Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst

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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
Informationen für evangelische
                          Religionslehrerinnen und -lehrer
                          in Westfalen und Lippe

50. Jahrgang   2 | 2021
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
Resilienz und Religion
„Das musste ja so kommen“ – Sind Lebensläufe von Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen vorherbestimmt? Keineswegs!
Viele Kinder haben ihre ganz eigenen Strategien, mit Krisen umzugehen. Der Religionsunterricht hat seine eigenen Rahmenbedingungen,
 um Kinder dabei zu fördern. Und zahlreiche religiöse Anknüpfungspunkte, um das Thema Resilienz greifbar und erfahrbar zu machen.

In dieser Ausgabe

   Resilienz und Vulnerabilität | S. 3            terrichts der SEK I, eine resiliente Haltung von       Gottes Ebenbild | S. 32
Was ist Resilienz? Wie ist der Forschungs-        Schüler*innen zu fördern.                           Religion kann sich erwiesenermaßen positiv
stand und kann man Resilienz erlernen? Bri-                                                           auf Bewältigungsstrategien von Kindern und
gitte Zeeh-Silva, Grebin, gibt einen Überblick.      Es riecht nach Hoffnung | S. 23                  Jugendlichen auswirken. Christiane Karp-Lan-
                                                  Die Widerstandsfähigkeit in Krisen-Situati-         gejürgen, Pfarrerin und RU-Lehrerin in Halle
   Nur ein Mode-Wort? | S. 9                      onen ist auch Thema im RU der SEK II. Nicht         (Westf.), zeigt Anknüpfungspunkte auf.
Meinfried Jetzschke, Schwerte-Ergste, zeigt       ohne einen Blick in die eigene Biografie des
konkrete Handlungsfelder auf und gibt gut         Unterrichtenden, meint Wolfram Bensberg,               Zwischen Liebeskummer und Mobbing |
verständliche Sprachbilder vor, wie man die       Schwerte-Villigst.                                     S. 38
Resilienz bei jungen Menschen fördern kann.                                                           Wie gehe ich mit der Trennung meiner Eltern
                                                      Übergänge | S. 28                               um? Wie verkrafte ich den Tod der Oma?
   Krafttankstellen für Lehrer*innen | S. 15      Ulrich Walter, Schwerte-Villigst, lenkt den Blick   Christiane Karp-Langejürgen hat mit Schü-
Überfordernde Situationen kennen nicht nur        auf die besonderen Zeiten des Schul-Über-           ler*innen der 12. Klasse Coping-Strategien in
Schüler*innen. Bernhard Sieland, Lüneburg,        gangs und unterstützende Ideen des RU für           einem „Schatzkästchen fürs Leben“ gesam-
gibt Anregungen und stellt hilfreiche Fragen      die Schüler*innen in diesen Tagen.                  melt.
zum eigenen Umgang mit stressigen Zeiten
im Schulalltag.                                      Zollstock-Segen | S. 30                             Schilfkörbchen-Erfahrungen | S. 41
                                                  Rituale und Zuspruch sind wichtige Bausteine        Welche Bilder, Geschichten, Symbole ... geben
   Wenn mich andere auspfeifen,                   für eine gute Entwicklung der Schüler*innen.        Kindern Hilfe für ihre eigene seelische Wider-
   höre ich Applaus | S. 19                       Segen fördert Leben, gerade auch in Krisen-         standskraft. Christiane Karp-Langejürgen
Marco Sorg, Schwerte-Villigst, erläutert die      zeiten. Ulrich Walter hat einen ganz beson-         nutzt dazu die Lebensgeschichte des Moses
besonderen Möglichkeiten des Religionsun-         deren entwickelt.                                   und seine ungewöhnliche Karriere.

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Bausteine für den Religionsunterricht und ein gutes Schulklima

Die Seele stärken, Resilienz fördern, einfach evangelisch!
Resilienz und Resilienzförderung                    über 40 Jahre lang knapp 700 Kinder, die 1955    handlung, niedriger Bildungsstand der Eltern,
in der Schule*                                      auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden.       etc. ⅔ dieser „Risiko Kinder“ fielen als Jugend-
                                                    Knapp ⅓ dieser Kinder wuchsen unter äußerst      liche durch Lern- oder Verhaltensstörungen
1 Das Phänomen der Resilienz                        schwierigen Verhältnissen mit hohen Risi-        auf, wurden straffällig bzw. psychiatrisch auf-
1.1 Was heisst „Resilienz“?                         kofaktoren auf: Armut, Krankheit der Eltern,     fällig. Gleichzeitig entwickelte sich ⅓ dieser
(Lat. resilere – ‚zurückspringen‘, ‚abprallen‘)     Vernachlässigung, Gewalt in der Familie, Miss-   Kinder erstaunlich positiv. Sie waren erfolg-
   Resilienz bezeichnet die psychische Wider-
standsfähigkeit von Kindern gegenüber sog.
Risikofaktoren wie biologischen, psychologi-
schen und psychosozialen Entwicklungsrisi-
ken (z.B. chronische Armut, Gewalterfahrun-
gen, Verlust eines Elternteils, traumatische
Situationen wie Naturkatastrophen oder
Kriegserlebnisse).
   Das Gegenstück zu Resilienz ist Vulnerabi-
lität (engl. Vulnerability): Verletzbarkeit, d.h.
erhöhte Bereitschaft, durch äußere Verlet-
zungsfaktoren physische oder psychische
Erkrankungen zu entwickeln.

Die Kauai Studie, eine Pionierstudie
(1973 – 2001)
Die US-amerikanische Entwicklungspsycho-
login Emmy Werner und ihr Team begleiteten          Die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner.             Foto: Bwag, wikimedia.org

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reich in der Schule, waren in das soziale Leben    des Kindes und/oder seiner Lebesumwelt ver-        einer gelingenden Lebensbewältigung, sog.
    integriert und wiesen zu keinem Zeitpunkt der      ankert sind.                                      „Life skills“ erforscht werden.
    Untersuchung irgendwelche Verhaltensauffäl-          Kein Mensch ist immer gleich widerstands-          Die Resilienzforschung untersucht erstmals,
    ligkeiten auf. Die grundlegende Erkenntnis aus     fähig. Die Entwicklung von Resilienz hängt         wie Risikosituationen bewältigt werden kön-
    dieser (und anderer) Studie(n) ist, dass ungüns-   z.B. von der jeweiligen Risikokonstellation        nen.
    tige (Start-) Voraussetzungen nicht zwingend       (Risikofaktoren / Risikomechanismen), von            Die Resilienzforschung hat keine defizit­
    zu Elend und Misserfolg führen müssen.             der Entwicklungsphase und von den vorhan-          orientierte Perspektive, sondern eine res-
    Resiliente Kinder (Erwachsene) verfügen über       denen, bzw. entwickelten Schutzfaktoren ab.        sourcenorientierte: Es geht um Fähigkeiten,
    bestimmte Eigenschaften und Strategien, die                                                           Potenziale und Ressourcen des Kindes.
    ihnen ermöglichen, an widrigen Umständen           1.3 Was ist das Besondere an                         Die Resilienzforschung zielt darauf ab, Kin-
    nicht zu zerbrechen. Der ursprünglich auf           der Resilienzforschung?                           der so früh wie möglich für Stress- und Belas-
    Kinder und Jugendliche gelegte Fokus der            Innerhalb der Längsschnittstudien wird nicht      tungssituationen zu „stärken“.
    Resilienzforschung hat sich in der Zwischen-        nur auf Ursachen und Bedingungen für die
    zeit sehr stark in Richtung Erwachsenenalter        Entstehung psychischer Störungen geschaut,       1.4 Was sind Hauptergebnisse der Resilienz­-
    (z.B. Belastungs-, Traumaverarbeitung), in          sondern es wird versucht, neben Risikofak-       forschung?
    die Arbeitswelt (resiliente Teams) sowie auf        toren auch Schutzfaktoren zu identifizieren,       1.4.1 Interne / Personale Schutzfaktoren
    soziale Systeme ausgeweitet.                        die für den Erhalt seelischer und körperlicher     des Kindes
                                                        Gesundheit maßgeblich sind. Dieser Perspek­
    „Die Annahme, dass sich Kinder aus einer            tivwechsel / Paradigmenwechsel innerhalb           1 Selbst- und Fremdwahrnehmung
     Hochrisikofamilie zwangsläufig zum Versager        der Forschungsbereiche Psychologie, Päda-        Resiliente Kinder kennen die verschiedenen
     entwickeln, wird durch die Resilienzforschung      gogik und Gesundheitswissenschaften führte       Gefühle und können sie adäquat ausdrücken
     widerlegt.”                      Emmy Werner       in den 90er Jahren zu einem erweiterten          (mimisch und sprachlich); sie können Stim-
                                                        Begriff des Verständnisses von ‚Gesundheit‘,     mungen bei sich und anderen erkennen und
    1.2 Was ist heute über Resilienz bekannt?           in der (WHO) sehr umfassend definiert als        einordnen: sie können sich, ihre Gefühle und
      Resilienz ist kein angeborenes Persönlich-       „Zustand vollkommenen körperlichen, geis-         Gedanken reflektieren und in Bezug zu ande-
    keitsmerkmal eines Kindes.                          tigen und sozialen Wohlbefindens“.               ren setzen.
      Resilienz entwickelt sich aus der Interaktion     Daraus entwickelten sich zahlreiche Konzepte     Förderung der Selbstwahrnehmung: durch
    des Kindes mit seiner Umwelt.                       innerhalb der Präventionsforschung zur För-      Erhöhung des Fokuses für die Sensibilität für
      Wer Resilienz entwickelt, verfügt über so­        derung und zur Erhaltung von Gesundheit,         den eigenen Körper und die eigenen Gefühle.
    genannte Schutzfaktoren, die in der Person          wobei die Entwicklung von Fähigkeiten zu         Differenzierte Sprache. Beispiel: „Es geht

4                                                                                                                                               ru intern
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wortungsübernahme im Alltag machen
                                                                                                    können. Erwachsene sollten den Kindern
                                                                                                    ihre Stärken und Kompetenzen spiegeln und
                                                                                                    sie darin bestärken, auf ihre Fähigkeiten zu
                                                                                                    vertrauen, ihnen etwas zutrauen und nicht
                                                                                                    vorschnell eingreifen, sondern sie ermuti-
                                                                                                    gen, auch bei Schwierigkeiten weiterzuma-
                                                                                                    chen.

                                                                                                      3 Selbststeuerung / Selbstregulation
                                                                                                    Resiliente Kinder können sich und ihre
                                                                                                    Gefühlszustände selbstständig regulieren
                                                                                                    bzw. kontrollieren: Sie wissen, was ihnen
                                                                                                    hilft, um sich selbst zu beruhigen und wo
                                                                                                    sie sich ggf. Hilfe holen können; sie kennen
                                                                                                    Handlungsalternativen und Stategien zur
                                                                                                    Selbst- regulierung. Resiliente Kinder haben
                                                                                                    gelernt, innere Anforderungen zu bewältigen
                                                                                                    und ihnen zu begegnen (von der Situation der
                                                                                                    Bedrohung zur Bewältigung).
Welche Strategien wenden Kinder an, um sich wieder „ins Lot“ zu bringen?          Foto: Dirk Purz   Förderung der Selbststeuerung: Zur Unter-
                                                                                                    stützung der Ausbildung von Selbstregulati-
mir schlecht“ – Entschlüsselung in: „Ich bin        zu diesem Ziel gebracht haben: Sie können       onsfähigkeiten ist ein positives emotionales
wütend / traurig / /genervt / habe Angst.“          diese Strategien auf andere Situationen über-   Klima in der Famile wichtig sowie der offene
                                                    tragen und wissen, welche Auswirkungen ihr      Umgang mit Gefühlen, z.B. durch häufige
  2 Selbstwirksamkeit                               Handeln hat und vor allem, dass ihr Handeln     Gespräche über Gefühle. Entscheidend ist vor
Resiliente Kinder kennen ihre eigenen Stär-         auch etwas bewirkt.                             allem Hilfestellung bei der Emotionsregula-
ken und Fähigkeiten und sind stolz darauf; sie      Förderung der Selbstwahrnehmung: Damit          tion, z.B. indem die Gefühle angesprochen
können ihre Erfolge auf ihr Handeln beziehen        Kinder sich als selbstwirksam erleben kön-      und daran Möglichkeiten des Umgangs oder
und wissen, welche Strategien und Wege sie          nen, müssen sie Erfahrungen der Verant-         Alternativen zur Verfügung gestellt werden.

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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
tegien und können diese anwenden; sie wis-
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                                                                                                          und wann sie diese brauchen; sie können die
                                                                                                          Situationen reflektieren und bewerten.
                                                                                                          Förderung der adaptiven Bewältigungskom-
                                                                                                          petenz: Die Förderung dieses Resilienzfaktors
                                                                                                          wird unterstützt, wenn mit Kindern reflek-
                                                                                                          tiert wird, was für sie stressauslösende Situ-
                                                                                                          ationen sind und welche Strategien für sie
                                                                                                          hilfreich sind. Das können Entspannungs-
                                                                                                          übungen sein, aber auch bewegungsförder-
                                                                                                          liche Angebote, das Aufzeigen von Unter-
                                                                                                          stützungspersonen und Orte, an denen sie
                                                                                                          sich zurückziehen können.

                                                                                                            6 Problemlösefähigkeiten
                                                                                                          Resiliente Kinder haben gelernt, sich realis-
                                                                                                          tische Ziele zu setzten; sie trauen sich, Pro-
                                                                                                          bleme direkt anzugehen und kennen dafür
    Zuwendung, Halt, Gesprächspartner, Vorbild - Bezugspersonen sind vieles in einem.   Foto: Dirk Purz   Problemlösestrategien: Sie sind in der Lage,
                                                                                                          verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu ent­
      4 Soziale Kompetenz                               und deren Reflexion helfen, sich in andere        wickeln.
    Resiliente Kinder können auf andere Men-            hineinzuversetzen und Lösungsstrategien zu        Förderung der Problemlösefähigkeit: Um
    schen zugehen und Kontakt aufnehmen; sie            entwickeln.                                       diese Fähigkeit zu entwickeln, brauchen Kin-
    können sich aber auch selbst behaupten und                                                            der Erwachsene, die ihnen zutrauen, Prob-
    Konflikte adäquat lösen.                              5 Adaptive Bewältigungskompetenz                leme grundsätzlich alleine lösen zu können,
    Förderung der sozialen Kompetenz: Kinder            Resiliente Kinder können für sie stressige        und die erst dann Unterstützung geben, wenn
    brauchen Erwachsene als Kommunikations-             Situationen einschätzen, d.h. sie erkennen,       das Kind darum bittet. Insbesondere der Ein-
    modell (Mimik, Gestik, Emotion). Klare Regeln       ob sie für sie bewältigbar sind, und kennen       bezug in alltägliche Planungs- und Entschei-
    und Abläufe bei der Lösung von Konflikten           ihre Grenzen; sie kennen Bewältigungsstra-        dungsprozesse wirkt hier fördernd.

6                                                                                                                                               ru intern
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
Weitere Schutzfaktoren: Kohärenz-Sinn /            und ist ein dynamischer Anpassungs- und         den werden. Kinder werden als aktive Bewäl-
Optimistische Lebenseinstellung / Kreativi-        Entwicklungsprozess. Innerhalb der For-         tiger und Gestalter ihres Lebens wahrgenom-
tät, Hobbies / Körperliche Gesunderhaltung.        schung bedarf es multikausaler Entwick-         men (kompetent).
                                                   lungsmodelle und einer einheitlichen Termi-
  1.4.2 Externe Schutzfaktoren in der Lebens­-     nologie zur Erfassung der differenzierbaren
  umwelt des Kindes                                Resilienzfaktoren.                              2 RESILIENZFÖRDERUNG IN DER SCHULE
  Mindestens eine stabile, verlässliche Be­          Da Resilienz weder umfassend noch             Bausteine für den Religionsunterricht und ein
zugsperson, die Sicherheit, Vertrauen und          beständig ist, bedarf es einer permanenten      gutes Schulklima
Autonomie fördert und die als positives Rol-       Resilienzförderung im Kontext von Kindern.
lenmodell fungiert.                                Dies heißt, kontinuierlich die individuelle     2.1 Resilienzfördernde Bausteine in
                                                   Situation von Kindern in den Blick zu nehmen,   der Schule
„Die erste große Botschaft ist: Resilienz be­      um mögliche Belastungen frühzeitig erken-         Klare, transparente und konsistente Regeln
 ruht, grundlegend, auf Beziehungen.“              nen und Schutzfaktoren rechtzeitig aktivie-     und Strukturen.
(Suniya Luthar, 2006. Schlussfolgerung aus ihrer   ren zu können.                                    Wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt
 umfassenden Analyse der letzten fünfzig Jahre       Seit 1980er Jahre wurden auch in Deutsch-     und Akzeptanz gegenüber dem Kind).
 Resilienzforschung)                               land gezielte psychosoziale Präventions-          Positive Verstärkung der Leistungen und
                                                   programme für das Säuglings-, Vorschul-,        Anstrengungsbereitschaft des Kindes.
   Gute Bewältigungsfähigkeiten der Eltern         Schul- sowie Jugendalter entwickelt, erprobt      Positive Peerkontakte / positive Freund­
in Belastungssituationen (Familiäres „Netz-        und evaluiert. Diese Programme schließen        schaftsbeziehungen.
werk“: Freunde, Verwandte, Nachbarn).              immer die Arbeit mit den Bezugspersonen ein       Förderung von Basiskompetenzen (Resili-
   Ein wertschätzendes und unterstützen-           mit dem Ziel, eine positive Eltern-Kind-Be-     enzfaktoren).
des Klima in den Bildungsinstitutionen (Kita       ziehung zu stärken.                               Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und
/ Schule als „zweites Zuhause“, „Zufluchtsort“)    Beispiel.: ‚Coping-Strategien‘: konkrete Ver-   anderen sozialen Institutionen.
   Dosierte soziale Verantwortlichkeiten und       änderung der Umwelt, des eigenen Verhal-
in­di­vi­duell angemessene Leistungs­ anfor-       tens und der Veränderung eigener Wahr-          2.2 Resilienz und Religion
   derungen.                                       nehmungs- und Interpretationsmuster (Be­-       „Eine religiöse Überzeugung ist ebenfalls ein
                                                   wertungsprozesse).                               Schutzfaktor im Leben von Risikokindern.
1.5 Implikationen für die Resilienzforschung         Kinder in ihren eigenen Stärken zu stärken,    Sie gibt den widerstandsfähigen Jungen und
  Resilienz entwickelt sich im komplexen           um die Schwächen zu schwächen, kann als          Mädchen Stabilität, ein Gefühl, dass ihr Leben
Aus­tausch zwischen Individuum und Umwelt          Leitsatz für pädagogisches Handeln verstan-      Sinn und Bedeutung hat, und den Glauben,

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dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende zum Guten              Kohärenz-Sinn spricht eine tiefe religiöse Dimension an: Vertrauen.
    wenden … ganz gleich, ob sie Buddhisten, Mormonen, Katholiken              Das Vertrauen, dass der Strom des Lebens mich trägt, dass eine höhere
    oder Protestanten waren. Auch als sie erwachsen waren, war ein sol-        Macht ist, die mich hält und stärkt.
    cher Glaube immer noch ein wichtiger Schutzfaktor in ihrem Leben.“
                                                          Emmy Werner          Religion / Spiritualität stärkt
                                                                                ein positives Selbstbild und ein sinnhaftes Weltbild;
     Die Sichtweise auf das eigene Selbst, die Welt und die Vorstellung von     Autonomie und Verantwortungsbewusstsein für alles, was ist;
     einem sinnvollen Leben hängen zusammen. Die Resilienzforsche-              die Seele bei der Bewältigung existenzieller Lebenssituationen;
     rin Corina Wustmann weist Religion und Spiritualität auf Grund des         das Bewusstsein einer Lebens-Gemeinschaft;
     Kohärenzgefühls (die Überzeugung, dass alle Dinge und Geschehnisse         die Sprachfähigkeit der Seele, wo die Alltagssprache endet;
    „zusammenhängen“) als wichtigen schützenden Faktor aus.                     durch ihre Rituale die Daseins-Präsenz.
     Dieser Begriff wurde vom Pionier und Medizinsoziologen Aaron Anto-
     novsky geprägt, der, im Gegensatz zur Pathologie (Lehre der Krank-        2.3 Religionsunterricht - Zwischenraum der Seele
     heiten), einen Perspektivwechsel durch den Ansatz der Salutogenese        Sola gratia - Du bist angenommen – bedingungslos – KIND SEIN können:
     beschritten hat (Lehre von der Entstehung der Gesundheit).
     Der Kohärenz-Sinn ist die innerste Überzeugung, dass auch schwie-         K   Klassenzimmer-Dynamik: „Ich bin Kind mit Leib und Seele!“
     rige Situationen einen Sinn haben und der Mensch gerade darin eigene          (HUMOR)
     Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hat. Diese Lebenshaltung          I   Individuelles und Intuitives Sehen und Begleiten: „Ich sehe Dich /
     wird von drei Säulen getragen:                                                dahinter!“
                                                                               N   Nähe und Wärme, Annahme und Liebe: „Ich bin für Dich da!“
    1. Mein Leben ist verstehbar: Mein Glaube / meine religiösen Überzeu-      D   DU-Begegnung / Interaktionen: „Dir kann ich vertrauen - Gott
       gungen helfen mir, Lebenserfahrungen zu begreifen, zu deuten, zu            kann ich vertrauen!“
       verstehen.
    2. Mein Leben ist bewältigbar: Ich verfüge über eigene Fähigkeiten zur     S   Segensmomente: „Du bist ein Segen!“ (Jedes Kind hat POTENZIALE!)
       Bewältigung und nehme die Herausforderungen als Chancen eigener         E   Entspannung und Ermutigung durch Ko­operation im Klassenzim-
       Entwicklung und Reifung. Ich verfüge über innere und äußere Res-            mer
       sourcen und vertraue darauf, von Gott unterstützt zu werden.            I   „INNEN und AUSSEN“: Expression und Meditation (Spannungs-
    3. Mein Leben ist sinnhaft: Ich bewältige bedrohliche Situationen im           ausgleich)
       Vertrauen, dass es sich lohnt. Was ich tue, ist wichtig, und ich ver-   N   „Nein“ sagen können: Das Recht des Kindes auf Selbstbestim-
       traue darauf, dass Gott ein sinnvolles Leben für mich möchte.               mung

8                                                                                                                                            ru intern
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
„Seien Sie sich immer bewusst: Sie sind wich-              Warum Resilienz zurzeit Hochkonjunktur hat
 tig und hilfreich für die Kinder!“

                                                           In Krisen und Katastrophenzeiten
                                    Emmy Werner

                                                           nicht den Kopf verlieren
Literatur:
   *Wustmann: Resilienz. Widerstandsfähigkeit von
   Kindern in Tageseinrichtungen fördern (2012).
   Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse: Resilienz, utb 42015.
   Betz, Dietermann, Hilt, Schwarze: Resilienz –           Resilienz                                          Modewort?
   Wie Religion Kinder stark macht, Evangelisches          Sie liegen entspannt in der Badewanne und          In den 1950er Jahren taucht ‚Resilienz‘ in
   Medienhaus GmbH, Stuttgart 2014.                        spielen mit der Badeente Ihrer Kinder. Loriot      anderen Kontexten auf, seit den 1970ern in
   Thich Nhat Hanh. Achtsamkeit mit Kindern, Nym­          lässt grüßen. Sie knautschen die Ente fast bis     der sozialwissenschaftlichen und entwick-
   phenburger Verlag, München 2012.                        zur Unkenntlichkeit, lassen los — und ‚zack‘       lungspsychologischen Forschung. „Resilienz
                                                           springt die Ente in ihre ursprüngliche Form        hat Konjunktur“, so der Soziologe Andreas
Brigitte Zeeh-Silva                                        zurück. Das ist Resilienz!                         Reckwitz.
    ist Dozentin für Schulentwicklung in Kooperation                                                          Resilienz ist inzwischen nicht nur das
    mit dem IQSH Kronshagen (Institut für Qualitäts­       Der Begriff (lat. ‚resilere‘ = ‚zurückspringen,   „Schlüsselkonzept einer langfristigen Krisen-
    entwicklung an Schulen Schleswig-Holstein) und         abprallen‘) hat seinen Ursprung in der Werk-       prävention“ im Kontext von „Therapie und
    den Pädagogisch-Theologischen Instituten Kiel,         stoffkunde für Materialien, die trotz massiver     Beratung“, sondern auch ein „neues Leitbild
    Hamburg und Moritzburg. Schwerpunkte: Acht-            Gewalteinwirkung immer wieder                                    der Politik“ in Zeiten globa-
    samkeitspädagogik, Resilienzstärkung, Künstle-         ihre ursprüngliche Form anneh-                                   ler Risiken und Katastrophen,
    rischer Ausdruck und Kontemplation                     men.                                                             ein Projektionsfeld individu-
                                                                                                                            eller sowie sozialer Rettungs-
                                                                                                                            und Überlebenswünsche. Wie
                                                                                                                            kann ich angesichts globaler
                                                                                                                            (Klimakatastrophe, Pande-
                                                                                                                            mie) und existenzieller (Alles,
                                                                                                                            was ich mir aufgebaut habe,
                                                                                                                            bricht mir weg!) Bedrohun-
                                                                                                                            gen so weiterleben, dass mein

2 / 2021                                                                                                                                                      9
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 2 | 2021 - PI Villigst
Traum vom Leben nicht zerbricht? „Resilienz        daraufhin, wie es fast einem Drittel von ihnen   Definitionen
     bedeutet, dass Individuen und Gesellschaften       gelang, dieses Grauen – seelisch relativ unbe-   Der Referendar ist kurz vor dem Nervenzu-
     an Robustheit gewinnen“, so Reckwitz.              schadet – zu überleben.                          sammenbruch und erhält den wohlmeinen-
                                                        Die Entwicklungspsychologinnen Ruth Smith        den Rat: ‚Wenn du in der Schule überleben
     Resilienz — Salutogenese                           und Emmy Werner konnten in ihrer Arbeit mit      willst, musst du dir ein dickes Fell zulegen!‘
     Weit umfassender jedoch ist das Konzept der        Jugendlichen auf Hawaii beobachten, dass         Das ist grundsätzlich nicht falsch; denn
     Salutogenese (lat. ‚salus‘ = ‚Gesundheit, Glück,   etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen     das ‚dicke Fell‘ beschreibt recht zutreffend,
     Rettung, Sicherheit‘ und ‚genero‘ = ‚erzeugen,     trotz widriger Sozialisationsbedingungen nicht   worum es bei Resilienz in psychischer Hinsicht
     hervorbringen‘), das von dem israelisch-ame-       verhaltensauffällig wurde. Resilienz muss als    geht: sich eine ‚Schutzschicht‘ zuzulegen, die
     rikanischen Soziologen Aaron Antonovsky            Teil dieses salutogenetischen Ansatzes ver-      es verhindert, dass die seelische Integrität
     entwickelt wurde. Was erzeugt Gesundheit,          standen werden. Weg von der Orientierung an      nachhaltig beschädigt wird.
     Glück, das Gefühl von Sicherheit und Gebor-        Defiziten und dafür den Blick auf die vorhan-    Andere beliebte Metaphern sind das Ste-
     genheit? Hier wird nicht gefragt: Was macht        denen Ressourcen lenken. Weg von dem Blick       haufmännchen oder der Bambus, der auch
     mich krank?, sondern: Was hält mich gesund?        auf Risiken und hin zur Suche nach Faktoren,     durch den heftigsten Sturm nicht genickt
     Antonovsky befragte Holocaustüberlebende           die Menschen schützen und bewahren.              wird.

                                                                                                            Die amerikanische Psychologen­ver­ei­ni­
                                                                                                            gung definiert Resilienz als einen „Pro­
                                                                                                            zess der guten Anpassung angesichts von
                                                                                                            Widrigkeiten, Trauma, Tragödien, Be­droh­
                                                                                                            ungen oder anderen wesentli­chen Quellen
                                                                                                            von Stress“.

                                                                                                         Wann ist ein Anpassungsprozess als gelun-
                                                                                                         gen zu betrachten? Robustheit um jeden
                                                                                                         Preis kann kaum das erwünschte Ziel sein.
                                                                                                         Darum geht es: In Krisen überlebensfähig
                                                                                                         bleiben und zugleich Empathiefähigkeit
                                                                                                         und Solidarität bewahren. Wie kann das
                                                                                                         gelingen?

10                                                                                                                                              ru intern
Resilienzfaktoren                                 Diese Faktoren sind nur ein kleiner Ausschnitt,      Lange Zeit wurde der salutogenetische An­
„Woher nimmt Laschet diese Resilienz?“ Ist         aber sie zeigen, dass neben den Persönlich-          satz im deutschsprachigen Raum ignoriert.
 das Begabung oder Fleiß? Als Pädagog*in-          keitsmerkmalen vor allem das soziale Umfeld          Inzwischen kann man von einer ge­sund-
 nen kennen Sie solche falschen Alternati-         wichtig ist. Eine Familie, die verlässliche Struk-   heitspolitischen Wende sprechen. Ge­sund-
 ven und so handelt es sich auch bei Resilienz     turen bietet, in der respektvoll miteinander         heitsprophylaxe und Prävention ha­b en
 um „ein hochkomplexes Zusammenspiel von           umgegangen wird, Peergroups, die eine Erfah-         einen hohen Stellenwert erhalten (mit dem
 genetischen und epigenetischen Faktoren“.         rungsebene auf Augenhöhe bieten, Schulen             Präventionsgesetz – PrävG 2015 werden die
 Die gute Botschaft lautet: Wir können etwas       mit einheitlichen, transparenten Regeln, in          Krankenkassen verpflichtet, hohe Summen
 tun! Die Kehrseite ist: Wenn du etwas ändern      denen sich die Schüler*innen angenommen,             für Präventionsmaßnahmen auszugeben).
 willst, musst du selbst aktiv werden! Resilienz   aufgehoben, aber zugleich auch gefordert und         Der verstärkte Einsatz von Schulsozial-
 lässt sich aneignen und trainieren. Maßgeb-       gefördert wissen – das alles hat großen Ein-         arbeiter*innen wie die Verpflichtung der
 lich sind dabei personale und soziale Faktoren:   fluss auf die Resilienzentwicklung.                  Schulen, Beratungskonzepte zu entwickeln,
                                                                                                        ist sicherlich auch Ausdruck dieser Entwick-
                                                                                                        lung.

                                                                                                        Die sieben Bausteine der Resilienz
                                                                                                        im Schulalltag
                                                                                                        Es gibt eine Vielzahl von Resilienz-Modellen.
                                                                                                        Im Folgenden orientiere ich mich an einem
                                                                                                        Konzept, das sich in weiten Bereichen (z.B. bei
                                                                                                        den Krankenkassen) durchgesetzt hat:

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1. Mit Akzeptanz fängt alles an. Wer sich          2. Lösungsorientierung heißt, sich aus der
     selbst nicht leiden kann, hat schon verloren.      Fixierung auf Probleme zu befreien, neue
     Stopp! Genau umgekehrt! Wer grundsätz-             Blickrichtungen einzunehmen und so die
     lich ‚Ja‘ zu sich sagt mit allen seinen ‚Macken‘   eigenen Spielräume zu erweitern. Sie alle
     (Stichwort: Fehlerfreundlichkeit!) hat bereits     kennen die Metapher vom halb vollen bzw.
     gewonnen. Wer Schüler*innen als Bedro-             halb leeren Glas. Noch passender finde ich das
     hung empfindet oder als ‚unbrauchbares             Beispiel vom halben Apfel, den jemand mit
     Schülermaterial‘ (Originalzitat), wird in der      mir teilt. Ein halber Apfel? Besser als nichts!
     Schule nicht glücklich werden. Das ‚Recht auf
     Unvollkommenheit‘ sollten Sie für sich selbst        „… aber es gibt auch so etwas wie die Süße
     in Anspruch nehmen und auch Ihren Schü-               der gelungenen Halbheit. Ich glaube, man
     ler*innen gewähren.                                   entmutigt sich selbst, wenn man immer             Schaue ich mehr auf das Dunkle oder lasse ich
                                                           auf die Ganzheiten starrt. Ein halbes Glück       mich vom Hellen anziehen?
       „Gib mir die Gelassenheit, Dinge zu akzep-          ist viel Glück.“
        tieren, die ich nicht ändern kann, den Mut,                                                          gen Tochter 30 mal ‚Nein‘ gesagt und 50 Ver-
        Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und       So geht es auch im schulischen Alltag darum,         bote ausgesprochen hat. Baumann, ein 1,90
        die Weisheit, das eine vom anderen zu           die positiven Ansätze zu würdigen, phanta-           Meter-Mann, tiefe Stimme, wie er sich selbst
        unterscheiden.“                                 sievoll und experimentierfreudig an Heraus-          beschreibt, ist darüber erschrocken. Burkhard
                                                        forderungen heranzugehen. Es wird Miss-              Günther berichtet, dass ein Kind, „bis es in die
     Die Kunst der Unterscheidung zwischen              erfolge geben. Dann liegt viel daran, wie ich        Schule kommt, hunderttausendmal die Wör-
     Dingen, die sich verändern lassen, und sol-        es interpretiere: Empfinde ich es selbst als         ter nein und nicht“ hört und dass „sich diese
     chen, mit denen ich mich arrangieren sollte,       Versagen oder deute ich Fehlversuche als             Nein-Nicht-Kultur“ in der Schule leider fort-
     um mich nicht zu zerreiben, gilt auch für          Chance? ‚Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf   setzt.
     den Schulalltag: ‚Nein‘ zu Überforderung           dem Kopf steht‘, soll Siegmund Freud gesagt
     und Perfektionismus. An welchen Stell-             haben. Mache einen Kopfstand und schon                 „Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir
     schrauben lässt sich drehen, um die Rah-           hast du die Lösung.                                     sehen die Dinge, wie wir sind.“
     menbedingungen zu verbessern? Wo finde
     ich Verbündete? Aber auch: Wo lohnt es sich,       3. Optimismus. Der Journalist Marc Baumann           Es gibt Situationen, in denen klar und
     nicht zu kämpfen, weil ich mir nur eine blu-       hat sich einen Tag lang selbst beobachtet            deutlich Grenzen gesetzt werden müssen.
     tige Nase hole?                                    und protokolliert, dass er zu seiner vierjähri-      Zuerst geht es um die Grundstimmung, die

12                                                                                                                                                     ru intern
in Schule und Klassenraum verbreitet wird:
Ist es eine optimistische Willkommenskul-
tur oder eine Atmosphäre der Unsicherheit
und Angst? Es liegt an uns, was wir beför-
dern und befeuern.

4. Eigenverantwortungsübernahme. Der Kla­
gegesang aus dem Lehrerzimmer gehört
zum Kernprogramm vieler Kabarettisten. Die
Klagepsalmen belegen, dass Klagen befrei-
end sein kann. Nur: Strukturell ändern wer-
den Sie damit nichts. Bewegung wird dann
in die Angelegenheit kommen, wenn Sie die
Opferrolle verlassen und selbst aktiv werden.
Albert Bandura hat das Konzept der Selbst-
wirksamkeit (self-efficacy) entwickelt und
gezeigt, dass die Erfahrung, selbst etwas tun
und bewirken zu können, eine entscheidende
Gesundheitsressource ist.
                                                  Dazu brauche ich Träume, Visionen, ‚innere        werde ich mir Unterstützung holen. Damit
    „Geht es einmal, geht’s auch noch mal.        Bilder‘ (Gerald Hüther) davon, wie ich eigent-    werde ich mich belohnen!
    Geht es noch mal, geht’s auch von vorn.       lich leben und arbeiten möchte. Auch das
    Was von vorn geht, ist erst der Anfang.       verbindet Lehrer*innen und Schüler*in-            6. Beziehungsgestaltung
    Wenn ich nicht anfang’, geh ich verloren.“    nen. Ohne solche konkreten Ziele oder Ideen
                                                  besteht die Gefahr, in Lethargie zu verfallen.       „Einsam bist du klein, aber gemeinsam
5. Zukunftsgestaltung                            ‚Auch der längste Weg beginnt mit einem                werden wir Anwalt des Lebendigen sein.“
                                                  ersten Schritt‘ (Konfuzius). Dieser ist oft der
    Die Zukunft kann man am besten voraus-        schwerste. Deswegen helfen konkrete Ziel-         „Resilienz [ist] die Fähigkeit, förderliche Bezie-
    sagen, wenn man sie selbst gestaltet.         vereinbarungen mit sich selbst: Bis dann und       hungen einzugehen und sich Unterstützung bei
                                                  dann werde ich das und das umsetzen. Dort          Personen oder Institutionen zu holen.“ Voraus-

2 / 2021                                                                                                                                                 13
setzung ist die Bereitschaft, sich auf Beziehun-    rer Erfahrungssatz aus der Supervisions-                       8   Siehe ebd., 30–55.

     gen ein- und Unterstützung generell zuzulassen.     praxis. Es reicht nicht, sich jeden Tag einen                  9   Günther, Resiliente Lehrer – resiliente Schüler, Hamburg

     Oft steht falsch verstandenes Einzelkämpfer-       ‚Mini-Holiday‘ oder einen Spaziergang vor-                          2019; Gruhl und Körbächer, Mit Resilienz leichter durch

     tum oder die Angst, als Versager*in zu gelten,     zunehmen, man muss es auch tun. In die-                             den Alltag, Freiburg i.Br. 2012.

     dem entgegen. Obwohl inzwischen viele Stu-          sem Sinne: Seien Sie gut zu sich selbst! Ihre                  10 Das sog. ‚Gelassenheitsgebet‘ von Reinhold Niebuhr.

     dien belegen, dass professionelle Lehr-Lern-Ge-     Kolleg*innen und Schüler*innen werden es                       11 Fulbert Steffensky, WDR Lebenszeichen, 1.7.2018.

     meinschaften, Supervision und Kollegiale Fall-      Ihnen danken.                                                  12 „[…] an einem normalen Tag, an dem weder ich schlechte

     beratung über einen längeren Zeitraum das           P.S. Religion und Spiritualität gehören zu den                     Laune hatte noch mein Kind besonders wild gewesen

     Beste ist, was Lehrer*innen für sich tun können,   „wichtigsten Resilienz- und Wirkfaktoren“!                          wäre“. https://szmagazin.sueddeutsche.de/kinder/nein-

     liegt die Inanspruchnahme dieser Angebote           Sicherlich ein Grund, weshalb Schulseelsorge                       80 145, Zugriff 5 2021.

     nach wie vor im einstelligen Bereich.              zunehmend an Bedeutung gewinnt.                                 13 A.a.O., 62.
                                                                                                                        14 Gruhl, Resilienz für Lehrerinnen und Lehrer, Freiburg i.Br.

     7. Selbstregulationsfähigkeit                      Dr. Meinfried Jetzschke                                             2014, 38.

                                                            Freiberuflicher Dozent, Supervisor (DGSv), Qigong-          15 Rosenstolz: „Ich bin mein Haus“, auf der CD „Die Suche

       „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für            Lehrer, Systemischer Körperpsychotherapeut (GST)                geht weiter“, 2008.

        mich? – Und wenn ich (nur) für mich bin,                                                                        16 Dem amerikanischen Informatiker Alan Kay zugeschrie-

        was bin ich? – Und wenn nicht jetzt, wann       1   Die neue Politik des Negativen, DER SPIEGEL 10, 6.3.2021,       ben.

        dann?“                                              42f.                                                        17 Text: F.K. Barth (1981), P. Horst (1981). Melodie: P. Janssens

                                                        2   Wenn Sie Resilienz googeln, erhalten Sie über 3 Millio-         (1981).

     Darum geht es: Selbstfürsorge, d.h. acht-              nen(!) Einträge, bei Salutogenese, dem wichtigeren, weil    18 Berndt, Resilienz, München 4/2013, 68.

     sam und liebevoll mit sich selbst umgehen,             umfassenderen Begriff dagegen nur 286.000 Einträge.         19 Siehe Jetzschke, Supervision mit Lehrkräften, Weinheim-

     die eigenen Grenzen achten, körperliche                Zugriff 5 2021.                                                 Basel 2018, 48f.; 55–60; s.a. das Supervisionsangebot des

     und psychische Warnsignale ernst nehmen,           3   Siehe Faltermaier, Gesundheitspsychologie, Stuttgart 2/         Pädagogischen Instituts der EKvW: https://www.pi-villigst.

     kreativ und proaktiv mit potenziellen Stres-           2017, 74.                                                       de/supervision.

     soren umgehen. Konkret: Nicht warten bis           4   Siehe Böhme, Resilienz, München 2019, 10.                   20 Rabbi Hillel zugeschrieben, Pirkej Awot 1,14,

     zur Burnout-Diagnose, sondern im Vorfeld           5   Zitiert nach: https://www.quarks.de/gesellschaft/psycho-        zit. n.: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/wenn-

     Auszeiten und Entspannungsrituale ver-                 logie/resilienz-gegen-stress-gewappnet/, Zugriff 5 2021.        nicht-ich-wer-dann/, Zugriff 5 2021.

     bindlich integrieren (z.B. Achtsamkeitstrai-       6   Fragte die Westfälische Rundschau am 13.4. 2021 unter       21 Lang, Resilienz, Stuttgart 2019, 85.

     ning oder Qigong). ‚Wir sind Vorsatzriesen             dem Titel „Das Geheimnis von Laschets Stehvermögen“.        22 Siehe auch https://www.pi-villigst.de/schulseelsorge.

     und Umsetzungszwerge‘ lautet ein weite-            7   Böhme, a.a.O., 35.                                          (© Alle Fotos und Grafiken beim Autor)

14                                                                                                                                                                             ru intern
Wie kann ich mich im Schulalltag stärken und stärken lassen?

Denken Sie an den Kanarienvogel
„Die Welt braucht Menschen, die so sehr an eine andere Welt glauben,        Resiliente Schüler*innen und Lehrpersonen sollten sich
 dass sie nicht anders können, als sie heute schon zu leben!“               idealerweise selbst stärken, damit sie nicht zu sehr von
                                                        Shane Claiborne     den Stärkungen der Mitmenschen abhängig sind oder unter deren
                                                                            Frustrationen leiden. Darüber hinaus sollten sie einander stärken.
Die Schule verlangt wie jeder Lebensraum einen hohen Energiever-
brauch bei unsicheren Erfolgen. Alle Alltagsinteraktionen kosten
und schenken Kraft. So entwickelt jede Person beruflich und privat                                           Selbsthilfe
eine An­strengungs-Belohnungs-Bilanz. Sie er­lebt und vergleicht die
Summe ihrer (tägli­chen) Anstrengungen mit deren Effekten an Freude
und Leid und manchmal fehlt die Kraft für anstehende Aufgaben. Lehr-
personen brauchen eine ansteckende Gesundheit. Ein depressiver Pas-
tor kann keine frohe Botschaft verkünden!

                                                                                 Hilfe suchen                                           Mitmenschen
    Anforderungen – Anstrengung                   Reward – Ressourcen           und empfangen                                           unterstützen
    Was kostet Kraft?                             Was gibt Kraft?
   - Beruf                                       - Beruf
   - Familie                                     - Familie
   - Freundeskreis                               - Freundeskreis            Abb.2: Drei Funktionen in einem resilienten sozialen Netz
   - Freizeit                                    - Freizeit
   - Umgang mit sich selbst                      - Umgang mit sich selbst   Im Bergbau nutzte man lange Kanarienvögel. Solange die zwitscher-
                                                                  ng        ten, war die Luft rein. Sonst mussten die Kumpel die Arbeit beenden
                                                           Belohnu en
                                                           Ressourc         und sich retten.
             ungen                                                             Wo und wie achten Sie auf ausreichende Kraftvorräte?
     Anforder
                                                                               Wie sieht das in Ihrer Schule bzw. bei Ihnen persönlich aus: Was tun
                                                                            Sie, um sich zu stärken?
Abb.1: Die individuelle Stärke als Anstrengungs-Belohnungs-Balance             Bei wem bzw. wo suchen Sie eine Stärkung bzw. lassen Sie sich stärken?

2 / 2021                                                                                                                                                15
Wie stärken Sie Ihre Mitmenschen?                    kung und Schwäche von den Mitmenschen           2. Welche Kraftquellen nutzen Sie oder soll-
       Welche der drei Funktionen im sozialen               und beeinflusst deren Stärke und Schwäche.         ten Sie sich zusätzlich erschließen? Wo und
     Netz (vgl. Abb. 1) sollten Sie in dieser Woche                                                            wie tanken Sie im Alltag: Freude, Dankbar-
     gezielt fördern bzw. suchen, nutzen, erbitten?          Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie folgendes      keit, Sinn, heilende Erinnerungen an über-
                                                             Selbstinterview durchführen und mit Kol-          wundene Tiefen, Befriedigung der Grund-
      Mit Ihren Kraftreserven verhält es sich wie mit        leg*innen oder auch Ihren Schüler*innen           bedürfnisse?
      einem Girokonto: Wer täglich abheben muss,             über die Titelfrage sprechen.                  3. Wie werden Sie Überdruck los: Welches
      muss auch für regelmäßige Zuflüsse sorgen,             Es lohnt sich, daraus hin und wieder eine        „Seelen-WC“ nutzen Sie? Kennen Sie po­
      und wer mit unerwarteten Sonderausga-                 „Frage des Monats“ für das Kollegium, die          sitive und negative Vorbilder? Wie sieht
      ben rechnen muss, braucht eine zusätzliche             Schüler*innen und Eltern zu machen. Dabei         Ihr Notfallplan in Belastungssituationen
     „Notfallreserve“. Trotz aller noch so wichti-           sollten Erkenntnisse in vertrauten kleinen        aus?
      gen Aufgaben sollte man – wenn möglich –               Kreisen besprochen und z.B. anonym in Foren    4. Notfallplan austesten: Was sollten Sie tun
      nie lange und zu stark sein Konto überziehen.          oder Chatgruppen zusammengetragen wer-            oder lassen, wenn Sie unter Druck gera-
     Als Bodenpersonal arbeiten Sie für Lösungen             den, um sich für Erfahrungen gegenseitig zu       ten, wenn es mal zu viel wird? Was sollten
     – für Erlösung ist Gott zuständig.                      sensibilisieren und voneinander zu lernen.        andere tun oder lassen, die Ihnen dann hel-
      Manche Lehrpersonen müssen lange mit roten            Auch kleine Checklisten (vgl. Tab. 1) bieten       fen wollen?
     Zahlen leben. Andere achten auf ihre Befind-            sich an, um sich für unentdeckte Stärken und   5. Welche Überlastungskontrolle nutzen Sie:
      lichkeit. Sie erleben klare Signale bei sich selbst    Schwächen zu sensibilisieren.                     Welche inneren und äußeren Signale zei-
      und den Mitmenschen, wenn die Kraft nach-                                                                gen Ihnen eine kritische Überlastung an
      lässt und das Stimmungsbarometer sinkt.               Fragen für Ihr Selbstinterview sowie für Ge­-      und wie reagieren Sie darauf? Nutzen Sie
      Wieder andere ignorieren steigendes oder              spräche mit Kolleg*innen und Schüler*innen         klare Stopp-Befehle nach innen und nach
      schwindendes Stärkeempfinden. Sie über-                                                                  außen? Machen Sie eine Resilienz-Diag-
      fordern vielleicht nicht nur sich selbst, son-        (Beachten Sie die Vielfalt der Antworten und       nose: www.resilience-project.eu/uploads/
      dern auch ihre Mitmenschen. Dabei gilt doch           erproben Sie auch gute Ideen von anderen.)         media/self_evaluation_de.pdf.
      gerade in der Schule, sensibel zu bleiben für                                                         6. Erholungsstrategien: Was könnten Sie tun
      Über- und Unterforderung bei sich und den             1. Welche Schwankungen an Lebensstärke             oder lassen, um sich täglich wirkungsvol-
      Mitmenschen.                                             haben Sie bisher erlebt? Welche erwarten        ler zu erholen bzw. Pausen zu machen?
      Und schließlich ist die Schule eine Energiege-           Sie in kommender Zeit? Wie erklären Sie         Sammeln und erproben Sie Maßnahmen
      meinschaft: Jeder stärkt oder schwächt sich              sich Ihre Höhe- und Tiefpunkte, und was         für kleinere Pausen bis 5 Minuten, bis 10
      mehr oder weniger selbst, empfängt Stär-                 haben Sie selbst dazu beigetragen?              Minuten und bis 15 Minuten!

16                                                                                                                                                ru intern
7. An welchen Risikofaktoren sollten Sie arbeiten? Regeln erkennen,
                                                                                            11. Stimmung gefördert?   Freude erleichtert Freundlichkeit und Beziehung!
   mit denen Sie sich überlasten, zu große Belastungsbereitschaft,
                                                                                            12. dich selbst oder       Authentisch Enttäuschung ausdrücken oder den Partner
   unrealistische Ideale, übergriffige Anforderungen, fehlende Verzei-                      Mitmenschen               „zur Ader lassen“!
   hung, riskante Vergleiche, schlechtes Gewissen, Überempathie für                         entlastet?

   andere oder zu wenig Selbstempathie?
8. Welchen Energieverbund sollten Sie organisieren bzw. stärker nut-                       Tabelle 1: Tagesimpulsen zur Stärkung Ihrer Interaktionspartner*innen
   zen? Kollegiale Supervision bzw. Beratung, Tandems zur wechselsei-                      (Sieland 2020)
   tigen Aussprache und Stärkung, Selbsthilfeforen, Gebet und Gottes-
   dienst …?

Es folgt eine Auswahl von Übungsvorschlägen aus Sieland (2020) für
Lehrpersonen, die angepasst auch mit Schüler*innen genutzt werden
können.

  Hast du heute schon …

 1. jemanden gelobt         Verstärke gute Leistungen bzw. Verhaltensweisen!

 2. jemanden                Sag ihm, welche Fähigkeiten du an ihm schätzt!
 wertgeschätzt?

 3. jemanden positiv        Sag ihm, was er ändern soll, warum, und dass er das
 kritisiert?                wirklich kann!

 4. Kontakt gehabt?         Ein fürsorglicher Blick tut gut!

 5. das Gespräch            Zeigen Sie Interesse an der Meinung bzw. Person des anderen!
 gesucht?

 6. für Klarheit gesorgt?   Informationen geben und einholen zeigt Wertschätzung!

 7. gelächelt?              Beziehung braucht Herz und Gesicht!

  8. richtig Pause          Die brauchen alle im Team!
  gemacht?

 9. aufgepasst?             Auf sich selbst und auf Ihre Interaktionspartner!

 10. Dank empfunden         Innere Freude über etwas Gutes, erleben und mitteilen!         Slackline: Welche Risiken gehe ich ein und wie kann ich mich vor falscher
 und ausgedrückt?                                                                          Selbsteinschätzung schützen?                                         Foto: Dirk Purz

2 / 2021                                                                                                                                                                          17
Welches Erholungsverhalten führt bei Ihnen zu deutlichem Erholungs-            Jeder von uns kennt Tätigkeiten, die die eigene Stimmung verbessern
     erleben? Entwickeln Sie im Gespräch mit anderen Ihre persönliche Liste         können. Füllen Sie bitte die folgende Liste aus und nutzen Sie täglich
     von Erholungs- und Pausenverhalten verschiedener Dauer und finden              drei der fünf Kraftquellen über den Tag verteilt.
     Sie die wirksamsten fünf in jeder Kategorie.
                                                                                        Fünf Kraftquellen im Alltag                  Welche haben           Welche wollen Sie
                                                                                                                                     Sie in der letzten     in der kommenden
      Bis 5 Minuten               5 – 15 Minuten            Ab 15 Minuten                                                            Woche genutzt?         Woche erproben?
      Gesicht in die Sonne        Tee, Milchkaffee, etc.    Baden, länger duschen       Aktive Hobbies: schwimmen, tanzen,
      halten und                  trinken und genießen                                  joggen gehen
      tief durchatmen
                                                                                        Leistungen und lästige Pflichten
      An etwas Schönes lebhaft    Sudoku, Kreuzworträtsel   Einen Film ansehen          erledigen: Aufgeschobene Gespräche,
      denken                      lösen                                                 Besuche, E-Mails endlich abhaken
      Solitär spielen – eine      Ein Video auf YouTube     Telefonieren /              Kurze Freuden ohne Leistung: Essen
      Lieblingsmusik hören        anschauen                  ein Buch lesen             gehen, etwas Schönes kaufen …

     Tabelle 2: Beispiele zur Stärkung Ihres Erholungs- und Pausenverhalten             Jemanden um Hilfe bitten – und sich so
                                                                                        das eigene Leben erleichtern

     Als Schnellladesystem für die individuelle und                                     Anderen helfen oder eine Freude machen:
     angenehme Energiegewinnung empfehlen                                               jemanden besuchen, einladen und sich
                                                                                        über dessen Freude freuen
     Frank und Storch den Mañana-Test (siehe
     Internet-Adresse am Ende des Beitrages1).                                      Tabelle 3: Kraftquellen für die Selbststärkung (vgl. Sieland, 2020, S. 1782)

     Mit Apps können sich Nutzer*innen Push-Im-                                     Bernhard Sieland
     pulse in Ihren Alltag holen. In der folgenden                                        Professor (em.) für Pädagogische Psychologie der Leuphana-Universität
     kostenfreien APP können Sie über das Aus-                                            Lüneburg, forscht und publiziert seit mehreren Jahrzehnten zu dem Thema
     wahlfenster zwischen 8 Trainings wählen.                                             Schul- und Lehrergesundheit

     app apple: stark im stress
                                                                                    1     Frank, G. & Storch, M.: Die Mañana-Kompetenz. München 2010 (www.manana-kompetenz.
     app google: Lehrergesundheit
                                                                                          de/images/mananatest.pdf).
     (Stichwort: Lerngesundheit)
                                                                                    2     Sieland, B.: Hast Du heute schon gelebt? 15 Minuten Selbst-Coaching im Alltag. Lüneburg

                                                                                          2020 (https://sieland.eu – Videos und Leseprobe).

18                                                                                                                                                                      ru intern
Resilienz und Religionsunterricht in der Sekundarstufe I                                            therapeutischen Wirkungen eines solchen
                                                                                                    Unterrichts3 bleibt Stoodts Verdienst, die

Hoffnung lernen
                                                                                                    Ich-Stärkung der Schüler*innen ins Zentrum
                                                                                                    des Religionsunterrichts gerückt zu haben.
                                                                                                    So bietet auch der aktuelle, kompetenzori-
Resilienz wird als „Immunsystem der See-
le“1 verstanden: eine Umschreibung, die in
besonderer Weise zur Pandemie-Situation
passt. Kann der Religionsunterricht, dem
es bei aller Wissensvermittlung im Kern um
Seelen-Bildung geht, einen Beitrag zu einem
solchen „Immunschutz“ leisten? Gibt es Ele-
mente des Religionsunterrichts, die geeignet
sind, Resilienz bei den Schüler*innen zu för-
dern?
Im Folgenden soll diese Frage auf den Religi-
onsunterricht in der Sekundarstufe I fokus-
siert werden. Das Alter zwischen 10 und 16
Jahren hat eine besondere Relevanz, weil
die Pubertät in der Resilienz-Forschung als
besonders vulnerable Phase wahrgenom-
men wird.2 Um es vorweg zu sagen: Resili-
enz kann kein unmittelbares Ziel des Religi-    Der Religionsunterricht bietet günstige Rahmenbedingungen, um Resilienz zu fördern.   Foto: Dirk Purz
onsunterrichts sein: Das würde den Rahmen
eines schulischen Lehrfachs sprengen. Aller-    Vor 50 Jahren hat Dieter Stoodt mit dem             entierte Religionsunterricht spezifische An­
dings gibt es Charakteristika des Religions-    sogenannten sozialisationsbegleitenden Reli-        satzpunkte, um das Ich der Schüler*innen zu
unterrichts, die eine Stärkung der Resilienz    gionsunterricht ein Konzept entwickelt, dass        stärken und damit deren Resilienz zu fördern.
der Schüler*innen bewirken können: Einige       auf Resilienz der Jugendlichen abzielte, noch       Kompetenzorientierung im religionspädago-
davon sollen in diesem Beitrag dargestellt      bevor der Begriff geläufig war: Ungeach-            gischen Kontext heißt, zur Bewältigung von
werden.                                         tet aller berechtigten Kritik an angestrebten       komplexen Alltagssituationen zu befähi-

2 / 2021                                                                                                                                                19
gen, insbesondere von existenziell relevan-        seine Didaktik daraus ab. Das führt einerseits   und seiner Botschaft bringt den Schüler*in-
     ten. Wenn das in lebensnaher Weise gelingt,        dazu, dass die Auseinandersetzung mit die-       nen eine grundlegende Hoffnungsperspek-
     wird die Problemlösefähigkeit der Jugendli-        sem Theologumenon zur Obligatorik im Reli-       tive nahe. In der Bergpredigt wird zugesagt,
     chen gestärkt – und damit einer der zentra-        gionsunterricht der Sekundarstufe I gehört.7     dass in der Orientierung auf das Reich Gottes
     len Faktoren für Resilienz.4                      Andererseits folgen daraus Anforderungen          alle Sorgen aufgehoben sind (Mt 6, 33). Die
     Ein weiterer, wichtiger Resilienzfaktor ist die    an die Schülerorientierung: Im Religions-        Geschichte von Tod und Auferstehung mar-
     Suche nach Sinn und die Orientierung an Zie-       unterricht ist nach individuell angemesse-       kiert den Weg von der Verzweiflung zu neuem
     len im Leben.5 Damit wird das Kerngeschäft         nen Leistungsanforderungen zu suchen, die        Leben. Der Lehrplan hebt diese Inhalte her-
     des Religionsunterrichts angesprochen, das         Bewertung ist daran auszurichten. Die Gaben      vor und öffnet so den Religionsunterricht
     exemplarisch in einer Kompetenzerwartung           (1. Kor 12) der einzelnen Schüler*innen sollen   für ein Lernen der Hoffnung.10 Die biblischen
     des Kernlehrplans Evangelische Religions-         zum Zuge kommen und damit die individuel-         Geschichten geben uns zu verstehen: Gott
     lehre zum Ausdruck kommt: „Die Schülerin-          len Ressourcen gestärkt werden. Wenn dies        kann etwas möglich machen, wo nichts mehr
     nen und Schüler erläutern Fragen nach Grund,       auch nur punktuell geschieht, so kann ein        möglich zu sein scheint. Es gibt einen Weg
     Sinn und Ziel der Welt und der eigenen Exis-       nachhaltiger Beitrag zur Selbstwirksamkeit       von der Vulnerabilität zur Resilienz.
     tenz …“6                                           eines Kindes und damit zu seiner Resilienz       Der Tennisspieler Novak Djokovic hat in
                                                        geleistet werden.8                               einem Interview gesagt: „Wenn mich die
     1. Resilienz-fördernde Aspekte im                 „Es geht nicht darum, optimal zu funktionie-      anderen auspfeifen, höre ich Applaus.“11 Eine
     Religionsunterricht der Sekundarstufe I            ren, sondern es geht darum, ob es uns gelingt,   resiliente Haltung, deren religiöse Variante
     Nach dieser grundsätzlichen Einschätzung           lebendig zu bleiben“ schreibt Gerald Hüther.9    wäre: die Hoffnung nicht sinken zu lassen
     zur Resilienz-Relevanz des Religionsunter-        Aus evangelischer Perspektive ist zu ergän-       und auch im Scheitern den Applaus Gottes
     richts in der Sekundarstufe I sollen nun kon-     zen: Es geht darum, Gottes Zuspruch anzu-         hören.
     krete inhaltliche Anknüpfungspunkte her-           nehmen.
     ausgearbeitet werden.                                                                               1.3 Resilienz biografie-orientiert lernen
                                                       1.2 Resilienz durch Hoffnung:                     Resilienz lässt sich in besonderer Weise an
     1.1. Das evangelische Menschenbild als            die Botschaft Jesu                                Lebensbeispielen lernen: vorzugsweise an
     Grundlage von Resilienz                           In der evangelischen Theologie ist das sola       Menschen, die einem real begegnen und zu
     Im Zentrum evangelischer Theologie steht          gratia untrennbar mit dem solus Christus ver-     positiven Rollenmodellen für uns werden,
     die Rechtfertigung des Menschen allein aus        bunden. Das Inhaltsfeld 3 „Jesus, der Christus“   aber auch an Lebenszeugnissen bekannter
     Gnade. Der evangelische Religionsunterricht       ist daher die theologische Mitte des Kernlehr-    Persönlichkeiten. Der Lehrplan öffnet dazu
     baut auf diesem Menschenbild auf und leitet       plans. Die Beschäftigung mit seinem Leben         die Möglichkeit, in dem er ein biografie-ori-

20                                                                                                                                            ru intern
bleiben und dabei mehr an andere als an sich
                                                                                                       selbst zu denken.13
                                                                                                       Resilienz lässt sich auch am Leben Viktor
                                                                                                       Frankls und dessen Buch über seine Zeit im
                                                                                                       Konzentrationslager ablesen: Er beschreibt,
                                                                                                       wie ihn das Annehmen der Herausforde-
                                                                                                       rungen und die Orientierung an der Zukunft
                                                                                                       gestärkt haben.
                                                                                                       Ein Beispiel für einen zeitgenössischen, resi-
                                                                                                       lienten Menschen ist Samuel Koch, der in
                                                                                                       einer „Wetten dass“-Sendung verunglückte
                                                                                                       und trotz weitgehender körperlicher Läh-
                                                                                                       mung eine Laufbahn als Schauspieler einge-
                                                                                                       schlagen hat. Er nennt explizit den Glauben
                                                                                                       als eine Quelle seiner Resilienz: „Glaube ist …
                                                                                                       eine Steigerung des Fürmöglichhaltens.“14

                                                                                                       1.4 Das Miteinander stärkt die Resilienz
                                                                                                       Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie sozi-
                                                                                                       ale Kompetenz sind zentrale Faktoren für die
                                                                                                       Bildung von Resilienz.15 Der Religionsunter-
                                                                                                       richt bietet sowohl inhaltlich als auch struk-
Samuel Koch hat seine Erlebnisse vom Tiefpunkt des Lebens zu neuer Lebensqualität eindrücklich         turell Gelegenheiten, diese Kompetenzen zu
beschrieben.                                                                         Foto: Dirk Purz   entwickeln. Das Phänomen Religion wird in
                                                                                                       seiner Pluralität wahrgenommen, Aspekte
entiertes Arbeiten insbesondere im Themen-          bindung von Glaube und politischem Wider-          interreligiösen Lernens sind an zahlreichen
komplex „Kirche in totalitären Systemen“            stand. Lohnenswert ist auch, seine resiliente      Stellen des Kernlehrplans zu finden16 und
fordert.12                                          Haltung in der Gefängnishaft zum Lernge-           werden angesichts der gesellschaftlichen
Im Unterricht fällt die Wahl häufig auf die Bio-    genstand zu machen: Den Tod vor Augen              Entwicklung immer relevanter. Werden die
grafie Dietrich Bonhoeffers und dessen Ver-         ist es ihm gelungen, positiv und dankbar zu        Chancen der religiösen Pluralität innerhalb

2 / 2021                                                                                                                                                 21
und außerhalb der Schule genutzt und kommt      2. Resilienz-Förderung im Umfeld des                 zahlreiche Ansatzpunkte, die Widerstands-
     es zu einem Lernen in der Begegnung, dann        Religionsunterrichts                                kraft der Seele zu stärken. Er tut dies …
     kann die Selbst- und Fremdwahrnehmung in         In Abschnitt 1 wurden resilienz-fördernde           1) durch eine Haltung, die darin begrün-
     exemplarischer Weise gefördert werden.           Elemente dargestellt, die dem Religionsun-             det ist, dass Gott jeden Menschen ohne
     Im konfessionell-kooperativen Religions-         terricht immanent sind. Religion kann dar-             Bedingung annimmt,
     unterricht gehört die Selbst- und Fremd-         über hinaus Beiträge zu einer resilienz-för-        2) durch inhaltliche Zugänge, die auf die Per-
     wahrnehmung genuin zum Konzept: Es sol-          dernden Schule leisten. Religiöse Elemente im          spektive der Hoffnung fokussieren,
     len Differenzen zwischen den christlichen       Schulleben wie Schulgottesdienste, Andach-           3) durch ein Lernen in Beziehung, in dem
     Konfessionen wahrgenommen und Gemein-            ten, Gedenkfeiern, Orte der Stille sind Ange-          Menschen zum Ausdruck bringen, was
     samkeiten gestärkt werden, indem unter-          bote, die Schüler*innen Zugänge zur eigenen            ihnen wichtig ist,
     schiedliche konfessionelle Zugänge durch        Spiritualität öffnen können, die in ihrer fami-      4) und durch eine Öffnung für die Welt der
     evangelische und katholische Lehrkräfte und      liären Sozialisation immer seltener vorkom-            Spiritualität, in der Sinn und Orientierung
     konfessionell heterogene Lerngruppen bear-       men. Die Schulseelsorge, die an einer zuneh-           für das eigene Leben gefunden werden
     beitet werden.                                   menden Zahl von Schulen institutionalisiert            können.
     Das konfessionelle und religiöse Miteinan-       wird, leistet dazu einen wichtigen Beitrag.         In diesem Sinne bietet der Religionsunter-
     der kann so eingeübt, das soziale Miteinan-      Das Sozialpraktikum für Schüler*innen, das          richt in der Sekundarstufe I ein reichhaltiges
     der gestärkt werden. Zur Stärkung sozialer      zum Programm vieler Schulen gehört, ist              Potenzial für resilienz-förderndes Lernen.
     Kompetenz gehört auch, Konflikte wahrzu-         häufig mit der Fachschaft Religion verbun-
     nehmen, deren Ursachen zu verstehen und          den: Ein solches Praktikum, kombiniert mit          Marco Sorg
     zu deren Bewältigung beizutragen: In die-        einer reflexiven Begleitung, kann Resilienz in           Dozent und Pfarrer am Pädaogischen Institut
     sem Kontext ist zu erwähnen, dass Antise-        umfassender Weise stärken.                               der EKvW
     mitismus und Fundamentalismus als Themen         Die Forschung belegt, dass Resilienz durch
                                                                                                          1   Siehe Tom Levold, Metaphern der Resilienz, in: Ros­
     im Religionsunterricht der Sekundarstufe I zu    Religiösität und Spiritualität signifikant erhöht
                                                                                                              marie Welter-Enderlin / Bruno Hildenbrand (Hg.):
     behandeln sind.17                                wird: In der vor kurzem erschienenen Studie
                                                                                                              Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidel­
     Mit einem Wechsel der Perspektive kann          „Junge Deutsche 2021“ wird dieser Befund
                                                                                                              berg 32010, 240.
     eine Veränderung in Gang kommen. Um es           noch einmal für das Jugendalter bestätigt.
     mit Max Planck zu sagen: „Wenn Sie die Art                                                           2 Siehe Klaus Fröhlich-Gildhoff / Maike Rönnau-Böse:

     und Weise ändern, wie sie die Dinge betrach-    3. Zusammenfassung                                       Resilienz, München 52019, 25.

     ten, ändern sich die Dinge, die Sie betrach-    Religionsunterricht ist Seelen-Bildung und           3 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen

     ten.“                                           er bietet insbesondere in der Sekundarstufe I            2012, 599.

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