VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IM HANDEL - Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - Ver.di
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VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IM HANDEL Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut Handel Vereinte Dienstleistungs- Aktualisierte Neuauflage 2021 gewerkschaft
Inhalt Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zur Situation der Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Altersarmut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Der Wettbewerb im Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IMPRESSUM Herausgeberin ver.di Bundesvorstand, Fachbereich Handel Stefanie Nutzenberger Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin Text 2. aktualisierte Auflage Ursprünglicher Text: Jürgen Glaubitz, Überarbeitung André Scheer Gestaltung bleifrei Medien + Kommunikation, Hedwig Ruf Fotos Dietrich Hackenberg (S. 6, 10, 11, 27, 29), AdobeStock (Titel), Fotolia (S. 17), Andreas Hamann (S. 23), unsplash (S. 21), Christian v. Polentz (S. 14), Werner Bachmeier (S. 25), Hubert Thiermeyer (Rücktitel)
Vorbemerkungen nen und Joint Ventures zu sichern – oft zulas- ten der Beschäftigten und der Arbeitsplätze. Der Handel verändert sich. Riesige Kon- So kündigten Alliance Healthcare und GEHE zerne mit enormer Macht dominieren immer Pharma Handel nach ihrem 2019 angekündig- TARIF UND RESPEKT STATT ALTERSARMUT mehr den Markt – Zehntausende kleine- rer Unternehmen sind ausgeschieden. Es fin- ten Zusammengehen im März 2021 an, mehr als jede vierte ihrer Niederlassungen schlie- Der Verdrängungswettbewerb, der auch über die zunehmende Flucht aus den Tarifverträgen ausgetragen det ein erbitterter Verdrängungswettbewerb ßen zu wollen. wird, geht in erster Linie zu Lasten der Beschäftigten im Handel. Für viele erhöht sich das Risiko für Altersarmut. Deshalb muss sich dringend etwas ändern: Durch allgemeinverbindliche Tarifverträge zum statt, der überwiegend über Preiskämpfe, Beispiel, die für alle im Handel gelten würden! Tarifflucht darf sich nicht länger lohnen. Wir brauchen Öffnungszeiten und Flächenerweiterungen Der ruinöse Verdrängungskampf verändert Wertschätzung für gute Arbeit – her mit existenzsichernden Einkommen! geführt wird. Der boomende Onlinehandel nicht nur die Handelslandschaft, sondern hat und eine zunehmende Konzentrationsent- vor allem auch tiefe Spuren bei den Beschäf- wicklung erhöhen den Wettbewerbsdruck. tigten hinterlassen. Im Einzelhandel wurden Vollzeitstellen massiv abgebaut, atypische Insbesondere der Einzelhandel ist zerklüftet. Beschäftigungsverhältnisse überwiegen dort Grell glitzernde Einkaufsmeilen, Shopping- inzwischen. Die Arbeitsbedingungen haben paradiese und Konsumpaläste auf der einen sich immer mehr verschlechtert (Arbeitsbe- Seite – auf der anderen Seite Tristesse, Bil- lastung, Stress, Arbeitszeitlage, graue Über- TARIFFLÜCHTIGE ligheimer, Ein-Euro-Shops und Leerstände in stunden). Auch im Groß- und Außenhandel UNTERNEHMEN strukturschwachen Regionen, auf dem Land klagen die Beschäftigten über ständig wie- EINFANGEN und nicht selten auch in zentralen Lagen der derkehrende und oft körperlich belastende Um allgemeinverbindliche Tarifverträge und Einkommen, die jetzt und später zum Städte. Zahlreiche Geschäfte etwa des Tex- Tätigkeiten unter starkem Termin- und Leis- Leben reichen, geht es auch in den aktuellen Tarifrunden des Einzelhandels. Viele Kollegin- til-Einzelhandels mussten während der Pan- tungsdruck, oft genug in Schicht-, Wochen- nen und Kollegen haben sich bereits in den demie über Monate schließen oder durften end-, Nacht- und Akkordarbeit. vorigen Tarifrunden dafür eingesetzt und bei einigen Entscheider*innen für ein Umden- nur mit Einschränkungen öffnen, während privatisier ken gesorgt. Doch es braucht noch mehr te Märkt e Druck. Macht mit und beteiligt euch weite Teile des Online-Handels boomen und Der ruinöse Wettbewerb wurde durch staatli- an Aktionen der Gewerkschaft ver.di vor Ort! insbesondere der Lebensmittel-Einzelhandel che Deregulierung noch zusätzlich angeheizt. Extraprofite einfährt. Die weitgehende Freigabe der Öffnungszeiten im Einzelhandel und die »Flexibilisierung« des Auch der stark mittelständisch geprägte Arbeitsmarktes im Zuge der Hartz-Gesetze Großhandel sieht sich großen Herausforde- haben Schleusen geöffnet für Dumpinglöhne privatisive rungen durch neue Wettbewerber insbeson- und den missbräuchlichen Einsatz von Leihar- rte Märkte dere aus dem Bereich der Plattform-Öko- beit und Werkverträgen. nomie gegenüber. Zahlreiche Hersteller vertreiben ihre Produkte inzwischen über Nach »außen« prägen niedrige Preise, hohe bekannte Online-Plattformen wie Alibaba, Rabatte und wohlfeile Werbekampagnen das JD.com oder Amazon direkt an die Endkun- Bild des Handels – »innen« dominieren in vie- den und umgehen so den Großhandel. Das len Unternehmen prekäre Beschäftigung, Handel Vereinte verstärkt den Druck auf Unternehmenskon- zunehmender Leistungsdruck und untertarifli- Dienstleistungs- gewerkschaft zentrationen und verdrängt kleinere Akteure che Bezahlung. Für die Mehrzahl der Beschäf- V.i.S.d.P.: ver.di-Bundesfachbereich Handel, Orhan Akman, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin; Konzept & Gestaltung: bleifrei Texte + Grafik aus dem Markt. Große Konzerne versuchen, tigten bietet sich eine ausgesprochen düs- ihre Stellung auf dem Markt durch Fusio- tere Perspektive: Hunderttausende Menschen
6 7 werden nach einem harten Arbeitsleben Zur Situation der Jahr 2019 insgesamt rund 2,9 Millionen anschließend in Altersarmut »entlassen«. Beschäftigten sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäf- Der Handel ist heute eine Branche in der die tigte monatlich weniger als 2.050 Euro ver- Mehrheit der Beschäftigten akut von Alters- dient haben. Ihnen droht damit selbst nach armut bedroht ist. Mit der Aufkündigung der Einzel- und Versandhandel 45 Jahren Vollbeschäftigung eine Rente auf Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge Der Einzel- und Versandhandel ist eine der Grundsicherungsniveau. Neben Beschäftigten im Einzelhandel durch die Unternehmer im größten Branchen der deutschen Wirtschaft. in den Branchen Verkehr und Logistik, Gast- Jahre 2000 hat sich dieser Wettlauf weiter Rund 3,1 Millionen Menschen sind hier ronomie und Baugewerbe sind insbesondere beschleunigt. beschäftigt, mehr als zwei Drittel von ihnen die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel sind Frauen. Gerade während der Pande- von Altersarmut betroffen4. Wir wollen im Folgenden zeigen wie sich der- mie hat sich gezeigt, wie unverzichtbar ihre zeit die Situation der Beschäftigten im Handel Arbeit für die gesamte Gesellschaft ist. Doch Anzahl und Struktur der Beschäftigten darstellt. Dabei werden auch die konkreten der zeitweilig zelebrierte Beifall für die Ange- Die Zahl der Beschäftigten im deutschen Ein- Auswirkungen der Tarifflucht analysiert. Dann Normalarbeitsverhältnis und stellten der Supermärkte und Lebensmittelge- zel- und Versandhandel ist in den vergange- wollen wir zeigen, welche Konsequenzen sich atypische/prekäre Beschäftigung schäfte verhallte schnell und ohne bleibende nen Jahren insgesamt relativ stabil geblieben. für die Betroffenen bezüglich ihrer Altersrente Wirkung für die Beschäftigten. Allerdings hat sich die strukturelle Zusam- ergeben. Dabei wird untersucht, wie sich die Normalarbeitsverhältnis: mensetzung über die Jahre deutlich verscho- Armutsgefährdung für einzelne Beschäftig- Vollzeittätigkeit oder Teilzeittätigkeit mit Während zum Beispiel die Verkäufer*innen ben: War im Jahre 2000 noch die Hälfte der tengruppen darstellt. Schließlich soll gezeigt mehr als 20 Wochenstunden, als unbefris- als »Held*innen der Pandemie« gefeiert abhängig Beschäftigten in Vollzeit angestellt, werden, welche Auswirkungen der ruinöse tetes Beschäftigungsverhältnis, welches wurden, gehörten ihre Einkommen zu den sind es heute nur noch 38 Prozent.5 So wer- Verdrängungskampf für Mittelstand, Her- voll in die sozialen Sicherungssysteme geringsten aller Branchen. Nach Angaben der den seit Jahren immer mehr existenzsichernde steller, Verbraucher und Beschäftigte hat. integriert ist. Bundesregierung verdiente knapp ein Vier- Vollzeitstellen zugunsten prekärer Beschäfti- Schlussendlich werden verschiedene Lösungs- tel (24,7 Prozent) aller sozialversicherungs- gung zurückgedrängt. ansätze vorgestellt. Atypische Beschäftigung: pflichtig angestellten Vollzeit-Beschäftigten im Befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäf- Handel lediglich einen Niedriglohn2. Laut einer Rund 2,37 Millionen Menschen sind derzeit in tigte (20 oder weniger Stunden), Zeitar- Sonderauswertung der Bundesanstalt für einem sozialversicherungspflichtigen Beschäf- beitsnehmer/-innen, Geringfügige Be- Arbeit, die von der Bundestagsabgeordneten tigungsverhältnis im Einzelhandel a ngestellt. schäftigung (lt. Definition des Statisti- Sabine Zimmermann im Juli 2020 angefordert Von ihnen arbeiten knapp 1,2 Millionen in schen Bundesamtes). Einige Autor*innen wurde, waren 13,5 Prozent der als Helfer*in- Teilzeit, weitere 802.000 Menschen sind zählen hierzu auch Teilzeitbeschäftigte mit nen im Lebensmittelverkauf angestellten geringfügig beschäftigt– mit einschneidenden mehr als 20 Stunden, sofern es sich um Beschäftigten auf zusätzliche Aufstockerleis- Konsequenzen für Lohn, Gehalt und Rente. erzwungene Teilzeitarbeit handelt. tungen (Hartz IV) angewiesen – unter Hel- Das gilt insbesondere für die Frauen: Insge- fer*innen aller Berufe waren es fünf Prozent3. samt beträgt ihr Anteil unter den Beschäf- Die Abgrenzung zwischen atypischer und tigten 64 Prozent, bei der Teilzeitbeschäfti- prekärer Beschäftigung ist in der Wis- Nicht nur im unmittelbaren Alltag sorgt diese gung sind es sogar rund 84 Prozent.6 Ganz senschaft umstritten. Oft werden beide Situation für Probleme. Der hohe Anteil anders sieht es übrigens aus, wenn wir uns Begriffe synonym verwendet. Richtig ist: »atypischer« Beschäftigung im Einzelhandel die Führungsebene der Unternehmen anse- „Nicht jede Form atypischer Beschäfti- wirkt sich auch dramatisch auf die zukünf- hen: Nur etwa jede fünfte Führungsposition gung ist prekär, aber sie birgt große Risi- tigen Renten aus. Im Februar 2020 erklärte in Handels- und Konsumgüterunternehmen ken für die Beschäftigten“1 (DGB). das Bundesarbeitsministerium auf Anfrage ist mit einer Frau besetzt, im Topmanagement der Bundestagsfraktion Die Linke, dass im liegt ihr Anteil sogar nur bei 14 Prozent.7
8 9 Tarifeinkommen Groß- und Außenhandel raten in der Umsatzentwicklung aufgrund aus dem Jahr 2019. Dabei ist zu unterschei- Die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich Ohne den Groß- und Außenhandel ist der der abkühlenden Konjunktur bereits abge- den zwischen Angaben über die Tarifbindung in der mittleren Gruppe (»Verkäufer/-innen«) Handel in Deutschland undenkbar. Er ist schwächt hatten. In der Folge ging die Zahl der Betriebe und die der Beschäftigten. beträgt derzeit zwischen 1.869 und 2.704 das Bindeglied zwischen den Herstellern, der Beschäftigten im Groß- und Außenhan- Euro im Monat (Beispiel NRW; WSI-Tarifar- der Industrie und den Endverbraucher*in- del 2020 nach neun Jahren mit anhalten- Einige Ergebnisse für die Gesamtwirtschaft chiv8 ). Hinzu kommen Urlaubsgeld, Jahres- nen. Zu seinen Abnehmern zählen die Unter- dem Beschäftigungszuwachs im Jahresdurch- im Überblick: sonderzahlung und Leistungen der tariflichen nehmen des Einzelhandels, des Handwerks, schnitt um 0,6 Prozent zurück. Das entspricht Altersversorgung. Für sozialversicherungs- des Gastgewerbes, regionale Großhändler einem Verlust von mehr als 12.000 Arbeits- • Zwischen 2000 und 2019 ist die Flächen- pflichte Teilzeitbeschäftigte verringert sich der sowie industrielle oder sonstige gewerbliche plätzen.13 bzw. Branchentarifbindung der Beschäf- Betrag entsprechend dem jeweiligen Stun- Betriebe. Als Mittler übernimmt der Großhan- tigten von 63 auf 46 Prozent in West- denfaktor. del zudem zahlreiche Funktionen wie Sor- Tarifeinkommen deutschland gesunken. Für Ostdeutsch- timentsbildung, Distribution, Lagerhaltung, Die Tarifeinkommen im Groß- und Außen- land sogar von 44 auf 34 Prozent16. Die Tarifeinkommen im Einzelhandel konnten Transport und Beratung. handel konnten in den letzten Jahren deut- • Große Unterschiede gibt es zwischen den in den letzten Jahren deutlich gesteigert wer- lich gesteigert werden. Zwischen den Jahren Wirtschaftsbereichen. Der Einzelhandel den. Zwischen den Jahren 2000 und 2020 Über den Großhandel in Deutschland mit 2000 und 2020 stiegen die realen Tariflöhne gehört in Bezug auf die Tarifbindung der stiegen die Tariflöhne real um mehr als 15 Pro- seinen rund zwei Millionen Beschäftig- um mehr als 22 Prozent.14 Beschäftigten mit 28 Prozent zu den abso- zent9. Es gibt aber weiterhin einen erheblichen ten in 112.000 Unternehmen werden rund Aktuell liegt die tarifliche Vergütung für ange- luten Schlusslichtern. Im Groß- und Nachholbedarf. So lag das Durchschnittsein- zwei Drittel aller Güter und Waren gehan- lernte Arbeiter*innen in Nordrhein-Westfalen Außenhandel sieht es noch etwas besser kommen sozialversicherungspflichtig Vollzeit- delt. Dabei hatten 2016 nur 12 Prozent aller bei 2.104 bis 2.201 Euro im Monat, für aus- aus: 2019 arbeiteten hier rund 33 Prozent beschäftigter aller Branchen 2020 bei 3975 Unternehmen 20 oder mehr Beschäftigte – gebildete Groß- und Außenhandelskaufleute aller Beschäftigten unter dem Schutz von Euro brutto – wobei selbst das Statistische diese größeren Unternehmen waren aber für bei 2.305 bis 2.850 Euro.15 Hinzu kommen Tarifverträgen17. Bundesamt darauf hinweist, dass zwei Drittel 76 Prozent des Umsatzes und 72 Prozent der Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und Leis- • Die Tarifbindung variiert mit der Größe der aller Beschäftigten weniger als diesen Durch- Beschäftigung verantwortlich. tungen der tariflichen Altersversorgung. Für Betriebe – je größer die Betriebe, desto schnitt verdienen. Verkäuferinnen und Ver- sozialversicherungspflichte Teilzeitbeschäf- höher tendenziell die Tarifbindung. käufer gehen oftmals mit der Hälfte nach Im Unterschied zum Einzelhandel ist die über- tigte verringert sich der Betrag entsprechend • Es gibt starke Unterschiede zwischen Hause, ihr Durchschnittseinkommen liegt wiegende Mehrzahl der Beschäftigten im dem jeweiligen Stundenfaktor. West und Ost und gleichzeitig auch inner- zwischen 1.700 bis 2.050 Euro10. Groß- und Außenhandel männlich und in halb der Bundesländer. existenzsichernder Vollzeit beschäftigt. Der Tarifbindung im Handel Anteil der Vollzeitbeschäftigten lag 2020 bei Aber längst nicht alle Beschäftigten bekommen Anteil Vollzeitbeschäftigung 74,9 Prozent und damit noch etwas höher als das Tarifentgelt. Die Tarifbindung in Deutsch- Tarifbindung der Beschäftigten im Handel fünf Jahre zuvor.11 land geht seit Jahren kontinuierlich zurück. im Handel Einzel- und Versandhandel Die nominalen (nicht preisbereinigten) Zur Bestimmung der Tarifbindung gibt es Einzel- und Versandhandel Umsätze im Großhandel stiegen zwischen zwei unterschiedliche Quellen: Das Institut 38 Prozent 2010 und 2019 fast um ein Drittel von 1,0 für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 28 Prozent Milliarden auf 1,3 Milliarden Euro. Im Pande- der Bundesagentur für Arbeit und das Statisti- Groß- und Außenhandel Groß- und Außenhandel mie-Jahr 2020 sank der Umsatz nach Anga- sche Bundesamt (Destatis). Wir konzentrieren ben des Statistischen Bundesamts nomi- uns im Folgenden auf das IAB-Betriebspanel, 74,9 Prozent 33 Prozent nal um 0,4 Prozent – preisbereinigt stieg eine repräsentative Arbeitgeberbefragung zu Zahlen von 2020 er jedoch um 1,8 Prozent.12 Das folgt dem betrieblichen Bestimmungsgrößen der Beschäf- Zahlen von 2020 Trend der Vorjahre, als sich die Steigerungs- tigung. Das letzte IAB-Betriebspanel stammt
10 11 Die Erosion der Tarifbindung Betriebe Über lange Zeit galt zwischen den Tarifpar- Nach den aktuellen Daten sind 77 Prozent teien ein Konsens, wonach die Personal- der Betriebe im westdeutschen Einzel- und kosten nicht Gegenstand des ruinösen Wett- 76 Prozent im Großhandel nicht tarifgebun- bewerbs sein sollten. Die Allgemeinverbind- den. Von diesen orientieren sich 41 Prozent lichkeit der Tarifverträge sei geboten, so der Einzelhandels- und 51 Prozent der Groß- argumentierten die nordrhein-westfälischen handelsbetriebe am Branchentarifvertrag. Für Unternehmer noch im Jahre 1999, »um die Ostdeutschland sind die Zahlen noch ungüns- soziale Komponente der Marktwirtschaft im tiger. Dort waren zuletzt 91 Prozent der Ein- Einzelhandel zu erhalten«. Denn es bestehe Arbeitgebermauer gegen AVE... …wird gemeinsam durchbrochen zelhandels- und 88 Prozent der Großhandels- »die Gefahr, dass zur Erhaltung oder Erobe- betriebe nicht tarifgebunden. Von diesen rung von Marktanteilen Einsparungen bei einziger Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit Aktuell stellt sich die Situation nach den orientierten sich jeweils 34 Prozent der Unter- den Personalkosten angestrebt werden. Eine von Tarifverträgen mehr gestellt w orden sei.19 IAB-Daten folgendermaßen dar: nehmen am Branchentarif.23 dieser Einsparungsmöglichkeiten ist auch die Nichtachtung geltender Tarifverträge« Aktuell beharren die Arbeitgeberverbände auf Beschäftigte (Antrag auf AVE – Schreiben des Einzelhan- ihrer Ablehnung der Allgemeinverbindlichkeit 2019 arbeiteten 30 Prozent der westdeut- Anmerkung zum Thema delsverband NRW vom 17.9.1999 an das von Tarifverträgen. Dabei gibt der (Einzel-) schen und 20 Prozent der ostdeutschen „Orientierung“ am zuständige Ministerium). Handelsverband Deutschland (HDE) sogar Beschäftigten des Einzelhandels in einem Branchentarifvertrag: vor, sich um die Gewerkschaften Sorgen zu Betrieb, der einem Branchen- oder Haus-Tarif- Bis zu diesem Zeitpunkt waren nahezu alle machen: »Eine AVE kann für die Tarifbindung vertrag unterliegt. 38,5 Prozent der Beschäf- In den Tabellen des IAB spielt die Rubrik Tarifverträge des Einzelhandels allgemeinver- sogar kontraproduktiv sein, weil die tarifli- tigten in West- und 32 Prozent derjenigen in „Orientierung am Branchen-Tarifvertrag“ bindlich. Schon ein Jahr später vollzogen die- chen Ansprüche dann auch für nicht gewerk- Ostdeutschland waren in einem Einzelhan- jeweils quantitativ eine wichtige Rolle. Die selben Unternehmer eine radikale ideologi- schaftlich organisierte Arbeitnehmer gelten. delsbetrieb angestellt, der zwar nicht tarifge- Unternehmer interpretieren dies gerne so, sche Wende und zerstörten diesen Konsens. Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wird bunden ist, sich jedoch am Branchentarifver- als würden diese Unternehmen die Bran- Im Jahre 2000 wurde die Allgemeinverbind- dann möglicherweise uninteressant.«20 Der trag »orientiert«. chentarifverträge 1:1 anwenden. Nach lichkeit der Tarifverträge von ihnen aufgekün- Bundesverband Großhandel, Außenhandel, dieser „Logik“ ergibt sich dann rein rech- digt und per Satzungsänderung in den Arbeit- Dienstleistungen (BGA) stößt in das gleiche Im Großhandel unterlagen 2019 rund 33 Pro- nerisch eine höhere Tarifbindung. Davon geberverbänden eine Mitgliedschaft »ohne Horn: »Wir wenden uns vehement gegen eine zent aller Beschäftigten einem Branchen- oder ausgehend behauptete zum Beispiel die Tarifbindung«, die sogenannte »OT-Mit- staatliche Einmischung in die Lohnfindung. Haustarifvertrag. In Westdeutschland lag ihr „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft“ gliedschaft«, ermöglicht. Damit wurde eine Die Allgemeinverbindlicherklärung von Ent- Anteil mit 34 Prozent noch etwas höher, wäh- (VBW) im Dezember 2020, dass „für fast Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Allein zwi- gelttarifverträgen lehnen wir ab.«21 rend in den neuen Bundesländern mit 23 Pro- 80 Prozent der Beschäftigten in Bayern schen 2010 und 2019 verloren 44 Prozent zent nicht einmal mehr jede/r Vierte in einem (…) direkt oder indirekt der Tarif“ gelte24. der Beschäftigten im Einzelhandel den Schutz ver.di fordert deshalb eine Gesetzesände- tarifgebundenen Betrieb arbeitetete. ihres Tarifvertrags!18 rung, damit die Arbeitgeberverbände die All- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinverbindlichkeit der Tarifverträge nicht Zum Vergleich die Daten zur Gesamtwirt- sehen eine solche Interpretation kritisch. Versuche der Politik, hier gegenzusteuern, länger blockieren können. Die Beantragung schaft: 2019 arbeiteten 53 Prozent der west- Nur ein Teil dieser Betriebe lehne sich tat- haben bislang keine greifbaren E rgebnisse ge- der AVE muss durch eine der Tarifparteien – deutschen und 45 Prozent der ostdeutschen sächlich in allen relevanten Punkten an zeigt. 2019 teilte die Bundesregierung in ihrer also durch ver.di – alleine möglich sein, um so Beschäftigten in einem Betrieb der einem den jeweiligen Branchentarif an, unter- Antwort auf eine Kleine Anfrage von Abge- den Weg zu einer Allgemeinverbindlichkeits- Branchen-Tarifvertrag unterlag. In einem »am streichen etwa Peter Ellguth und Susanne ordneten der Bundestagsfraktion Die Linke erklärung durch das zuständige Ministerium Branchentarifvertrag orientierten« Betrieb Kohaut25. Für den Einzelhandel bedeutet mit, dass im Handel seit dem Jahr 2010 kein freizumachen. arbeiteten 24,5 Prozent.22
12 13 Edeka und Rewe überlassen Tausende von E inkommen in den nicht tarifgebundenen Altersarmut das im Klartext, dass in der Praxis eben Filialen selbstständigen Einzelhändlern. Zehn- Unternehmen nur um 2,65 Euro stiegen – die nicht Tariflöhne gezahlt werden, Arbeits- tausende von Beschäftigten arbeiten dort Spanne klafft also immer weiter auseinander. Bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik zeiten oft weit über den tarifvertraglich meist ohne Tarifvertrag. Gleichzeitig verlaut- Besonders dramatisch stellt sich die Lage für nach 1949 stellte Altersarmut eines der gro- vereinbarten 37,5 Wochenstunden für bart Edeka auf seiner Homepage: »Unser Teilzeitbeschäftigte in nicht tarifgebundenen ßen sozialen Probleme dar. Die Leistungen das gleiche Monatsentgelt liegen oder Herz gehört nicht nur Lebensmitteln, sondern Unternehmen dar: Ihre Stundenlöhne nahmen der 1891 eingeführten Rentenversicherung Zuschläge nicht bezahlt werden. „Orien- auch unseren Mitarbeiter/innen«. zwischen 2009 und 2019 nur um 8,5 Prozent deckten keineswegs den gesamten Lebens- tierung am Tarifvertrag“ bedeutet also zu, laut Statistischem Bundesamt von 12,22 unterhalt der Menschen im Ruhestand. Die in vielen Fällen faktisch eine gravierende Ohne Tarifbindung im Durchschnitt Euro auf 13,26 Euro. Inflationsbereinigt san- Rente war nicht als umfassender Lohnersatz, Unterschreitung der tariflichen Leistungen. elf Prozent weniger Einkommen ken die Stundenlöhne damit sogar!28 sondern als eine Art Zuschuss zur familiären Forscher des WSI der Hans-Böckler-Stiftung Unterstützung im Alter gedacht. 1954 lag haben auf Grundlage des IAB-Betriebspanels Diese Zahlen sind keine Überraschung, son- die durchschnittliche monatliche Rente bei Die Tariflandschaft im deutschen Einzelhan- 2019 analysiert, dass die Arbeitsbedingungen dern werden durch frühere Arbeiten bestä- 62,90 DM, was rund 30 Prozent des Durch- del ist tief zerklüftet. Sie gleicht einem riesi- in tarifgebundenen Unternehmen durchweg tigt. So haben im Jahr 2015 Gabriel Felber- schnittslohns entsprach und unter dem Für- gen Flickenteppich: besser sind als in Unternehmen ohne Tarif. mayr und Sybille Lehwald für das ifo-Institut sorgesatz lag. Grundlegend verändert wurde Teilweise ließen sich diese Unterschiede damit die Daten des IAB für die Jahre 2000 bis 2010 diese Situation erst durch die große Rentenre- • Es gibt eine (kleiner werdende) Anzahl erklären, dass tarifgebundene Betriebe im ausgewertet und dabei festgestellt, dass tarif- form von 1957. Deren erklärtes Ziel war laut von Unternehmen mit Tarifbindung. Schnitt größer und in Branchen mit tenden- gebundene Betriebe durchschnittlich zwi- Gesetzentwurf »eine Lebensgrundlage, die • Es gibt Unternehmen, die sich an dem ziell höheren Löhnen tätig sind. Doch auch schen 25 und 32 Prozent höhere Löhne und den Rentner aus der Nähe des Fürsorgeemp- Tarifvertrag „orientieren“. um diese Effekte bereinigt blieb die Differenz Gehälter zahlten. Dabei fiel auf, dass die fängers in die Nachbarschaft des Lohnemp- • Es gibt eine Vielzahl von Haus-, Firmen- eklatant: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Lohndifferenz mit zunehmender Betriebs- fängers rückt«. Durch die Reform von 1957 und Sanierungstarifverträgen. Betrieben arbeiteten bundesweit im Schnitt größe kleiner wurde. Im Einzelnen ergab sich kam es nicht nur zu einer spürbaren Erhöhung • Es gibt Unternehmen, die nach Tarif zah- wöchentlich 53 Minuten länger und verdien- in Bezug auf vollbeschäftigte Arbeitnehmer/- der Renten,sondern es wurde auch die dyna- len, aber über eine Ausdehnung der ten elf Prozent weniger als Beschäftigte in innen eine Lohndifferenz (in%) von: mische Anpassung der Rentenhöhe an die Arbeitszeit den Stundenlohn drücken. Betrieben mit Tarifbindung, die hinsichtlich Bruttolohnentwicklung eingeführt.29 • Es gibt nicht-tarifgebundene Online-Rie- der Größe, des Wirtschaftszweigs, der Qua- sen wie Amazon und Zalando. lifikation der Beschäftigten und des Standes Alle Beschäftigten minus 25 Mit den politischen Entscheidungen der • Es gibt Konzerne, die Tochterunternehmen ihrer technischen Anlagen identisch waren26. Regierung Schröder, insbesondere Riester- mit und solche ohne Tarifbindung haben, Ostdeutschland minus 44 Reform, Hartz-Gesetze und »Agenda 2010«, wie z.B. Edeka und Rewe (sogenannter Für den Einzelhandel bestätigte das die Bun- Westdeutschland minus 18 wurde ein Paradigmenwechsel in der Ren- privatisierter Einzelhandel). desregierung im Juni 2020 in ihrer Antwort ten- und Arbeitsmarktpolitik vollzogen. Ernst • Es gibt immer wieder neue Beispiele der auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordne- Nach Berufsgruppen Niemeier analysiert diesen in der Zeitschrift Flucht aus dem Flächentarifvertrag und ten Pascal Meiser27. Demnach lag der durch- »Wirtschaftsdienst«: »Die gesetzliche Rente Kassierer*in minus 30 auch Beispiele dafür, dass Unternehmen schnittliche Bruttostundenverdienst (ohne verfolgte seit der Reform von 1957 und bis zu (meist nach langen Auseinanderset- Sonderzahlungen) für Beschäftigte im Einzel- Lager- und den Reformen 1999 das Ziel, die Arbeitsein- minus 10 zungen) den Weg zurück (oder neu) in die handel 2019 bei 21,14 Euro in tarifgebun- Transportarbeiter*in kommen zu ersetzen, die mit dem Ende der Tarifbindung gegangen sind. denen Betrieben, bei nicht tarifgebundenen Verkäufer*in minus 25 Erwerbstätigkeit entfallen. Die Rente sollte • Es gibt Unternehmen, die sich aus einem Unternehmen betrug er nur 16,92 Euro. – wenigstens tendenziell – ‚ein den Lebens- Branchentarifvertrag in einen für sie Verglichen mit dem Jahr 2009 entsprach das standard sicherndes Rentenniveau gewähr- „günstigeren“ Tarifvertrag einer anderen für tarifgebunden Beschäftigte einer Lohn- Wir sehen also: Tarifflucht führt zu Niedrig- leisten‘. (…) Dass das deutsche Rentensys- Branche flüchten. steigerung um 5,63 Euro, während die löhnen – und Niedriglöhne führen zu Armut! tem weder den Lebensstandard sichern noch
14 15 Altersarmut vermeiden kann, ist wesentlich auf w irtschafts- und sozialpolitische Entschei- Armutsgefährdung der Beschäftigten dungen zurückzuführen (…) im Einzelhandel Es gibt zwei verschiedene Messverfah- Die Rente ist ein Spiegelbild des Erwerbsle- Erstens wurde mit den Riester-Reformen das ren, um Altersarmut zu quantifizieren. bens. Insofern mindern geringe Einkommen, Ziel des Lohnersatzes explizit und sachwid- Das eine basiert auf der Grundsicherung Teilzeitbeschäftigung, Phasen der Unterbre- rig durch das Ziel der Beitragssatzstabili- im Alter. Der Regelsatz umfasst (Stand chung und geringe Anzahl der Beschäfti- tät ersetzt, was zwangsläufig eine Absen- 2020) 432 Euro für Alleinstehende bzw. gungsjahre die Rente. Wenn mehrere dieser kung des Leistungsniveaus der gesetzlichen für Paare 389 Euro pro Person35. Hinzu Punkte gleichzeitig zutreffen ist die Nega- Rentenversicherung zur Folge hatte. (…) kommen noch die jeweiligen (»angemes- tivwirkung besonders groß. Frauen sind in Die geplante Schließung der Lücke (durch Frauenprotest gegen drohende Altersarmut senen«) Wohnkosten. besonderem Maße betroffen. den Abschluss privater Zusatzversicherun- gen; Anm. d. Red.) wird von der Mehrheit dabei 1,2 Punkte höher als 2005. Frauen sind Das andere Verfahren bezieht sich auf die Die Deutsche Rentenversicherung spricht der Betroffenen gar nicht genutzt. Sie konnte mit 16,8 Prozent deutlich stärker von drohen- sogenannte Armutsgefährdungsgrenze: gerne von der sogenannten »Standardrente«. schon wegen der höheren Kosten privater der Armut betroffen als Männer, bei denen es Wer als Alleinlebender weniger als 60 Diese liegt (Stand: Juli 2020) bei 1.538,55 Versicherungen nicht gelingen. Erforderlich 15,2 Prozent sind32. Insbesondere in der älte- Prozent des mittleren Nettoeinkommens Euro in den alten und 1.495,35 Euro in den ist der Ausstieg aus der Riester-Reform. ren Generation ist die Armutsgefährdung seit (exakt: des mittleren »Äquivalenzeinkom- neuen Bundesländern. Um auf diesen Betrag dem Jahr 2005 überdurchschnittlich gestiegen. mens«) monatlich zur Verfügung hat lebt zu kommen, muss man allerdings 45 Jahre in Zweitens wurde eine Wirtschaftspolitik danach an der Grenze zur Armut. Dieser die Rentenversicherung einzahlen und in die- betrieben, die das Lohnniveau niedrig hielt. Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, Wert wird jährlich neu ermittelt und vom ser Zeit stets ein Entgelt in Höhe des Durch- Das geschah durch eine ‚moderate‘ Lohnpo- nahm der Anteil der über 64-Jährigen, die Statistischen Bundesamt veröffentlicht. schnittsentgelts aller Versicherten bezogen litik, die die Produktivitätssteigerungen nicht als armutsgefährdet gelten, in den vergange- Die letzten aktuellen Daten dazu: haben. Dieses lag 2020 in Westdeutschland ausschöpfte und so die Binnennachfrage nen 15 Jahren um 4,7 Punkte auf 15,7 Pro- bei monatlich 3.379,25 Euro (40.551 Euro schwächte. Später vergrößerte die Agendapo- zent im Jahr 2019 zu. In keiner anderen Alters- Schwellenwert für Armuts- pro Jahr), im Osten bei 3158,17 im Monat litik den Niedriglohnsektor.«30 Kurz zusam- gruppe war der Anstieg seit dem Jahr 2005 so gefährdung in Euro pro Jahr (2019) (37.898 Euro jährlich).37 Wer weniger ver- mengefasst: »Niedrige Löhne führen zu nied- groß. Hatte früher der Anteil älterer von Armut dient, bekommt im Ruhestand weniger Rente rigen Renten.«31 gefährdeter Menschen praktisch immer unter – Alleinlebende/r 14.109 Euro – und das sind die meisten! dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt – Zwei Erwachsene mit zwei Kinder unter Heute ist das Armutsrisiko in Deutschland gelegen, war der Wert für Personen über 64 14 Jahren 29.628 Euro Der Durchschnittsverdienst ausgelernter Ver- unverändert hoch und steigt insbesondere Jahre im Jahr 2019 bereits annähernd genauso käuferinnen und Verkäufer liegt nach Berech- für ältere Menschen weiter an. Im deutschen hoch wie in der Gesamtbevölkerung.33 Und Quelle: Destatis 202136 nungen allgemeiner Gehaltsrechner nur Rentensystem bestimmt die Erwerbsbiografie die Tendenz ist weiter steigend: Selbst bei zwischen 1700 und 2050 Euro brutto pro maßgeblich die Höhe der gesetzlichen Rente. einer guten wirtschaftlichen Entwicklung Monat38. Etwas besser sieht es für die Kolle- Wichtige Faktoren, die die Rentenansprüche dürfte in 20 Jahren mehr als jede fünfte Rent- ginnen und Kollegen aus, die entsprechend mindern, sind unterdurchschnittliche Tarifein- ner*in von Armut betroffen sein. Das geht aus der zwischen ver.di und den Arbeitgeber- kommen, atypische Beschäftigungsformen, einer Studie hervor, die das Deutsche Institut verbänden abgeschlossenen Tarifverträ- Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Ber- gen bezahlt werden. In Nordrhein-Westfa- sowie untertarifliche Entlohnung (Tarifflucht). telsmann-Stiftung durchgeführt hat. Die Auto- len liegt der monatliche Tarif-Bruttolohn in ren prognostizieren einen Anstieg des Anteils der Gehaltsgruppe I (Verkäufer*innen, Kas- Die Quote der von monetärer Armut bedroh- armutsgefährdeter Rentnerinnen und Rentner sierer*innen) je nach Berufsjahren zwischen ten Menschen lag zuletzt bei 15,9 Prozent und auf dann 21,6 Prozent34.
16 17 1850 und 2704 Euro. Für die Höhe der Rente Solche niedrigen Renten, die nicht zum Leben Der Wettbewerb sind das entscheidende Unterschiede. reichen, müssen letztlich in Form von Auf- im Handel Hinzu kommt, dass insbesondere Frauen stockerleistungen durch den Staat aufgefan- – die im Einzelhandel die große Mehrheit gen und ausgeglichen werden. So wälzen die Der Handel ist seit Jahren im Umbruch, und der Beschäftigten ausmachen – nur selten Unternehmen die Folgen ihres Lohndumpings diese Entwicklung ist durch die Pandemie nur auf die geforderten 45 Beitragsjahre kom- auf die Allgemeinheit ab und sichern sich verstärkt und beschleunigt worden. men, weil sie durch Schwangerschaften und Extraprofite. Kindererziehung oft über Jahre aus dem Vor allem im Einzelhandel herrscht ein von Erwerbsleben ausscheiden. Zudem arbeiten den großen Konzernen betriebener Verdrän- sie häufiger als Männer in Teilzeit und kom- Zwischenresümee gungs- und Vernichtungswettbewerb. Einer- Die Digitalisierung des Handels beschleunigt men auch deshalb auf ein geringeres Jahres- seits gibt es immer mehr große Einkaufszent- sich rasant einkommen und in der Folge auf niedrigere Im Einzelhandel arbeiten rund zwei Millio- ren und ein Übermaß an Verkaufsflächen, die Renten im Alter. nen Menschen in Teilzeit oder als geringfü- jedoch nicht zu mehr Vielfalt und Angebot Zwischenhändler eingeschaltet werden müs- gig Beschäftigte. Zwei Drittel aller Beschäftig- führen, sondern in erster Linie der Expansion sen. Der Wert der einzelnen Plattform steigt Bereits jetzt liegt die durchschnittliche Alters- ten sind Frauen. Aufgrund ihrer spezifischen großer Ketten und Konzerne dienen. Zugleich in dem Maße, je mehr Kundinnen und Kun- rente weit unter der »Standardrente«, näm- Erwerbsbiografie (Unterbrechung, »Teilzeit- nimmt die Bedeutung des Online-Handels den sich ihnen anschließen – und je weniger lich im Westen bei 1169 Euro monatlich für falle«) müssen sie mit erheblichen Einbußen und der Plattform-Ökonomie immer mehr zu. Alternativen es für sie jeweils gibt. Die Folge Männer und gerade einmal 700 Euro für bei ihrer gesetzlichen Rente rechnen. Große Unternehmen schließen Filialen und ist ein gnadenloser Verdrängungs- und Ver- Frauen. Im Osten liegen die Werte vor allem entlassen Beschäftigte, weil sie sich online nichtungswettlauf zwischen konkurrierenden aus historischen Gründen – etwa dem höhe- Das Tarifeinkommen konnte in den letzten größere Profite versprechen. Immer mehr Anbietern, bis de facto nur noch ein Mono- ren Anteil berufstätiger Frauen in der DDR Jahren deutlich gesteigert werden, liegt aber kleine und mittelständische Unternehmen polist übrigbleibt. Dabei genießen die Betrei- – etwas höher, nämlich bei 1264 Euro für immer noch unter dem Durchschnitt. Die werden an die Wand gedrückt, was die Viel- ber solcher »Marktplätze« oft eine besondere Männer und 1033 Euro für Frauen.39 Damit Tarifbindung im Einzelhandel erodiert. Die falt der Branche gefährdet, tausende Arbeits- Machtposition und können die Rahmenbe- liegen die Durchschnittsrenten unter oder nur Mehrheit der Beschäftigten ist heute nicht plätze aufs Spiel setzt und ein wachsendes dingungen und Konditionen für die Nutzung knapp über dem Wert, den das Statistische mehr tarifgebunden. In vielen nichttarifge- Risiko für die Nahversorgung in Stadt und ihrer Plattformen diktieren. Zudem besteht Bundesamt als Armutsgefährdungsgrenze bundenen Betrieben liegt der Lohn um 30 Land darstellt. ihr Hauptgeschäft darin, die Daten ihrer Kun- definiert hat40. Prozent niedriger. dinnen und Kunden zu sammeln und auszu- Diese Entwicklungen wirken sich mittelfris- werten, um zielgerichtet Werbung schalten zu Wegen der extrem ungünstigen Beschäfti- Prekäre Beschäftigungsstrukturen, Nachhol- tig direkt oder indirekt auf den Groß- und können. Damit steuern die Internetkonzerne gungsstruktur im Einzelhandel ist das Ren- bedarf, erwerbsbiografische Unterbrechungen Außenhandel aus. Die traditionellen Unter- das Kundenverhalten und den Konsum von tenrisiko sehr groß. Selbst bei einer »normal« und Tarifflucht sind wesentliche Gründe dafür, nehmen dieser Branche sehen sich bereits immer mehr Menschen. Die Plattform-Ökono- genannten Erwerbsbiografie können vollzeit- dass viele Beschäftigte im Handel von Alter- jetzt immer mehr neuen Wettbewerbern mie befördert auf diese Weise letztlich Mono- beschäftigte Verkäuferinnen und Kassiere- sarmut bedroht sind. Dies betrifft nicht nur gegenüber, die Marktanteile erobern. polisierungstendenzen auch in anderen Berei- rinnen lediglich mit einer Rente in der Nähe Geringverdienende und Teilzeitbeschäftigte. chen des Handels. der Armutsgefährdungsgrenze rechnen. Im Die Armutsgefährdung breitet sich stetig aus Eine besondere Bedeutung hat dabei die Falle von Lohnabschlägen durch Tarifflucht und bedroht immer mehr auch den Kreis der Plattform-Ökonomie, die bislang erst in Dabei ist das wirtschaftliche Umfeld für den kommt es zu drastischen Einbußen bei der Vollzeitbeschäftigten, vor allem die Frauen. Ansätzen und unzureichend rechtlich regu- Handel generell gut. Für den Lebensmit- Rente. Tarifflucht der Unternehmer führt also Nach derzeitigem Stand muss davon ausge- liert ist. Die von den Internetunternehmen tel-Einzelhandel war 2020 das »beste Jahr im konkreten Fall dazu, dass selbst nach einer gangen werden, dass weniger als die Hälfte betriebenen digitalen »Marktplätze« vermit- seit Menschengedenken«41. Diese Teilbran- 45-jährigen Vollzeitbeschäftigung die Alters- der vollzeitbeschäftigten Frauen eine Rente teln direkte Kontakte zwischen Herstellern che meldete für das Jahr einen Gesamtum- armut folgen kann. oberhalb der Armutsgrenze erzielen wird. und Verbraucher*innen, ohne dass weitere satz von 139,4 Milliarden Euro und damit
18 19 den höchsten Wert seit Beginn der Erhebung wandelnden Gesellschaft. Das Statistische Wettbewerbsprozesse maßgeblich auch durch Konzentration erwächst aus organischem durch das GfK-Consumer Panel FMCG im Bundesamt geht von einer sinkenden Einwoh- politische Entscheidungen beeinflusst. Wachstum, Flächenwachstum und/oder der Jahr 201542. Der Einzelhandel insgesamt mel- ner*innenzahl in Deutschland aus, sie soll Übernahme von Konkurrenzunternehmen. dete für 2020 ein Umsatzplus von 5,7 Prozent den Prognosen zufolge von 83,2 Millionen im Zunehmende Konzentration Im Prozess des Strukturwandels ist Konzen- auf 577,4 Milliarden Euro. Während der sta- Jahr 2020 in den kommenden 20 Jahren auf Seit 2002 ist die Anzahl der Unternehmen im tration zum einen das Ergebnis des scharfen tionäre Einzelhandel um 3,9 Prozent zulegen 82,1 Millionen zurückgehen45. Die Altersstruk- Einzelhandel um knapp 80.000 zurückgegan- Wettbewerbs (Marktanteilszuwächse, Ver- konnte, beschleunigte sich das Wachstum des tur verändert sich dabei gravierend, es gibt gen. 2019 wurden noch insgesamt 339.000 drängung), und gleichzeitig die Grundlage für Online-Handels auch Pandemie-bedingt wei- tendenziell immer mehr »Alte« (über 67) und Unternehmen gezählt46. Der Konzentrations- noch mehr Konzentration, denn Größe fördert ter. Er legte um 20,7 Prozent zu, Allerdings ist immer weniger »Junge« (unter 25). Gleichzei- grad in der Branche ist sehr hoch. So brin- weitere Größe. die Dominanz des stationären gegenüber dem tig steigt die Zahl der Single-Haushalte. Die gen es die fünf Größten des Lebensmittelein- Online-Handel nach wie vor deutlich: 505,9 Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land zelhandels – Edeka, Schwarz-Gruppe (Lidl Die marktführenden Konzerne mit ihren Milliarden Euro Umsatz in den Ladengeschäf- werden noch größer. und Kaufland), Rewe-Group, Aldi und Met- jeweiligen Tochterunternehmen decken mit ten stehen 71,5 Milliarden Euro Umsatz via ro-Group 2020 auf einen Marktanteil von deren Verkaufsstätten praktisch das gesamte Internet gegenüber. Der Handelsverband Die demografische Entwicklung hat erhebli- 78 Prozent, ein Zuwachs um fünf Punkte Bundesgebiet ab: 51 Deutschland bilanziert deshalb: »2020 war che Bedeutung für die weitere Entwicklung innerhalb der letzten zehn Jahre. Dabei für viele Unternehmen aus den Bereichen des Einzelhandels. Stichworte sind Ladenge- haben in diesem Zeitraum vor allem Edeka Konzerne im Lebensmittelhandel (Top 5) Online-Handel und Lebensmittel ein gutes staltung, altersspezifische Konsumgewohn- (+ 4,9 Punkte), REWE (+ 3,2 Punkte) und und deren Verkaufsstätten (Stand: 201851) Jahr, bei Möbeln und Baumärkte lief es bes- heiten, Nahversorgung, seniorenfreundlicher die Schwarz-Gruppe (+ 4,8 Punkte) ihre ser als erwartet. Für die meisten Modehändler Service u. a.m. Dominanz ausbauen können, während der Edeka 13.030 dagegen bleibt das vergangene Jahr als Kata- Marktanteil der Metro Group von 13,4 auf strophe in Erinnerung.«43 Dem laufen die aktuellen Entwicklungen 4,3 Prozent eingebrochen ist.47 Rewe-Group 7.705 im Einzelhandel zuwider. Die Unternehmen Differenzierter analysiert der Handelsverband bauen Personal ab – für die Beschäftigten Schaut man sich den Konzentrationsgrad in Aldi 4.112 Textil, BTE, die Bilanz. Ihm zufolge ist der bedeutet das zunehmende Arbeitshetze, für den verschiedenen Teilbranchen des Einzel- Schwarz-Gruppe 3.864 Einzelhandelsumsatz mit Bekleidung sowie die Kundinnen und Kunden schlechtere Bera- handels an, so zeigt sich zum einen eine hohe Haus- und Heimtextilien im Jahr 2020 um tung und Serviceleistungen. Vor allem in den Verdichtung in fast allen Bereichen, gleich- Metro-Group 382 rund neun Prozent gesunken und fiel damit Innenstädten zwingen auch immer weiter zeitig werden aber auch signifikante Unter- auf rund 61 Milliarden Euro. Allerding ver- steigende Mieten kleinere und mittlere Unter- schiede deutlich: Am höchsten ist der Kon- lief die Entwicklung der einzelnen Vertriebs- nehmen zur Aufgabe. Mit dem Verdrängen zentrationsgrad bei Drogerien, wo sich dm, (Umsatz-)Größe bedeutet vor allem enorme formen und Sortimente unterschiedlich. So dieser Händler*innen gehen nicht nur Arbeits- Rossmann, Müller und Budnikowsky den Nachfragemacht gegenüber Lieferanten und sanken die Umsätze des stationären Beklei- plätze verloren, es drohen auch Monokul- Markt fast vollständig aufgeteilt haben48, und Produzenten (u. a. günstige Einkaufspreise dungshandels – Boutiquen, Modehäuser und turen, Uniformierung und Verödung in den im Lebensmittel-Einzelhandel (siehe oben). und Konditionen). Diese monetären Vorteile (vertikal organisierte) Bekleidungsfilialisten – Innenstädten. Das würde für die gesamte Relativ gering ist die Konzentration dagegen auf der Nachfrageseite geben den Handels- um rund 25 Prozent auf knapp 24 Milliarden Gesellschaft ein Verlust an Lebensqualität (noch) im Einzelhandel mit Bekleidung, wo konzernen enorme Möglichkeiten, im Ver- Euro, während die Umsätze über Online-Ka- bedeuten. die vier größten Ketten – H&M, C&A, Peek & kauf aggressive Preis-, und Rabattaktionen näle bei den Multichannel-Anbietern meist Cloppenburg sowie Primark im Jahr 2019 auf zu fahren, ggf. auch über längere Zeiträume angestiegen sind.44 Der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel einen Marktanteil von 20,4 Prozent kamen49, hinweg. Die Nachfragemacht kann dazu füh- wird wesentlich geprägt durch Konzentration sowie im Möbelhandel, wo die vier größten ren, dass die Verhandlungsposition kleine- Längerfristig steht der Einzelhandel aber nicht (Marktmacht), Expansion der Verkaufsfläche, Akteure Ikea, BDSK (XXXLutz), Höffner und rer Handelsunternehmen massiv geschwächt nur aufgrund der Digitalisierung vor Heraus- boomenden Onlinehandel und einen aggres- Dänisches Bettenlager zusammen auf einen wird: Ein Hersteller holt sich das, was er bei forderungen, sondern auch wegen der sich siven Preiswettbewerb. Dabei werden die Marktanteil von 32,7 Prozent kommen50. einem Großen verloren hat, bei Kleineren
20 21 wieder zurück (sog. Wasserbetteffekt). Eine Namen wie Galeria Karstadt Kaufhof, Esprit Jahr Verkaufsfläche in Mio. qm mögliche Gegenmaßnahme ist die Schaffung oder Toys »R« Us. von Verbundgruppen wie der 2017 u.a. von real,-, Metro und Globus gegründeten Retail Diese zunehmende Konzentration bietet 1990 77,0 Trade Group (RTG). Ziel sei es, gemeinsam Anlass zur Sorge. Je mächtiger die Großen 2000 109,0 den Abstand zu den »großen Vier« im deut- werden desto größer auch die Gefahr der schen Markt – Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe Verdrängung – zulasten des Wettbewerbs. 2016 123,7 und Aldi – zu verkürzen und so die eigene In einigen Teilbereichen des Handels ist 2019 125,157 Wettbewerbsposition zu verbessern, begrün- dies schon seit längerem Realität. Konzerne deten die teilnehmenden Unternehmen bestimmen aufgrund ihrer strukturellen Vor- damals diesen Schritt.52 teile (Finanzkraft, Nachfragemacht u. ä.) Der Flächenboom der 1990er-Jahre ist zwar weitgehend die Wettbewerbsbedingungen vorüber, doch auch in den letzten andert- Aus Größe resultiert Marktmacht, Größe im Handel. Die Nachfragemacht geht zulas- halb Jahrzehnten wurde die Verkaufsfläche ist der wesentliche Treiber des Konzentrati- ten der Arbeitsbedingungen der Beschäftig- weiter ausgebaut und stabilisierte sich in onsprozesses im Handel. Es gibt tendenziell ten, der Qualität der Produkte, der Umwelt den vergangenen Jahren auf hohem Niveau. werde. Dabei werde eine »Festivalisierung« immer weniger Unternehmen – mit immer und des Tierschutzes sowie kleiner und mitt- Inwieweit es dabei bleibt, ist zum gegen- des Einkaufens eine wichtige Rolle spielen, mehr Umsatz. Viele kleine und mittlere lerer Betriebe. wärtigen Zeitpunkt abzuwarten. Einerseits das Erlebnis im Laden werde immer wichti- Firmen werden nicht überleben. Betroffen sind viele Einzelhändler durch die Pandemie ger.58 Einschränkend ist allerdings anzumer- sind oft traditionsreiche und inhabergeführte Verkaufsflächenexpansion und die zunehmende Konkurrenz durch den ken, dass die Immobilienwirtschaft natürlich Unternehmen. Sie sterben still und leise, In den letzten Jahrzehnten haben die Han- Online-Handel unter Druck geraten. selbst ein Interesse daran hat, dass die Ver- allenfalls berichtet die Lokalpresse darüber. delsunternehmen hierzulande eine riesige kaufsflächen nicht (zu sehr) zurückgehen, Verkaufsfläche aufgebaut. Seit 1990 wurde Andererseits ist zu beachten, dass es in den da viele Unternehmen von der Vermietung Die Anzahl der Verkaufsstellen im Lebens- diese Fläche von 77 auf über 125 Millionen vergangenen Jahrzehnten nicht nur zu einer an Handelsketten profitieren – hier mag mittelhandel ist zwischen 2006 und 2020 Quadratmeter ausgedehnt. Dabei wuchs in Flächenexpansion gekommen ist, sondern also auch der Wunsch Vater des Gedankens um rund 15.000 zurückgegangen53. Beson- Ostdeutschland die Verkaufsfläche allein zwi- gleichzeitig eine Umschichtung von Verkaufs- gewesen sein. ders die Gruppe der Händler mit weniger schen 1990 und 2000 von 6 auf 18 Millionen flächen stattfindet, weg von kleinen und mit- als zehn Beschäftigten war betroffen, weil Quadratmeter, verdreifachte sich also! Von telständischen Unternehmen hin zu großen Eine treibende Kraft bei der Flächenexpansion die positive Entwicklung der Jahre bis 2020 besonderer Bedeutung ist, dass der Groß- Konzernen. waren in der Vergangenheit die großen Ein- an ihnen weitgehend vorbeigegangen ist54. teil dieser zusätzlichen Verkaufsflächen im kaufszentren / Shopping-Malls. Hatte es im Schon 2017 entfielen auf sie zwar 54 Pro- sogenannten sekundären Netz – also auf der Eine Untersuchung der schwedischen Immo- Jahr 2000 noch 279 solcher Zentren mit ins- zent der Standorte, aber insgesamt nur zehn grünen Wiese entstand.56 Da der reale Einzel- biliengesellschaft Catella Real Estate AG gesamt 9,2 Millionen Quadratmetern Fläche Prozent des Gesamtumsatzes55. Ein weiteres handelsumsatz dem auch nicht einmal annä- kam vor diesem Hintergrund zu dem Ergeb- gegeben, waren es 2020 schon 489 mit fast Ladensterben wird also dazu führen, dass die hernd folgen konnte (Scherenentwicklung) ist nis, dass die Gesamtverkaufsfläche in den 15,8 Millionen Quadratmetern59. flächendeckende Versorgung noch weitma- eine Flächenüberkapazität entstanden. Dies Mitgliedsländern der Europäischen Union schiger wird. führt tendenziell zu sinkender Flächenproduk- von aktuell 590 Millionen Quadratmetern bis Mit rund 150 Quadratmetern Verkaufsflä- tivität (Umsatz pro Quadratmeter). 2030 auf 510 bis 530 Millionen zurückge- che pro 100 Einwohner*innen60 ist die Ein- Aber nicht nur die »Kleinen« sind bedroht – hen werde. Das klingt weniger dramatisch, kaufsdichte in Deutschland heute so hoch in den letzten zehn Jahren hat es auch eine als manche Horrorszenarien nahelegen. wie in kaum einem anderen Land in Europa. Reihe prominenter Unternehmen getroffen. Catella begründet die Prognose damit, dass Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, Die Liste der Großinsolvenzen ist lang und der Einzelhandel vermehrt auf seine Vor- dass sich die Verkaufsfläche sehr ungleich im umfasste in den vergangenen Jahren solche teile gegenüber dem Onlinehandel setzen Raum verteilt. Riesigen Überkapazitäten,
22 23 z. B. in Ballungsgebieten stehen Leerstände Schließung des stationären Einzelhandels – In weiten Bereichen des Handels herrscht ein und verödete Passagen in vielen Klein- und die Bekleidung, gefolgt von Elektronikarti- aggressiver Preiswettbewerb, der durch die Mittelstädten gegenüber. Das hat auch mas- keln und Telekommunikation. Beide machen zunehmende Präsenz des Onlinehandels ver- sive strukturpolitische Konsequenzen: Die in fast die Hälfte der Umsätze im E-Commerce schärft wird. Der Textilhandel wird von Billig- den 1990er Jahren aus dem Boden gestampf- aus.64 ware überschwemmt. Im Möbeleinzelhandel ten Einkaufszentren auf der grünen Wiese gibt es einen explosiven Preiskampf – regel- erschweren dem Einzelhandel in vielen Mit- Die verschiedenen Verkaufskanäle werden rechte Rabattschlachten. Viele Händler, vor tel- und Großstädten die Existenz. In einigen immer stärker verzahnt und verbunden, der allem kleinere, werden diese »Schlachten« Teilbranchen nutzen die großen Akteure Flä- traditionelle Einzelhandel gerät dabei zuneh- nicht überleben. chenexpansion gezielt als Instrument zur Ver- mend unter Druck. Das Internet erhöht die Die Geschäftspleiten nehmen zu drängung der Konkurrenten. Eine teure und Markttransparenz (Produktinformationen, auch riskante Strategie, insbesondere dort, Preis), dadurch steigt der Wettbewerbs- und In weiten Bereichen des deutschen Ein- Auch wenn es seit Jahren Kritik an den anhal- wo wachsende Anteile des Sortiments online Preisdruck. zelhandels herrscht ein massiver Ver- tenden Preiskämpfen mit ihrem selbstzerstö- umgesetzt werden. Die Flächenexpansion drängungskampf. Der Wettbewerb wird rerischen Potential gibt, haben die Handels- wirkt so in einigen Bereichen wie ein Brand- Allein den Onlineboom für die Probleme des überwiegend über ruinöse Preiskämpfe, unternehmen den Preis zuletzt wieder stär- beschleuniger für ruinösen Wettbewerb. Dort stationären Handels und die Schwierigkeiten Öffnungszeiten und Flächenerweiterun- ker in den Vordergrund gerückt. Sie rechnen hat der Konkurrenzkampf Formen eines Ver- vieler Innenstädte verantwortlich zu machen, gen ausgefochten. damit, »dass die Verbraucher aufgrund der nichtungswettbewerbs angenommen. greift allerdings zu kurz, weil die Grenzen wirtschaftlichen Verwerfungen beim Einkauf zwischen Online- und stationärem Handel Die Preiskämpfe erhöhen den (Kosten-) schon bald wieder stärker auf den Cent ach- Boomender Onlinehandel immer mehr verschwimmen. Druck in der gesamten Branche. Die Han- ten«, erläutert Robert Kecskes von der Gesell- Nicht erst seit der Beschleunigung durch die delsunternehmen verlagern den Druck schaft für Konsumforschung (GfK) 65. Pandemie boomt der Online-Handel. Schon Preiskampf zum einen auf die Hersteller und Lieferan- zwischen 2009 und 2019 hat sich der Umsatz Das wichtigste Instrument, die »schärfste ten – vor allem aber auf ihr Personal. Staatliche Deregulierung der Onlinehändler fast vervierfacht, von 15,6 Waffe« im Wettbewerb bleibt der Preis – Der Wettbewerb im Handel wird maßgeb- Milliarden Euro 2009 bis auf 58,0 Milliarden also der Versuch, mittels niedriger Verkaufs- Der massive Wettbewerbsdruck führt zu lich von rechtlichen Rahmenbedingungen im Jahr 201961. Für 2020 prognostizierte der preise der Konkurrenz Marktanteile abzurin- immer mehr Druck auf die Personalkos- beeinflusst. Hier soll kurz auf einige wichtige HDE im November 2020 einen Gesamtumsatz gen. Händler setzen mit Tiefpreisen und/oder ten: Prekäre Beschäftigungsstrukturen, Gesetzeswerke eingegangen werden, die das von rund 70 Milliarden Euro62. Rabatten die Konkurrenz unter Druck – wenn Abbau von Vollzeit, untertarifliche Bezah- Geschehen in der Branche maßgeblich beein- diese reagiert, entwickelt sich ein Preiskrieg. lung, Missbrauch von Werkverträgen und flusst haben. Dominiert wird der Online-Handel in Deutsch- Große, finanzkräftige Konzerne sind dabei immer schlechtere Arbeitsbedingungen land von Amazon, das 2019 einen E-Com- strukturell im Vorteil, da sie Margenverluste sind die unsozialen »Begleiterscheinun- Rabattgesetz merce-Umsatz von 10,5 Milliarden Euro ver- durch ihre Marktmacht und die daraus resul- gen« dieses Verdrängungskampfes. Im Jahr 2001 wurden das Rabattgesetz und meldete, gefolgt von Otto mit 3,4 Milliarden, tierenden günstigeren Einkaufskonditionen die Zugabeverordnung vom Bundestag er- Zalando mit 1,6 Milliarden und Mediamarkt kompensieren können. Der Preiskampf wird auf dem Rücken der satzlos abgeschafft. Damit wollte man, wie es mit 1,2 Milliarden Euro. Alle weiteren Kon- Beschäftigten ausgefochten – sie »finan- hieß, den Wettbewerb »dynamisieren« – fak- kurrenten blieben in jenem Jahr bei einem Auch wenn für viele Kundinnen und Kunden zieren« letztendlich diesen ruinösen Wett- tisch wurden auf diese Weise jedoch r uinöse Umsatz von jeweils unter einer Milliarde63. Kriterien wie Qualität und Nachhaltigkeit oder lauf. Tendenzen unterstützt, der Preiskampf wurde soziale und ökologische Aspekte wichtiger für zusätzlich angefacht. Der Bundesverband der Generell werden immer mehr Waren im Netz ihre Kaufentscheidung geworden sind, bleibt Altersarmut ist das hässliche Pendant zu Verbraucherzentralen stellte seinerzeit war- angeboten. Wichtigste Warengruppe war für die Masse der Verbraucher*innen der Preis den Preiskriegen im Einzelhandel. nend fest, dass diese Änderung für die Kun- 2020 – auch bedingt durch die weitgehende das entscheidende Merkmal. dinnen und Kunden kurzfristig sicherlich
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