben weiblicher Troubadoure, die auf 24.3. / 18.00 den Moussem-Festivals in Marokko die Aïta singen. In Les Almées, danseuses orientales stehen die Almäen im Mittelpunkt: Bauchtänze- rinnen, die bei Hochzeiten und Beschneidungsfeiern auftreten, inspi- riert von den Stars der 1940er und 1950er Jahre. Café du genre be- schäftigt sich anhand k urzer Interviews mit Künstler*innen mit den Themen Geschlecht, Körper, Sexualität und Identität. Im Mittelpunkt stehen der ägyptische Choreograf Walid Aouni und der libanesische Tänzer Alexandre Paulikevitch. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 20
Frühe Kurzfilme von Ateyyat El Abnoudy Husan al-Tin (Horse of Mud) Ateyyat El Abnoudy. EG, 1971, DCP (von 16mm), sw, 12 min. Arabisch mit engl. UT ★ Ughniyat Touha al-Hazina (Sad Song of Touha) Ateyyat El Abnoudy. EG, 1972, DCP (von 16mm), sw, 12 min. Arabisch mit engl. UT ★ Al-Sandawich (The Sandwich) Ateyyat El Abnoudy. EG, 1975, DCP (von 16mm), Farbe, 12 min. Arabisch mit engl. UT ★ Diese frühen Werke von Ateyyat El Abnoudy, der »Mutter des ägyp FREITAG tischen Dokumentarfilms«, entstanden teilweise noch während ihrer 24.3. / 20.30 Studienzeit am Kairoer Filminstitut. Horse of Mud dokumentiert die Lehmziegelherstellung am Nilufer und zeigt die harte Arbeit, die von den Ärmsten verrichtet wird, als Choreografie. Sad Song of Touha konzentriert sich auf Straßenkünstler*innen und Akrobat*innen. El Abnoudys damaliger Ehemann, der Dichter und Marxist Abdel-Rah- man El Abnoudy, liest dazu auf der Tonspur eines seiner Gedichte. Mit The Sandwich wendet sich die Regisseurin dem Landleben zu und porträtiert autark lebende Frauen und Kinder. El Abnoudys Filme wur- den international ausgezeichnet, aber in Ägypten kritisiert, weil sie mit ihrer Kamera »in den Schlamm der Gesellschaft« eintauche und statt Leinwandstars die Lebenswelten der Unterschicht zeigte. (S. P.) La Zerda, ou les chants de l’oubli (The Zerda, or the Songs of Oblivion) Assia Djebar. DZ, 1982, DCP (von 16mm), sw, 60 min. Arabisch/Französisch mit engl./dt. UT ★ Koloniale Fotografien und Filmaufnahmen über den Maghreb unter SAMSTAG französischer Herrschaft liegen diesem poetisch-politischen Found- 25.3. / 18.00 Footage-Essay zugrunde. Zusammen mit ihrem damaligen Ehe- mann, dem Dichter Malek Alloula, analysiert Djebar den kolonialen MONTAG Blick, den die poetische Erzählstimme eindringlich hinterfragt. Die 24.4. / 18.00 kontemplative Montage von Schwarzweißbildern aus den Jahren 1912 bis 1942 legt filmische und politische Ungerechtigkeiten offen Courtesy und konfrontiert die französische Kolonialmacht mit ihrem voyeuris- Arsenal – Institut für Film und tischen Blick auf die Bewohner*innen Nordafrikas. Strukturiert ist Videokunst der Film nach den musikalischen Prinzipien der Zerda, in vier Sätzen, die jeweils ein vergessenes Lied – oder ein Lied des Vergessens – dar- stellen. La Zerda, ou les chants de l’oubli gewann bei der Berlinale 1983 den Sonderpreis für den besten historischen Film. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 21
Jocelyne Saab: Der Blick hinter die Schlagzeilen Kadhafi: l’Islam en marche (Gaddafi: The Green March) Jocelyne Saab, Jean-François Chauvel. FR, 1973, DCP (von 16mm), Farbe, 28 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Irak: La Guerre au Kurdistan (Iraq: War in Kurdistan) Jocelyne Saab. FR, 1974, DCP (von 16mm), Farbe, 16 min. Französisch mit engl. UT ★ Les nouveaux croisés de l’orient (New Crusaders of the Orient) Jocelyne Saab. LB, 1975, DCP (von 16mm), Farbe, 10 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Iran: L’Utopie en marche (Iran: Utopia on the Move) Jocelyne Saab. LB, 1980, DCP (von 16mm), Farbe, 52 min. Französisch mit engl. UT ★ Jocelyne Saab war eine der ersten Journalistinnen, die die arabische DONNERSTAG Welt auf der Suche nach den Geschichten hinter den Schlagzeilen 30.3. / 18.00 bereiste. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, was vor Ort geschieht. Als eine der wenigen arabischen Journalist*innen hatte sie Zugang MONTAG zu mehr und anderen Quellen als die Europäer*innen. Daher müssen 24.4. / 20.30 diese Filme auch in ihrem historischen Kontext gesehen werden. Ihre Dokumentarfilme über den Irak und den Iran zeigen Interviews mit Menschen auf der Straße, die ihrem täglichen Leben nachgehen. Ohne Sensationsgier zeigt sie ein tiefgreifendes Interesse an den Geschichten der Menschen in Zeiten von Konflikten und politischen Umbrüchen. Die Filme, die Saab im Libyen der 1970er gedreht hat (ein Interview mit Gaddafi und das Portrait eines französischen Söld- ners), sind zutiefst geprägt von ihren Einblicken in die Region. (S. P.) Hey! La tensi el kamoun (Hey, Don’t Forget the Cumin!) Hala Alabdallah Yakoub, SY/FR/TN, 2008, DCP, Farbe, 66 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Hey! Don’t Forget the Cumin ist Hala Alabdallas zweiter Film und in SAMSTAG seiner detaillierten Auseinandersetzung mit drei Künstler*innen wie 1.4. / 18.00 sein Vorgänger nichtlinear und experimentell gestaltet: Jamil Hatmal, ein syrischer Schriftsteller, Sarah Kane, eine britische Dramatikerin, und Darina Al Joundi, eine libanesische Schauspielerin. Exil und Ent- fremdung sind die zentralen Figuren dieses Dreifachporträts, das Einblicke liefert, wie Künstler*innen mit der existenziellen Krise um- gehen. Durch die vielen Verweise auf Kunst und Literatur gelingt Alabdallah ein trotzig-antikonformistisches Statement gegen Des illusionierung und damit zwischen den Zeilen eine scharfe Kritik an der repressiven Baath-Partei. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 22
Izza Génini: Traditionen und Kulturerbe Pour le Plaisir des Yeux (For the Eyes’ Delight) Izza Génini. FR/MA, 1997/98 , DCP, Farbe, 51 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Rhythms de Marrakech (Rhythms of Marrakesh) Izza Génini. FR/MA, 1989, DCP (von 16mm), Farbe, 26 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Izza Géninis Dokumentarfilme spiegeln ihre tiefe und komplexe Be- MONTAG ziehung zu marokkanischen Traditionen wider. In Pour le Plaisir des 3.4. / 20.30 Yeux reist sie durch das Land und untersucht Form und Ausdruck weiblicher Schönheit. Dabei knüpft sie enge Beziehungen zu Make- up-Künstlerinnen und zeigt, dass die traditionelle Rolle der Ziyana wieder an Bedeutung gewonnen hat. Traditionell ist die Ziyana eine weibliche Begleiterin, die sich um die Schönheit einer Frau an ihrem Hochzeitstag oder bei anderen wichtigen Zeremonien kümmert. Rhythms de Marrakech feiert die marokkanische Kultur anhand ihrer Volksmusik. Der Film folgt Bewohner*innen der Stadt am Achoura- Fest, bei dem sich große Gruppen versammeln, um die Geburt des Propheten Mohammed zu feiern. Dieser introspektive Blick auf das Festival zelebriert Kultur und Traditionen Marokkos anhand der Er- fahrungen von Menschen aus der »roten Stadt« mit Musik als ent- scheidendem Element. (S. P.) Le Sahara n’est pas à vendre (The Sahara is Not for Sale) Jocelyne Saab. FR/MA/DZ, 1977, DCP (von 16mm), Farbe, 75 min. Arabisch/Französisch/Spanisch mit engl. UT ★ Saab lehnte die Bezeichnung »arabische« Filmemacherin ab und ihr MITTWOCH Internationalismus ließ sie über Gebiete berichten, in denen Grenzen 5.4. / 18.00 überschritten wurden, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Dieser Film aus dem Herzen der Wüste betrachtet den Westsahara- SAMSTAG Konflikt von allen Seiten, schließt niemanden aus und verschränkt 22.4. / 18.00 diese Zeugnisse mit kontemplativen Aufnahmen der Wüstenland- schaft. Der unabhängig gedrehte Film wurde von Marokkos Regie- rung unterstützt und vom algerischen Fernsehen mitfinanziert: Das belegt die komplexe Situation in einem Gebiet, das oft als letzte Kolonie im afrikanischen Kontinent bezeichnet wird. Nach diesem Film konnte Saab Marokko zwei Jahrzehnte lang nicht mehr besuchen. Die persönliche und visuelle Qualität ihrer Reportage-Dokumente hebt sich von anderen Berichten dieser Zeit ab, Saabs direkte Ausein- andersetzung mit der Bedeutung von Grenzen und Selbstbestim- mung sind Zeugnisse eines idealistischen Journalismus. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 23
Kinder in Konfliktzonen Atfal Al-Harb / Les enfants de la guerre (The Children of War) Jocelyne Saab. FR, 1976, 16mm, Farbe und sw, 10 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ ↖ Children without Childhood Khadijeh Habashneh. PS, 1979/80, DCP (von 16mm), Farbe, 23 min. Arabisch mit engl. UT ★ Al-Tariq Illa Filastin (Der Weg nach Palästina) Layaly Badr. DDR/PS, 1985, 16mm, Farbe, 7 min. Arabisch mit engl. UT ★ ↗ Children of Shatila Mai Masri. LB, 1998, DCP, Farbe, 50 min. Arabisch mit engl. UT ★ Kinder spielen in Kriegsdokumentationen, insbesondere in palästinen- FREITAG sischen Filmen, eine wichtige Rolle. Dafür gibt es sowohl praktische als 7.4. / 18.00 auch metaphorische Gründe: Die Bevölkerung wurde aufgrund des langen Krieges jünger, während Kinder im Film Zeugenschaft, Erinne- MITTWOCH rung und historische Entwicklung repräsentieren. In Les enfants de la 26.4. / 18.00 guerre filmte Jocelyne Saab die Kinder von Quarantina, einer musli- mischen Barackensiedlung in Beirut, nur wenige Tage nach dem Mas- saker von 1976. Children without Childhood handelt vom Leben der Kinder, die das Massaker von Tel El-Zaatar 1975 überlebt haben. In The Road to Palestine beschreiben die Kinder ein Palästina, das sie nie gesehen haben, in Children of Shatila setzen sich die Kinder mit ihrer Realität auseinander, Flüchtlinge in einem Lager zu sein, das Massaker, Belagerung und Hunger überstanden hat. In jedem dieser Filme haben die Filmemacherinnen den Kindern Werkzeuge für ihre Kreativität an die Hand gegeben, ihre künstlerischen Arbeiten zeigen die Bedeutung von Trauma und Widerstandsfähigkeit. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 24
Ana alati tahmol azouhour ila qabriha (I’m the One Who Brings Flowers to her Grave) Hala Alabdallah Yakoub, Ammar Al Beik. SY/FR, 2006, DCP, sw, 105 min. Arabisch mit engl. UT ★ Wie ein roter Faden zieht sich eine emotionale Subjektivität durch SAMSTAG das Werk der syrischen Dokumentarfilmerin Hala Alabdallah: Wie las- 8.4. / 18.00 sen sich die erlebten Erfahrungen von politischem Aufruhr und Exil in Poesie und Kunst übersetzen? Alabdallahs erster Film ist ein lyrisches Porträt der Solidarität zwischen ihr und ihren drei besten Freundin- nen im Wandel der Zeit. Die Filmemacherin experimentiert mit der Form der Repräsentation: Die emotionale und poetische Erzählung ist trotzig nicht-linear, persönlich und subjektiv. So werden die Nor- men und Werte von Politik, Kunst und des Filmemachens eher hinter- fragt und erfühlt statt erklärt oder verdeutlicht. Der Titel des Films verweist auf Alabdallahs syrischen Lieblingsdichter Daad Haddad und sein Gedicht über das Leiden für die Kunst. (S. P.) Jocelyne Saab: Urbanes Ägypten Égypte, Cité des morts / Madinat Al-Mawta (Egypt, the City of the Dead) Jocelyne Saab. LB, 1977, DCP (von 16mm), Farbe, 35 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ L’Architecte de Louxor (The Architect of Luxor) Jocelyne Saab. FR, 1986, DCP (von 16mm), Farbe, 18 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Les fantômes d’Alexandrie (The Phantoms of Alexandria) Jocelyne Saab. FR, 1986, DCP (von 16mm), Farbe, 17 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Jocelyne Saab liebte Ägypten, das der gebürtigen Libanesin zur MONTAG zweiten Heimat wurde. In diesen drei Filmen entwirft Saab einzig 10.4. / 20.30 artige Porträts ägyptischer Städte, gesehen durch ihre eigenen und die Augen anderer Künstler*innen. Egypt, the City of the Dead begibt DONNERSTAG sich auf die Suche nach den Ursprüngen von Kairo. Während Saabs 27.4. / 18.00 Heimatstadt Beirut in Schutt und Asche gelegt wird, findet sie hier Spuren von Traditionen, die von der zunehmenden Globalisierung bedroht sind. In L’Architecte de Louxor erklärt der Architekt und Philo- soph Olivier Sednaoui, wie er sein Lehmziegelhaus gebaut hat in einer architektonischen Harmonie, die Ende des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit gerät. Les fantômes d’Alexandrie erkundet die vielen Geschichten der Stadt, inspiriert von den Texten des Lyrikers Konstan tínos Pétrou Kaváfis und des Schriftstellers Lawrence Durrell. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 25
Jocelyne Saab: Der Libanesische Bürgerkrieg Le Liban dans la Tourmente (Lebanon in Torment) Jocelyne Saab. LB, 1975, DCP (von 16mm), Farbe, 75 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ La Tueuse (The Woman Killer) Jocelyne Saab. FR, 1988, DCP (von 16mm), Farbe, 10 min. Arabisch/Französisch mit engl. UT ★ Jocelyne Saab verstand es wie keine andere, die Komplexität des MITTWOCH Konflikts in ihrem Landes darzustellen. In Le Liban dans la Tourmente 12.4. / 18.00 erkundet sie die Lebenswirklichkeit der Palästinenser*innen im Liba- non. Am 13. April 1975 wurden palästinensische Zivilist*innen von MITTWOCH Phalangisten-Milizen erschossen, Monate später erweisen sich die 26.4. / 20.30 Zahlen der Opfer als noch erschreckender: 6.000 Tote, 20.000 Ver- letzte, tägliche Entführungen und eine halb zerstörte Hauptstadt. Der Film ist ein einzigartiges Dokument über den libanesischen Bürger- krieg und offenbart die Ursprünge des Konflikts aus der Sicht einer stolzen Gesellschaft, die in den Krieg zog. In La Tueuse porträtiert Saab Jocelyne Khoueiry, die 1976, während des libanesischen Bürgerkriegs, als Muse der Phalangisten-Miliz in Beirut galt. Mit ihrem Frauenkom- mando war sie auch für mehrere blutige Operationen verantwortlich. Jahre später wandte sie sich einem spirituellen Leben zu und gründete einen Orden. (S. P.) Saat el Fahrir Dakkat, Barra ya Isti Mar (The Hour of Liberation Has Arrived) Heiny Srour. FR/LB/UK, 1974, DCP (von 35mm), Farbe und sw, 62 min. Arabisch mit engl. UT ★ The Hour of Liberation Has Arrived war 1974 der erste Film einer ara- DONNERSTAG bischen Regisseurin bei den Filmfestspielen von Cannes. Heiny Srour 13.4. / 18.00 porträtiert darin die revolutionären Kämpfer*innen von Dhufar, die In Anwesen- angesichts der imperialen Vorherrschaft zur Einheit aufrufen. Die heit von Heiny Srour Dhufar-Befreiungsfront gegen das anglo-sultanische Regime zog von 1964 bis 1976 weitere Kämpfer*innen aus dem Oman und dem Osten der Arabischen Halbinsel an. Die Bewegung schuf soziale, SAMSTAG kulturelle, wirtschaftliche und militärische Strukturen, die von einer 29.4. / 20.30 antikapitalistischen und antiimperialistischen Befreiungsideologie getragen wurden. Srour unterstreicht die starken feministischen Unterströmungen des Dhufari-Befreiungskampfes als festen Bestand- teil der Ideologie der Bewegung. Auch stilistisch ist der Film radikal, da er mit formalen Elementen des Dritten Kinos arbeitet. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 26
Saat el Tahrir Dakkat (The Hour of Liberation Has Arrived, 1974, Heiny Srour) Ayyam ad-dimuqratiya (Days of Democracy) Ateyyat El Abnoudy. EG, 1996, DCP, Farbe, 70 min. Arabisch mit engl. UT ★ Days of Democracy, El Abnoudys erfolgreichster und international FREITAG bekanntester Film, ist ein politisch inspiriertes und unverblümt femi- 14.4. / 18.00 nistisches Porträt jener Frauen, die 1995 für das ägyptische Parlament kandidierten. Die Filmemacherin verknüpft die Geschichte der ägyp- tischen Pharaonenzeit mit der emanzipatorischen Stoßrichtung ihrer Arbeit und der Frauenbewegung. Durch den Bezug zur fernen Ver- gangenheit kann das heutige Publikum eine Verbindung zur gegen- wärtigen politischen Situation herstellen: El Abnoudy will bewusst vor Augen führen, dass die Wahl einer Frau ins Parlament praktisch unmöglich ist. Der versteckte Aktivismus des Films zeigt sich im ironi- schen Off-Kommentar und der Struktur, in der Interviews und Frauen geschichten präsentiert werden: Sie erzeugen ein tieferes Verständ- nis dafür, welche Rolle Frauen im Parlament spielen könnten. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 27
Retrouver Oulad Moumen (Return to Oulad Moumen, 1994, Izza Génini) Comme si nous attrapions un cobra (As if We Were Catching a Cobra) Hala Alabdallah Yakoub. SY/AE/FR, 2012, DCP, Farbe, 120 min. Arabisch mit engl. UT ★ In ihrem dritten Dokumentarfilm untersucht Hala Alabdalla die Kunst SAMSTAG der Karikatur. Ihre politische Bedeutung in Ägypten und Syrien liegt 15.4. / 18.00 nicht nur in der Ausdruckmöglichkeit von Dissidenz, sondern im iden- titätsstiftenden Potenzial angesichts der Unterdrückung, sowohl für die Künstler*innen wie auch ihr Publikum. Alabdalla begann mit der Arbeit an diesem Film unmittelbar vor Beginn der Revolution in Kairo 2011, der Aufstand tritt im Lauf des Films immer mehr in den Vorder- grund. In dieser subjektiven, intimen und emotionalen Studie be- fragt die Filmemacherin junge und bekannte Künstler*innen (u. a. den syrischen politischen Karikaturisten Ali Ferzat), die für Meinungs- freiheit und soziale Gerechtigkeit einstehen. Die Kraft des künstleri- schen Ausdrucks ist für viele eine Quelle der Resilienz. (S. P.) MÄRZ / APRIL 2023 Permissible Dreams 28
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