VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IM HANDEL - Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - Ver.di

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VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IM HANDEL - Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - Ver.di
VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB
IM HANDEL
Zwischen Preiskrieg,
Tarifflucht und Altersarmut

                                Handel   Vereinte
                                	Dienstleistungs-
Aktualisierte Neuauflage 2021            gewerkschaft
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Inhalt

                                                                                                           Vorbemerkungen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5

                                                                                                           Zur Situation der Beschäftigten .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7

                                                                                                           Altersarmut. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 13

                                                                                                           Zwischenresümee .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 16

                                                                                                           Der Wettbewerb im Handel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17

                                                                                                           Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

IMPRESSUM

Herausgeberin
ver.di Bundesvorstand, Fachbereich Handel
Stefanie Nutzenberger
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin

Text
2. aktualisierte Auflage
Ursprünglicher Text: Jürgen Glaubitz, Überarbeitung André Scheer

Gestaltung
bleifrei Medien + Kommunikation, Hedwig Ruf

Fotos
Dietrich Hackenberg (S. 6, 10, 11, 27, 29), AdobeStock (Titel), Fotolia (S. 17), Andreas Hamann (S. 23),
unsplash (S. 21), Christian v. Polentz (S. 14), Werner Bachmeier (S. 25), Hubert Thiermeyer (Rücktitel)
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Vorbemerkungen                                  nen und Joint Ventures zu sichern – oft zulas-
                                                                                                                                                                                                                          ten der Beschäftigten und der Arbeitsplätze.
                                                                                                                                                                          Der Handel verändert sich. Riesige Kon-         So kündigten Alliance Healthcare und GEHE
                                                                                                                                                                          zerne mit enormer Macht dominieren immer        Pharma Handel nach ihrem 2019 angekündig-
TARIF UND RESPEKT STATT ALTERSARMUT                                                                                                                                       mehr den Markt – Zehntausende kleine-
                                                                                                                                                                          rer Unternehmen sind ausgeschieden. Es fin-
                                                                                                                                                                                                                          ten Zusammengehen im März 2021 an, mehr
                                                                                                                                                                                                                          als jede vierte ihrer Niederlassungen schlie-
Der Verdrängungswettbewerb, der auch über die zunehmende Flucht aus den Tarifverträgen ausgetragen                                                                        det ein erbitterter Verdrängungswettbewerb      ßen zu wollen.
wird, geht in erster Linie zu Lasten der Beschäftigten im Handel. Für viele erhöht sich das Risiko für
Altersarmut. Deshalb muss sich dringend etwas ändern: Durch allgemeinverbindliche Tarifverträge zum                                                                       statt, der überwiegend über Preiskämpfe,
Beispiel, die für alle im Handel gelten würden! Tarifflucht darf sich nicht länger lohnen. Wir brauchen                                                                   Öffnungszeiten und Flächenerweiterungen         Der ruinöse Verdrängungskampf verändert
Wertschätzung für gute Arbeit – her mit existenzsichernden Einkommen!
                                                                                                                                                                          geführt wird. Der boomende Onlinehandel         nicht nur die Handelslandschaft, sondern hat
                                                                                                                                                                          und eine zunehmende Konzentrationsent-          vor allem auch tiefe Spuren bei den Beschäf-
                                                                                                                                                                          wicklung erhöhen den Wettbewerbsdruck.          tigten hinterlassen. Im Einzelhandel wurden
                                                                                                                                                                                                                          Vollzeitstellen massiv abgebaut, atypische
                                                                                                                                                                          Insbesondere der Einzelhandel ist zerklüftet.   Beschäftigungsverhältnisse überwiegen dort
                                                                                                                                                                          Grell glitzernde Einkaufsmeilen, Shopping-      inzwischen. Die Arbeitsbedingungen haben
                                                                                                                                                                          paradiese und Konsumpaläste auf der einen       sich immer mehr verschlechtert (Arbeitsbe-
                                                                                                                                                                          Seite – auf der anderen Seite Tristesse, Bil-   lastung, Stress, Arbeitszeitlage, graue Über-
                                                                           TARIFFLÜCHTIGE
                                                                                                                                                                          ligheimer, Ein-Euro-Shops und Leerstände in     stunden). Auch im Groß- und Außenhandel
                                                                            UNTERNEHMEN
                                                                                                                                                                          strukturschwachen Regionen, auf dem Land        klagen die Beschäftigten über ständig wie-
                                                                             EINFANGEN                                                                                    und nicht selten auch in zentralen Lagen der    derkehrende und oft körperlich belastende
                                                                 Um allgemeinverbindliche Tarifverträge
                                                                und Einkommen, die jetzt und später zum                                                                   Städte. Zahlreiche Geschäfte etwa des Tex-      Tätigkeiten unter starkem Termin- und Leis-
                                                              Leben reichen, geht es auch in den aktuellen
                                                             Tarifrunden des Einzelhandels. Viele Kollegin-                                                               til-Einzelhandels mussten während der Pan-      tungsdruck, oft genug in Schicht-, Wochen-
                                                               nen und Kollegen haben sich bereits in den                                                                 demie über Monate schließen oder durften        end-, Nacht- und Akkordarbeit.
                                                             vorigen Tarifrunden dafür eingesetzt und bei
                                                               einigen Entscheider*innen für ein Umden-                                                                   nur mit Einschränkungen öffnen, während
     privatisier                                                ken gesorgt. Doch es braucht noch mehr
                 te Märkt
                           e
                                                                   Druck. Macht mit und beteiligt euch                                                                    weite Teile des Online-Handels boomen und       Der ruinöse Wettbewerb wurde durch staatli-
                                                                     an Aktionen der Gewerkschaft
                                                                             ver.di vor Ort!
                                                                                                                                                                          insbesondere der Lebensmittel-Einzelhandel      che Deregulierung noch zusätzlich angeheizt.
                                                                                                                                                                          Extraprofite einfährt.                          Die weitgehende Freigabe der Öffnungszeiten
                                                                                                                                                                                                                          im Einzelhandel und die »Flexibilisierung« des
                                                                                                                                                                          Auch der stark mittelständisch geprägte         Arbeitsmarktes im Zuge der Hartz-Gesetze
                                                                                                                                                                          Großhandel sieht sich großen Herausforde-       haben Schleusen geöffnet für Dumpinglöhne
                            privatisive
                                                                                                                                                                          rungen durch neue Wettbewerber insbeson-        und den missbräuchlichen Einsatz von Leihar-
                                        rte
                            Märkte
                                                                                                                                                                          dere aus dem Bereich der Plattform-Öko-         beit und Werkverträgen.
                                                                                                                                                                          nomie gegenüber. Zahlreiche Hersteller
                                                                                                                                                                          vertreiben ihre Produkte inzwischen über        Nach »außen« prägen niedrige Preise, hohe
                                                                                                                                                                          bekannte Online-Plattformen wie Alibaba,        Rabatte und wohlfeile Werbekampagnen das
                                                                                                                                                                          JD.com oder Amazon direkt an die Endkun-        Bild des Handels – »innen« dominieren in vie-
                                                                                                                                                                          den und umgehen so den Großhandel. Das          len Unternehmen prekäre Beschäftigung,
                                                                                                                                              Handel   Vereinte
                                                                                                                                                                          verstärkt den Druck auf Unternehmenskon-        zunehmender Leistungsdruck und untertarifli-
                                                                                                                                                       Dienstleistungs-
                                                                                                                                                       gewerkschaft
                                                                                                                                                                          zentrationen und verdrängt kleinere Akteure     che Bezahlung. Für die Mehrzahl der Beschäf-
V.i.S.d.P.: ver.di-Bundesfachbereich Handel, Orhan Akman, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin; Konzept & Gestaltung: bleifrei Texte + Grafik                               aus dem Markt. Große Konzerne versuchen,        tigten bietet sich eine ausgesprochen düs-
                                                                                                                                                                          ihre Stellung auf dem Markt durch Fusio-        tere Perspektive: Hunderttausende ­Menschen
VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB IM HANDEL - Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - Ver.di
6                                                                                                                                                                                                         7

    werden nach einem harten Arbeitsleben                                                            Zur Situation der                                   Jahr 2019 insgesamt rund 2,9 Millionen
    anschließend in Altersarmut »entlassen«.                                                         Beschäftigten                                      ­sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäf-
    Der Handel ist heute eine Branche in der die                                                                                                         tigte monatlich weniger als 2.050 Euro ver-
    Mehrheit der Beschäftigten akut von Alters-                                                                                                          dient haben. Ihnen droht damit selbst nach
    armut bedroht ist. Mit der Aufkündigung der                                                      Einzel- und Versandhandel                           45 Jahren Vollbeschäftigung eine Rente auf
    Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge                                                       Der Einzel- und Versandhandel ist eine der          Grundsicherungsniveau. Neben Beschäftigten
    im Einzelhandel durch die Unternehmer im                                                         größten Branchen der deutschen Wirtschaft.          in den Branchen Verkehr und Logistik, Gast-
    Jahre 2000 hat sich dieser Wettlauf weiter                                                       Rund 3,1 Millionen Menschen sind hier               ronomie und Baugewerbe sind insbesondere
    beschleunigt.                                                                                    beschäftigt, mehr als zwei Drittel von ihnen        die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel
                                                                                                     sind Frauen. Gerade während der Pande-              von Altersarmut betroffen4.
    Wir wollen im Folgenden zeigen wie sich der-                                                     mie hat sich gezeigt, wie unverzichtbar ihre
    zeit die Situation der Beschäftigten im Handel                                                   Arbeit für die gesamte Gesellschaft ist. Doch      Anzahl und Struktur der Beschäftigten
    darstellt. Dabei werden auch die konkreten                                                       der zeitweilig zelebrierte Beifall für die Ange-   Die Zahl der Beschäftigten im deutschen Ein-
    Auswirkungen der Tarifflucht analysiert. Dann     Normalarbeitsverhältnis und                    stellten der Supermärkte und Lebensmittelge-       zel- und Versandhandel ist in den vergange-
    wollen wir zeigen, welche Konsequenzen sich       atypische/prekäre Beschäftigung                schäfte verhallte schnell und ohne bleibende       nen Jahren insgesamt relativ stabil geblieben.
    für die Betroffenen bezüglich ihrer Altersrente                                                  Wirkung für die Beschäftigten.                     Allerdings hat sich die strukturelle Zusam-
    ergeben. Dabei wird untersucht, wie sich die      Normalarbeitsverhältnis:                                                                          mensetzung über die Jahre deutlich verscho-
    Armutsgefährdung für einzelne Beschäftig-         Vollzeittätigkeit oder Teilzeittätigkeit mit   Während zum Beispiel die ­Verkäufer*innen          ben: War im Jahre 2000 noch die Hälfte der
    tengruppen darstellt. Schließlich soll gezeigt    mehr als 20 Wochenstunden, als unbefris-       als »Held*innen der Pandemie« gefeiert             abhängig Beschäftigten in Vollzeit angestellt,
    werden, welche Auswirkungen der ruinöse           tetes Beschäftigungsverhältnis, welches        wurden, gehörten ihre Einkommen zu den             sind es heute nur noch 38 Prozent.5 So wer-
    Verdrängungskampf für Mittelstand, Her-           voll in die sozialen Sicherungssysteme         geringsten aller Branchen. Nach Angaben der        den seit Jahren immer mehr existenzsichernde
    steller, Verbraucher und Beschäftigte hat.        integriert ist.                                Bundesregierung verdiente knapp ein Vier-          Vollzeitstellen zugunsten prekärer Beschäfti-
    ­Schlussendlich werden verschiedene Lösungs-                                                     tel (24,7 Prozent) aller sozialversicherungs-      gung zurückgedrängt.
     ansätze vorgestellt.                             Atypische Beschäftigung:                       pflichtig angestellten Vollzeit-Beschäftigten im
                                                      Befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäf-       Handel lediglich einen Niedriglohn2. Laut einer    Rund 2,37 Millionen Menschen sind derzeit in
                                                      tigte (20 oder weniger Stunden), Zeitar-       Sonderauswertung der Bundesanstalt für             einem sozialversicherungspflichtigen Beschäf-
                                                      beitsnehmer/-innen, Geringfügige Be-           Arbeit, die von der Bundestagsabgeordneten         tigungsverhältnis im Einzelhandel a­ ngestellt.
                                                      schäftigung (lt. Definition des Statisti-      Sabine Zimmermann im Juli 2020 angefordert         Von ihnen arbeiten knapp 1,2 Millionen in
                                                      schen Bundesamtes). Einige Autor*innen         wurde, waren 13,5 Prozent der als Helfer*in-       Teilzeit, weitere 802.000 Menschen sind
                                                      zählen hierzu auch Teilzeitbeschäftigte mit    nen im Lebensmittelverkauf angestellten            geringfügig beschäftigt– mit einschneidenden
                                                      mehr als 20 Stunden, sofern es sich um         Beschäftigten auf zusätzliche Aufstockerleis-      Konsequenzen für Lohn, Gehalt und Rente.
                                                      erzwungene Teilzeitarbeit handelt.             tungen (Hartz IV) angewiesen – unter Hel-          Das gilt insbesondere für die Frauen: Insge-
                                                                                                     fer*innen aller Berufe waren es fünf Prozent3.     samt beträgt ihr Anteil unter den Beschäf-
                                                      Die Abgrenzung zwischen atypischer und                                                            tigten 64 Prozent, bei der Teilzeitbeschäfti-
                                                      prekärer Beschäftigung ist in der Wis-         Nicht nur im unmittelbaren Alltag sorgt diese      gung sind es sogar rund 84 Prozent.6 Ganz
                                                      senschaft umstritten. Oft werden beide         Situation für Probleme. Der hohe Anteil            anders sieht es übrigens aus, wenn wir uns
                                                      Begriffe synonym verwendet. Richtig ist:       »atypischer« Beschäftigung im Einzelhandel         die Führungsebene der Unternehmen anse-
                                                      „Nicht jede Form atypischer Beschäfti-         wirkt sich auch dramatisch auf die zukünf-         hen: Nur etwa jede fünfte Führungsposition
                                                      gung ist prekär, aber sie birgt große Risi-    tigen Renten aus. Im Februar 2020 erklärte         in ­Handels- und Konsumgüterunternehmen
                                                      ken für die Beschäftigten“1 (DGB).             das Bundesarbeitsministerium auf Anfrage           ist mit einer Frau besetzt, im Topmanagement
                                                                                                     der Bundestagsfraktion Die Linke, dass im          liegt ihr Anteil sogar nur bei 14 Prozent.7
8                                                                                                                                                                                                          9

    Tarifeinkommen                                      Groß- und Außenhandel                           raten in der Umsatzentwicklung aufgrund            aus dem Jahr 2019. Dabei ist zu unterschei-
    Die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich          Ohne den Groß- und Außenhandel ist der          der abkühlenden Konjunktur bereits abge-           den zwischen Angaben über die Tarifbindung
    in der mittleren Gruppe (»Verkäufer/-innen«)        Handel in Deutschland undenkbar. Er ist         schwächt ­hatten. In der Folge ging die Zahl       der Betriebe und die der Beschäftigten.
    beträgt derzeit zwischen 1.869 und 2.704            das Bindeglied zwischen den Herstellern,        der Beschäftigten im Groß- und Außenhan-
    Euro im Monat (Beispiel NRW; WSI-Tarifar-           der Industrie und den Endverbraucher*in-        del 2020 nach neun Jahren mit anhalten-            Einige Ergebnisse für die Gesamtwirtschaft
    chiv8 ). Hinzu kommen Urlaubsgeld, Jahres-          nen. Zu seinen Abnehmern zählen die Unter-      dem Beschäftigungszuwachs im Jahresdurch-          im Überblick:
    sonderzahlung und Leistungen der tariflichen        nehmen des Einzelhandels, des Handwerks,        schnitt um 0,6 Prozent zurück. Das entspricht
    Altersversorgung. Für sozialversicherungs-          des Gastgewerbes, regionale Großhändler         einem Verlust von mehr als 12.000 Arbeits-         • Zwischen 2000 und 2019 ist die Flächen-
    pflichte Teilzeitbeschäftigte verringert sich der   sowie industrielle oder sonstige gewerbliche    plätzen.13                                           bzw. Branchentarifbindung der Beschäf-
    Betrag entsprechend dem jeweiligen Stun-            Betriebe. Als Mittler übernimmt der Großhan-                                                         tigten von 63 auf 46 Prozent in West-
    denfaktor.                                          del zudem zahlreiche Funktionen wie Sor-        Tarifeinkommen                                       deutschland gesunken. Für Ostdeutsch-
                                                        timentsbildung, Distribution, Lagerhaltung,     Die Tarifeinkommen im Groß- und Außen-               land sogar von 44 auf 34 Prozent16.
    Die Tarifeinkommen im Einzelhandel konnten          Transport und Beratung.                         handel konnten in den letzten Jahren deut-         • Große Unterschiede gibt es zwischen den
    in den letzten Jahren deutlich gesteigert wer-                                                      lich gesteigert werden. Zwischen den Jahren          Wirtschaftsbereichen. Der Einzelhandel
    den. Zwischen den Jahren 2000 und 2020              Über den Großhandel in Deutschland mit          2000 und 2020 stiegen die realen Tariflöhne          gehört in Bezug auf die Tarifbindung der
    stiegen die Tariflöhne real um mehr als 15 Pro-     seinen rund zwei Millionen Beschäftig-          um mehr als 22 Prozent.14                            Beschäftigten mit 28 Prozent zu den abso-
    zent9. Es gibt aber weiterhin einen erheblichen     ten in 112.000 Unternehmen werden rund          Aktuell liegt die tarifliche Vergütung für ange-     luten Schlusslichtern. Im Groß- und
    Nachholbedarf. So lag das Durchschnittsein-         zwei Drittel aller Güter und Waren gehan-       lernte Arbeiter*innen in Nordrhein-Westfalen         Außenhandel sieht es noch etwas besser
    kommen sozialversicherungspflichtig Vollzeit-       delt. Dabei hatten 2016 nur 12 Prozent aller    bei 2.104 bis 2.201 Euro im Monat, für aus-          aus: 2019 arbeiteten hier rund 33 Prozent
    beschäftigter aller Branchen 2020 bei 3975          Unternehmen 20 oder mehr Beschäftigte –         gebildete Groß- und Außenhandelskaufleute            aller Beschäftigten unter dem Schutz von
    Euro brutto – wobei selbst das Statistische         diese größeren Unternehmen waren aber für       bei 2.305 bis 2.850 Euro.15 Hinzu kommen             Tarifverträgen17.
    Bundesamt darauf hinweist, dass zwei Drittel        76 Prozent des Umsatzes und 72 Prozent der      Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und Leis-         • Die Tarifbindung variiert mit der Größe der
    aller Beschäftigten weniger als diesen Durch-       Beschäftigung verantwortlich.                   tungen der tariflichen Altersversorgung. Für         Betriebe – je größer die Betriebe, desto
    schnitt verdienen. Verkäuferinnen und Ver-                                                          sozialversicherungspflichte Teilzeitbeschäf-         höher tendenziell die Tarifbindung.
    käufer gehen oftmals mit der Hälfte nach            Im Unterschied zum Einzelhandel ist die über-   tigte verringert sich der Betrag entsprechend      • Es gibt starke Unterschiede zwischen
    Hause, ihr Durchschnittseinkommen liegt             wiegende Mehrzahl der Beschäftigten im          dem jeweiligen Stundenfaktor.                        West und Ost und gleichzeitig auch inner-
    ­zwischen 1.700 bis 2.050 Euro10.                   Groß- und Außenhandel männlich und in                                                                halb der Bundesländer.
                                                        existenzsichernder Vollzeit beschäftigt. Der    Tarifbindung im Handel
                                                        Anteil der Vollzeitbeschäftigten lag 2020 bei   Aber längst nicht alle Beschäftigten bekommen
      Anteil Vollzeitbeschäftigung                      74,9 Prozent und damit noch etwas höher als     das Tarifentgelt. Die Tarifbindung in Deutsch-      Tarifbindung der Beschäftigten
      im Handel                                         fünf Jahre zuvor.11                             land geht seit Jahren kontinuierlich zurück.        im Handel

      Einzel- und Versandhandel                         Die nominalen (nicht preisbereinigten)          Zur Bestimmung der Tarifbindung gibt es             Einzel- und Versandhandel
                                                        Umsätze im Großhandel stiegen zwischen          zwei unterschiedliche Quellen: Das Institut
      38 Prozent                                        2010 und 2019 fast um ein Drittel von 1,0       für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)         28 Prozent
                                                        Milliarden auf 1,3 Milliarden Euro. Im Pande-   der Bundesagentur für Arbeit und das Statisti-
      Groß- und Außenhandel                                                                                                                                 Groß- und Außenhandel
                                                        mie-Jahr 2020 sank der Umsatz nach Anga-        sche Bundesamt (Destatis). Wir konzentrieren
                                                        ben des Statistischen Bundesamts nomi-          uns im Folgenden auf das IAB-Betriebspanel,
      74,9 Prozent                                                                                                                                          33 Prozent
                                                        nal um 0,4 Prozent – preisbereinigt stieg       eine repräsentative Arbeitgeberbefragung zu
      Zahlen von 2020                                   er jedoch um 1,8 Prozent.12 Das folgt dem       betrieblichen Bestimmungsgrößen der Beschäf-        Zahlen von 2020
                                                        Trend der Vorjahre, als sich die Steigerungs-   tigung. Das letzte IAB-Betriebspanel stammt
10                                                                                                                                                                                                            11

     Die Erosion der Tarifbindung                                                                                                                          Betriebe
     Über lange Zeit galt zwischen den Tarifpar-                                                                                                           Nach den aktuellen Daten sind 77 Prozent
     teien ein Konsens, wonach die Personal-                                                                                                               der Betriebe im westdeutschen Einzel- und
     kosten nicht Gegenstand des ruinösen Wett-                                                                                                            76 Prozent im Großhandel nicht tarifgebun-
     bewerbs sein sollten. Die Allgemeinverbind-                                                                                                           den. Von diesen orientieren sich 41 Prozent
     lichkeit der Tarifverträge sei geboten, so                                                                                                            der Einzelhandels- und 51 Prozent der Groß-
     argumentierten die nordrhein-westfälischen                                                                                                            handelsbetriebe am Branchentarifvertrag. Für
     Unternehmer noch im Jahre 1999, »um die                                                                                                               Ostdeutschland sind die Zahlen noch ungüns-
     soziale Komponente der Marktwirtschaft im                                                                                                             tiger. Dort waren zuletzt 91 Prozent der Ein-
     Einzelhandel zu erhalten«. Denn es bestehe        Arbeitgebermauer gegen AVE...                     …wird gemeinsam durchbrochen                      zelhandels- und 88 Prozent der Großhandels-
     »die Gefahr, dass zur Erhaltung oder Erobe-                                                                                                           betriebe nicht tarifgebunden. Von diesen
     rung von Marktanteilen Einsparungen bei           einziger Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit      Aktuell stellt sich die Situation nach den        ­orientierten sich jeweils 34 Prozent der Unter-
     den Personalkosten angestrebt werden. Eine        von Tarifverträgen mehr gestellt w
                                                                                        ­ orden sei.19   IAB-Daten folgendermaßen dar:                      nehmen am Branchentarif.23
     dieser E­insparungsmöglichkeiten ist auch
     die Nichtachtung geltender Tarifverträge«         Aktuell beharren die Arbeitgeberverbände auf      Beschäftigte
     (Antrag auf AVE – Schreiben des Einzelhan-        ihrer Ablehnung der Allgemeinverbindlichkeit      2019 arbeiteten 30 Prozent der westdeut-            Anmerkung zum Thema
     delsverband NRW vom 17.9.1999 an das              von Tarifverträgen. Dabei gibt der (Einzel-)      schen und 20 Prozent der ostdeutschen               „Orientierung“ am
     zuständige Ministerium).                          Handelsverband Deutschland (HDE) sogar            Beschäftigten des Einzelhandels in einem            Branchentarifvertrag:
                                                       vor, sich um die Gewerkschaften Sorgen zu         Betrieb, der einem Branchen- oder Haus-Tarif-
     Bis zu diesem Zeitpunkt waren nahezu alle         machen: »Eine AVE kann für die Tarifbindung       vertrag unterliegt. 38,5 Prozent der Beschäf-       In den Tabellen des IAB spielt die Rubrik
     Tarifverträge des Einzelhandels allgemeinver-     sogar kontraproduktiv sein, weil die tarifli-     tigten in West- und 32 Prozent derjenigen in        „Orientierung am Branchen-Tarifvertrag“
     bindlich. Schon ein Jahr später vollzogen die-    chen Ansprüche dann auch für nicht gewerk-        Ostdeutschland waren in einem Einzelhan-            jeweils quantitativ eine wichtige Rolle. Die
     selben Unternehmer eine radikale ideologi-        schaftlich organisierte Arbeitnehmer gelten.      delsbetrieb angestellt, der zwar nicht tarifge-     Unternehmer interpretieren dies gerne so,
     sche Wende und zerstörten diesen Konsens.         Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wird      bunden ist, sich jedoch am Branchentarifver-        als würden diese Unternehmen die Bran-
     Im Jahre 2000 wurde die Allgemeinverbind-         dann möglicherweise uninteressant.«20 Der         trag »orientiert«.                                  chentarifverträge 1:1 anwenden. Nach
     lichkeit der Tarifverträge von ihnen aufgekün-    Bundesverband Großhandel, Außenhandel,                                                                dieser „Logik“ ergibt sich dann rein rech-
     digt und per Satzungsänderung in den Arbeit-      Dienstleistungen (BGA) stößt in das gleiche       Im Großhandel unterlagen 2019 rund 33 Pro-          nerisch eine höhere Tarifbindung. Davon
     geberverbänden eine Mitgliedschaft »ohne          Horn: »Wir wenden uns vehement gegen eine         zent aller Beschäftigten einem Branchen- oder       ausgehend behauptete zum Beispiel die
     Tarifbindung«, die sogenannte »OT-Mit-            staatliche Einmischung in die Lohnfindung.        Haustarifvertrag. In Westdeutschland lag ihr        „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft“
     gliedschaft«, ermöglicht. Damit wurde eine        Die Allgemeinverbindlicherklärung von Ent-        Anteil mit 34 Prozent noch etwas höher, wäh-        (VBW) im Dezember 2020, dass „für fast
     Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Allein zwi-       gelttarifverträgen lehnen wir ab.«21              rend in den neuen Bundesländern mit 23 Pro-         80 Prozent der Beschäftigten in Bayern
     schen 2010 und 2019 verloren 44 Prozent                                                             zent nicht einmal mehr jede/r Vierte in einem       (…) direkt oder indirekt der Tarif“ gelte24.
     der Beschäftigten im Einzelhandel den Schutz      ver.di fordert deshalb eine Gesetzesände-         tarifgebundenen Betrieb arbeitetete.
     ihres Tarifvertrags!18                            rung, damit die Arbeitgeberverbände die All-                                                          Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
                                                       gemeinverbindlichkeit der Tarifverträge nicht     Zum Vergleich die Daten zur Gesamtwirt-             sehen eine solche Interpretation kritisch.
     Versuche der Politik, hier gegenzusteuern,        länger blockieren können. Die Beantragung         schaft: 2019 arbeiteten 53 Prozent der west-        Nur ein Teil dieser Betriebe lehne sich tat-
     haben bislang keine greifbaren E­ rgebnisse ge-   der AVE muss durch eine der Tarifparteien –       deutschen und 45 Prozent der ostdeutschen           sächlich in allen relevanten Punkten an
     zeigt. 2019 teilte die Bundesregierung in ihrer   also durch ver.di – alleine möglich sein, um so   Beschäftigten in einem Betrieb der einem            den jeweiligen Branchentarif an, unter-
     Antwort auf eine Kleine Anfrage von Abge-         den Weg zu einer Allgemeinverbindlichkeits-       Branchen-Tarifvertrag unterlag. In einem »am        streichen etwa Peter Ellguth und Susanne
     ordneten der Bundestagsfraktion Die Linke         erklärung durch das zuständige Ministerium        Branchentarifvertrag orientierten« Betrieb          Kohaut25. Für den Einzelhandel bedeutet
     mit, dass im Handel seit dem Jahr 2010 kein       freizumachen.                                     arbeiteten 24,5 Prozent.22
12                                                                                                                                                                                                           13

                                                         Edeka und Rewe überlassen Tausende von           E­ inkommen in den nicht tarifgebundenen          Altersarmut
         das im Klartext, dass in der Praxis eben        Filialen selbstständigen Einzelhändlern. Zehn-    Unternehmen nur um 2,65 Euro stiegen – die
         nicht Tariflöhne gezahlt werden, Arbeits-       tausende von Beschäftigten arbeiten dort          Spanne klafft also immer weiter auseinander.     Bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik
         zeiten oft weit über den tarifvertraglich       meist ohne Tarifvertrag. Gleichzeitig verlaut-    Besonders dramatisch stellt sich die Lage für    nach 1949 stellte Altersarmut eines der gro-
         vereinbarten 37,5 Wochenstunden für             bart Edeka auf seiner Homepage: »Unser            Teilzeitbeschäftigte in nicht tarifgebundenen    ßen sozialen Probleme dar. Die Leistungen
         das gleiche Monatsentgelt liegen oder           Herz gehört nicht nur Lebensmitteln, sondern      Unternehmen dar: Ihre Stundenlöhne nahmen        der 1891 eingeführten Rentenversicherung
         Zuschläge nicht bezahlt werden. „Orien-         auch unseren Mitarbeiter/innen«.                  zwischen 2009 und 2019 nur um 8,5 Prozent        deckten keineswegs den gesamten Lebens-
         tierung am Tarifvertrag“ bedeutet also                                                            zu, laut Statistischem Bundesamt von 12,22       unterhalt der Menschen im Ruhestand. Die
         in vielen Fällen faktisch eine gravierende      Ohne Tarifbindung im Durchschnitt                 Euro auf 13,26 Euro. Inflationsbereinigt san-    Rente war nicht als umfassender Lohnersatz,
         Unterschreitung der tariflichen Leistungen.     elf Prozent weniger Einkommen                     ken die Stundenlöhne damit sogar!28              sondern als eine Art Zuschuss zur familiären
                                                         Forscher des WSI der Hans-Böckler-Stiftung                                                         Unterstützung im Alter gedacht. 1954 lag
                                                         haben auf Grundlage des IAB-Betriebspanels       Diese Zahlen sind keine Überraschung, son-        die durchschnittliche monatliche Rente bei
     Die Tariflandschaft im deutschen Einzelhan-         2019 analysiert, dass die Arbeitsbedingungen     dern werden durch frühere Arbeiten bestä-         62,90 DM, was rund 30 Prozent des Durch-
     del ist tief zerklüftet. Sie gleicht einem riesi-   in tarifgebundenen Unternehmen durchweg          tigt. So haben im Jahr 2015 Gabriel Felber-       schnittslohns entsprach und unter dem Für-
     gen Flickenteppich:                                 besser sind als in Unternehmen ohne Tarif.       mayr und Sybille Lehwald für das ifo-Institut     sorgesatz lag. Grundlegend verändert wurde
                                                         Teilweise ließen sich diese Unterschiede damit   die Daten des IAB für die Jahre 2000 bis 2010     diese Situation erst durch die große Rentenre-
     • Es gibt eine (kleiner werdende) Anzahl            erklären, dass tarifgebundene Betriebe im        ausgewertet und dabei festgestellt, dass tarif-   form von 1957. Deren erklärtes Ziel war laut
         von Unternehmen mit Tarifbindung.               Schnitt größer und in Branchen mit tenden-       gebundene Betriebe durchschnittlich zwi-          Gesetzentwurf »eine Lebensgrundlage, die
     • Es gibt Unternehmen, die sich an dem              ziell höheren Löhnen tätig sind. Doch auch       schen 25 und 32 Prozent höhere Löhne und          den Rentner aus der Nähe des Fürsorgeemp-
         Tarifvertrag „orientieren“.                     um diese Effekte bereinigt blieb die Differenz   Gehälter zahlten. Dabei fiel auf, dass die        fängers in die Nachbarschaft des Lohnemp-
     • Es gibt eine Vielzahl von Haus-, Firmen-          eklatant: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen     Lohndifferenz mit zunehmender Betriebs-           fängers rückt«. Durch die Reform von 1957
         und Sanierungstarifverträgen.                   Betrieben arbeiteten bundesweit im Schnitt       größe kleiner wurde. Im Einzelnen ergab sich      kam es nicht nur zu einer spürbaren Erhöhung
     • Es gibt Unternehmen, die nach Tarif zah-          wöchentlich 53 Minuten länger und verdien-       in Bezug auf vollbeschäftigte Arbeitnehmer/-      der Renten,­­sondern es wurde auch die dyna-
         len, aber über eine Ausdehnung der              ten elf Prozent weniger als Beschäftigte in      innen eine Lohndifferenz (in%) von:               mische Anpassung der Rentenhöhe an die
         Arbeitszeit den Stundenlohn drücken.            Betrieben mit Tarifbindung, die hinsichtlich                                                       Bruttolohnentwicklung eingeführt.29
     •   Es gibt nicht-tarifgebundene Online-Rie-        der Größe, des Wirtschaftszweigs, der Qua-
         sen wie Amazon und Zalando.                     lifikation der Beschäftigten und des Standes      Alle Beschäftigten           minus 25            Mit den politischen Entscheidungen der
     •   Es gibt Konzerne, die Tochterunternehmen        ihrer technischen Anlagen identisch waren26.                                                       Regierung Schröder, insbesondere Riester-­
         mit und solche ohne Tarifbindung haben,                                                           Ostdeutschland               minus 44            Reform, Hartz-Gesetze und »Agenda 2010«,
         wie z.B. Edeka und Rewe (sogenannter            Für den Einzelhandel bestätigte das die Bun-      Westdeutschland              minus 18            wurde ein Paradigmenwechsel in der Ren-
         privatisierter Einzelhandel).                   desregierung im Juni 2020 in ihrer Antwort                                                         ten- und Arbeitsmarktpolitik vollzogen. Ernst
     •   Es gibt immer wieder neue Beispiele der         auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordne-         Nach Berufsgruppen                               Niemeier analysiert diesen in der Zeitschrift
         Flucht aus dem Flächentarifvertrag und          ten Pascal Meiser27. Demnach lag der durch-                                                        »Wirtschaftsdienst«: »Die gesetzliche Rente
                                                                                                           Kassierer*in                 minus 30
         auch Beispiele dafür, dass Unternehmen          schnittliche Bruttostundenverdienst (ohne                                                          verfolgte seit der Reform von 1957 und bis zu
         (meist nach langen Auseinanderset-              Sonderzahlungen) für Beschäftigte im Einzel-      Lager- und                                       den Reformen 1999 das Ziel, die Arbeitsein-
                                                                                                                                        minus 10
         zungen) den Weg zurück (oder neu) in die        handel 2019 bei 21,14 Euro in tarifgebun-         Transportarbeiter*in                             kommen zu ersetzen, die mit dem Ende der
         Tarifbindung gegangen sind.                     denen Betrieben, bei nicht tarifgebundenen        Verkäufer*in                 minus 25            Erwerbstätigkeit entfallen. Die Rente sollte
     •   Es gibt Unternehmen, die sich aus einem         Unternehmen betrug er nur 16,92 Euro.                                                              – wenigstens tendenziell – ‚ein den Lebens-
         Branchentarifvertrag in einen für sie           Verglichen mit dem Jahr 2009 entsprach das                                                         standard sicherndes Rentenniveau gewähr-
         „günstigeren“ Tarifvertrag einer anderen        für tarifgebunden Beschäftigte einer Lohn-       Wir sehen also: Tarifflucht führt zu Niedrig-     leisten‘. (…) Dass das deutsche Rentensys-
         Branche flüchten.                               steigerung um 5,63 Euro, während die             löhnen – und Niedriglöhne führen zu Armut!        tem weder den Lebensstandard sichern noch
14                                                                                                                                                                                                    15

     Altersarmut vermeiden kann, ist wesentlich
     auf w
         ­ irtschafts- und sozialpolitische Entschei-                                                                                                 Armutsgefährdung der Beschäftigten
     dungen zurückzuführen (…)                                                                                                                        im Einzelhandel
                                                                                                          Es gibt zwei verschiedene Messverfah-       Die Rente ist ein Spiegelbild des Erwerbsle-
     Erstens wurde mit den Riester-Reformen das                                                           ren, um Altersarmut zu quantifizieren.      bens. Insofern mindern geringe Einkommen,
     Ziel des Lohnersatzes explizit und sachwid-                                                          Das eine basiert auf der Grundsicherung     Teilzeitbeschäftigung, Phasen der Unterbre-
     rig durch das Ziel der Beitragssatzstabili-                                                          im Alter. Der Regelsatz umfasst (Stand      chung und geringe Anzahl der Beschäfti-
     tät ersetzt, was zwangsläufig eine Absen-                                                            2020) 432 Euro für Alleinstehende bzw.      gungsjahre die Rente. Wenn mehrere dieser
     kung des Leistungsniveaus der gesetzlichen                                                           für Paare 389 Euro pro Person35. Hinzu      Punkte gleichzeitig zutreffen ist die Nega-
     Rentenversicherung zur Folge hatte. (…)                                                              kommen noch die jeweiligen (»angemes-       tivwirkung besonders groß. Frauen sind in
     Die geplante Schließung der Lücke (durch           Frauenprotest gegen drohende Altersarmut          senen«) Wohnkosten.                         besonderem Maße betroffen.
     den Abschluss privater Zusatzversicherun-
     gen; Anm. d. Red.) wird von der Mehrheit           dabei 1,2 Punkte höher als 2005. Frauen sind      Das andere Verfahren bezieht sich auf die   Die Deutsche Rentenversicherung spricht
     der Betroffenen gar nicht genutzt. Sie konnte      mit 16,8 Prozent deutlich stärker von drohen-     sogenannte Armutsgefährdungsgrenze:         gerne von der sogenannten »Standardrente«.
     schon wegen der höheren Kosten privater            der Armut betroffen als Männer, bei denen es      Wer als Alleinlebender weniger als 60       Diese liegt (Stand: Juli 2020) bei 1.538,55
     Versicherungen nicht gelingen. Erforderlich        15,2 Prozent sind32. Insbesondere in der älte-    Prozent des mittleren Nettoeinkommens       Euro in den alten und 1.495,35 Euro in den
     ist der Ausstieg aus der Riester-Reform.           ren Generation ist die Armutsgefährdung seit      (exakt: des mittleren »Äquivalenzeinkom-    neuen Bundesländern. Um auf diesen Betrag
                                                        dem Jahr 2005 überdurchschnittlich gestiegen.     mens«) monatlich zur Verfügung hat lebt     zu kommen, muss man allerdings 45 Jahre in
     Zweitens wurde eine Wirtschaftspolitik                                                               danach an der Grenze zur Armut. Dieser      die Rentenversicherung einzahlen und in die-
     betrieben, die das Lohnniveau niedrig hielt.       Wie das Statistische Bundesamt mitteilte,         Wert wird jährlich neu ermittelt und vom    ser Zeit stets ein Entgelt in Höhe des Durch-
     Das geschah durch eine ‚moderate‘ Lohnpo-          nahm der Anteil der über 64-Jährigen, die         Statistischen Bundesamt veröffentlicht.     schnittsentgelts aller Versicherten bezogen
     litik, die die Produktivitätssteigerungen nicht    als armutsgefährdet gelten, in den vergange-      Die letzten aktuellen Daten dazu:           haben. Dieses lag 2020 in Westdeutschland
     ausschöpfte und so die Binnennachfrage             nen 15 Jahren um 4,7 Punkte auf 15,7 Pro-                                                     bei monatlich 3.379,25 Euro (40.551 Euro
     schwächte. Später vergrößerte die Agendapo-        zent im Jahr 2019 zu. In keiner anderen Alters-   Schwellenwert für Armuts-                   pro Jahr), im Osten bei 3158,17 im Monat
     litik den Niedriglohnsektor.«30 Kurz zusam-        gruppe war der Anstieg seit dem Jahr 2005 so      gefährdung in Euro pro Jahr (2019)          (37.898 Euro jährlich).37 Wer weniger ver-
     mengefasst: »Niedrige Löhne führen zu nied-        groß. Hatte früher der Anteil älterer von Armut                                               dient, bekommt im Ruhestand weniger Rente
     rigen Renten.«31                                   gefährdeter Menschen praktisch immer unter        – Alleinlebende/r 14.109 Euro               – und das sind die meisten!
                                                        dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt         – Zwei Erwachsene mit zwei Kinder unter
     Heute ist das Armutsrisiko in Deutschland          gelegen, war der Wert für Personen über 64        14 Jahren 29.628 Euro                       Der Durchschnittsverdienst ausgelernter Ver-
     unverändert hoch und steigt insbesondere           Jahre im Jahr 2019 bereits annähernd genauso                                                  käuferinnen und Verkäufer liegt nach Berech-
     für ältere Menschen weiter an. Im deutschen        hoch wie in der Gesamtbevölkerung.33 Und          Quelle: Destatis 202136                     nungen allgemeiner Gehaltsrechner nur
     Rentensystem bestimmt die Erwerbsbiografie         die Tendenz ist weiter steigend: Selbst bei                                                   zwischen 1700 und 2050 Euro brutto pro
     maßgeblich die Höhe der gesetzlichen Rente.        einer guten wirtschaftlichen Entwicklung                                                      Monat38. Etwas besser sieht es für die Kolle-
     Wichtige Faktoren, die die Rentenansprüche         dürfte in 20 Jahren mehr als jede fünfte Rent-                                                ginnen und Kollegen aus, die entsprechend
     mindern, sind unterdurchschnittliche Tarifein-     ner*in von Armut betroffen sein. Das geht aus                                                 der zwischen ver.di und den Arbeitgeber-
     kommen, atypische Beschäftigungsformen,            einer Studie hervor, die das Deutsche Institut                                                verbänden abgeschlossenen Tarifverträ-
     Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie            für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Ber-                                                  gen bezahlt werden. In Nordrhein-Westfa-
     sowie untertarifliche Entlohnung (Tarifflucht).    telsmann-Stiftung durchgeführt hat. Die Auto-                                                 len liegt der monatliche Tarif-Bruttolohn in
                                                        ren prognostizieren einen Anstieg des Anteils                                                 der Gehaltsgruppe I (Verkäufer*innen, Kas-
     Die Quote der von monetärer Armut bedroh-          armutsgefährdeter Rentnerinnen und Rentner                                                    sierer*innen) je nach Berufsjahren zwischen
     ten Menschen lag zuletzt bei 15,9 ­Prozent und     auf dann 21,6 Prozent34.
16                                                                                                                                                                                                            17

     1850 und 2704 Euro. Für die Höhe der Rente           Solche niedrigen Renten, die nicht zum Leben      Der Wettbewerb
     sind das entscheidende Unterschiede.                 reichen, müssen letztlich in Form von Auf-        im Handel
     Hinzu kommt, dass insbesondere Frauen                stockerleistungen durch den Staat aufgefan-
     – die im Einzelhandel die große Mehrheit             gen und ausgeglichen werden. So wälzen die        Der Handel ist seit Jahren im Umbruch, und
     der Beschäftigten ausmachen – nur selten             Unternehmen die Folgen ihres Lohndumpings         diese Entwicklung ist durch die Pandemie nur
     auf die geforderten 45 Beitragsjahre kom-            auf die Allgemeinheit ab und sichern sich         verstärkt und beschleunigt worden.
     men, weil sie durch Schwangerschaften und           ­Extraprofite.
     Kindererziehung oft über Jahre aus dem                                                                 Vor allem im Einzelhandel herrscht ein von
     Erwerbsleben ausscheiden. Zudem arbeiten                                                               den großen Konzernen betriebener Verdrän-
     sie häufiger als Männer in Teilzeit und kom-        Zwischenresümee                                    gungs- und Vernichtungswettbewerb. Einer-
                                                                                                                                                            Die Digitalisierung des Handels beschleunigt
     men auch deshalb auf ein geringeres Jahres-                                                            seits gibt es immer mehr große Einkaufszent-    sich rasant
     einkommen und in der Folge auf niedrigere           Im Einzelhandel arbeiten rund zwei Millio-         ren und ein Übermaß an Verkaufsflächen, die
     Renten im Alter.                                    nen Menschen in Teilzeit oder als geringfü-        jedoch nicht zu mehr Vielfalt und Angebot       Zwischenhändler eingeschaltet werden müs-
                                                         gig Beschäftigte. Zwei Drittel aller Beschäftig-   führen, sondern in erster Linie der Expansion   sen. Der Wert der einzelnen Plattform steigt
     Bereits jetzt liegt die durchschnittliche Alters-   ten sind Frauen. Aufgrund ihrer spezifischen       großer Ketten und Konzerne dienen. Zugleich     in dem Maße, je mehr Kundinnen und Kun-
     rente weit unter der »Standardrente«, näm-          Erwerbsbiografie (Unterbrechung, »Teilzeit-        nimmt die Bedeutung des Online-Handels          den sich ihnen anschließen – und je weniger
     lich im Westen bei 1169 Euro monatlich für          falle«) müssen sie mit erheblichen Einbußen        und der Plattform-Ökonomie immer mehr zu.       Alternativen es für sie jeweils gibt. Die Folge
     Männer und gerade einmal 700 Euro für               bei ihrer gesetzlichen Rente rechnen.              Große Unternehmen schließen Filialen und        ist ein gnadenloser Verdrängungs- und Ver-
     Frauen. Im Osten liegen die Werte vor allem                                                            entlassen Beschäftigte, weil sie sich online    nichtungswettlauf zwischen konkurrierenden
     aus historischen Gründen – etwa dem höhe-           Das Tarifeinkommen konnte in den l­etzten          größere Profite versprechen. Immer mehr         Anbietern, bis de facto nur noch ein Mono-
     ren Anteil berufstätiger Frauen in der DDR          Jahren deutlich gesteigert werden, liegt aber      kleine und mittelständische Unternehmen         polist übrigbleibt. Dabei genießen die Betrei-
     – etwas höher, nämlich bei 1264 Euro für            immer noch unter dem Durchschnitt. Die             werden an die Wand gedrückt, was die Viel-      ber solcher »Marktplätze« oft eine besondere
     Männer und 1033 Euro für Frauen.39 Damit            Tarifbindung im Einzelhandel erodiert. Die         falt der Branche gefährdet, tausende Arbeits-   Machtposition und können die Rahmenbe-
     liegen die Durchschnittsrenten unter oder nur       Mehrheit der Beschäftigten ist heute nicht         plätze aufs Spiel setzt und ein wachsendes      dingungen und Konditionen für die Nutzung
     knapp über dem Wert, den das Statistische           mehr tarifgebunden. In vielen nichttarifge-        Risiko für die Nahversorgung in Stadt und       ihrer Plattformen diktieren. Zudem besteht
     Bundesamt als Armutsgefährdungsgrenze               bundenen Betrieben liegt der Lohn um 30            Land darstellt.                                 ihr Hauptgeschäft darin, die Daten ihrer Kun-
     definiert hat40.                                    Prozent niedriger.                                                                                 dinnen und Kunden zu sammeln und auszu-
                                                                                                            Diese Entwicklungen wirken sich mittelfris-     werten, um zielgerichtet Werbung schalten zu
     Wegen der extrem ungünstigen Beschäfti-             Prekäre Beschäftigungsstrukturen, Nachhol-         tig direkt oder indirekt auf den Groß- und      können. Damit steuern die Internetkonzerne
     gungsstruktur im Einzelhandel ist das Ren-          bedarf, erwerbsbiografische Unterbrechungen        Außenhandel aus. Die traditionellen Unter-      das Kundenverhalten und den Konsum von
     tenrisiko sehr groß. Selbst bei einer »normal«      und Tarifflucht sind wesentliche Gründe dafür,     nehmen dieser Branche sehen sich bereits        immer mehr Menschen. Die Plattform-Ökono-
     genannten Erwerbsbiografie können vollzeit-         dass viele Beschäftigte im Handel von Alter-       jetzt immer mehr neuen Wettbewerbern            mie befördert auf diese Weise letztlich Mono-
     beschäftigte Verkäuferinnen und Kassiere-           sarmut bedroht sind. Dies betrifft nicht nur       gegenüber, die Marktanteile erobern.            polisierungstendenzen auch in anderen Berei-
     rinnen lediglich mit einer Rente in der Nähe        Geringverdienende und Teilzeitbeschäftigte.                                                        chen des Handels.
     der Armutsgefährdungsgrenze rechnen. Im             Die Armutsgefährdung breitet sich ­stetig aus      Eine besondere Bedeutung hat dabei die
     Falle von Lohnabschlägen durch Tarifflucht          und bedroht immer mehr auch den Kreis der          Plattform-Ökonomie, die bislang erst in         Dabei ist das wirtschaftliche Umfeld für den
     kommt es zu drastischen Einbußen bei der            Vollzeitbeschäftigten, vor allem die Frauen.       Ansätzen und unzureichend rechtlich regu-       Handel generell gut. Für den Lebensmit-
     Rente. Tarifflucht der Unternehmer führt also       Nach derzeitigem Stand muss davon ausge-           liert ist. Die von den Internetunternehmen      tel-Einzelhandel war 2020 das »beste Jahr
     im konkreten Fall dazu, dass selbst nach einer      gangen werden, dass weniger als die Hälfte         betriebenen digitalen »Marktplätze« vermit-     seit Menschengedenken«41. Diese Teilbran-
     45-jährigen Vollzeitbeschäftigung die Alters-       der vollzeitbeschäftigten Frauen eine Rente        teln direkte Kontakte zwischen Herstellern      che meldete für das Jahr einen Gesamtum-
     armut folgen kann.                                  oberhalb der Armutsgrenze erzielen wird.           und Verbraucher*innen, ohne dass weitere        satz von 139,4 Milliarden Euro und damit
18                                                                                                                                                                                                         19

     den höchsten Wert seit Beginn der Erhebung         wandelnden Gesellschaft. Das Statistische        Wettbewerbsprozesse maßgeblich auch durch        Konzentration erwächst aus organischem
     durch das GfK-Consumer Panel FMCG im               Bundesamt geht von einer sinkenden Einwoh-       politische Entscheidungen beeinflusst.           Wachstum, Flächenwachstum und/oder der
     Jahr 201542. Der Einzelhandel insgesamt mel-       ner*innenzahl in Deutschland aus, sie soll                                                        Übernahme von Konkurrenzunternehmen.
     dete für 2020 ein Umsatzplus von 5,7 Prozent       den Prognosen zufolge von 83,2 Millionen im      Zunehmende Konzentration                         Im Prozess des Strukturwandels ist Konzen-
     auf 577,4 Milliarden Euro. Während der sta-        Jahr 2020 in den kommenden 20 Jahren auf         Seit 2002 ist die Anzahl der Unternehmen im      tration zum einen das Ergebnis des scharfen
     tionäre Einzelhandel um 3,9 Prozent zulegen        82,1 Millionen zurückgehen45. Die Altersstruk-   Einzelhandel um knapp 80.000 zurückgegan-        Wettbewerbs (Marktanteilszuwächse, Ver-
     konnte, beschleunigte sich das Wachstum des        tur verändert sich dabei gravierend, es gibt     gen. 2019 wurden noch insgesamt 339.000          drängung), und gleichzeitig die Grundlage für
     Online-Handels auch Pandemie-bedingt wei-          tendenziell immer mehr »Alte« (über 67) und      Unternehmen gezählt46. Der Konzentrations-       noch mehr Konzentration, denn Größe fördert
     ter. Er legte um 20,7 Prozent zu, Allerdings ist   immer weniger »Junge« (unter 25). Gleichzei-     grad in der Branche ist sehr hoch. So brin-      weitere Größe.
     die Dominanz des stationären gegenüber dem         tig steigt die Zahl der Single-Haushalte. Die    gen es die fünf Größten des Lebensmittelein-
     Online-Handel nach wie vor deutlich: 505,9         Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land         zelhandels – Edeka, Schwarz-Gruppe (Lidl         Die marktführenden Konzerne mit ihren
     Milliarden Euro Umsatz in den Ladengeschäf-        werden noch größer.                              und Kaufland), Rewe-Group, Aldi und Met-         jeweiligen Tochterunternehmen decken mit
     ten stehen 71,5 Milliarden Euro Umsatz via                                                          ro-Group 2020 auf einen Marktanteil von          deren Verkaufsstätten praktisch das gesamte
     Internet gegenüber. Der Handelsverband             Die demografische Entwicklung hat erhebli-       78 Prozent, ein Zuwachs um fünf Punkte           Bundesgebiet ab: 51
     Deutschland bilanziert deshalb: »2020 war          che Bedeutung für die weitere Entwicklung        innerhalb der letzten zehn Jahre. Dabei
     für viele Unternehmen aus den Bereichen            des Einzelhandels. Stichworte sind Ladenge-      haben in diesem Zeitraum vor allem Edeka
                                                                                                                                                           Konzerne im Lebensmittelhandel (Top 5)
     Online-Handel und Lebensmittel ein gutes           staltung, altersspezifische Konsumgewohn-        (+ 4,9 Punkte), REWE (+ 3,2 Punkte) und           und deren Verkaufsstätten (Stand: 201851)
     Jahr, bei Möbeln und Baumärkte lief es bes-        heiten, Nahversorgung, seniorenfreundlicher      die Schwarz-Gruppe (+ 4,8 Punkte) ihre
     ser als erwartet. Für die meisten Modehändler      Service u. a.m.                                  Dominanz ausbauen können, während der
                                                                                                                                                           Edeka                            13.030
     dagegen bleibt das vergangene Jahr als Kata-                                                        Marktanteil der Metro Group von 13,4 auf
     strophe in Erinnerung.«43                          Dem laufen die aktuellen Entwicklungen           4,3 Prozent eingebrochen ist.47                   Rewe-Group                        7.705
                                                        im Einzelhandel zuwider. Die Unternehmen
     Differenzierter analysiert der Handelsverband      bauen Personal ab – für die Beschäftigten        Schaut man sich den Konzentrationsgrad in         Aldi                              4.112
     Textil, BTE, die Bilanz. Ihm zufolge ist der       bedeutet das zunehmende Arbeitshetze, für        den verschiedenen Teilbranchen des Einzel-        Schwarz-Gruppe                    3.864
     Einzelhandelsumsatz mit Bekleidung sowie           die Kundinnen und Kunden schlechtere Bera-       handels an, so zeigt sich zum einen eine hohe
     Haus- und Heimtextilien im Jahr 2020 um            tung und Serviceleistungen. Vor allem in den     Verdichtung in fast allen Bereichen, gleich-      Metro-Group                         382
     rund neun Prozent gesunken und fiel damit          Innenstädten zwingen auch immer weiter           zeitig werden aber auch signifikante Unter-
     auf rund 61 Milliarden Euro. Allerding ver-        steigende Mieten kleinere und mittlere Unter-    schiede deutlich: Am höchsten ist der Kon-
     lief die Entwicklung der einzelnen Vertriebs-      nehmen zur Aufgabe. Mit dem Verdrängen           zentrationsgrad bei Drogerien, wo sich dm,       (Umsatz-)Größe bedeutet vor allem enorme
     formen und Sortimente unterschiedlich. So          dieser Händler*innen gehen nicht nur Arbeits-    Rossmann, Müller und Budnikowsky den             Nachfragemacht gegenüber Lieferanten und
     sanken die Umsätze des stationären Beklei-         plätze verloren, es drohen auch Monokul-         Markt fast vollständig aufgeteilt haben48, und   Produzenten (u. a. günstige Einkaufspreise
     dungshandels – Boutiquen, Modehäuser und           turen, Uniformierung und Verödung in den         im Lebensmittel-Einzelhandel (siehe oben).       und Konditionen). Diese monetären Vorteile
     (vertikal organisierte) Bekleidungsfilialisten –   Innenstädten. Das würde für die gesamte          Relativ gering ist die Konzentration dagegen     auf der Nachfrageseite geben den Handels-
     um rund 25 Prozent auf knapp 24 Milliarden         Gesellschaft ein Verlust an Lebensqualität       (noch) im Einzelhandel mit Bekleidung, wo        konzernen enorme Möglichkeiten, im Ver-
     Euro, während die Umsätze über Online-Ka-          bedeuten.                                        die vier größten Ketten – H&M, C&A, Peek &       kauf aggressive Preis-, und Rabattaktionen
     näle bei den Multichannel-Anbietern meist                                                           Cloppenburg sowie Primark im Jahr 2019 auf       zu f­ahren, ggf. auch über längere Zeiträume
     angestiegen sind.44                                Der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel         einen Marktanteil von 20,4 Prozent kamen49,      hinweg. Die Nachfragemacht kann dazu füh-
                                                        wird wesentlich geprägt durch Konzentration      sowie im Möbelhandel, wo die vier größten        ren, dass die Verhandlungsposition kleine-
     Längerfristig steht der Einzelhandel aber nicht    (Marktmacht), Expansion der Verkaufsfläche,      Akteure Ikea, BDSK (XXXLutz), Höffner und        rer ­Handelsunternehmen massiv geschwächt
     nur aufgrund der Digitalisierung vor Heraus-       boomenden Onlinehandel und einen aggres-         Dänisches Bettenlager zusammen auf einen         wird: Ein Hersteller holt sich das, was er bei
     forderungen, sondern auch wegen der sich           siven Preiswettbewerb. Dabei werden die          Marktanteil von 32,7 Prozent kommen50.           einem Großen verloren hat, bei Kleineren
20                                                                                                                                                                                                      21

     wieder zurück (sog. Wasserbetteffekt). Eine      Namen wie Galeria Karstadt Kaufhof, Esprit
                                                                                                           Jahr       Verkaufsfläche in Mio. qm
     mögliche Gegenmaßnahme ist die Schaffung         oder Toys »R« Us.
     von Verbundgruppen wie der 2017 u.a. von
     real,-, Metro und Globus gegründeten Retail      Diese zunehmende Konzentration bietet                1990                    77,0
     Trade Group (RTG). Ziel sei es, gemeinsam        Anlass zur Sorge. Je mächtiger die Großen            2000                   109,0
     den Abstand zu den »großen Vier« im deut-        werden desto größer auch die Gefahr der
     schen Markt – Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe        Verdrängung – zulasten des Wettbewerbs.              2016                   123,7
     und Aldi – zu verkürzen und so die eigene        In einigen Teilbereichen des Handels ist
                                                                                                           2019                   125,157
     Wettbewerbsposition zu verbessern, begrün-       dies schon seit längerem Realität. Konzerne
     deten die teilnehmenden Unternehmen              bestimmen aufgrund ihrer strukturellen Vor-
     damals diesen Schritt.52                         teile (Finanzkraft, Nachfragemacht u. ä.)         Der Flächenboom der 1990er-Jahre ist zwar
                                                      weitgehend die Wettbewerbsbedingungen             vorüber, doch auch in den letzten andert-
     Aus Größe resultiert Marktmacht, Größe           im Handel. Die Nachfragemacht geht zulas-         halb Jahrzehnten wurde die ­Verkaufsfläche
     ist der wesentliche Treiber des Konzentrati-     ten der Arbeitsbedingungen der Beschäftig-        weiter ausgebaut und stabilisierte sich in
     onsprozesses im Handel. Es gibt ­tendenziell     ten, der Qualität der Produkte, der Umwelt        den vergangenen Jahren auf hohem Niveau.        werde. Dabei werde eine »Festivalisierung«
     immer weniger Unternehmen – mit immer            und des Tierschutzes sowie kleiner und mitt-      Inwieweit es dabei bleibt, ist zum gegen-       des Einkaufens eine wichtige Rolle spielen,
     mehr Umsatz. Viele kleine und mittlere           lerer Betriebe.                                   wärtigen Zeitpunkt abzuwarten. Einerseits       das Erlebnis im Laden werde immer wichti-
     ­Firmen werden nicht überleben. Betroffen                                                          sind viele Einzelhändler durch die Pandemie     ger.58 ­Einschränkend ist allerdings anzumer-
      sind oft traditionsreiche und inhabergeführte   Verkaufsflächenexpansion                          und die zunehmende Konkurrenz durch den         ken, dass die Immobilienwirtschaft natürlich
      Unternehmen. Sie sterben still und leise,       In den letzten Jahrzehnten haben die Han-         Online-Handel unter Druck geraten.              selbst ein Interesse daran hat, dass die Ver-
      allenfalls berichtet die Lokalpresse darüber.   delsunternehmen hierzulande eine riesige                                                          kaufsflächen nicht (zu sehr) zurückgehen,
                                                      Verkaufsfläche aufgebaut. Seit 1990 wurde         Andererseits ist zu beachten, dass es in den    da viele Unternehmen von der Vermietung
     Die Anzahl der Verkaufsstellen im Lebens-        diese Fläche von 77 auf über 125 Millionen        vergangenen Jahrzehnten nicht nur zu einer      an Handelsketten profitieren – hier mag
     mittelhandel ist zwischen 2006 und 2020          ­Quadratmeter ausgedehnt. Dabei wuchs in          Flächenexpansion gekommen ist, sondern          also auch der Wunsch Vater des Gedankens
     um rund 15.000 zurückgegangen53. Beson-           Ostdeutschland die Verkaufsfläche allein zwi-    gleichzeitig eine Umschichtung von Verkaufs-    gewesen sein.
     ders die Gruppe der Händler mit weniger           schen 1990 und 2000 von 6 auf 18 Millionen       flächen stattfindet, weg von kleinen und mit-
     als zehn Beschäftigten war betroffen, weil        Quadratmeter, verdreifachte sich also! Von       telständischen Unternehmen hin zu großen        Eine treibende Kraft bei der Flächenexpansion
     die positive Entwicklung der Jahre bis 2020       besonderer Bedeutung ist, dass der Groß-         Konzernen.                                      waren in der Vergangenheit die großen Ein-
     an ihnen weitgehend vorbeigegangen ist54.         teil dieser zusätzlichen Verkaufsflächen im                                                      kaufszentren / Shopping-Malls. Hatte es im
     Schon 2017 entfielen auf sie zwar 54 Pro-         sogenannten sekundären Netz – also auf der       Eine Untersuchung der schwedischen Immo-        Jahr 2000 noch 279 solcher Zentren mit ins-
     zent der Standorte, aber insgesamt nur zehn       ­grünen Wiese entstand.56 Da der reale Einzel-   biliengesellschaft Catella Real Estate AG       gesamt 9,2 Millionen Quadratmetern Fläche
     Prozent des Gesamtumsatzes55. Ein weiteres         handelsumsatz dem auch nicht einmal annä-       kam vor diesem Hintergrund zu dem Ergeb-        gegeben, waren es 2020 schon 489 mit fast
     Ladensterben wird also dazu führen, dass die       hernd folgen konnte (Scherenentwicklung) ist    nis, dass die Gesamtverkaufsfläche in den       15,8 Millionen Quadratmetern59.
     ­flächendeckende Versorgung noch weitma-           eine Flächenüberkapazität entstanden. Dies      Mitgliedsländern der Europäischen Union
      schiger wird.                                     führt tendenziell zu sinkender Flächenproduk-   von aktuell 590 Millionen Quadratmetern bis     Mit rund 150 Quadratmetern Verkaufsflä-
                                                        tivität (Umsatz pro Quadratmeter).              2030 auf 510 bis 530 Millionen zurückge-        che pro 100 Einwohner*innen60 ist die Ein-
     Aber nicht nur die »Kleinen« sind bedroht –                                                        hen werde. Das klingt weniger dramatisch,       kaufsdichte in Deutschland heute so hoch
     in den letzten zehn Jahren hat es auch eine                                                        als manche Horrorszenarien nahelegen.           wie in kaum einem anderen Land in Europa.
     Reihe prominenter Unternehmen getroffen.                                                           Catella begründet die Prognose damit, dass      Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,
     Die Liste der Großinsolvenzen ist lang und                                                         der Einzelhandel vermehrt auf seine Vor-        dass sich die Verkaufsfläche sehr ungleich im
     umfasste in den vergangenen Jahren solche                                                          teile gegenüber dem Onlinehandel setzen         Raum verteilt. Riesigen Überkapazitäten,
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     z. B. in Ballungsgebieten stehen Leerstände     Schließung des stationären Einzelhandels –        In weiten Bereichen des Handels herrscht ein
     und verödete Passagen in vielen Klein- und      die Bekleidung, gefolgt von Elektronikarti-       aggressiver Preiswettbewerb, der durch die
     Mittelstädten gegenüber. Das hat auch mas-      keln und Telekommunikation. Beide machen          zunehmende Präsenz des Onlinehandels ver-
     sive strukturpolitische Konsequenzen: Die in    fast die Hälfte der Umsätze im E-Commerce         schärft wird. Der Textilhandel wird von Billig-
     den 1990er Jahren aus dem Boden gestampf-       aus.64                                            ware überschwemmt. Im Möbeleinzelhandel
     ten Einkaufszentren auf der grünen Wiese                                                          gibt es einen explosiven Preiskampf – regel-
     erschweren dem Einzelhandel in vielen Mit-      Die verschiedenen Verkaufskanäle werden           rechte Rabattschlachten. Viele Händler, vor
     tel- und Großstädten die Existenz. In einigen   immer stärker verzahnt und verbunden, der         allem kleinere, werden diese »Schlachten«
     Teilbranchen nutzen die großen Akteure Flä-     traditionelle Einzelhandel gerät dabei zuneh-     nicht überleben.
     chenexpansion gezielt als Instrument zur Ver-   mend unter Druck. Das Internet erhöht die                                                           Die Geschäftspleiten nehmen zu
     drängung der Konkurrenten. Eine teure und       Markttransparenz (Produktinformationen,
     auch riskante Strategie, insbesondere dort,     Preis), dadurch steigt der Wettbewerbs- und         In weiten Bereichen des deutschen Ein-          Auch wenn es seit Jahren Kritik an den anhal-
     wo wachsende Anteile des Sortiments online      Preisdruck.                                         zelhandels herrscht ein massiver Ver-           tenden Preiskämpfen mit ihrem selbstzerstö-
     umgesetzt werden. Die Flächenexpansion                                                              drängungskampf. Der Wettbewerb wird             rerischen Potential gibt, haben die Handels-
     wirkt so in einigen Bereichen wie ein Brand-    Allein den Onlineboom für die Probleme des          überwiegend über ruinöse Preiskämpfe,           unternehmen den Preis zuletzt wieder stär-
     beschleuniger für ruinösen Wettbewerb. Dort     stationären Handels und die Schwierigkeiten         Öffnungszeiten und Flächenerweiterun-           ker in den Vordergrund gerückt. Sie rechnen
     hat der Konkurrenzkampf Formen eines Ver-       vieler Innenstädte verantwortlich zu machen,        gen ausgefochten.                               damit, »dass die Verbraucher aufgrund der
     nichtungswettbewerbs angenommen.                greift allerdings zu kurz, weil die Grenzen                                                         wirtschaftlichen Verwerfungen beim Einkauf
                                                     zwischen Online- und stationärem Handel             Die Preiskämpfe erhöhen den (Kosten-)           schon bald wieder stärker auf den Cent ach-
     Boomender Onlinehandel                          immer mehr verschwimmen.                            Druck in der gesamten Branche. Die Han-         ten«, erläutert Robert Kecskes von der Gesell-
     Nicht erst seit der Beschleunigung durch die                                                        delsunternehmen verlagern den Druck             schaft für Konsumforschung (GfK) 65.
     Pandemie boomt der Online-Handel. Schon         Preiskampf                                          zum einen auf die Hersteller und Lieferan-
     zwischen 2009 und 2019 hat sich der Umsatz      Das wichtigste Instrument, die »schärfste           ten – vor allem aber auf ihr Personal.          Staatliche Deregulierung
     der Onlinehändler fast vervierfacht, von 15,6   Waffe« im Wettbewerb bleibt der Preis –                                                             Der Wettbewerb im Handel wird maßgeb-
     Milliarden Euro 2009 bis auf 58,0 Milliarden    also der Versuch, mittels niedriger Verkaufs-       Der massive Wettbewerbsdruck führt zu           lich von rechtlichen Rahmenbedingungen
     im Jahr 201961. Für 2020 prognostizierte der    preise der Konkurrenz Marktanteile abzurin-         immer mehr Druck auf die Personalkos-           beeinflusst. Hier soll kurz auf einige wichtige
     HDE im November 2020 einen Gesamtumsatz         gen. Händler setzen mit Tiefpreisen und/oder        ten: Prekäre Beschäftigungsstrukturen,          Gesetzeswerke eingegangen werden, die das
     von rund 70 Milliarden Euro62.                  Rabatten die Konkurrenz unter Druck – wenn          Abbau von Vollzeit, untertarifliche Bezah-      Geschehen in der Branche maßgeblich beein-
                                                     diese reagiert, entwickelt sich ein Preiskrieg.     lung, Missbrauch von Werkverträgen und          flusst haben.
     Dominiert wird der Online-Handel in Deutsch-    Große, finanzkräftige Konzerne sind dabei           immer schlechtere Arbeitsbedingungen
     land von Amazon, das 2019 einen E-Com-          strukturell im Vorteil, da sie Margenverluste       sind die unsozialen »Begleiterscheinun-         Rabattgesetz
     merce-Umsatz von 10,5 Milliarden Euro ver-      durch ihre Marktmacht und die daraus resul-         gen« dieses Verdrängungskampfes.                Im Jahr 2001 wurden das Rabattgesetz und
     meldete, gefolgt von Otto mit 3,4 Milliarden,   tierenden günstigeren Einkaufskonditionen                                                           die Zugabeverordnung vom Bundestag er-
     Zalando mit 1,6 Milliarden und Mediamarkt       kompensieren können.                                Der Preiskampf wird auf dem Rücken der          satzlos abgeschafft. Damit wollte man, wie es
     mit 1,2 Milliarden Euro. Alle weiteren Kon-                                                         Beschäftigten ausgefochten – sie »finan-        hieß, den Wettbewerb »dynamisieren« – fak-
     kurrenten blieben in jenem Jahr bei einem       Auch wenn für viele Kundinnen und Kunden            zieren« letztendlich diesen ruinösen Wett-      tisch wurden auf diese Weise jedoch r­ uinöse
     Umsatz von jeweils unter einer Milliarde63.     Kriterien wie Qualität und Nachhaltigkeit oder      lauf.                                           Tendenzen unterstützt, der Preiskampf wurde
                                                     soziale und ökologische Aspekte wichtiger für                                                       zusätzlich angefacht. Der Bundesverband der
     Generell werden immer mehr Waren im Netz        ihre Kaufentscheidung geworden sind, bleibt         Altersarmut ist das hässliche Pendant zu        Verbraucherzentralen stellte seinerzeit war-
     angeboten. Wichtigste Warengruppe war           für die Masse der Verbraucher*innen der Preis       den Preiskriegen im Einzelhandel.               nend fest, dass diese Änderung für die Kun-
     2020 – auch bedingt durch die weitgehende       das entscheidende Merkmal.                                                                          dinnen und Kunden kurzfristig sicherlich
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